13,99 €
Es gibt kein Leben ohne Risiko
Spannend und hochaktuell: Lesen Sie dieses Buch, wenn Sie verstehen wollen, wie das Risiko unsere Welt beherrscht! Risiko als Realität - Nehmen wir das Risiko ernst genug oder zu ernst? Die Wissenschaftler Julian Nida-Rümelin und Nathalie Weidenfeld liefern eine scharfsinnige Analyse unserer Gegenwart.
Nicht zuletzt Corona hat uns gezeigt, dass das Risiko keine bloße Theorie ist, sondern brutale Wirklichkeit. Nida-Rümelin und Weidenfeld zeigen nicht nur auf, wie Gefahren unseren Alltag bestimmen. Sie gehen auch der Frage nach, wie wir uns dazu verhalten sollten. Welches Risiko rechtfertigt welche Handlungen? „Die Realität des Risikos“ plädiert für einen vernünftigen Umgang mit Gefahren, der Risiken ernst nimmt, aber sich nicht von ihnen beherrschen lässt.
Unbedingte philosophische Leseempfehlung nicht nur für Fans von Denkern wie Hartmut Rosa oder Ulrich Beck.
„Die Realität des Risikos“ ist das Ergebnis einer fruchtbaren Zusammenarbeit: Julian Nida-Rümelin, ehemals Professor der Philosophie, ist stellvertretender Vorsitzender des Ethikrats. Seine Frau Nathalie Weidenfeld ist Film- und Kulturwissenschaftlerin. Die philosophischen Thesen Nida-Rümelins werden durch Beispiele von Risikoszenarien in Kultur und Film von Nathalie Weidenfeld anschaulich gemacht.
Risiko, Autonomie oder beides? Die Coronakrise aus der Perspektive der Risikoethik
Lockdown für alle oder Risikogruppen schützen, Masken oder künstliche Beatmung: Die Coronakrise erweist sich geradezu als Lehrstück der Risikoanalyse. Jeden Tag gilt es, neue Risiken abzuwägen. Nida-Rümelin und Weidenfeld widmen der Pandemie einen Teil ihres Buches und geben eine Antwort auf die spannende Frage: Wie viel Freiheit verträgt sich mit dem Risiko?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Mehr über unsere Autorinnen, Autoren und Bücher:www.piper.de© Piper Verlag GmbH, München 2021Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, MünchenCovermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutztSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.
Cover & Impressum
Vorwort von Julian Nida-Rümelin
Vorwort von Nathalie Weidenfeld
Einführung: Risiko ist kein Konstrukt
1 Gefahren und Wahrscheinlichkeiten
Die Rolle subjektiver Bewertungen
Gesellschaftliche Risikoeinschätzungen
Die Rolle der Verteilung
2 Paradoxien des Risikos
Das Paradoxon der Altersspezifizität
Das Paradoxon der Konzentration
Das Paradoxon der Aufmerksamkeit
Das Paradoxon der Aktivität
Das Paradoxon der zeitlichen Verzerrung
Das Paradoxon der Neuartigkeit
Das Paradoxon der Risikobewältigung und Wahrscheinlichkeitssymmetrie
3 Utilitaristisches Risikomanagement
4 Individualrechte in Risikosituationen
5 Paternalismuskritik
6 Der Wert des Lebens
7 Dimensionen des Risikos
8 Konformität in Krisenzeiten
9 Wissenschaft und Politik in der krise
10 Wahrheit und Wahrhaftigkeit
11 Das Covid-19-Exempel
12 Die Alternative: Containment und Risikostratifikation
13 Lehren aus der Coronakrise – nie wieder!
Schlussbemerkung: Lob der Urteilskraft
Anhang: Dokumentation publizierter Stellungnahmen zu Covid-19 von Julian Nida-Rümelin
»Die Strategie der Bundesregierung kann nicht das letzte Wort sein« (Die Welt, 31. März 2020)
»Angst macht aus Bürgern Untertanen« (Die Welt, 17. April 2020)
»Der Maßstab heißt Grippe – Um der Pandemie zu begegnen, müssen wir unseren Umgang mit Risiken neu definieren« (DER SPIEGEL 18/2020)
»Autonomie« (Süddeutsche Zeitung, 23. Mai 2020)
Zahlen und Fakten
Nachwort von Julian Nida-Rümelin
Dank
Anmerkungen
In meiner Schulzeit wurde mein Interesse an Logik, Mathematik und Physik geweckt. Und so nahm ich mir vor, Physiker zu werden. Aber die Philosophie interessierte mich ebenso, angeregt durch Texte, die wir im Griechisch-Unterricht lasen, und so habe ich mich zu einem Doppelstudium entschlossen. Noch mitten im Studium ergab sich für mich die Chance, in Philosophie bei dem Wissenschaftstheoretiker Wolfgang Stegmüller zu promovieren. Es wurde eine Dissertation über das Verhältnis von Entscheidungstheorie und Ethik (Utz 2004, 2., erw. Auflage). Dieses Thema hat mich bis heute nicht mehr losgelassen. Meine Habilitationsschrift zur Kritik des Konsequentialismus (1993) wies die These zurück, dass es immer rational sei, die Folgen des Handelns zu optimieren – ein Thema, das in dem im Anhang abgedruckten SZ-Interview vom 23. Mai 2020 eine wichtige Rolle spielt. Kürzlich habe ich Eine Theorie praktischer Vernunft (De Gruyter 2020) vorgelegt, die das Moralische und das Rationale integriert.
