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Der Archipel GULAG E-Book

Alexander Solschenizyn

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Beschreibung

In seinem monumentalen Werk beschreibt Alexander Solschenizyn aus eigener Erfahrung den Terror der sowjetischen Straflager des GULAG, mit der dokumentarischen Sorgfalt eines Historikers und der Sprachgewalt eines großen Epikers.

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Alexander Solschenizyn

Der Archipel GULAG

Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band

 

Übersetzt von Anna Peturnig und Ernst Walter

 

Über dieses Buch

 

 

Schon als GULAG-Häftling beschloss Solschenizyn, vom System des Straflager-Archipels zu berichten, eine Chronik der Ereignisse zu verfassen und das Leben der Gefangenen und ihrer Bewacher zu schildern. Er wollte ein möglichst umfassendes Bild dieses düsteren Staates im Staat zeigen. Die erste westliche Übersetzung des Werkes erschien 1974 in deutscher Sprache.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Alexander Solschenizyn wurde am 11. Dezember 1918 im russischen Kislowodsk geboren. 1945 Verurteilung zu acht Jahren Zwangslager des GULAG. 1953 Entlassung aus der Lagerhaft, Verbannung auf Lebenszeit. 1957 offizielle Rehabilitierung des an Krebs erkrankten Solschenizyn. 1970 Literaturnobelpreis. 1974 Ausweisung nach Solschenizyns Freigabe von »Der Archipel GULAG« zur Veröffentlichung im Westen. Nach längeren Aufenthalten in der Schweiz und den USA 1994 Rückkehr nach Russland. Am 3. August 2008 starb Solschenizyn in Moskau.

Inhalt

[Widmung]

