Der Analyst - Drew Chapman - E-Book

Der Analyst E-Book

Drew Chapman

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Beschreibung

Garrett Reilly ist ein Mann der Zahlen. Als der Bondtrader eines Abends im Computer Finanztransaktionen in Milliardenhöhe beobachtet, weiß er sofort, dass etwas nicht stimmt. Nur ein paar Stunden später steht die Agentin Alexis Truffant in Garretts Büro und will ihn für den Geheimdienst rekrutieren. Eher widerwillig lässt sich Garrett darauf ein und findet schnell heraus, dass China die Wirtschaft der USA durch gezielte Computermanipulationen zerstören will. Aber die Chinesen wissen längst von Garrett und wollen ihn mit allen Mitteln ausschalten ...

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Buch

Garrett Reilly, Mitarbeiter einer Finanzfirma, ist ein genialer Mathematiker. Er hat ein fotografisches Gedächtnis für Zahlen und erkennt in Ziffernreihen sofort eine Systematik. Als er eines Abends an seinem Bloomberg-Terminal sieht, dass Staatsanleihen in Höhe von 200 Milliarden Dollar verkauft werden, weiß er sofort, dass hier etwas nicht stimmt. Garrett spricht mit seinem Chef, der allerdings nicht auf Garretts Idee eingehen will, die Gunst der Stunde für eigene Transaktionen zu nutzen. Nur ein paar Stunden später steht die Agentin Captain Alexis Truffant in Garretts Büro und will ihn für den militärischen Geheimdienst rekrutieren. Seit sein Bruder in Afghanistan ums Leben gekommen ist, hat Garrett allerdings ein sehr distanziertes Verhältnis zu seinem Heimatland und seiner Regierung und möchte sich nicht vor deren Karren spannen lassen. Doch dann retten ihm Alexis’ Leute kurz darauf das Leben, als ein Anschlag auf ihn verübt wird, und er weiß, dass er keine Wahl hat. Schnell findet Garrett heraus, dass die heimlichen Geldtransfers von China durchgeführt wurden, und zwar mit dem Ziel, die gesamte Wirtschaft der USA zum Zusammenbruch zu bringen. Obwohl es sich um einen unsichtbaren Krieg, einen Cyber War, handelt, werden Garrett und Alexis mit sehr realer physischer Gewalt konfrontiert und geraten schon bald in tödliche Gefahr. Denn die Chinesen haben längst mitbekommen, dass sie einen genialen Gegenspieler haben …

Informationen zu Drew Chapman finden Sie am Ende des Buches.

Drew Chapman

Der Analyst

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Jochen Stremmel

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »The Ascendant« bei

Simon & Schuster, New York.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung

Copyright © der Originalausgabe 2013 by Drew Chapman

All rights reserved.

Published by arrangement with the original publisher,

Simon & Schuster, Inc.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur München

Umschlagfoto: Matt Bird / Corbis

Redaktion: Ilse Wagner

BH ∙ Herstellung: Str.

Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-641-13166-1

www.goldmann-verlag.de

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Den drei aussergewöhnlichen Frauen

in meinem Leben gewidmet:

Lisa, Augusta und Nora.

PROLOG

GEMEINDE HUAXI, PROVINZ SHANXI, CHINA, 16. NOVEMBER, 6:42 Uhr

Hu Mei wurde wach, weil Feuerwerkskörper knallten. Zwei Salven knatternder Schnellfeuer-Explosionen schnitten durch die Stille der Nacht auf dem Land, hallten wider und erstarben dann plötzlich. Das war das vereinbarte Signal – so viele Knaller, wie die Wachposten in der Kürze der Zeit anzünden konnten –, und es bedeutete, dass die Polizei auf der einen Straße näher kam, die durch die enge, windungsreiche Schlucht in das Stadtgebiet von Huaxi führte, wahrscheinlich in Bussen, denen zwei Jeeps mit Parteifunktionären folgten. Die Funktionäre blieben immer im Hintergrund, aus der Schusslinie, aber in der Nähe, damit Fotos von ihnen gemacht werden und sie den Sieg für sich reklamieren konnten, nachdem die Polizei die Drecksarbeit für sie erledigt hatte.

Es würden bezirksfreie Beamte sein, dachte Mei, als sie von der Liegematte aus Schaumstoff herunterrollte, die in ihrem improvisierten Zelt ausgelegt war, kleine Parteifunktionäre aus Taiyuan, der Stadt der zahllosen Stahlfabriken, oder vielleicht sogar eine Stufe höher, aufgeblasene Mitglieder der Stadtverwaltung aus Jinan. Mei war es egal. Es spielte keine Rolle, wer sie waren oder woher sie kamen, sie hasste sie mit ihrem gesamten Wesen: Verstand, Herz, Seele.

Mei kniete auf dem Boden, faltete ihre Decke ordentlich zusammen – sie war stolz darauf, wie viel Aufmerksamkeit sie den Details schenkte und wie gelassen sie angesichts des bevorstehenden Durcheinanders blieb –, und verstaute sie dann in ihrem Rucksack. Sie schloss ihre braunen, zweiunddreißig Jahre alten Augen und gönnte sich einen Moment der Erinnerung an ihren Mann Yei, die Falten seines schiefen Lächelns, seine sanften Lippen, die lustige schwarze Haartolle, die er sich quer über die Stirn bürstete. Nur der kürzeste Gedanke an Yei, der mittlerweile seit sechs Monaten tot war, tröstete sie. Der Tag würde viele Probleme mit sich bringen, das wusste sie, und das war genau der Grund dafür, dass sie ihn mit einer Meditation über Yeis Gesicht begann. Er war schließlich der Mann, dessentwegen sie überhaupt hier war.

Das Rattern und Stöhnen eines Busmotors brachten sie zurück in die Gegenwart. Sie waren inzwischen ziemlich nah, vermutlich aus der Schlucht heraus, und fuhren an den sumpfigen Teichen am Stadtrand vorbei. Sie kroch aus ihrem improvisierten Zelt – ein Ballen blauer Plastikplane zwischen gebogenen Stöcken aufgespannt – und wurde vom ersten kalten Windstoß einer Novemberdämmerung getroffen. Die Kälte machte ihr nichts aus. Sie war auf einem Bauernhof aufgewachsen und war praktisch jeden Morgen ihrer gesamten Kindheit vor Sonnenaufgang aufgestanden, um Schweine, Hühner und Ziegen zu füttern. Sie war Bäuerin, und das wusste sie, und wie die Kälte machte ihr auch das nichts aus. Im Gegenteil, sie war stolz darauf.

Mei legte die Hände trichterförmig um den Mund und brüllte, so laut sie konnte: »Qi lai! Qi lai! Jῐngchá! Lai le!Steht auf, steht auf! Polizei! Sie kommen!«

In der Dunkelheit konnte Mei die anderen Männer und Frauen aus den Zelten kriechen sehen, aus denen ihre Protest-Stadt auf dem niedergetrampelten Gerstenfeld am Rand des Zauns bestand, der die Pestizid-Fabrik umgab. Natürlich wuchs in Wirklichkeit keine Gerste auf dem Feld. Es war so tot wie ihr Mann, vergiftet und wertlos. Alles in Huaxi war vergiftet und wertlos, alles bis auf das Geld, das die Fabrik erwirtschaftete.