Um Risiken zu erfassen, sind Zahlen, ja gelegentlich sogar anspruchsvolle Mathematik, unumgänglich. Ich weiß wohl, dass höhere Mathematik nicht zur Allgemeinbildung zählt, und dennoch ist sie für die genaue Analyse unverzichtbar. Das Mathematische und Logische spielt auch für dieses Buch eine Rolle, sollte aber die Lektüre nicht erschweren. Wer sich für die wissenschaftliche Dimension interessiert, kann auf andere Publikationen von mir verwiesen werden: Logik kollektiver Entscheidungen (1994), Angewandte Ethik (2005), Risikoethik (2012) oder Structural Rationality and Other Essays on Practical Reason (2018).
Empirische Studien zeigen, dass weder Individuen noch Gesellschaften im Umgang mit Risiken rational, geschweige denn moralisch akzeptabel agieren. Aber was sind die richtigen Kriterien für menschliches Handeln in Risikosituationen? Lässt sich ein allgemeines Verständnis für Risiken entwickeln und Orientierung für die Praxis geben? Diese Themen hatten von den 1970er-Jahren bis in die 1990er-Jahre Konjunktur. Die Öffentlichkeit befasste sich intensiv mit den Risiken der Kernenergienutzung, der Ressourcenerschöpfung, auch der militärstrategischen Planungen, später mit denjenigen der humanen Gentechnik. Akademien für Technikfolgenabschätzung wurden gegründet, ein Max-Planck-Institut erforschte unter der Doppelleitung des Physikers Carl Friedrich von Weizsäcker und des Soziologen Jürgen Habermas die Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt, um nach zehn Jahren öffentlichkeitswirksamer Arbeit geschlossen zu werden. Der Club of Rome verstörte die Öffentlichkeit und die Politik mit düsteren Prognosen zur Ressourcenlage und zur Weltarmut. Szenarien zukünftiger Entwicklungspfade wurden entworfen und öffentlich debattiert. Diese Phase endete bald nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, der die Nachkriegszeit bis Ende der 1980er-Jahre geprägt hatte. Die zunehmende Dominanz optimistischer, meist ökonomisch oder technologisch geprägter Weltsichten verdrängte gleichermaßen Zukunftssorgen wie Apokalypsen.
Mit dem nicht mehr zu leugnenden Klimawandel, der Dysfunktionalität der Weltwirtschaft, wie sie in der Weltfinanzkrise nach 2008 und den darauffolgenden Staatsfinanzierungskrisen offenbar wurde, der sozialen Erosion und kulturellen Herausforderung westlicher Gesellschaften, der Systemkonkurrenz durch autokratische und totalitäre Regime und zuletzt der Bedrohung durch Covid-19 sind die Zukunftssorgen und Apokalypsen zurückgekehrt. Risiko ist kein Konstrukt der postmodernen 1990er-Jahre mehr,[1] sondern Realität. Risiko war, genau besehen, nie ein bloßes Konstrukt, sondern immer schon Realität, aber dessen Wahrnehmung ist zweifellos kulturell und politisch imprägniert. Insofern ist dieses Buch auch als Kontrapunkt zur postmodernen, unernsten, antirealistischen, perspektivischen Sicht auf Risiko zu verstehen, wie sie nach wie vor weite Teile der Sozial- und Kulturwissenschaften prägt.
Es versucht, Orientierung zu geben, es will zu begrifflicher und gedanklicher Klarheit beitragen und zu eigenständigem Denken anregen. Es richtet sich an alle, die an einem vertieften Verständnis interessiert sind: aus allen Berufen und allen gesellschaftlichen Bereichen, im Bildungswesen, in der Politik, in der Wirtschaft und in der Kultur. Es verschont seine Leserinnen und Leser nicht vor unbequemen Thesen und unerwarteten Einsichten. Urteilskraft spielt für die Demokratie eine zentrale Rolle. Am Ende müssen wir uns auf eine Risikopraxis verständigen, die niemanden diskriminiert und instrumentalisiert, die Individualrechte und Gerechtigkeitsprinzipien nicht verletzt, die, mit anderen Worten, für alle akzeptabel ist.
Mit dem Thema »Risiko« verbinde ich, anders als mein Co-Autor, weder eine Theorie noch eine umfangreiche Forschung. »Risiko«, das bedeutet für mich in der unmittelbaren Assoziationskette erst einmal eine Gefahr, von der ich weiß, dass sie droht, über die ich aber nicht gerne nachdenke. Das Risiko, in einen Autounfall verwickelt zu werden, an Krebs zu sterben, oder das Risiko, dass es einen atomaren Unfall geben könnte – alles unschöne Dinge, über die ich nicht gerne nachdenken möchte und es in der Regel auch nicht tue. In der Coronakrise allerdings war das Bewusstsein für das Risiko, an dem Virus zu erkranken, nicht zu verdrängen. Im Radio, im Internet, im Fernsehen und in den Tageszeitungen hagelte es plötzlich Tabellen, Zahlen, Aussagen und Prophezeiungen von Wissenschaftlern zum Thema »Risiko«. Wie für viele Geisteswissenschaftler sind Zahlen und Statistiken auch für mich eher eine Zumutung, und doch entwickelte ich in der Coronakrise ein großes Interesse daran. Damit stand ich wohl nicht alleine. Aufgrund der Hilflosigkeit, die wir alle angesichts der unsichtbaren Gefahr verspürten, wuchs das Bedürfnis, sich Informationen zu verschaffen. Man wollte wissen, was los ist, wie groß die Gefahr wirklich ist und was die einzelnen Maßnahmen bringen würden. Doch je mehr Informationen und Zahlen auf uns zukamen, desto verwirrender wurde es. Der eine Epidemiologe sagte dies, der andere das. Die einen schlugen eine sogenannte »Herdenimmunität« vor, die anderen »Flattening the Curve« und wieder andere »Containment«. Was war denn jetzt das Richtige?
Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, an dem ich das erste Video des Mediziners Wolfgang Wodarg sah, das bereits kurz nach dem Lockdown im März viral im Netz zirkulierte. Er behauptete darin, dass die Maßnahmen übertrieben und die Einschätzungen des Virologen Christian Drosten falsch seien. Das Video stellte also infrage, was bisher gesagt und getan wurde. Hatte er etwa recht – ähnlich wie in der Schweinegrippe-Pandemie 2009, deren Gefahren er im Rückblick richtig, nämlich als vergleichsweise niedrig, eingeschätzt hatte, während Drosten, WHO und RKI damals dramatisierten? Konnte es wirklich sein, dass die Maßnahmen der europäischen Regierungen falsch, ja sinnlos waren? In den nächsten Tagen folgte ein Proteststurm in den Medien, in dem Dr. Wodarg als Fake-News-Verbreiter diffamiert wurde. Auch wenn sich seine Vermutung, dass es sich bei COVID-19 um eine Erkrankung handele, deren Risiken nicht wesentlich höher seien als die einer saisonalen Grippe, als falsch herausgestellt hat, bleibt die Frage: Warum war keine differenzierte und rationale Auseinandersetzung möglich?
Die Bundeskanzlerin sprach kurz darauf von »Öffnungsdiskussionsorgien«, die zu vermeiden seien. Und viele Intellektuelle verteidigten Merkels Strategie mit dem Argument, die meisten Menschen seien nun mal nicht so differenziert, dass sie unterschiedliche Meinungen aushalten könnten, und da müsse man eben dafür sorgen, dass die Masse dem von der Politik vorgegebenen Kurs folgt. Als Donald Trump und Boris Johnson die Gefahr von Covid-19 herunterspielten, begann die Polarisierung in der Gesellschaft sich zu verfestigen: auf der einen Seite diejenigen, die sämtliche Maßnahmen der Regierung bedingungslos befürworteten, auf der anderen Seite die Kritiker, die in den Augen der Befürworter allesamt Spinner, Verschwörungstheoretiker und Fake-News-Fans waren. Dass sich unter den Kritikern auch zahlreiche Spinner, Verschwörungstheoretiker und Fake-News-Fans befanden, ist sicher, daraus aber zu schließen, dass alle sich kritisch äußernden Personen zu jenen gehörten, ist falsch. Diese Unkultur der Corona-Debatte hat unserer Gesellschaft nicht gutgetan. Selbst im privaten Umfeld habe ich die Erfahrung machen müssen, dass aufgrund der Verhärtung und Ideologisierung der Standpunkte auch enge Beziehungen gelitten haben.
Mit diesem Buch wollen wir zu einem rationaleren Umgang mit Risiken beitragen; heute, viele Monate nach dem ersten Lockdown, lohnt es sich zu fragen, was wir aus der Krise gelernt haben. Und wie man mit Krisen generell umgehen sollte. Denn die nächste Krise – in Gestalt einer Pandemie, eines Weltwirtschaftseinbruchs, einer Umweltkatastrophe oder einer anderen Herausforderung – kommt bestimmt.
Ähnlich wie in unserem vorausgegangenen Buch Digitaler Humanismus haben wir uns auch diesmal vorgenommen, dass ich die eher abstrakten Überlegungen mit konkreten Filmbeispielen anreichere, um das Buch insgesamt verständlicher zu machen und zur Lesbarkeit beizutragen, aber auch, um die kulturelle Dimension der Thematik deutlich zu machen. Ich hoffe, dieser Spagat ist gelungen und die Leserinnen und Leser profitieren davon.
In Nigeria bringt ein Taxifahrer eine blutende Patientin in ein Krankenhaus. Beim Abladen der Patientin erfährt er, dass diese an Ebola leidet. Er brüllt, rauft sich die Haare und schreit das Krankenhauspersonal an. Er weiß genau, dass bei einer so ansteckenden Krankheit wie Ebola diese Fahrt möglicherweise sein eigenes Todesurteil bedeutet.
Als New York von riesigen, eiskalten Flutwellen überschwemmt wird, bricht eine Massenpanik aus. Die Bewohner flüchten auf Hochhäuser, in U-Bahn-Schächte. Wer hätte gedacht, dass die nahende Eiszeit jetzt schon beginnt?
Nach einem Erdbeben wird ein Atomkraftwerk im Süden Koreas schwer beschädigt. Die Mitarbeiter wissen nicht, was zu tun ist. Der Cheftechniker rät dem Direktor des Werks, offiziell Alarm auszurufen und die Anwohner zu benachrichtigen, damit diese evakuiert werden können. Der aber weigert sich. Stattdessen herrscht er die Arbeiter an weiterzuarbeiten. »Es gibt überhaupt keinen Grund durchzudrehen. Gehen Sie ganz normal Ihrer Arbeit nach.« Die Mitarbeiter sehen ihn entgeistert an. Will er die Gefahr unbewusst verdrängen? Oder geht er bewusst ein Risiko ein, in der Hoffnung, dass die Folgen doch nicht so schlimm sein werden, wie eigentlich zu erwarten ist? Aber selbst der Präsident Südkoreas zögert, eine Evakuierung anzuordnen. Was, wenn eine Massenpanik ausbricht? Wären dann die Kollateralschäden nicht größer?
