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Der Krieg in der Ukraine hat alle Hoffnung zerstört, dass Europa keine bewaffneten Konflikte mehr erlebt. Wieder, wie nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, muss eine neue Friedensordnung gefunden werden. Dazu muss über die aktuelle militärische Lage im Ukrainekrieg hinaus gedacht werden. Die Autoren dieses Buches eint die Sorge um eine Verkürzung der aktuellen Debatten auf die militärische Logik und gleichzeitig eine falsche Moralisierung der Außenpolitik. Sie eröffnen unterschiedliche Perspektiven für eine neue Realpolitik, in der die Interessen der Ukraine berücksichtigt und zugleich die Chancen für stabile Sicherheit und Frieden ausgelotet werden. Fundierte Debattenbeiträge renommierter Experten aus unterschiedlichen Disziplinen und mit unterschiedlichen Einstellungen, die dringend gebraucht werden.
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Seitenzahl: 140
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Julian Nida-Rümelin, Mattias Kumm, Erich Vad, Albrecht von Müller, Werner Weidenfeld, Antje Vollmer
Julian Nida-Rümelin, Mattias Kumm, Erich Vad, Albrecht von Müller, Werner Weidenfeld, Antje Vollmer
Europa auf dem Weg zu einer neuen Friedensordnung?
Herausgegeben von der Parmenides Stiftung
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Verlag Herder GmbH
E-Book-Konvertierung: Röser MEDIA GmbH & Co. KG, Karlsruhe
ISBN Print 978-3-451-39524-6
ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-82942-0
ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-82943-7
Einführungvon Julian Nida-Rümelin
Szenarien nach dem Krieg
Elemente einer neuen Weltordnung
Der Ukrainekrieg und die Zukunft der internationalen Rechtsordnungvon Mattias Kumm
Krieg und die Struktur internationaler Ordnung
„Making the World Safe for Democracy“: Von Woodrow Wilson zu Franklin Delano Roosevelt
Drei Grundpfeiler der globalen Nachkriegsordnung
Die Realität der bestehenden Ordnung internationalen Rechts: Der Machtkampf um unipolare oder multipolare Großmachtprärogativen
Die Reform der internationalen Rechtsordnung: Konstitutionalisierung gegen prärogative Macht
Gelernte Lektionen und strategische Perspektivenvon Erich Vad
Militärische Lösungen gibt es nicht
Politische Romantik ist gefährlich
Strategische Interessenlagen müssen berücksichtigt werden
Europa handlungsfähig machen!
Den Primat der Politik zurückgewinnen
Strukturelle Stabilität für Europavon Albrecht von Müller
Einleitung
Ein alter, neuer Denkansatz für die Beendigung des Ukrainekriegs
Strukturelle Sicherheit und die Weiterentwicklung Europas
Schlussbemerkung
Der Kontinent der Fragezeichen: Europapolitische Aspektevon Werner Weidenfeld
Arbeit an der europäischen Identität
Europa als Strategiegemeinschaft
Schritte in die Zukunft
Eine ethisch fundierte Realpolitik der Friedenssicherung. Eine philosophische Perspektivevon Julian Nida-Rümelin
Im Kern ein geopolitischer Konflikt
Idealismus und Realismus in den internationalen Beziehungen
Auf dem Weg zu einem demokratischen Frieden
Den Krieg verhindern – ein ungehörter früher Weckrufvon Antje Vollmer
Autorin und Autoren
„Zu den Gefühlen, die uns der Krieg einflößt, gehört leidenschaftlicher Mitschmerz; denn die Greuel, die himmelschreienden Leiden, der er verursacht, gehen schon über die Grenzen des Erträglichen hinaus. Er nimmt ja täglich mit jeder neuen Heeresverstärkung, jeder neuen Erfindung an Fürchterlichkeit zu […] All dem Elend muss man ins Gesicht sehen, aber nicht um es als Unglück zu beklagen, sondern als Schlechtigkeit anzuklagen! Denn es ist keine Elementarkatastrophe, es ist das Ergebnis menschlichen Irrwahns und menschlicher Fühllosigkeit.“
Bertha von Suttner (Bertha von Suttners letzter Brief an die deutschen Frauen, 1914)
„Nicht der Krieg ist revolutionär, der Friede ist revolutionär.“