Geleitwort

Prolog

Erster Teil Die Gefängnisindustrie

1 Die Verhaftung

2 Die Geschichte unserer Kanalisation

3 Die Vernehmung

4 Die blauen Litzen

5 Erste Zelle – erste Liebe

6 Jener Frühling

7 Im Maschinenraum

8 Das Gesetz in den Kinderschuhen

9 Das Gesetz wird flügge

10 Das Gesetz ist reif

11 Das Höchstmaß

12 Tjursak, die Gefängnishaft

Zweiter Teil Ewige Bewegung

1 Die Schiffe des Archipels

2 Die Häfen des Archipels

3 Die Sklavenkarawanen

4 Von Insel zu Insel

Dritter Teil Arbeit und Ausrottung

1 Die Finger der Aurora

2 Der Archipel steigt aus dem Meer auf

3 Der Archipel siedelt Metastasen ab

4 Der Archipel versteinert

5 Die Säulen des Archipels

6 Die Ankunft der Faschisten

7 Der Alltag der Archipelager

8 Die Frau im Lager

9 Die Pridurki

10 Statt der Politischen

11 Die Loyalisten

12 Geflüster hinter verschlossener Tür

13 Die zweite Schur

14 Dem Schicksal einen Stoß geben

15 Die BURs, die SURs, die Strafisolatoren

16 Die sozial-nahen Elemente

17 Die Frischlinge

18 Die Musen im GULAG

19 Die Seki als Nation

20 Der Wach-, Beiß- und Kläffdienst

21 Die Lagerumwelt

22 Wir bauen

Vierter Teil Seele und Stacheldraht

1 Läuterung

2 … oder Zersetzung

3 Die mißhandelte Freiheit

Fünfter Teil Die Katorga kommt wieder

1 Die Verdammten

2 Der Wind der Revolution

3 Ach, Ketten, meine Ketten …

4 Warum haben wir uns nicht gewehrt?

5 Verscharrte Dichtung, vergrabene Wahrheit

6 Ein überzeugter Ausbrecher

7 Das weiße Kätzchen

8 Flucht-Moral und Flucht-Technik

9 Die MP-Söhnchen

10 Wenn der Zonenboden glüht

11 Erster Versuch, die Ketten zu sprengen

12 Die vierzig Tage von Kengir

Sechster Teil In der Verbannung

1 Die Verbannung in den ersten Freiheitsjahren

2 Die Bauernpest

3 Die Verbannung bevölkert sich

4 Die Völkerverschickung

5 Die Frist ist abgesessen

6 Eines Verbannten Glückseligkeit

7 Die Seki in Freiheit

Siebenter Teil Nach Stalin

1 Blick über die Schulter

2 Die Machthaber wechseln, der Archipel bleibt

3 Das Gesetz heute

Nachwort

Ein Jahr danach

Anhang

I Biographisches Namenverzeichnis

II Verzeichnis der Abkürzungen

III Karte der Straflager

All jenen gewidmet, die nicht genug Leben hatten, um dies zu erzählen. Sie mögen mir verzeihen, daß ich nicht alles gesehen, nicht an alles mich erinnert, nicht alles erraten habe.

Geleitwort

Wäre es irgendeiner Nation möglich, die bitteren Erfahrungen einer anderen durch die Lektüre eines Buches mitzuerleiden, so würde ihre Zukunft gewiß viel heller sein, weil viel Unglück und viele Fehler durch rechtzeitige Einsicht vermieden werden könnten. Doch jedermann ist der verhängnisvollen Meinung: «Derartiges könnte bei uns nie vorkommen!»

Dennoch sind die Torturen des zwanzigsten Jahrhunderts überall auf der Welt denkbar.

Ich habe allerdings die Hoffnung noch nicht aufgegeben, daß die Menschen, daß alle Völker vom Schicksal anderer zu lernen bereit sind, um nicht das gleiche erdulden zu müssen. Deshalb habe ich Professor Ericsons Vorschlag begrüßt, eine einbändige Fassung des «Archipel Gulag» herzustellen, um allen denjenigen die Lektüre zu erleichtern, die in unserer hektischen Gegenwart nicht die Zeit finden würden, das gesamte dreibändige Werk zu lesen. Ich danke Edward E. Ericson für seine Initiative, vor allem aber für das bei der schwierigen Kürzungsarbeit bewiesene sprachliche und sachliche Einfühlungsvermögen.

 

Cavendish, Vermont   Alexander Solschenizyn

Prolog

Im Jahre 1949 etwa fiel uns, einigen Freunden, eine bemerkenswerte Notiz aus der Zeitschrift Die Natur, herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften, in die Hände. Da stand in kleinen Lettern geschrieben, man habe bei Ausgrabungen am Fluß Kolyma eine unterirdische Eislinse freigelegt, einen gefrorenen Urstrom, und darin ebenfalls eingefrorene Exemplare einer urzeitlichen (einige Jahrzehntausende zurückliegenden) Fauna. Ob’s Fische waren oder Tritonen: der gelehrte Korrespondent bezeugte, sie seien so frisch gewesen, daß die Anwesenden, sobald das Eis entfernt war, die Tiere MIT GENUSS verspeisten.

Die keineswegs zahlreichen Leser der Zeitschrift waren wohl nicht wenig verwundert zu erfahren, wie lange Fischfleisch im Eis seine Frische zu bewahren imstande ist. Doch nur einzelne vermochten den wahren, den monumentalen Sinn der unbesonnenen Notiz zu erfassen.

Wir begriffen ihn sofort. Wir sahen das Bild klar und in allen Details vor uns: Wie die Anwesenden mit verbissener Eile auf das Eis einhackten; wie sie, alle hehren Interessen der Ichthyologie mit Füßen tretend, einander stoßend und vorwärtsdrängend, das tausend Jahre alte Fleisch in Stücke schlugen, diese zum Feuer schleppten, auftauen ließen und sich daran sättigten.

Wir begriffen es, weil wir selbst zu jenen Anwesenden gehörten, zu jenem auf Erden einzigartigen mächtigen Stamm der Seki, der Strafgefangenen, der Lagerhäftlinge, die allein es zustande brachten, einen Triton MIT GENUSS zu verspeisen.

Kolyma aber war die größte und berühmteste Insel, ein Grausamkeitspol in diesem sonderbaren Land GULAG, das die Geographie in Inseln zerrissen, die Psychologie aber zu einem festen Kontinent zusammengehämmert hat, jenem fast unsichtbaren, fast unspürbaren Land, welches besiedelt ist von besagtem Volk der Seki.