Szenen wie diese stammen aus Katastrophenfilmen wie 93 Days, The Day After Tomorrow und Pandora. Leider sind Situationen wie diese aber nicht nur auf Filme beschränkt – wir hatten es in der Vergangenheit sowohl mit beschädigten Atomkraftwerken wie auch mit ausbrechenden Ebola-Pandemien zu tun, auch wenn uns eine innerhalb weniger Stunden hereinbrechende Eiszeit wie in The Day After Tomorrow bislang noch erspart geblieben ist. Katastrophen sind ein Teil unserer Menschheitsgeschichte. In all diesen Situationen geschieht meist das, was in Filmen auch geschieht. Politiker versuchen, Massenpanik zu vermeiden, Risiken zu beschränken und ihr Image nicht zu beschädigen. Sie sind in der schwierigen Position, sich von der Gesamtlage ein Bild zu machen und auf dieser Basis Entscheidungen zu treffen, was vor allem angesichts sich zuweilen widersprechender Expertenmeinungen nicht einfach ist. Es droht ein Clash zwischen der Bevölkerung und der Regierung, der vorgeworfen wird, die Krise nicht gut zu bewältigen. Und dann sind da natürlich auch noch die Menschen mit ihren individuellen psychologischen Reaktionen auf Krisensituationen. Manche behalten einen kühlen Kopf, manche werden hysterisch und überschätzen die Gefahrenlage, und andere wiederum denken selbst in Krisensituationen nur an ihren eigenen ökonomischen Vorteil.
Aber es ist nicht nur das Individuum, das, konfrontiert mit Unsicherheiten und Gefahren, ratlos oder sogar kopflos werden kann, auch ganze Gesellschaften müssen sich Risiken stellen und auf diese reagieren. Ohne Verständigung über das, was gefährdet ist, und das, was eine angemessene Reaktion sein könnte, werden Gesellschaften und Kulturen in der Krise handlungsunfähig. Die Covid-19-Pandemie hat große Teile der Welt in eine anhaltende Ratlosigkeit gestürzt und nicht nur viel Leid über betroffene Familien gebracht, Todesopfer und Gesundheitsschäden verursacht, sondern auch aufgezeigt, wie vulnerabel die global vernetzte Ökonomie ist. Institutionen und Systeme wurden auf den Prüfstand gestellt, und Prüfungen solcher Art wird es auch in Zukunft geben. Daher ist es wichtig, über individuelle Risiken nachzudenken und Kriterien eines rationalen Umgangs mit diesen zu entwickeln. Dazu verbindet dieses Buch wissenschaftliche Erkenntnisse und philosophische Überlegungen mit lebensweltlichen Erfahrungen und fiktionalen Beispielen insbesondere aus Filmen. Die Lektüre soll zum eigenen Nachdenken anregen, aber auch Orientierung geben. Orientierung in der Welt der Werte und Normen im Umgang mit individuellen und kollektiven Risiken. Covid-19 ist nur das aktuelle Ausgangsbeispiel, das auch in Form einer Analyse (Kapitel 11 bis 13) und im Anhang in publizierten Stellungnahmen während der Pandemie erörtert wird. Aber dieses Beispiel steht für das Ganze eines sensiblen, aufgeklärten, vernünftigen und moralischen Umgangs mit der Realität des Risikos. Risiko ist kein Konstrukt. Es ist real. Und wir sind herausgefordert, uns mit dieser Realität zu arrangieren.
oder: »Wir waren den Risiken entkommen, die Gefahren blieben am Berg zurück«
Der Schwefelgeruch nach Steinschlag, das Dröhnen der Wasserfälle bei Gewitterregen mit Blitz und Donner, Schneefall mitten im Sommer ließen mich ahnen, wie der Eingang zur Hölle aussieht: Mitten in einer vereisten schwarzen Felswand konnte alles passieren! Als der Wolkenbruch, der über die westlichen Dolomiten niedergegangen war, aufhörte, stand die Westwand des Peitlerkofel ganz in Weiß da. Heini Holzer und ich kauerten wie verzagte Schulbuben in einer Nische zweihundert Meter unter dem Gipfel und zitterten am ganzen Körper. Schnee auf jeder Leiste, Eis in den Ritzen. Der kalte Wind von Westen schlug gegen die vereiste Felsmauer, die sich hoch über uns im schwarzen Himmel verlor. An Schussüberhängen herabtropfendes Wasser gegen unsere Körper und an den Fels, wo es sofort gefror. Blitzeis! Unsere Hoffnung, aus der Schliessler-Route, in die wir am Vormittag eingestiegen waren, herauszukommen, bevor es Nacht wurde, lag unter einem Eispanzer begraben. Und nachts konnten wir nicht klettern. Mir war klar, dass es ums Überleben ging: Wenn wir nicht hinaufkommen, erfrieren wir!