Jean Jaurès
„Was wussten 1914, nach fast einem halben Jahrhundert, die großen Massen vom Kriege? Sie kannten ihn nicht, sie hatten kaum je an ihn gedacht. Er war eine Legende, und gerade die Ferne hatte ihn heroisch und romantisch gemacht.“
Stefan Zweig (Die Welt von gestern, 1944)
Dieses Buch geht auf einen intensiven Gedankenaustausch über die Perspektiven nach dem (Ukraine-)Krieg zurück: Werner Weidenfeld, Erich Vad, Albrecht von Müller und Julian Nida-Rümelin trafen sich am 16. Juni 2022 auf Einladung der Parmenides Stiftung. Schon in Interviews, Artikeln und mündlichem Austausch war zuvor deutlich geworden, dass die vier Gesprächsteilnehmer bei allen Unterschieden eines einte, nämlich ein großes Unbehagen angesichts der Tatsache, dass keine langfristigen, nicht einmal mittel- oder kurzfristigen Perspektiven für die Zeit nach dem Krieg in Deutschland, Europa oder den USA erkennbar sind. Im Wall Street Journal hat Henry Kissinger dieses Unbehagen am 15. August 2022 in einem Interview sehr deutlich zum Ausdruck gebracht: „Wir stehen am Rande eines Krieges mit Russland und China in Fragen, die wir zum Teil selbst verursacht haben, ohne eine Vorstellung davon zu haben, wie das Ganze enden wird und wozu es führen soll.“
Die öffentliche Debatte hat sich sehr rasch nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges am 24. Februar 2022 neu formatiert. Führende Vertreter einer Partei, die noch im Wahlkampf strikt jede Waffenlieferung an die Ukraine abgelehnt hatte, warben nun für möglichst rasche und massive Waffenlieferungen und formulierten als Ziel einen uneingeschränkten Sieg der Ukraine über Russland. Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Deutschen Bundestag warnte davor, das Risiko eines Nuklearschlages oder gar einer Eskalation zum Atomkrieg zu berücksichtigen, denn damit spiele man dem Aggressor in die Hände. Der umsichtig agierende und sparsam argumentierende Bundeskanzler, der als Ziel ausgegeben hatte, einen Sieg Putins durch Unterstützung der Ukraine in enger Abstimmung mit den westlichen Partnern zu verhindern, ohne dabei selbst Kriegspartei zu werden, geriet unter massiven medialen Druck. Die Bereitschaft zu einer differenzierten Lageanalyse und sorgfältigen Klärung der Handlungsoptionen ist in Deutschland seit Ausbruch des Krieges einer zunehmenden Neigung zu vordergründiger Polemik gewichen.
Zur Neuformatierung des öffentlichen Diskurses gehört ein auffälliger Generationenkonflikt. Konservative Theoretiker und Praktiker, die oft über Jahrzehnte die diplomatische und sicherheitspolitische Praxis mitgestaltet haben,1 äußern seit Jahren ihre Bedenken gegenüber einer Stabilitäts- und Sicherheitsaspekte vernachlässigenden Politik des Westens und sehen sich nun in ihren Warnungen bestätigt. Diejenigen, die erst nach 1990 politisch sozialisiert wurden, halten dagegen an der Idee einer westlich geprägten Weltordnung fest, die die USA und die NATO durch humanitäre Interventionen und Sanktionen, notfalls durch Militäraktionen gestalten. Die Erfahrung eines Jahrzehnte währenden Kalten Krieges, in dem sich hochgerüstete Nuklearmächte gegenüberstanden und Konflikte wie die Kubakrise 1962 jederzeit zu einem heißen Krieg mit der Gefahr eines weltvernichtenden Atomkrieges eskalieren konnten, ist verblasst. An Bedeutung verliert wohl auch die Erinnerung an die mühsame und langwierige Einführung stabilisierender Elemente, die strategischen Abrüstungsverhandlungen in den 1970er Jahren, die doppelte Nulllösung in Europa für nukleare Mittelstreckenwaffen, das Bemühen um eine sicherheitspolitisch stabilere Ordnung in Zeiten eines tiefen, ideologisch unterfütterten Machtkonflikts zwischen zwei gegensätzlichen politischen und wirtschaftlichen Systemen, gegossen in die zwei Militärblöcke NATO und Warschauer Pakt.