Das Inselland ist eingesprenkelt in ein anderes, das Mutterland; kreuz und quer durchsetzt es seine Landschaft, bohrt sich in seine Städte, überschattet seine Straßen – und trotzdem haben manche nichts geahnt, viele nur vage etwas gehört, bloß die Dortgewesenen alles gewußt.

Doch als ob sie auf den Inseln des Archipels die Sprache verloren hätten, hüllten sie sich in Schweigen.

Durch eine unerwartete Wendung in unserer Geschichte kam einiges über das Inselreich – verschwindend weniges – ans Tageslicht. Dieselben Hände aber, die uns die Handschellen angelegt, strecken sich uns nun in versöhnlicher Geste entgegen: «Wozu? … wozu Vergangenes aufwühlen? … ‹An Vergangenem rühren – ein Auge verlieren!›» Das Sprichwort stimmt, allein, sie verschweigen, wie es zu Ende geht: «Vergangenes vergessen – beide Augen verlieren!»

Es vergehen Jahrzehnte, die Narben und Geschwüre verblassen mit der Zeit und damit für immer. Manch eine Insel ist inzwischen erschüttert worden und zerronnen, das Eismeer des Vergessens läßt seine Wogen über sie hinwegrollen. Und irgendwann im kommenden Jahrhundert werden dieses Inselreich, seine Luft und die Gebeine seiner Bewohner, in einer Eislinse eingefroren, als unglaubwürdiger Triton erscheinen.

Ich wage es nicht, die Geschichte des Archipels zu schreiben; der Zugang zu Dokumenten war mir verschlossen. Aber werden sie jemals für jemanden zugänglich sein? … Die sich nicht ERINNERN wollen, hatten (und haben) Zeit genug, alle Dokumente bis aufs letzte Blatt zu vernichten.

Der ich gelernt habe, meine dort verbrachten elf Jahre nicht als Schande, nicht als verfluchten Alptraum zu verstehen, sondern jene häßliche Welt beinahe zu lieben; der ich jetzt durch glückliche Fügung zum Vertrauten vieler späten Erinnerungen und Briefe wurde: Vielleicht gelingt es mir, etwas aus Knochen und Fleisch hinüberzuretten? – aus noch lebendem Fleisch übrigens, vom heute noch lebenden Triton.

In diesem Buch gibt es weder erfundene Personen noch erfundene Ereignisse. Menschen und Schauplätze tragen ihre eigenen Namen. Wenn Initialen gebraucht werden, geschieht dies aus persönlichen Überlegungen. Wenn Namen überhaupt fehlen, dann nur darum, weil das menschliche Gedächtnis sie nicht behalten hat – doch es war alles genau wie beschrieben.

Dieses Buch allein zu schaffen, hätte ein einzelner nicht die Kraft gehabt. Außer dem, was ich vom Archipel mitnahm, am Leib, im Gedächtnis, durch Aug und Ohr, dienten mir als Material die Erzählungen, Erinnerungen und Briefe von 227 Personen, deren Namen hier verzeichnet stehen müßten.

Persönliche Dankbarkeit vermag ich ihnen nicht auszudrücken: Dieses Buch ist unser gemeinsames Denkmal für alle Gemordeten und zu Tode Gemarterten.

Viele haben mir geholfen, meine Darstellung mit bibliographischen Stützpfeilern zu untermauern: mit Zitaten aus Büchern der heutigen Bibliotheksbestände, aber auch aus solchen, die längst eingezogen und vernichtet worden sind, so daß es hartnäckigen Suchens bedurfte, ein übriggebliebenes Exemplar aufzustöbern; und mehr noch sind jene hervorzuheben, die geholfen haben, das Manuskript in manch schwerem Augenblick zu verstecken und später zu vervielfältigen.

Doch die Stunde, da ich es wagen könnte, sie zu nennen, ist noch nicht gekommen.

Der lang eingesessene Häftling des Lagers im Kloster Solowki, Dmitrij Petrowitsch Witkowski, hätte der Redakteur dieses Buches sein sollen. Doch das halbe Leben, dort verbracht (seine Lagererinnerungen heißen auch so: «Ein halbes Leben lang»), rächte sich an ihm mit vorzeitiger Paralyse. Bereits unfähig zu sprechen, konnte er nur mehr einige abgeschlossene Kapitel lesen und sich davon überzeugen, daß ÜBER ALLES BERICHTET WERDEN WIRD.