»Kuài, kuài!«, sagte sie und klatschte in die Hände. Schnell, schnell! Die meisten Demonstranten – insgesamt gab es siebenundachtzig – waren schon auf den Beinen und hatten Stöcke und Spruchbänder bei sich. Mei wusste, dass niemand von ihnen etwas gegessen oder Tee getrunken hatte und dass allen kalt war. Sie wusste auch, dass jeder bereit war, sein Leben für die Sache hinzugeben. Jedem von ihnen war das Recht an seinem Land zwangsweise, in aller Stille und ohne Vorwarnung von der Partei genommen worden. Sie hatten diese Rechte den Fabrikbesitzern – einem Konsortium von Geschäftsleuten aus Shanghai – übertragen, von denen dann dieses Monstrum gebaut worden war. Und sie hatten alle dafür gebüßt. Ihre Felder waren verdorrt, ihre Schweine waren gestorben, und mittlerweile, was am schlimmsten war, wurden sie selbst und ihre Angehörigen krank: Erkrankungen der Atemwege, Magenkrankheiten, Hautkrankheiten. Mei kannte die Namen der Krankheiten nicht, aber sie wusste, dass sie an diesen Krankheiten sterben würden. Die Fabrik würde sie alle umbringen, und niemand würde ihnen helfen. Weder der Parteichef im Dorf – er war völlig fŭ bài, korrupt – noch der Gemeindevorsitzende, der Leiter der Provinzverwaltung, nicht mal der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas, Xi Jinping höchstpersönlich. Sie litten alle an dào dé dún luo – moralischem Verfall. Sie waren alle taub für die Klagen der Dorfbewohner.

Aber nicht mehr lange. Nicht, wenn Hu Mei es verhindern konnte.

Die Scheinwerfer des Busses schwenkten über die provisorischen Protestzelte. Die Druckluftbremsen zischten, als die Busse anhielten und ihre Vordertüren aufgingen. Schwarz uniformierte Bereitschaftspolizisten sprangen aus den Bussen auf das Feld, wo sie schnell zwei gerade Linien bildeten, eine hinter der anderen. Mei schätzte, dass es ungefähr zweihundert Männer waren; sie konnte ihre Schlagstöcke und Schilde in der Morgenröte aufblitzen sehen, aber ihre Gesichter waren von schwarzen Halstüchern verhüllt. Selbst von der anderen Seite des Feldes konnte Mei die Zuversicht der Polizisten spüren. Sie würden über das Protestdorf hinwegfegen, die Zelte niederreißen, alle Dorfbewohner zusammenschlagen, die ihnen in den Weg traten, und dann die Übrigen verhaften und in das Provinzgefängnis nach Taiyuan abtransportieren. Es würde ein Routinemanöver werden; die Demonstranten waren nichts als Bauern. Sie benutzten Feuerwerkskörper als Warnsignale. Feuerwerkskörper? So rückständig waren sie.

Hu Mei unterdrückte ein Lächeln. Falls die Polizei und die Partei glaubten, sie hätten es mit Einfaltspinseln zu tun, umso besser.

Mei zog ein Handy aus der Tasche. Es war glänzend und neu, unbenutzt, nicht ihr altes Telefon, das die Polizei überwachte und blockierte. Das hier war ein Geschenk eines Cousins, der in Chengdu arbeitete. Er war Qualitätssicherungsmanager in einer Handyfabrik. Er hatte zwei Kisten davon gestohlen, inklusive SIM-Karten und einer Liste anonymer Telefonkonten, und sie alle Mei ausgehändigt, die sie dann an alle Gleichgesinnten weitergegeben hatte, die sie im Huaxi-Tal kannte. Fünfhundert Handys. Fünfhundert nicht zurückverfolgbare Nummern. Fünfhundert Familien und ihre Freunde, die alle auf ein Signal von Mei warteten. Sie kalkulierte, dass es sich um rund zweitausend Menschen handelte. Was die Parteiopportunisten nicht begriffen, war, dass alle diese Dorfbewohner aus Huaxi und jeder benachbarten Stadt das Gleiche empfanden wie Mei – sie waren verbittert. Sie waren ungerecht behandelt, betrogen, ignoriert worden.

Und es gab noch eine Sache, die die Partei nicht begriff. Die Dorfbewohner – die Bauern – vertrauten Mei. Sie hatte ihnen, zusammen mit ihrem Mann Yei, ihr Leben lang Gutes getan, ihren kranken Großeltern Suppe gebracht, mitten in der Nacht geholfen, wenn eine Sau ferkelte, die Algen aus ihren Teichen entfernt, damit sie Trinkwasser hatten. Hu Mei liebte es, den Mitbewohnern in ihrem Dorf zu helfen – das lag ihr im Blut –, und diese liebten sie dafür.

Ihre Finger tippten schnell auf der winzigen Tastatur: »Tóngzhì men. Shi jian dao le.«Genossen. Die Zeit ist gekommen.

Sie schaute über das niedergetrampelte Feld den Polizisten in die Augen, die jetzt in dem kalten Morgenlicht sichtbar waren. Arrogant. Falls sie gefragt würde, wäre dies das Wort, mit dem sie sie beschreiben würde: arrogant. Aber sie würden nicht lange arrogant bleiben, weil zweitausend wütende Bauern auf sie warteten, hellwach, in der Dunkelheit versteckt, ein ganzes Waffenarsenal geschärfter Ackergeräte in den Händen.

Hu Mei lächelte bei dem Gedanken daran. Und drückte auf »Senden«.

1

NEW YORK CITY, 24. MÄRZ, 9:53 Uhr

Garrett Reilly kiffte an diesem Morgen nicht, was ungewöhnlich war. Er hatte sich noch nicht aus seiner Tüte Hindu Skunk bedient, weil es Dienstag war, und dienstags wurden die Preise für die neuen Anleihen an der Börse festgesetzt, normalerweise gleich um acht Uhr morgens, und falls man stoned war, wenn die neuen Anleihen ihre Preise bekamen, entging einem vielleicht eine Kleinigkeit, und wenn einem eine Kleinigkeit entging, machte man Fehler, und wenn man Fehler machte, verlor man Geld.

Garrett Reilly hasste es, Geld zu verlieren.

Deshalb war er nicht stoned, und er war glücklich darüber, was doppelt ungewöhnlich war. Meistens war er wütend, wenn er nüchtern war: wütend auf seine Eltern, seinen Bruder, die Regierung, Konzerne, seinen Boss. Auf jeden und alles. Er betrachtete Wut als Konstante – seinen Gleichgewichtszustand. Aber wenn er high war, machte sich ein verschwommener, wohltuender Friede in seinem Gehirn breit, während er zusah, wie die Ankaufs- und Verkaufszahlen über seinen Bloomberg-Terminal schwebten. Bekifft konnte er die zwanzig klingelnden Telefone neben seinem Ellbogen ignorieren, zum einzigen Fenster des großen, geräuschvollen Raums schlendern und beobachten, wie die Möwen ihre Kreise über dem Rockefeller Park zogen und hinaus über den Hudson River segelten, oder er tauschte mit seinen Kollegen in den anderen Kabuffs Tipps zu Videospielen und Geschichten über verpfuschte Abschleppversuche aus. Sie waren alle jung, geil und gleichgültig der übrigen Welt gegenüber, wenn es nicht um Geld ging. Oder Mösen.