Die aktuellen Gefahren für den Weltfrieden sind Folge einer einmaligen Konstellation dreier revisionistisch agierender Weltmächte: USA, Russland und China. Keine begnügt sich mit dem Status quo, jede strebt mit unterschiedlichen Mitteln, ideologischen Hintergründen, Interessenlagen und Zielen nach einer Veränderung des Status quo. China sieht sich als zweite zukünftige Supermacht in Konkurrenz und auf Augenhöhe mit den USA und versucht seinen Einfluss durch finanzielle und ökonomische Abhängigkeiten auszuweiten. Russland, obwohl ökonomisch im Vergleich zu den beiden Wirtschaftsgiganten USA und China schwach, möchte seinen Weltmachtstatus erhalten oder wiederherstellen und scheut vor Angriffskriegen und der militärischen Unterstützung von Sezessionsbewegungen in Nachbarstaaten nicht zurück. Der Westen betreibt mit militärischen Interventionen im Irak, in Afghanistan, in Libyen u. a. eine Regime-Change-Politik und versucht den Einfluss anderer Mächte in unterschiedlichen Weltregionen zurückzudrängen. Der Ukrainekrieg steht in diesem größeren geopolitischen Kontext, den man nicht ausblenden darf, wenn man sich ein realistisches Bild der Konfliktlage verschaffen will.
Dieses Buch enthält sechs Stellungnahmen zum Ukrainekonflikt und zu einer Zukunft nach dem Krieg aus unterschiedlichen disziplinären und politischen Perspektiven. Mattias Kumm erinnert an die völkerrechtlichen Ziele, die jeweils mit dem außenpolitischen Engagement und speziell dem Kriegseintritt der USA verbunden waren, und zieht daraus seine Schlüsse für die Perspektiven nach dem Ukrainekrieg. Erich Vad erörtert die Lage aus militärstrategischer Sicht. Albrecht von Müller diskutiert die Kriterien und Perspektiven einer stabilitätsorientierten Sicherheitspolitik nach dem Krieg. Werner Weidenfeld analysiert die fundamentalen aktuellen Herausforderungen für die Europäische Union. Julian Nida-Rümelin plädiert für eine ethisch fundierte Realpolitik als Antwort auf die Krise der europäischen Friedens- und Sicherheitspolitik. Und Antje Vollmer wirft einen Blick zurück auf den Protest von Politikern und Intellektuellen gegen die Verschärfung des Ukrainekonflikts im Jahre 2014 und erörtert, was man daraus für die Zukunft lernen kann.
Das Buch formuliert keine gemeinsame Position aller Autoren, es ist aber von dem gemeinsamen Ziel getragen, die Debatte zu versachlichen und der Dynamik der Konflikteskalation eine besonnene Politik entgegenzusetzen, die den Frieden nachhaltig sichert und eine tragfähige neue Sicherheitsarchitektur schafft. Die folgenden Überlegungen sollen als Anstöße für diese Debatte dienen.