»Zurück?«
»Unmöglich!«
Triefend nass stand ich auf einer abschüssigen Felsleiste und sicherte, während Heini versuchte, mit steifen Bewegungen weiter voranzukommen. Als er senkrecht über mir kletterte – ständige Angst, er könne aus der Wand fallen, stürzen –, konnte ich nur staunen, wie er die Risiken meisterte. Wie nur hielt er sich am kleingriffigen Fels fest? Trotz Eis, Wasser und Schwierigkeiten. Endlich am Standplatz angekommen, rief er mir zu: »Wir müssen biwakieren!«
Ich stieg nach, zitternd vor Kälte und Angst. Als ich bei meinem inzwischen völlig ausgekühlten Seilpartner stand – das Warten hatte ihn zur Verzweiflung getrieben –, wusste auch er: Wenn wir biwakieren, werden wir erfrieren. […] Es war nicht allein die Angst, die mich antrieb, es war vielmehr die Hoffnung, alle Risiken hinter uns zu lassen. Es stand fest wie ein Naturgesetz: Nur oben war Rettung – ein Zurück wäre zu riskant gewesen. Nur die Hoffnung hielt uns am Fels, am Leben. Der Schnee zerrann unter klammen Fingern. Erst wenn sich der Fels unter meinen Händen rau anfühlte, konnte ich die nächste Kletterbewegung ausführen. Es war grauenvoll. Das Schmelzwasser lief an uns herab, die Schuhe flossen über. Wenn wir uns frei hätten bewegen können, aufwärtsstürmen, laufen, uns wäre rasch warm geworden. Die extremen Kletterschwierigkeiten aber ließen es nicht zu. […] In der Ferne hörten wir erneut lauten Donner. Ein zweites Unwetter drohte. Wie ein Todesurteil hingen wieder grauschwarze Wolken am Himmel über uns. Weiter! Es war der nackte Instinkt, der uns antrieb. Dazu gehörte die Hoffnung, am Leben zu bleiben. Wie oft haben wir das Risiko, obwohl freiwillig eingegangen, verflucht, jetzt zählte nur noch das Tempo! Wir setzten alles, aber auch alles ein, um vor der Dunkelheit zum Gipfel zu kommen. Beim Abstieg wurde es finster. Am Fuß unserer Wand blieben wir kurz stehen, schauten hinauf. »Wenn wir jetzt noch oben wären, wären wir nicht mehr lange«, bemerkte Heini im Weitergehen ganz nebenbei. Wir waren den Risiken entkommen, die Gefahren blieben am Berg zurück.
So beschreibt Reinhold Messner in seinem Buch Über Leben den riskanten Aufstieg auf den Peitlerkofel in seinen Zwanzigern. Wie er selbst zugibt, war er als junger Mann bereit, recht hohe Risiken einzugehen. Risiken so richtig wie möglich einzuschätzen, mit dem Wissen, dass man sich auch geirrt haben könnte, gehört, wie Messner es immer wieder beschrieben hat, zum täglichen Geschäft eines Alpinisten, auch wenn das Risiko, dass man dann dennoch falschliegt, bleibt: »Trotzdem kann ein Sturm mal nicht, wie erwartet, 150 Stundenkilometer, sondern 300 Stundenkilometer Windgeschwindigkeit haben. Dann wird es kritisch, da fliege ich mit dem Zelt weg.«
Auch wenn in der Realität die meisten von uns wahrscheinlich kaum je mit Blitzeis auf 2000 Meter Höhe zu kämpfen haben werden, gibt es andere Gefahrensituationen, in denen es gilt, Risiken richtig einzuschätzen, um vernünftige Entscheidungen zu treffen. Doch genau daran hapert es oft, denn woher kann ich wissen, dass meine Risikoeinschätzung richtig ist?
Man könnte meinen, immer dann, wenn Menschen Ängste haben, seien sie mit einem Risiko konfrontiert. Das setzt aber voraus, dass diese Ängste begründet sind. Es gibt aber auch unbegründete Ängste. Die Psychologie spricht dann von Phobien, die sich zu Krankheiten auswachsen können und Menschen daran hindern, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Eine angemessene Realitätswahrnehmung ist Voraussetzung dafür, dass Menschen ihr Leben nach eigenen Vorstellungen gestalten können oder, um ein anderes Bild zu verwenden, dass sie Autoren und Autorinnen ihres eigenen Lebens sein können. Risiken beruhen auf Tatsachen, nicht lediglich auf Vorstellungen. Risiken sind mögliche Gefahren, die sich durch Handeln beeinflussen lassen. Agoraphobie ist zum Beispiel die Angst, sich auf freien Plätzen zu bewegen. Sie ist unbegründet, da dort keine größeren Gefahren lauern. Arachnophobie ist in Deutschland irrational, weil von hiesigen Spinnen keine Gefahr ausgeht, und so weiter. Wir können Risiko als einen möglichen Schaden bestimmen. Im Idealfall kennen wir das Schadensausmaß und die Wahrscheinlichkeit, mit der die Schädigung eintreten kann. Wenn wir zum Beispiel wissen, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Ausübung einer bestimmten Risikosportart zum Tode führen kann, dann haben wir beides: die Bestimmung des möglichen Schadens (der Tod des Sportlers) und die Wahrscheinlichkeit, mit der dieser auftritt. Dazu gibt es Statistiken, auch auf die zeitliche Dauer der sportlichen Praxis bezogen.[2]
Nun gibt es allerdings Aspekte der Risikobewertung, die sich nicht oder nicht vollständig objektivieren lassen. Das gilt selbst für das scheinbar eindeutige Beispiel der Todesgefahr, die das Ausüben einer bestimmten Sportart mit sich bringt. Es gibt Menschen, die sich – nicht nur beim Sport, sondern ganz allgemein – vor dem eigenen Tod weniger fürchten als andere, ja es gibt sogar Menschen, die sich den Tod herbeiwünschen, ohne deswegen zum Suizid zu greifen. Ein prominentes Beispiel ist der Bruder von Ludwig Wittgenstein, in dessen Familie es einige Suizide gegeben hatte und der aus Todessehnsucht bewusst hohe Risiken im Ersten Weltkrieg auf sich nahm. Korrespondenzen legen nahe, dass Todessehnsucht bei vielen jüngeren Männern damals im Spiel war. Eine Haltung, die im Fin de Siècle durchaus envogue war. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs beeindruckten japanische Kamikaze-Piloten, die unter bewusster Inkaufnahme des eigenen Todes ihre Flugzeuge in feindliche Ziele lenkten. Auch die islamistischen Selbstmordattentäter gehören in diese Kategorie. Es gibt also auch Menschen, die sich in bestimmten Situationen von der hohen Wahrscheinlichkeit oder sogar Sicherheit des eigenen Todes nicht schrecken lassen. Manche von ihnen mögen dafür moralische Motive haben, sie opfern sich selbst, so wichtig ihnen das eigene Leben auch ist, um das Leben anderer zu retten. Gefährliche Berufssparten, etwa die Feuerwehr, setzen auf diese besondere Variante individueller Risikobereitschaft.