Aber heute war es anders. Er hatte alle Anrufer zufriedengestellt, hatte die Preise der Anleihen konservativ, aber gut festgesetzt und genug Geld für seine Firma – Jenkins & Altshuler – verdient, um sein wachsendes Gehalt zu rechtfertigen. Das war alles business as usual. Garrett Diego Reilly, dessen sechsundzwanzigster Geburtstag zwei Wochen zurücklag und der Sommersprossen, schwarze Haare, ein halb irisches, halb mexikanisches Gesicht und den lässigen, schleppenden Tonfall eines Jungen aus den Slums von Long Beach hatte, war ein aufsteigender Stern am Himmel der Firma. Er war ein Wertpapieranalytiker, wahrscheinlich das größte Jungtalent des Unternehmens, vielleicht der Beste in ganz Lower Manhattan – und deshalb war ein profitreicher Tag nichts Ungewöhnliches. Ungewöhnlich waren die CUSIP-Nummern der Schatzanweisungen, die über seinen Bildschirm scrollten. T-Bonds, wie sie genannt wurden, waren langfristige US-Bundesanleihen, abgesichert durch das volle Vertrauen ins US-Finanzministerium, und es gab jede Menge von ihnen auf dem Markt – im Wert von mehreren Billionen Dollar. Sie hatten mehr oder weniger die öffentlichen Ausgaben der beiden letzten Bundesregierungen zur Konjunkturbelebung finanziert und waren für einen großen Betrag der roten Zahlen des Landes verantwortlich. Eine CUSIP-Nummer – nach dem Committee on Uniform Securities Identification Procedures benannt – war eine Methode, jedes in den Vereinigten Staaten und Kanada verkaufte Wertpapier zu identifizieren. Jedes T-Bond hatte eine neunstellige, alphanumerische Zahl.

Garrett kannte seine CUSIP-Nummern. Er hatte ein fotografisches Gedächtnis für Zahlen. Er konnte eine Seite mit neuen Anleihen überfliegen und sie dann eine Woche später Zahl für Zahl wortwörtlich wiederholen. Das war zum Teil der Grund dafür, warum Garrett, Sohn eines Hausmeisters, nach Yale gekommen war. Das, und ein Anstoß von seinem nörgelnden älteren Bruder. Das war zum Teil auch der Grund dafür, dass er einen Job bei Jenkins & Altshuler bekommen hatte und dann zur Spitze seiner Abteilung aufgestiegen war. Aber das war nicht der alleinige Grund. Sein kometenhafter Aufstieg resultierte von einer anderen, damit in Beziehung stehenden Fähigkeit: Mustererkennung.

Garrett behielt Zahlen nicht nur. Er sortierte sie, stufte sie ein, ordnete sie diskreten Kategorien zu, bis sich ein Muster ergab. Ein Ablauf. Bis die Zahlen einen Sinn ergaben. Garrett hatte nicht die Absicht, es zu tun – er tat es einfach. Wie besessen. Rund um die Uhr, sieben Tage die Woche, dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr. Es war einfach sein Blick auf die Welt, wie er Informationen interpretierte. Es war nicht mal so, dass er Muster fand.

Er spürte sie.

Beim kleinsten Hinweis auf ein Muster – Zahlen, Farben, Geräusche, Gerüche – würde ein Kitzeln unten an seiner Wirbelsäule beginnen, ein ganz schwacher Stromstoß, der irgendwo zwischen Vergnügen und Schrecken angesiedelt war. Während das Muster, worin immer es gerade bestand, klarer für ihn hervortrat, ließ der Kitzel nach und konsolidierte sich zu einer unumstößlichen Tatsache. Das war stets der Zeitpunkt, an dem er wusste, dass er etwas Wiedererkennbares, Messbares vor sich hatte – eine Sinuskurve von Aktienkursen, ein Drei-zu-eins-Verhältnis absteigender Musiknoten, ein von Violett zu Grün changierendes Überblenden von Busfahrscheinen –, und er würde es sich notieren oder verwerfen und zum nächsten übergehen. Es spielte keine Rolle, ob es einen Zweck oder eine Absicht hinter den Mustern gab; Garrett sah sie einfach, fühlte sie überall, und dann zeichnete er sie in seinem Kopf auf. Einfach so. Jede Minute jeder Stunde jedes Tages.

Und das war ein anderer Grund, warum er Marihuana rauchte: Wenn er stoned war, verschwand das Kitzeln, Muster verschmolzen mit dem chaotischen weißen Rauschen des Alltagslebens, und Garrett wurde, zumindest im Moment, wie jeder andere. Informationen wurden nicht sortiert. Sie waren einfach da. Und das war eine Erleichterung. High zu werden war für Garrett eine Erholung von seiner einzigartigen Fähigkeit.

Aber heute war er nicht high. Er war nüchtern. Und er konnte das Muster spüren, das sich aus den CUSIP-Nummern der seit gestern 1:04 Uhr Greenwicher Zeit auf der ganzen Welt verkauften T-Bonds herauskristallisierte. Das vertraute Kitzeln hatte unmittelbar nach seiner zweiten Tasse Kaffee begonnen. Diesmal war es ein beinahe lustvolles Pulsieren, während er die wohl vierhundertste CUSIP auf einer Anleihe las, die im Nahen Osten verkauft wurde. Er hatte diese Nummer fünfmal gelesen. Und dann ließ er die Erinnerung an all die anderen CUSIP-Nummern, die er kannte, wie einen kaskadenförmigen Tsunami über sich zusammenstürzen. Und einfach so, bumm, kam ein Muster zum Vorschein.

Die ersten sechs Stellen einer CUSIP waren einfach – sie identifizierten den Emittenten des Wertpapiers oder der Anleihe. Die siebte und die achte Stelle identifizierten die Emission – was es war, das da verkauft wurde; normalerweise Zahlen für Aktien, Buchstaben für festverzinsliche Papiere oder Anleihen. Die neunte – und manchmal zehnte – Stelle waren das, was als Prüfsumme bekannt war, automatisch generierte Zahlen, die die Summe jeder vorhergehenden Ziffer in der CUSIP darstellten, multipliziert mit zwei. Prüfsummen waren nur dazu da, Irrtümer zu verhindern.

Garrett kannte die ersten vier Ziffern von US-Bundesanleihen auswendig: 9128. Danach unterschieden sich die Ziffern je nach Art der Anleihe: inflationsgeschützte Papiere waren 10; kurzfristig fällig werdende Schatzwechsel 08.

Aber bei diesem Muster ging es weder um inflationssichere noch um kurzfristige Papiere. Es umfasste Schatzanweisungen mit einer Laufzeit von zwanzig bis dreißig Jahren, die längsten, am leichtesten liquidierbaren Schuldverschreibungen der Bundesregierung. Irgendwo verkaufte irgendjemand T-Bonds in kleinen, diskreten Päckchen an vielen verschiedenen Börsen auf der ganzen Welt. Das allein war nicht so ungewöhnlich. Der Markt für Treasury Bonds war riesig, und sie zu kaufen und zu verkaufen war ein Spiel, das vierundzwanzig Stunden pro Tag lief.

Aber zwei Dinge waren ungewöhnlich, und sie erregten Garretts Aufmerksamkeit.

Das Erste war, dass alle Anleihen, die verkauft wurden, vor zwölf Jahren bei einer Auktion und von einem nicht spezifizierten Bieter gekauft worden waren.

Das Zweite war, dass, wenn man den Nettowert all der Anleihen zusammenzählte, die vor zwölf Jahren von diesem einen Käufer erworben worden waren, sich dann eine Gesamtsumme von zweihundert Milliarden Dollar ergab. Und das war sogar für Garrett eine verdammte Scheißmenge Geld.

2

JENKINS & ALTSHULER, NEW YORK CITY, 24. MÄRZ, 11:02 Uhr

Irgendjemand verkauft heimlich U. S. Treasuries?«, fragte Avery Bernstein und strich sich die paar dünnen Haarsträhnen aus der hohen fünfundfünfzig Jahre alten Stirn, während sich ein Anflug von Verärgerung in seine raue Stimme mit dem Brooklyn-Akzent schlich.