Der russische Angriffskrieg in der Ukraine stellt den Westen vor die Herausforderung, seine internationalen Beziehungen neu zu gestalten und eine Sicherheitspolitik zu entwickeln, die der neuen internationalen Situation angemessen ist. Die folgenden Texte sind Denkanstöße von sechs Autoren mit unterschiedlichen Expertisen und aus unterschiedlichen Disziplinen, die völlig unabhängig von institutionellen oder politischen Rücksichtnahmen versuchen, Orientierung zu geben.
Unabhängig davon, wann und wie dieser Krieg in der Ukraine beendet wird, muss die Außen- und Sicherheitspolitik des Westens darauf ausgerichtet sein, eine neue Stabilität zu erreichen, die die Wahrscheinlichkeit weiterer Kriegsausbrüche mindert, die Eskalation zum Weltkrieg bannt und die globale Kooperation im Interesse der Menschheit ermöglicht. Die Analyse der europäischen Herausforderungen muss dabei eingebettet sein in eine Analyse der möglichen globalen Entwicklungen.
Erstes Szenario: Neue rigide Bipolarität
Ein Szenario wäre, dass die verhängten Sanktionen gegen Russland und die Verschärfung der Konflikte in Europa zu einer neuen Lagerbildung weltweit führen. Die westlichen Staaten rücken, wie sich schon in den letzten Monaten abgezeichnet hat, stärker zusammen, die Europäische Union entwickelt eine gemeinsame außen- und sicherheitspolitische Strategie und die transatlantischen Bande werden angesichts gemeinsamer Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen gefestigt.
Auf der anderen Seite richtet sich die russische Handels- und Außenpolitik angesichts anhaltender westlicher Sanktionen und fehlender Kooperationsperspektiven neu aus, insbesondere nach China und Indien. China, der neue Wirtschaftsgigant, der in einigen Jahren das Bruttoinlandsprodukt der USA überholt haben wird und über eine weit größere wirtschaftliche Dynamik verfügt als Russland bei einer etwa zehnmal so großen Bevölkerungszahl, wird sich – angesichts der Alternativlosigkeit für Russland – dafür einen hohen Preis zahlen lassen. Das weitgehend selbständige Agieren Russlands als – im Selbstverständnis – zweite Supermacht wird ein Ende finden, die Rohstoffexporte Russlands werden der chinesischen Wirtschaftsdynamik helfen, Russland wird in wirtschaftspolitische Abhängigkeit von China und Indien geraten, während China durch ein enges militärpolitisches Bündnis mit Russland seine Supermachtambitionen leichter realisieren kann.
Im Extrem würde dies zu einer neuen Blockbildung – der Westen mit dem Kern des transatlantischen Bündnisses und der Osten mit dem russisch-chinesischen Kern – führen, wobei beide Blöcke bestrebt sind, sich unterschiedliche Bündnispartner in verschiedenen Regionen der Welt durch wirtschaftliche, finanzpolitische und militärstrategische Kooperationen zu sichern. Teile des globalen Südens werden versuchen, sich aus dem Machtkonflikt herauszuhalten, einen weitgehenden Neutralitätsstatus zu bewahren und von der Konkurrenz in Gestalt günstiger Konditionen für wirtschaftliche und finanzielle Zusammenarbeit zu profitieren. Je rigider die beiden Blöcke darauf drängen werden, sich so oder so zu bekennen und zu binden, desto bipolarer würde die neue Weltordnung. Von besonderem Interesse wird sein, wie sich die beiden besonders dynamischen Regionen der weiteren Zukunft, Indien und das subsaharische Afrika, verhalten werden. Beide Regionen sind von einer großen Bevölkerung geprägt, die weiter auf Jahrzehnte hinaus wachsen wird, beide Regionen haben das Potenzial zu einer nachholenden Entwicklung mit starker wirtschaftlicher Dynamik, beide sind bislang wenig geneigt, sich in der abzeichnenden Bipolarität auf eine Seite zu schlagen. Auch große Einzelstaaten wie Brasilien oder Indonesien werden möglicherweise versuchen, diesen Neutralitätsstatus durchzuhalten.