Schon an der Bereitschaft, sein eigenes Leben zu riskieren, zeigt sich ein Aspekt der Bewertung durch das handelnde Subjekt. Wenn man die Zahl der Todesfälle kennt, die mit einer bestimmten Praxis in einer bestimmten Population einhergeht, dann kennt man in diesem fundamentaleren Sinne noch nicht das Ausmaß der Gefahr, denn als wie groß dieser Schaden empfunden wird, hängt von den Akteuren und der Kultur ab, in der sie leben. Kulturelle Praktiken, ja selbst die Standards der jeweiligen Berufsausübung lassen sich nur schwer objektivieren.
Ein vielleicht naheliegenderes Beispiel sind materielle Schäden wie etwa Geldverlust. Für Menschen, für die der Verlust von Zahlungsmitteln schon deswegen ein großer Schaden ist, weil sie sorgfältig auf jeden Euro achten müssen, um über die Runden zu kommen, ist der Schaden weit größer als für diejenigen, die mit höheren Summen auf Aktienmärkten spekulieren. Aber auch diejenigen, die materiell weniger gut gestellt sind, unterscheiden sich in hohem Maße hinsichtlich der Wertschätzung materieller Güter. Es gibt auch ärmere Menschen, denen materielle Verluste nicht viel bedeuten, dazu gehören in allen Kulturen etwa Angehörige von Bettelorden oder anderen asketischen religiösen Gemeinschaften. Eine der zentralen Figuren der Spiritualität, Gautama Buddha, selbst aus einer sehr wohlhabenden Fürstenfamilie stammend, verlässt all den Luxus, um ein spirituelles Leben in Armut zu beginnen. Ähnliche Geschichten gehören zu den Gründungsmythen der meisten Religionen, darunter auch das Christentum (der heilige Augustinus zum Beispiel). Der Wert materieller Güter und der Schaden, den ihr Verlust bedeutet, hängt daher von subjektiven Bewertungen ab. Die Monetarisierung von Schäden ist in der Versicherungswirtschaft üblich und notwendig. Auf der Homepage der Münchener Rück, eines der größten Versicherungsunternehmen weltweit, sind Aussagen zu lesen wie »Fachleute aus über 80 Fachgebieten schaffen Risikolösungen für heute und morgen«, »Wir tragen Ihre Katastrophenrisiken« oder »Wir übernehmen Ihre Spitzenrisiken«. Diese Sätze legen den trügerischen Schluss nahe, jede Art von Risiko könne umfassend errechnet und durch monetäre Kompensation kontrolliert werden.
Wenn sich eine Gesellschaft darüber einig ist, was in welchem Maß als Schaden zu bewerten ist, dann allerdings genügt der Hinweis, in welchem Umfang und mit welcher Wahrscheinlichkeit dieser Schaden auftreten kann, um Risiken für diese Gesellschaft zu bestimmen. So sind wir uns fast alle einig, dass der Tod eines Menschen ein Übel ist, das, wenn irgend möglich, vermieden werden sollte. Daraus wird dann gerne der Schluss gezogen, dass, im Hinblick auf dieses Übel, allein die Zahl der zu erwartenden Todesfälle ausschlaggebend ist, um das Risiko zu bestimmen. Das kann jedoch zu ethisch inakzeptablen Konsequenzen führen. So dürfen wir einzelnen Menschen nicht zusätzliche Risiken auferlegen, um andere Menschen zu schützen – diese Form der Verrechnung würde dem Verbot der Instrumentalisierung widersprechen. Es ist also nicht lediglich das Aggregat, die Summe der Todesfälle, das hier relevant ist, sondern auch die Art und Weise, wie die Risiken verteilt sind.
Vorher müssen wir eine weitere Unterscheidung treffen, nämlich die, dass es neben der Subjektivität der Schadensbewertung auch eine Subjektivität der Wahrscheinlichkeitsbewertung gibt. Zwar wäre es irrational, wenn die Wahrscheinlichkeitsschätzungen von den verfügbaren frequentistischen Daten[3] abwichen, aber in vielen Fällen sind solche Daten nicht verfügbar oder unzuverlässig. Um dann nicht die Grundlagen jeder rationalen Risikopraxis einzubüßen, müssen Wahrscheinlichkeitsschätzungen zugrunde gelegt werden, die jedoch nicht willkürlich sein dürfen, sondern gewisse Mindestbedingungen an Kohärenz erfüllen müssen wie die Kolmogoroff-Axiome.[4]
Obwohl es also eine subjektive Komponente, sowohl hinsichtlich der Wahrscheinlichkeiten wie auch der möglichen Schäden, die ein Risiko ausmachen, gibt, lässt sich das Risiko in dem Maß objektivieren, in dem man sich auf Bewertungsmaße einigen kann. So ist es zum Beispiel naheliegend, im Falle technologischer Großrisiken und Naturkatastrophen als Schadensmaß die Anzahl der Todesfälle zugrunde zu legen. Sofern diese Anzahl bestimmt werden kann, ist der eingetretene Schaden objektiv bestimmbar. Ähnlich gilt für Wahrscheinlichkeiten, dass das Vorliegen von hinreichend verlässlichen und umfangreichen frequentistischen Daten Meinungsunterschiede bezüglich der Wahrscheinlichkeitsschätzungen erübrigt.