»Im Wert von zweihundert Milliarden«, erwiderte Garrett. »Die Hälfte davon ist heute Morgen an der Börse.«

»Und das ist eine Vermutung? Oder haben Sie einen Beweis?« Avery rollte irritiert die Schultern unter dem Tweedjackett, das er ständig trug, obwohl er kein Universitätsprofessor mehr war und sich jeden italienischen Designeranzug hätte leisten können. Für Avery war der Tweed eine nicht sonderlich subtile Leckt-mich-am-Arsch-Botschaft an alle Wall-Street-Größen: Ich trage, was mir gefällt, zum Teufel noch mal, und verdiene trotzdem mehr Geld als ihr.

Garrett legte seinem Boss einen Stapel gedruckter Seriennummern auf den Schreibtisch. »Ich weiß es«, sagte er. »Ich hab’s überprüft. Bin mir absolut sicher.«

»Sind Sie der Herkunft jeder CUSIP-Nummer nachgegangen?«, fragte Avery, während er den Papierstapel durchblätterte. Es waren mit Sicherheit hundert Seiten, was ein paar Millionen verschiedene ID-Nummern bedeutete. Dafür hatte er keine Zeit.

»Ja. Na ja, nein. Das musste ich nicht. Ich überfliege die CUSIPs, wenn sie ausgegeben werden. Und wenn sie wieder auftauchen, sehe ich einfach – kann ich die Herkunft sehen. Nicht hier auf dem Papier. Aber in meinem Kopf. Zweihundert Milliarden Dollar seit gestern null Uhr auf dem Markt abgeladen, alle aus derselben Auktion 2001.« Garretts Stimme verlor sich, als er sah, wie Avery ihn unverwandt und eher skeptisch anstarrte.

»Sie lesen CUSIPs, wenn T-Bonds ausgegeben werden? Warum? Zum Spaß?«

Garrett zuckte mit den Schultern. »Nicht direkt zum Spaß. Ich tue es einfach manchmal. Besonders, wenn die World-of-Warcraft-Server langsam sind …«

Avery funkelte Garrett an. Er konnte sich noch an das erste Mal erinnern, als er den sommersprossigen Achtzehnjährigen im hinteren Bereich des Dunham-Lab-Hörsaals in Yale gesehen hatte, wie er sich auf seinem Stuhl lümmelte und es nicht mal für nötig hielt, sich in Averys Seminar über Zahlentheorie für Fortgeschrittene Notizen zu machen. Nichts brachte Avery mehr auf als ein Student, der meinte, er sei zu gut für den Unterrichtsstoff. Als nicht sonderlich subtile Warnung veranlasste er seine wissenschaftliche Hilfskraft, Garrett – und nur Garrett – am Ende der Woche einen Test zur Clusteranalyse zu geben, aber Garretts Punktzahl war so hoch, dass sie kaum zu glauben war. Niemand konnte eine Sequenz aus so vielen diskreten Zahlenreihen herausfinden. Avery ließ Garrett den Test unter Aufsicht und in einem verschlossenen Büro wiederholen, aber seine Ergebnisse waren beim zweiten Mal noch höher.

Am nächsten Tag wechselte die aus dem Feld geschlagene wissenschaftliche Hilfskraft zu den Kunsthistorikern. Und anstatt zu versuchen, Garrett zur Aufmerksamkeit zu zwingen, nahm Avery ihn unter seine Fittiche.

Er betreute Garrett den Rest dieses Jahres, schickte ihn in Doktorandenseminare, wenn er gelangweilt oder abgelenkt zu sein schien, ließ ihn über die Vorhersagbarkeit von Börsenerträgen und die Fluktuation von Zinssätzen forschen und lud ihn sogar gelegentlich am Sonntagabend zum Essen ein. Avery hatte genug Genies in Yale gesehen, aber für Garrett entwickelte er eine besondere Zuneigung. Ja, er war arrogant, oft unausstehlich und manchmal vollkommen blind gegenüber den Gefühlen anderer Leute, aber er war ehrlich. Kompromisslos ehrlich. Und wenn seine entbehrungsreichen Anfänge in den Hintergrund traten, konnte Garrett offen, sogar verletzlich sein. Über Tellern mit lo mein und Brokkoli-Rindfleisch hatten sie über ihre Familien, über Erwartungen und Enttäuschungen geredet. Er erinnerte Avery an sich selbst in diesem Alter.

Dann starb Garretts Bruder.

Avery zuckte immer noch zusammen, wenn er an den hellen Vormittag im Juni zurückdachte, an die kalte Wut, die in Garretts Gesicht geätzt war, als er in Averys Arbeitszimmer stand und ihm sagte, dass er sein Studium in Yale abbrechen würde. Avery versuchte, ihn davon zu überzeugen, das nicht zu tun, aber Garrett wollte keine Vernunft annehmen. Er packte seine Sachen und fuhr noch am gleichen Nachmittag zurück nach Long Beach, ließ seine ganze Brillanz brachliegen. Avery erkundigte sich von Zeit zu Zeit nach ihm; er wusste, dass Garrett schließlich sein Examen in Informatik an der Long Beach State gemacht hatte und dann einen Job als Programmierer für ein Glücksspielunternehmen in L. A. gefunden hatte. Trotzdem schien es die Verschwendung einer großen Begabung zu sein.

Als Avery vier Jahre später Yale für den Spitzenjob bei Jenkins & Altshuler verließ, galt aus diesem Grund einer seiner ersten Anrufe Garrett. Er wusste, wozu Garrett imstande war, und wollte Köpfe wie ihn in seinem Team haben. Und er hatte recht gehabt, ihn einzustellen – Garrett war der beste junge Analyst der Firma –, aber einen Haufen CUSIPs zu erkennen und dann auf einen Verkauf von Treasuries in dieser Größenordnung zu schließen war mehr als abwegig. Es war, na ja …

»Und Sie glauben, Sie wüssten, wer dahintersteckt?«

Garrett nickte zuversichtlich, räkelte sich träge in seinem Sessel und ließ die Füße auf den niedrigen Tisch vor Averys Bürocouch plumpsen. Er war derart gottverdammt selbstsicher, dachte Avery, verwundert, dass jemand so viel Arroganz ausstrahlen konnte, der – bis jetzt – so wenig getan hatte, um sie zu rechtfertigen. Das war es immer noch, was Avery an Garrett am meisten ärgerte. Aber andererseits war das die Eigenschaft Garretts, dachte der ältere Mann, über die sich auch alle anderen am meisten ärgerten. In den vergangenen sechs Monaten musste Avery zwei älteren Maklern ausreden, zu Stern, Ferguson zu wechseln, weil Garrett nicht aufhörte, damit anzugeben, auf wie viel Einnahmen er es an diesem Tag gebracht hatte.

Wenn er nur nicht so oft recht haben würde.

»Wollen Sie es mir sagen?«

»Wollen Sie nicht raten?«, fragte Garrett lächelnd.

»Verdammt noch mal, Garrett, ich bin der Chef eines millionenschweren internationalen Handelsunter-«

»Die Chinesen«, platzte Garrett heraus und schnitt ihm das Wort ab.