Wenn die westliche Handelspolitik den moralischen Imperativen folgt, die gegenwärtig in Bezug auf die Ukrainekrise und ihre Vorgeschichte formuliert werden, dass man also nicht mit Staaten Handel treiben könne (jedenfalls nicht in großem Umfang), die die Menschenrechte nicht achten und die keine Anstalten machen, durch wirtschaftliche Kooperation sich auch gesellschaftspolitisch an die Standards demokratischer Staaten anzunähern, dann ist eine lang anhaltende Phase der Deglobalisierung zu erwarten, die aller Voraussicht nach mit schweren Wirtschaftseinbrüchen im globalen Norden verbunden wäre, begleitet von steigender Arbeitslosigkeit, Insolvenzen, Verlust ganzer Branchen, im Osten mit der Abkoppelung von technologischem Know-how und den internationalen Finanzströmen und im globalen Süden mit zusätzlichem Hunger und Elend. Das Motto „Nie mehr Handel ohne Wandel“ führt zwangsläufig zu einer Segregation der Weltwirtschaft in den einen Bereich demokratischer Staaten und den anderen Bereich der Autokratien, Diktaturen und totalitären Regime.
Eine neue Bipolarität der Weltordnung dieses Typs hätte insbesondere für die westliche Vormacht, die USA, aber auch für den gesamten Westen weitreichende Veränderungen zur Folge. Die Zeit humanitär motivierter Interventionen, die Zeit, in der die NATO teilweise versuchte, die Rolle eines Weltpolizisten zu übernehmen, wäre dann endgültig zu Ende. Beide Seiten müssten dann auf die Stabilität dieser bipolaren Ordnung achten, Provokationen, die den gegnerischen Block betreffen, vermeiden und Konflikte nur in der Peripherie zulassen.
Dies ist jedenfalls die Erfahrung des Kalten Krieges nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach einer Phase der Instabilität unmittelbar nach dem Krieg, in der der Westen versuchte, ein Rollback gegenüber der sowjetischen Einflusszone zu organisieren, folgte eine Phase des Containments, die weitere Ausgriffe der Sowjetunion blockieren sollte, was im Falle der Kubakrise 1962 beinahe zum Dritten Weltkrieg geführt hätte. Dieses Schockerlebnis, wie rasch ein Kalter Krieg in einen heißen eskalieren kann, wurde durch Disengagement beider Seiten beigelegt (die Sowjetunion stationierte keine Raketen auf Kuba und die USA zogen ihre auf Russland gerichteten Raketen aus der Türkei ab) und ließ die Einsicht reifen, dass die beiden Blöcke sich paritätisch begegnen müssten und Abrüstungsschritte nur unter Bedingungen von Parität möglich sind. Dies hat dann in den 1970er Jahren zu den verschiedenen Abrüstungsverträgen geführt, die weniger in ihrer militärischen Substanz ausschlaggebend waren, sondern als wechselseitige Versicherung, dass man nicht an einer Eskalation des Konflikts Interesse hat und sogar bereit ist, trotz diametral entgegengesetzter Systeme – hier der Westen, dessen politisches System auf Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit beruht, dort der Osten, in dem mit dem Instrument einer kommunistisch geführten Kaderpartei diktatorisch und teilweise totalitär regiert wurde – kulturelle Kontakte zuzulassen und auszubauen, Sportereignisse gemeinsam auszurichten (die Nixon’sche Ping-Pong-Politik gegenüber China) und stabilisierende Elemente wie Backchannels, rote Telefone, wechselseitige Informationen bei Militärübungen etc. einzuführen.