Aber auch dann, wenn man sich auf eine solche objektive Risikobestimmung einigen kann, sind Differenzierungen erforderlich, die die Beurteilung wieder verkomplizieren. Nicht erst durch die Covid-19-Pandemie, sondern schon in vielen vorausgegangenen Risikosituationen ist es üblich geworden, die Anzahl der eingetretenen Todesfälle öffentlich zu kommunizieren. Dabei handelt es sich allerdings um eine verkürzte Information, die massive Fehlinterpretationen des Risikoausmaßes nach sich ziehen kann. Nehmen wir das Beispiel der Hitzewelle im Sommer 2003. Mit insgesamt 40 000 bis 75 000 Todesopfern in Europa gilt sie als eine der größten Naturkatastrophen der letzten 40 Jahre. Laut der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet sorgte die Hitzewelle allein in Frankreich zusammen mit unzureichenden Klimaanlagen in Kliniken und Altenheimen für rund 15 000 Todesfälle. Wenn man in die Mortalitätsstatistik blickt, ergibt sich für Frankreich eine wahrnehmbare Erhöhung, eine beträchtliche Übersterblichkeit (Exzessmortalität) in der Hitzephase. Im Anschluss an diese Phase überhöhter Sterblichkeit folgte allerdings auch eine Phase leicht abgesenkter Sterblichkeit, sodass über einen längeren Zeitraum hinweg die Sterblichkeit wieder weitgehend ausgeglichen wurde. Die naheliegende Interpretation für dieses Phänomen ist, dass durch die erhöhten Temperaturen Menschen gestorben sind, die ansonsten in einigen Tagen, Wochen oder Monaten gestorben wären. Der Todeszeitpunkt dieser Personen wurde also um eine vergleichsweise kurze Zeitspanne vorverlegt, und da diese Menschen in den folgenden Wochen und Monaten nicht mehr starben, wie es sonst der Fall gewesen wäre, sank anschließend die Zahl der Todesfälle in der Gesamtbevölkerung (Mortalität). In Deutschland etwa weist das Landesinstitut für den öffentlichen Gesundheitsdienst NRW darauf hin, dass die auch in Deutschland im Sommer 2003 stattfindende Übersterblichkeit mit der in den anschließenden Monaten auftretenden Untersterblichkeit verrechnet werden muss. Dieses Phänomen darf nicht als Bagatellisierung dieser Todesfälle missverstanden werden, es sollte auch nicht als Argument für eine Verrechnung von Menschenleben herangezogen werden, wie wir im folgenden Kapitel noch sehen werden. Aber der Unterschied zwischen der Verkürzung eines Menschenlebens um 20 oder 40 Jahre und der Verkürzung des Lebens eines Schwerkranken um vier Wochen durch unzureichend funktionierende Klimaanlagen ist für eine rationale Risikoeinschätzung relevant.
Der Umgang mit frequentistischen Daten birgt ein großes Missbrauchspotenzial. So wird zum Beispiel aus der Tatsache, dass in Deutschland in Phasen sommerlicher Hitzeperioden die Sterblichkeit der Bevölkerung zunimmt, geschlossen, dass ein Temperaturanstieg in Deutschland durch den Klimawandel entsprechend die Sterblichkeit erhöhen würde. So versuchte der Umweltepidemiologe Shakoor Hajat, die Folgen der erwarteten Erderwärmung für Großbritannien auszurechnen, und kam zu dem Schluss, dass sich in den nächsten Jahren die Zahl der Hitzetoten verdreifachen könnte.[5] Der Denkfehler liegt auf der Hand: Auch wenn in allen Ländern der Welt jeweils in Hitzeperioden die Sterblichkeit erhöht ist, heißt dies keineswegs, dass durch Temperaturanstieg die Sterblichkeit erhöht wird. Süditalien hat eine höhere Lebenserwartung als Norddeutschland, trotz 7 Grad höherer Durchschnittstemperatur. Auch in Ländern mit großem Nord-Süd-Gefälle, wie etwa Russland, ist kein Zusammenhang erkennbar zwischen höheren Durchschnittstemperaturen und Lebenserwartung, obwohl wir annehmen können, dass für all diese Regionen gilt, dass in Hitzeperioden, und sei es in Sibirien, die Sterblichkeit zunimmt.
Wie wir bereits eingangs des letzten Abschnitts gesehen haben, gilt für Wahrscheinlichkeitsabschätzungen generell, dass es auf die konkrete Verteilung ankommt. Es ist nicht richtig, jeweils die Durchschnittswahrscheinlichkeit zur Bestimmung eines Risikos heranzuziehen, schon deswegen nicht, weil unterschiedliche Schadenswahrscheinlichkeiten manche Menschen besonders treffen, während andere so gut wie keinem Risiko ausgesetzt sind. Die Verteilung ist dann doppelt relevant: zum einen hinsichtlich der Zumutbarkeit für die einzelnen Personen und zum anderen hinsichtlich der Gerechtigkeit der Risikoverteilung.