Avery verstummte stotternd. Er holte tief Luft. »Erklären Sie.«

»Die Anleihen sind vor zwölf Jahren bei einer Auktion durch einen Zwischenhändler in Dubai gekauft worden. Handelshaus namens Al Samir. Die chinesische Volksbank nutzt es …«

Avery unterbrach ihn: »Eine Menge Leute greifen auf Al Samir zurück.«

»Klar«, fuhr Garrett fort, »aber wer hat sonst noch zweihundert Milliarden Dollar, die er für US-Anleihen verbraten kann? Auf einen Streich? Vielleicht drei Staatsfonds auf der ganzen Welt.«

»Reine Vermutung. Hat nichts zu sagen.«

»Dazu komme ich noch.« Garrett lächelte, und er genoss es sichtlich, dass er etwas wusste, was Avery nicht wusste. »Ich bin eine Art Anwalt, der Beweismaterial zusammenträgt.«

»Schön«, brummte Avery, »fahren Sie fort.«

»Das Trading hat ein Muster. Sechzehn verschiedene Maklerunternehmen. Aber keines von ihnen liegt in China oder überhaupt in Asien. Falls man Chinese ist und Anleihen abstoßen möchte, aber keinen Verdacht erregen will …«

»… würde man mit Maklern arbeiten, die irgendwo ansässig sind, aber nicht vor der eigenen Haustür«, sagte Avery, Garretts Satz zu Ende führend. »Interessant, aber immer noch Vermutung.«

»Das Trading begann um vier Minuten nach ein Uhr morgens, Greenwicher Zeit. Das ist kurz nach acht Uhr in Peking. Beginn ihres Börsentags. Das heißt, jemand ist dort wach geworden, hat auf den Knopf gedrückt und den ganzen Tag das Geschehen verfolgt.«

Avery nickte und hörte aufmerksam zu, während sich ein Knoten in seinem Magen bildete. Er rieb unbehaglich mit dem Daumen über die abgegriffene Teakholzlehne seines alten Schreibtischsessels von der Uni. »Haben Sie noch mehr?«

»O ja, jede Menge«, sagte Garrett. »Der Clou waren die Verkaufszeiten. Sie waren nach den CUSIP-Nummern der entscheidende Hinweis für mich, dass was im Busch ist. Die Verkaufszeiten von jedem der Maklerunternehmen ergaben ein Muster. Auf die Sekunde abgestimmt. Zunächst hab ich es nicht gesehen, aber dann hab ich sie einfach eine Weile verfolgt, und, Bingo, da wusste ich‘s.«

»Was war das für ein Muster?«

»Vier, vierzehn, vier, vierzehn. Eine wiederkehrende Schleife.«

»Das heißt gar nichts«, sagte Avery seltsamerweise enttäuscht. Irgendwo im Hinterkopf hatte er gewollt, dass Garrett einer großen Sache auf der Spur war.

»Für Sie. Und für mich. Aber wenn man Chinese wäre …«

Avery kniff die Augen zusammen, weil ihm die furchtbare Wahrheit dessen, was Garrett da sagte, plötzlich klar wurde. Avery hatte fünf Jahre damit verbracht, an der Universität Hongkong Mathematik zu lehren, und war fünf lange Jahre in der chinesischen Kultur untergetaucht gewesen. »Vier bedeutet Tod«, flüsterte er.

»Und vierzehn bedeutet Missgeschick. Die beiden größten Unglückszahlen in China. Falls man seinen Feind durch Zahlen attackieren möchte und sehr abergläubisch ist, würde man seine Anleihen alle vier und alle vierzehn Minuten verkaufen. Und die Chinesen sind wahnsinnig abergläubisch.« Garrett lächelte, bevor er mit den Schultern zuckte. Ein Anflug von Bescheidenheit schlich sich in seine Stimme. »Die ganze letzte Sache musste ich googeln. Ich hab wirklich keinen blassen Schimmer von China.«

Avery versuchte, die enorme Tragweite dessen, was er da hörte, zu begreifen. Die Folgerungen aus Garretts Vermutung waren ungeheuer.

»Falls das hier wahr ist …«, zischte Avery.

»Es ist wahr«, fiel Garrett ihm ins Wort. Er rollte seine weißen Hemdsärmel auf, als wolle er damit andeuten, wie viel harte Kopfarbeit er vollbracht hatte. »Garantiert.«

»Dann wissen Sie, was es bedeutet?«

Garrett nickte begeistert. »Wenn man den Markt mit US-Anleihen überflutet, lässt das die Zinssätze sprunghaft ansteigen. Panik macht sich breit. Und der Dollar wird brutal einbrechen.«

Avery runzelte die Stirn. »Sie scheinen glücklich darüber zu sein.«

»Glücklich? Unglücklich? Ist mir scheißegal. Aber ich weiß, dass man auf diese Weise Geld verdienen kann. Und das ist es doch, was wir tun, stimmt’s? Geld verdienen?«

»Möchten Sie auf einen fallenden Dollar setzen?«, sagte Avery langsam, bedächtig. Der Knoten in seinem Magen war explodiert; eine Woge der Übelkeit stieg ihm in die Kehle.

»Verdammt noch mal, ja«, sagte Garrett und sprang begeistert aus seinem Sessel auf. »Ich will leer verkaufen wie verrückt. Ich meine, wenn die Chinesen jetzt heimlich Anleihen abstoßen, werden sie mit Sicherheit später offen verkaufen. Vermutlich ziemlich bald. Also, ja, zum Teufel, ich will auf den fallenden Dollar setzen. Haus und Hof will ich setzen.«

Avery schaute aus dem Fenster, genau nach Westen, und blinzelte ins Tageslicht. Ein Flugzeug befand sich im Landeanflug auf den Newark Liberty Airport. »Garrett, begreifen Sie, dass diese Sache das Potenzial hat, die amerikanische Wirtschaft zu zerstören?«

»Aber wir werden stinkreich sein«, sagte Garrett. »Wen juckt das also?«

Avery drehte sich um und schaute den jungen Mann an, den er als Achtzehnjährigen unterrichtet, den er erzogen und um den er sich gekümmert hatte. Und auf einmal war er überwältigt von dem Wunsch, zusammenzupacken und wieder nach Yale zu gehen, um der Lehre noch einmal eine Chance zu geben, weil ihm klar war, dass er in seinen zwanzig Jahren hinter dem Vorlesungspult sein Ziel bei Weitem nicht erreicht hatte, nämlich den jungen Leuten von morgen auch nur das einfachste Gespür für Moral mitzugeben.

3

WASHINGTON, D. C., 24. MÄRZ, 16:14 Uhr

Major General Hadley Kline konnte kaum stillhalten. Sein stämmiger Körper mit dem großen Brustkasten, der normalerweise im Rhythmus seines ständigen Stroms hyperaktiver Gedanken zuckte und ruckte, war jetzt eine verschwommene Bewegung. Seine Arme wirbelten wie Windmühlenflügel, während er den Kopf schüttelte, und sein üppiger schwarzer Haarschopf tanzte auf und ab, als er um den langen Tisch herumschritt, der in der Mitte des farblosen Besprechungszimmers im Untergeschoss des Gebäudes für das Office of Analysis der Defensive Intelligence Agency, des Geheimdienstes des Pentagon, stand. Das große weiße, unauffällige Gebäude der DIA – in einer Ecke der Bolling Air Force Base im städtischen Außenbezirk von Washington, D. C., versteckt – beherbergte das Zentrum aller Spionage-, Planungs- und Aufklärungsaktivitäten des amerikanischen Militärs, und General Kline war der Leiter der Analyseabteilung. Seine Aufgabe bestand darin, den Überblick über die gewaltige Menge von Informationen zu behalten, die jeden Tag in die militärische Geheimdienstmaschine strömten, und daraus schlau zu werden. Kurz gesagt: General Kline war da, um sich einen Reim darauf zu machen. Und das tat er sehr gerne.