Ab Ende der 1960er Jahre entwickelten sich daraus Züge einer sogenannten Entspannungspolitik, die der Architekt der Willy Brandt’schen Ostpolitik Egon Bahr unter das Motto „Wandel durch Annäherung“ gestellt hatte. Mit der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 entstand daraus eine Herausforderung für die kommunistischen Einparteiensysteme, die sich zunehmend mit zunächst noch politisch schwachen, oft unter dem Schutz der Kirchen agierenden Menschenrechtsgruppen auseinandersetzen mussten und diese etwa in Polen und zuvor in der Tschechoslowakei und noch früher in Ungarn brutal niederschlugen. Der Zusammenbruch des sowjetischen Herrschaftssystems hat unterschiedliche Ursachen, darunter auch die wirtschaftliche Ineffizienz der Zentralverwaltungswirtschaften, aber die Entspannungspolitik, der Ausbau von kulturellen und wissenschaftlichen Kontakten, auch der Ausbau von Handelsbeziehungen spielten neben der außenpolitischen Niederlage der Sowjetunion in Afghanistan eine wichtige Rolle.
Wenn es zu diesem Szenario kommt, das heißt zu einer Ost-West-Spaltung mit zwei ökonomisch und militärisch weitgehend gleichrangigen Blöcken, müsste es das oberste Ziel westlicher Außenpolitik sein, den dann einsetzenden Kalten Krieg unter der Schwelle kriegerischer Auseinandersetzungen zu halten und dafür zu sorgen, dass Konflikte außerhalb der beiden Blocksysteme nicht zu einem Konflikt zwischen diesen werden. Die Erfahrung, dass unter den Bedingungen einer solchen Bipolarität Frieden nur durch Stabilität gesichert werden kann, müsste wieder Leitschnur werden. Das Ziel der Ausweitung von Bündnissystemen, der Versuch eines Regime Change in Ländern, die dem anderen Block angehören, das Begehren einzelner Länder, ihre Blockzugehörigkeit zu wechseln, wären unter diesen Bedingungen einer neuen bipolaren Weltordnung eine existenzielle Bedrohung für die Menschheit. Die mit dieser neuen Bipolarität einhergehende Deglobalisierung würde zumindest für eine längere Übergangsphase das Wirtschaftswachstum in Ost und West massiv dämpfen und zu wirtschaftlichen und sozialen Friktionen, auch zu humanitären Katastrophen führen. Zu vermuten ist, dass nach dieser Übergangsphase die wirtschaftliche Dynamik wieder einsetzt und sich auch die Länder des globalen Südens erholen, das gilt besonders für den Fall, dass es ihnen gelingt, von der Konkurrenz der beiden Blocksysteme zu profitieren.
Zweites Szenario: Ökonomisch moderierte Bipolarität
Das zweite Szenario geht ebenfalls davon aus, dass der russische Angriffskrieg in der Ukraine und anhaltende Sanktionen des Westens gegen Russland zu einer engeren wirtschafts- und sicherheitspolitischen Kooperation Russlands mit China führen werden. Im Unterschied aber zum ersten Szenario kommt es in diesem zweiten nicht zu einer umfassenden Deglobalisierung beziehungsweise Dichotomisierung der Weltwirtschaft. So wie es seit den 1970er Jahren mit dem damals noch spätstalinistisch-sowjetischen Herrschaftssystem Handelsbeziehungen gegeben hat, die sich teilweise sehr dynamisch insbesondere auf dem Rohstoffsektor entwickelten, so könnten insbesondere die beiden ökonomischen Supermächte USA und China ein Interesse daran haben, dass ihre gegenwärtige Verflechtung, die eine wechselseitig stabilisierende Wirkung für beide Ökonomien hat, nicht radikal beendet wird. Die Billigimporte aus China federn die prekären Verhältnisse der unteren Mittelschichten und Unterschichten in den USA durch preisgünstige Alltagsartikel ab und das Haushaltsbilanzdefizit der USA wird durch einen Außenhandelsbilanzüberschuss von China kompensiert, was allerdings dazu führt, dass China über wachsende Devisenreserven verfügt, während die US-Wirtschaft sich nur dadurch vom anhaltenden Außenhandelsbilanzdefizit weitgehend unbeeindruckt zeigen kann, weil der US-Dollar globale Leitwährung ist.