Risiken haben immer zwei Komponenten, das Ausmaß des möglichen Schadens und die Wahrscheinlichkeit, mit der dieser Schaden eintreten könnte. Beide haben sowohl einen objektiven wie auch einen subjektiven Aspekt. Die Rationalität der Risikobeurteilung und der darauf beruhenden Praxis ist nicht erst dann möglich, wenn eine vollständige Objektivierung dieser beiden Komponenten erfolgt. Sie hängt davon ab, dass wir uns in der Gesellschaft auf einen Korridor verständigen können, innerhalb dessen sich unsere Wahrscheinlichkeits- und Schadenseinschätzungen bewegen.
oder: Warum ein Kriegseinsatz in Vietnam bei oberflächlicher Betrachtung das Lebensrisiko senkt
Frankfurt. Ein kühles, dunkles Hochhaus im Finanzdistrikt. Der smarte und charismatische Gabriel Fenger, Investmentchef der Deutschen Global Invest, betritt lässig und selbstsicher den Sitzungsraum. Um den großen schwarzen Tisch sitzen fünf Männer in dunkelblauen Anzügen.
»Danke, dass Sie sich Zeit genommen haben. Wir wissen, wie beschäftigt Sie sind«, begrüßt ihn der glatzköpfige Vorstandsvorsitzende in einem übertrieben freundlichen Ton.
»Ich freue mich, hier zu sein«, antwortet Fenger genauso übertrieben freundlich und setzt sich.
»Lassen Sie uns anfangen!«, fährt der Vorstandsvorsitzende, zu den anderen Vorstandsmitgliedern gewandt, fort. »Das ist der neue ›Quarterback‹ der Firma Global Invest: Gabriel Fenger. Er verlangt ein gigantisches Gehalt, ist aber jeden Cent wert.«
»Es geht doch hier nicht um mein Gehalt, sondern um die Aktionärsversammlung nächste Woche.«
»Sie übernehmen doch eine Schlüsselrolle. Ihre Funktion wird ein wichtiges Thema sein.«
Die Vorstandsmitglieder tauschen untereinander bedeutsame Blick aus. Offenbar muss jetzt ein heikles Thema angesprochen werden.
»Wir sind besorgt, weil Sie den Vorstand beschuldigen, die Aktionäre wie rohe Eier zu behandeln.«
Fenger sieht dem Vorsitzenden unerschrocken in die Augen.
»Sogar die begriffsstutzigsten Aktionäre haben verstanden, dass es der Bank nicht gut geht. Es ist falsch zu glauben, dass sie angelogen werden wollen.«
Der Vorsitzende sieht ihn subtil herablassend an: »Wir diskutieren das gerne mit Ihnen. Aber Sie müssen unserer Expertise im Umgang mit Aktionären vertrauen.«
»Das tue ich«, antwortet Fenger, dessen Lächeln nun steif geworden ist. »Aber ich bin der Chef des Investmentbankings, und ich glaube nicht, dass die Aktionäre jemanden wollen, der zögerlich und übervorsichtig ist. Sie wollen, dass ihre Investitionen in starken und …«
Der Vorstandsvorsitzende unterbricht Fenger: »Hätten wir nicht so viele Themen und wäre dies der geeignete Rahmen, würde ich wirklich gerne Ihre Gedanken dazu hören.«
Der Vorstandsvorsitzende hat Fenger soeben vor versammelter Mannschaft einen Maulkorb verpasst und ihn gedemütigt. Quirin, ein alter Weggefährte von Fenger, versucht, die Wogen zu glätten: »Wir wissen, wie gut dein Instinkt im Umgang mit Kunden ist. Aber nächste Woche geht es um das Bedürfnis der Aktionäre nach Vertrauen und Sicherheit.«
Fenger versucht, sich zur Wehr zu setzen: »Wer aus Angst handelt, überträgt sie auf andere. Das wisst ihr. Ihr könnt die Aktionäre zwar beruhigen. Aber ihr bekräftigt ihre Ängste. Das ist ein großer Fehler.«
»Ich wiederhole mich«, sagt der Vorsitzende. »Ihr Job ist das Investmentbanking. Unserer ist der Umgang mit den Aktionären. Wir erwarten Ihre volle Kooperation. Danke für Ihre Zeit.«
»In Ordnung«, antwortet Fenger. Er lächelt, doch sein Lächeln ähnelt eher dem Zähnefletschen eines Wolfes. Er weiß, dass er den Kürzeren gezogen hat. »Wie Sie meinen.«
Die Show ist zu Ende. Fenger hat verloren.
Eine Woche später ist es so weit. Dicke Mercedes- und BMW-Limousinen reihen sich vor einem großen Zelt auf. Die Aktionärsversammlung beginnt. Fenger sitzt mit anderen hohen Managern der Deutschen Global Invest auf dem Podium und beantwortet Fragen. Plötzlich meldet sich ein Journalist: »Herr Fenger, Sie haben einmal gesagt, dass man – ich zitiere – niemals einer Bank trauen sollte, die von Sicherheit spricht und, wenn man recherchiert, jedes Risiko scheut. Verstehe ich Sie damit richtig, dass Sie sagen wollen, dass Banken die Pflicht haben, ihre Kunden anzulügen?«
Ein Raunen geht durch die Menge. Die Frage hat es in sich.
»Ich weiß nicht, wann ich das gesagt habe«, antwortet Fenger schlagfertig. »Aber sicherlich vor der Finanzkrise, als der Begriff der ›Sicherheit‹ noch gleichbedeutend war mit dem Begriff der ›steten Investition‹.«
»Also zusammengefasst heißt das: Sie stehen für Wachstum ohne Risiko?«, hakt der Journalist provokativ nach.
Ende der Leseprobe