»Erste Frage«, bellte Kline erregt in seinem starken Süd-Bostoner Akzent. »Ist es wahr?«

Um den Tisch herum saßen zwei Dutzend Mitarbeiter, junge Männer und Frauen aus all den verschiedenen Diensten, alle in Uniform, alle mit Laptops und offenen Aktenordnern vor sich. Howell, ein junger Air Force Captain, antwortete zackig: »Hohe Wahrscheinlichkeit, Sir.«

»Hoch? Wie hoch?« Kline blickte Howell an. »So hoch wie mit Sicherheit?«

»Neunzig Prozent, Sir.«

»Wie sind wir darauf gekommen?«

»Von der NSA abgehörtes Telefongespräch zum Finanzministerium, Sir«, rief ein weiblicher Lieutenant vom hinteren Teil des Tischs. »Von einem nicht gesicherten Handy aus.«

»Und der Anruf kam von …« Kline unterbrach sich, um auf einen offenen Laptop an einem Ende des Tischs zu klopfen. »… Avery Bernstein? Den kenne ich, oder? Woher kenne ich ihn bloß?«

Die Analysemitarbeiter wussten, wie’s lief. Kline benutzte seine eigene Art von sokratischer Methode, indem er vor allen anderen, die eine Chance hatten, Informationen zu Dem Haufen hinzuzufügen, ein langes, engagiertes Streitgespräch mit sich selbst führte. So nannte Kline die imaginäre offene Kiste, in die sein Team brauchbare Informationen steckte: Der Haufen.

Ein junger schwarzer Army Captain, Caulk, projizierte ein Firmen-PR-Foto von Avery Bernstein auf einen Flachbildschirm. »Vorstandschef von Jenkins & Altshuler, einer New Yorker Handelsfirma, Sir. Davor war er Professor für Fortgeschrittene Mathematik in Yale und für den letzten Präsidenten als Berater für Wirtschaftsfragen tätig …«

»Ja. Richtig. Daher kenne ich ihn. Wir haben seine Vergangenheit gründlich überprüft, oder?« Das Gespräch legte jetzt an Tempo zu.

»Haben wir, Sir.«

»Er war sauber?«

»Das war er, Sir.«

Kline nahm seinen Rundgang wieder auf und kratzte sich am Hals, als hätte er da einen unsichtbaren Moskitostich. »Wie haben sie im Finanzministerium reagiert?«

Ein breitschultriger Captain rief von hinten: »Keine offizielle Stellungnahme …«

Kline unterbrach ihn wütend: »Offizielle Stellungnahmen sind für den Ar…«

Der Captain ließ seinen Boss nicht ausreden: »… aber meine interne Quelle meinte, dass die frühzeitige Warnung ihnen erlaube, den Angebotsüberschuss im Markt aufzukaufen, bevor die Nachricht die Runde macht. Sir.«

Kline lächelte. Er hatte nichts dagegen, unterbrochen zu werden. Er verachtete die bombastische Reglementierung in den Streitkräften. Titel, Salutieren, Besoldungsklassen – Klines Erfahrung nach waren das alles Hindernisse auf dem Weg zum produktiven, kreativen Denken. Er war wegen einer und nur einer Sache dabei: des Jagdfiebers.

»Okay«, knurrte Kline und legte eine Pause ein, um sein versammeltes Team anzuschauen. »Die große Frage? Warum? Warum stoßen die Chinesen heimlich eine Scheißladung von unseren Staatsanleihen ab?«

Captain Howell sprach als Erster. »In zwei Wochen kommt das neue Rüstungsgeschäft mit Taiwan im Kongress zur Sprache. Das hier ist ein Schuss vor den Bug. Verkauft keine F-16 an unseren Feind.«

»Nicht unmöglich, aber konventionell«, bellte Kline. »Hat irgendjemand eine Idee mit Eiern dran?«

Captain Howell errötete, während gedämpftes Lachen im Raum erklang.

Ein weiblicher Lieutenant Colonel stand auf. »Sir. Böswilliger Unsinn. Um uns aus dem Gleichgewicht zu bringen, während sie mit dem Rest der Welt Geschäfte machen.«

Kline zuckte mit den Schultern. »Etwas potenter. Aber zweihundert Milliarden Dollar sind eine sündhafte Menge Unsinn.«

Der breitschultrige Captain meldete sich zu Wort. »Sir, übersehen wir nicht die nächstliegende Erklärung? Die Chinesen glauben nicht mehr, dass US-Staatsanleihen eine gute Geldanlage sind, und deshalb verhökern sie sie. Sie tun es heimlich, um den Weltmarkt nicht in Aufruhr zu versetzen. Oder um uns nicht wütend zu machen. Wir warten inzwischen schon einige Zeit darauf, dass die Chinesen unsere Anleihen abstoßen.«

Kline blieb stehen und nickte nachdenklich. »Ja, Captain Mackenzie, das ist die wahrscheinlichste Erklärung.« Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. »Sind wir einer Meinung?«

Es erfolgte ein allgemeines Nicken. Kline wartete. Und dann erschien ein verschmitztes Lächeln auf seinem markanten Gesicht. Eine junge schwarzhaarige Army Captain erhob sich am hinteren Ende des Konferenztischs. Sie stand kerzengerade da, geschmeidig und von Natur aus sportlich, und ihre blauen Augen richteten sich auf Kline. Herr im Himmel, wie gut sie aussah, dachte Kline, der sich schnell in Erinnerung rief, dass er glücklich verheiratet war und dass das Anbaggern einer militärischen Untergebenen mit einer Gefängnisstrafe geahndet werden konnte, die das Ende seiner Karriere bedeutet hätte.

»Ja, Captain Truffant?«, sagte er. »Haben Sie eine alternative Theorie?«

»Ja, Sir, die habe ich«, sagte Alexis Truffant ruhig, aber bestimmt. »Es ist nur eine Theorie.«

»Im Moment ist alles, was wir sagen, theoretisch. Sprechen Sie.«

»Sir, ich glaube …« Sie zögerte. »Ich glaube, China hat uns gerade den Krieg erklärt.«

Es schien, als holten alle im Raum gleichzeitig Luft. Auch das folgende Schweigen war unüberhörbar. Kline nickte, ohne etwas zu sagen, und starrte immer noch in Alexis Truffants strahlend blaue Augen. Sie war schön anzusehen, allerdings, aber sie war auch in der Lage, logisch zu denken, egal, wie die Situation aussah oder wie groß der Druck war. Nach Klines Ansicht war das wahre Schönheit. Das war der Grund, weshalb sie hier war.

Sie fuhr fort: »Ich glaube nur, es ist ein Krieg, den wir noch nie erlebt haben.«

Kline holte Alexis ein, während sie auf den Fahrstuhl zurück in ihr Büro auf dem zweiten Stock wartete. »Captain Truffant, begleiten Sie mich.«

»Ja, Sir.«

Alexis drehte sich um und passte sich rasch General Klines Tempo an. »Wollen Sie mich zu meiner Kriegsthese befragen? Ich habe Gründe, anzunehmen …«

Kline unterbrach sie. »Nein. Ich bin Ihrer Meinung. Unsere Staatsanleihen auf dem Schattenmarkt zu verkaufen, das kommt einer Kriegserklärung so nahe, wie es in diesen Tagen möglich ist. Selbst wenn wir es erwartet haben. Und ich pflichte Ihnen auch bei, dass es ein Krieg sein wird, den wir nicht wirklich verstehen.«

»Oh«, stammelte Alexis überrascht, was sie sofort bedauerte, weil sie annahm, dass ihr Boss sie zur Schnecke machen würde. Sie hatte lange genug mit Kline zu tun – mittlerweile seit zwei Jahren –, um zu wissen, dass er Unentschlossenheit und Zögern nicht duldete. Er wollte, dass die Leute, die für ihn arbeiteten, zuversichtlich, willensstark und entschieden waren – selbst wenn sie unrecht hatten. Aber anstatt sie zu kritisieren, schüttelte er rasch den Kopf.

»War es Bernstein, der das entdeckt hat?«

»Nein, Sir, ein Mitarbeiter in seinem Büro.«

»Haben wir einen Namen?«

»Garrett Reilly. Sechsundzwanzig Jahre alt. Börsenanalyst.«

»Sechsundzwanzig? Er hat eine ziemlich spektakuläre Meisterleistung in intuitiver mathematischer Ermittlungsarbeit vollbracht.«

»Das hat er, Sir.«

»Wissen wir sonst noch was über ihn?«

»Sein Name steht auf dem Mietvertrag zu einer Zweizimmerwohnung in Lower Manhattan. Hat Yale abgebrochen. An der Long Beach State sein Diplom in Informatik und Mathe gemacht.«

»Das Studium in Yale abgebrochen, um zur Long Beach State zu gehen? Das beweist einen ausgeprägten Mangel an Urteilsfähigkeit.«

»Er hat sich in Yale exmatrikuliert, nachdem sein Bruder zwei Tage vorher gestorben war … in Afghanistan.«

Kline blieb abrupt stehen, den Kopf zur Seite geneigt, und starrte Alexis an. Sie fuhr fort: »Marine Lance Corporal Brandon Reilly. Im Kampf gefallen im Camp Salerno, am zweiten Juni 2007. Von einem Scharfschützen in den Hals geschossen.«

Kline sagte nichts und bewegte sich ausnahmsweise auch nicht. Alexis beobachtete ihn und wusste genau, welche Rädchen sich im Kopf ihres Vorgesetzten drehten. Nach zehn langen Sekunden nickte Kline langsam, kaum wahrnehmbar. »Garrett Reilly? Glauben Sie, er könnte der Richtige sein?« Die Frage hing in der Luft. »Für Aszendent?«

Alexis Truffant hatte sich die gleiche Frage gestellt, als sie vor zwei Stunden einen ersten Blick in Garrett Reillys Akte warf. Sie hatte das Bild des jungen Mannes studiert, sein hübsches, jungenhaftes Gesicht, die blauen Augen, das mürrische, fast arrogante Grinsen auf seinen Lippen; sie hatte seinen kurzen beruflichen Werdegang und seinen Bildungsweg durch die brutale logische Maschinerie ihres extrem ordentlichen Verstands gejagt. Sie suchten seit mehr als einem Jahr ohne Erfolg nach jemandem, und die Uhr tickte; der Förderungszeitraum für das Projekt lief bald aus. Und deshalb formulierte Alexis Truffant die Antwort für ihren Boss so vorsichtig wie möglich, weil sie in ihrem Innersten Risiken äußerst abgeneigt war: »Eine eindeutige Möglichkeit, Sir.«

Kline starrte seine Untergebene an, und Alexis wusste, dass er nach einem Anzeichen von Zweifel auf ihrem Gesicht suchte, nach einer Art Vorbehalt. Die Army war ein Sumpf aus Ausflüchten und Absicherungen. Also holte sie tief Luft und sagte es wieder: »Eindeutige Möglichkeit.«

Kline nickte, wirbelte herum und ging los. Über die Schulter bellte er: »Sie kennen ja den Ablauf, Captain. Fangen Sie an.«

»Bin dabei, Sir«, sagte sie, während sie schon zum Aufzug lief.

4

NEW YORK CITY, 24. MÄRZ, 21:27 Uhr

Garrett saß an einem Tisch im hinteren Bereich von McSorley’s in der Nähe der Toiletten, wo es mehr nach abgestandenem Urin als nach abgestandenem Bier roch, aber das war ihm egal, weil er mit seinen Freunden zusammen war und sie bereits vier Krüge Black and Tan und sechs Tequila getrunken hatten und dieser Platz ihm ohnehin den besten Blick auf all die anderen Trottel in der gerappelt vollen East-Village-Kneipe erlaubte. Garrett liebte es, wahllos abfällige Bemerkungen von sich zu geben. Wie über die vier jungen Hedgies, die in ihren grauen Anzügen am Fenster standen und diesen blöden Journey-Song, der am Ende der Sopranos kam, falsch sangen – die konnte er wirklich nicht ertragen.

»Scheiß-Hedge-Fonds-Typen«, grollte Garrett zwischen zwei Schluck Bier. »Schaut euch diese Arschlöcher an. Hedge-Fonds sind ein Pyramidenspiel. Wieso sehen die Leute das nicht?«

Mitty Rodriguez, eins dreiundsechzig groß und neunzig gedrungene Kilo schwer, puertoricanische Spieleprogrammiererin und Garretts beste Freundin, hob ihr Bierglas zum Gruß. »Warum setzt du nicht deinen traurigen Arsch in Bewegung und haust einem von ihnen eins in die Fresse. Schlägst ihm die Zähne ein.«

»Vielleicht tu ich das«, sagte Garrett und musterte den größten der Hedgies: eins achtundachtzig, muskulös, sah wie ein ehemaliger Lacrosse-Spieler aus.

Shane Michelson schüttelte den Kopf. Er war schlaksig und hatte keine gute Haut, ein junger Währungsanalyst und auf keinen Fall ein Kämpfer. »Können wir bitte darauf verzichten, aus noch einer Kneipe rausgeworfen zu werden, Gare? Bitte. Ich habe allmählich keine Happy-Hour-Anlaufstellen mehr.«

»Ja. Klar. Die können mich mal. Ich werde in dieser Woche mehr Geld verdienen als sie in ihrem ganzen Leben.«

Shane schüttelte ungläubig den Kopf. »Wie willst du das machen?«

Garrett checkte die jungen Frauen, die an der Theke standen. Eine fiel ihm ins Auge: apart, hochgewachsen, dunkle Haut. »Der Dollar wird abstürzen. Und ich werde ihn ganz bis zum Tiefpunkt reiten.«

Shane lachte. »Garrett, ich bin Devisenhändler. Der Dollar gibt keine Anzeichen von einem Absturz zu erkennen.«

»Vielleicht bist du kein sehr guter Devisenhändler.«

Mitty stieß einen Entzückensschrei aus. »Oh. Gib ihm eins in die Fresse. Zickenkrieg, Zickenkrieg!«

»Leck mich, Garrett.« Shane schaute angepisst zur Seite. Dann übermannte ihn die Neugier. Alle hüteten sich davor, Garretts Prahlereien gänzlich zu ignorieren; sie hatten die unangenehme Eigenschaft, sich zu bewahrheiten. »Was weißt du? Sag’s mir.«

»T-Bonds werden abgestoßen. Es werden immer mehr. Staatsanleihen. Überschwemmen den Markt. Ein Massaker zeichnet sich ab.«

»Ich habe keinen Überschuss von Staatsanleihen zum Verkauf angeboten gesehen.«

»Die Notenbank kauft wahrscheinlich den Überschuss auf. Damit niemand in Panik gerät. Hey, siehst du die Frau an der Theke?« Garrett machte eine Kopfbewegung in ihre Richtung. »Ich glaube, die hat ein Auge auf mich geworfen.«

»Wer sollte den Dollar erledigen wollen? Die Euro-Zone? Das sind unsere Freunde.«

»Das ist ’ne scharfe Braut.«

»Russland? Die haben nicht genug von unseren Anleihen. Ein arabischer Staat? Den würden wir atomar auslöschen. Die Japaner? Das würde deren Wirtschaft nicht verkraften.«

»Können wir zur Abwechslung mal nicht über Geld reden«, sagte Mitty. »Ich hab heute einen Angriff mit vierzig Mann auf Kel’Thuzad gemacht. Hätte fast die Zitadelle gestürmt, aber dieser Wichser Nefarian hat mich reingelegt …«

Garrett lächelte. Er und Mitty waren verwandte Seelen – technikbesessene Gamer, die genauso viel Zeit online verbrachten wie in der richtigen Welt. Sie hatten sich in einem Ego-Shooter-Chatroom kennengelernt und waren die besten Freunde geworden, lange, bevor sie sich persönlich getroffen hatten. Das virtuelle Leben verband sie miteinander. Das und eine tiefsitzende Vorliebe dafür, Ärger zu machen. Mitty war der einzige Mensch in Garretts Bekanntenkreis, der so viele Leute verärgern konnte wie er, und schneller außerdem. In manchen Nächten schien es, als gäbe es ganze Viertel in New York City, wo die beiden nicht mehr willkommen waren.

Shane schloss einen Moment lang die Augen, bevor er sie überrascht wieder öffnete. »China?«

Garrett stand auf, zog seine locker hängende Krawatte gerade und lächelte. »Ich gehe heute Nacht mit ihr nach Hause.«

Shane schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Der Yuan ist an den Dollar gekoppelt. Wenn wir untergehen, geht China auch unter.«

Garrett starrte Shane an. Er war betrunken und schwankte, aber Garrett strahlte auch schwankend eine arrogante Selbstsicherheit aus. »Die Chinesen hocken auf zwei Komma sieben Billionen Dollar. Denen geht’s prima. Wir sehen uns morgen.«

Er drängte sich durch die überfüllte Kneipe und schob sich unsicher zwischen den Tischen hindurch. Er blieb abrupt stehen, als er bei der jungen Frau an der Theke ankam. Einer der Hedgies baggerte sie gerade an. Garrett machte ein finsteres Gesicht – verfluchte Hedgies –, bevor er sich mit dem Ellbogen zwischen sie drängte. »Sorry, Meister, ich war schon mit ihr im Gespräch. Geh doch wieder zu deinen Freunden und sing noch ein bisschen mit ihnen.«

Der Hedgie – es war der Lacrosse-Spieler, und er war wirklich ein Brocken – warf Garrett einen wütenden Blick zu. »Bist du noch ganz bei Trost? Ich hab mit ihr geredet. Verpiss dich, Freundchen.«

Garrett lächelte die junge Frau an. Sie schien von keinem ihrer beiden Verehrer sonderlich beeindruckt zu sein. Garrett beugte sich zu ihr. »Was ich sagen wollte, war, dass ich seit einer Stunde in meinem Kopf mit Ihnen rede. Wir haben ein ganz erstaunliches Gespräch geführt. Aber dann hat uns dieser Scherzkeks unterbrochen, und ich wusste, dass ich Ihnen zu Hilfe kommen muss.«

Die junge Frau lachte. Der Lacrosse-Spieler packte Garrett an der Schulter. »Ich schlag dir deinen verdammten Schädel ein, du Arschloch.«

Garrett ließ sich herumdrehen. Er musterte den Lacrosse-Spieler von oben bis unten. »Lass mich raten. Duke. Wiso-Examen. Lacrosse in der Unimannschaft. Im dritten Jahr bei der Apogee Capital Group.«

Der Lacrosse-Spieler riss den Mund auf. »Woher, zum Teufel, weißt du das denn? Hast du mir nachspioniert?«

Garrett lächelte. »Warum sollte ich dir nachspionieren? Nein, das war leicht. Apogee Capital ist vier Häuserblocks entfernt. Aber die Firma hat dieses Jahr einen Umsatzrückgang von siebzig Prozent. Dein Anzug ist ein Billigimitat aus Hongkong, nicht von Kiton in Italien, und deine Schuhe sind mindestens zwei Jahre alt, was für einen Hedgie antik ist. Apogee hat vor drei Jahren Leute eingestellt, was sie jetzt nicht mehr tun, und deshalb bist du ein Typ ganz unten auf der Leiter, wo du immer noch feststeckst, aber den Job hast du bekommen, weil der Vorstandssprecher von Apogee Lacrosse an der Duke gespielt hat, von der du bei deinem Akzent kommen musst. Und nur Hedgie-Loser würden Journey-Songs aus vollem Hals in einer überfüllten Kneipe singen.«

Mehr war gar nicht nötig.

Die nächsten dreißig Sekunden waren für Garrett irgendwie verschwommen. Er wusste genau, dass der Hedgie auf ihn einzuschlagen versuchte, und auch, dass er darauf vorbereitet war, also duckte er sich nach links und boxte ihn mit der rechten Faust in den Solarplexus. Mit diesem Bewegungsablauf hatte er auf den Straßen von Long Beach häufiger reüssiert, als er zählen konnte. Er war nicht einer der Stärksten, aber er war schnell, und er war ein erfahrener Straßenkämpfer. Er trat hart nach dem sich krümmenden Hedgie und lief auf seine drei Freunde zu, die die Kneipe durchquerten, um sich an dem Kampf zu beteiligen. Garrett trat den Ersten gegen das Knie, was ihn außer Gefecht setzte, und schob den Zweiten in den Dritten hinein, sodass die beiden über einen Tisch purzelten und Krüge und Gläser mit Bier zu Boden fielen und zerbrachen. Zu diesem Zeitpunkt war die ganze Kneipe auf den Beinen, manche liefen zu den Ausgängen, andere versuchten, einen günstigeren Blickwinkel zu ergattern. Ein paar Frauen kreischten, als Mitty durch den Raum polterte, um einige Schläge zu verteilen – sie ließ sich keine Gelegenheit entgehen, um ihre Fäuste spielen zu lassen –, aber sie kam zu spät, weil die Hedgies am Boden lagen. Garrett war schon durch die Tür und auf der Straße, wo er nach einer Gasse Ausschau hielt, durch die er wegrennen konnte, und sich mit der Tatsache abfand, dass er in dieser Nacht allein schlafen würde.

Garrett rannte drei Häuserblocks direkt nach Osten, wobei er sich dachte, dass die Hedgies ihn nie finden würden, wurde dann einen halben Block langsamer und kotzte in eine Mülltonne. Er wischte sich den Mund ab, in dem er noch den Hotdog schmeckte, den er mittags gegessen hatte, fühlte sich aber besser, und als er den Tompkins Square Park überquerte, sah er aus dem Augenwinkel, dass ihm jemand folgte, der noch ungefähr hundert Yards von ihm entfernt war. Er eilte durch den Park, ohne sich umzudrehen, und versteckte sich hinter der Ecke eines Hauses an der Kreuzung von Avenue B und Tenth Street. Er wartete höchstens dreißig Sekunden und sprang hervor, als die Person, die ihm folgte, um die Ecke bog. Er grinste. »Sie konnten mir nicht widerstehen, stimmt’s?«

Es war die junge Frau aus der Kneipe.

5

LOWER EAST SIDE, MANHATTAN, 24. MÄRZ, 23:01 Uhr

Garrett bestellte zwei Kaffee, einen Teller Pommes frites und eine Schüssel Avgolemono-Suppe. »Zwei Löffel für die Suppe«, sagte er zu der Kellnerin in dem griechischen Imbissrestaurant. »Die Dame möchte vermutlich davon probieren.«

Die Kellnerin zuckte mit den Schultern und machte sich auf den Weg zur Küche, wobei sie an einer Reihe von Plakaten vorbeikam, auf denen Reiseagenturen mit Bildern weißer Stuckhäuser auf kargen ägäischen Inseln für sich Reklame machten. Der einzige andere Gast an der Theke des Lokals schlürfte seinen Kaffee und las in einem Taschenbuch.

Die junge Frau aus der Kneipe schüttelte den Kopf. »Ist das Ihr Abendessen?«

»Hab mein Mittagessen schon ausgekotzt«, sagte Garrett. »Mit anderen Worten: ja.«

»Ich fange an, mir Gedanken über Ihre Lebenserwartung zu machen.«

»Planen wir eine langfristige Beziehung?«

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