Sollte meinem Land die Freiheit noch lange nicht dämmern, dann wird das Lesen und Verbreiten dieses Buchs allein schon eine große Gefahr bedeuten, so daß ich auch vor den zukünftigen Lesern mich in Dankbarkeit verneigen muß – anstelle von jenen, den Zugrundegegangenen.

Als ich dieses Buch 1958 zu schreiben begann, waren mir irgendwessen Memoiren oder künstlerische Werke über die Lager nicht bekannt. Ehe es 1967 vollendet war, lernte ich allmählich Warlam Schalamows Kolyma-Erzählungen und die Erinnerungen von Dmitrij Witkowski, Jewgenija Ginsburg, S. Adamowa-Sliosberg kennen, auf die ich mich im weiteren wie auf allseits bekannte literarische Fakten berufe (denn eines Tages werden sie es doch sein).

Entgegen ihren Absichten, wider ihren Willen, haben mir folgende Autoren wertvolles Material für dieses Buch geliefert, indem sie viele wichtige Tatsachen, auch Zahlen, ja, die Atmosphäre selbst festhielten, in der sie lebten: M. I. Lazis (Sudrabs); N. W. Krylenko – während vieler Jahre Staatsanwalt; sein Nachfolger A. J. Wyschinski mit seinen juristischen Helfershelfern, von denen besonders I. L. Awerbach zu nennen ist.

Material für dieses Buch lieferten auch SECHSUNDDREISSIG VON MAXIMGORKI angeführte sowjetische Schriftsteller, die Verfasser des Buches über den Weißmeer-Kanal, jenes schändlichen Werkes, in dem zum ersten Mal in der russischen Literatur der Sklavenarbeit Ruhm gesungen wurde.

Erster TeilDie Gefängnisindustrie

«In der Epoche der Diktatur, überall umgeben von Feinden, zeigten wir manchmal unnütze Milde, unnütze Weichherzigkeit.»

Staatsanwalt Krylenko während des Prozesses gegen die Industriepartei, 1930

1Die Verhaftung

Wie gelangt man auf diesen geheimnisvollen Archipel? Stunde für Stunde machen sich Flugzeuge, Schiffe, Züge auf den Weg dorthin – doch es weist keine einzige Inschrift den Bestimmungsort aus. Beamte am Fahrkartenschalter würden nicht weniger erstaunt sein als ihre Kollegen vom Sowtourist- oder Intourist-Reisebüro, wollte jemand eine Fahrt dorthin buchen. Sie kennen weder den Archipel als Ganzes noch eine seiner zahllosen Inseln, sie haben nie etwas davon gehört.

Wer hinfährt, um den Archipel zu regieren, der nimmt den Weg durch die Lehranstalten des MWD[*].

Wer hinfährt, um den Archipel zu bewachen, der wird von der Militäreinberufungsstelle hinbeordert.

Und wer hinfährt, um dort zu sterben, wie wir beide, Sie, mein Leser, und ich, dem steht dazu unausweichlich und einzig der Weg über die Verhaftung offen.

Die Verhaftung! Soll ich es eine Wende in Ihrem Leben nennen? Einen direkten Blitzschlag, der Sie betrifft? Eine unfaßbare seelische Erschütterung, mit der nicht jeder fertig werden kann und vor der man sich oft in den Wahnsinn rettet?

Das Universum hat so viele Zentren, so viele Lebewesen darin wohnen. Jeder von uns ist ein Mittelpunkt des Alls, und die Schöpfung bricht in tausend Stücke, wenn Sie es zischen hören: «SIE SIND VERHAFTET!»

Wenn schon Sie verhaftet werden – wie soll dann etwas anderes vor diesem Erdbeben verschont bleiben?

Unfähig, diese Verschiebungen im Weltall mit benebeltem Gehirn zu erfassen, vermögen die Raffiniertesten und die Einfältigsten unter uns in diesem Augenblick aus der gesamten Erfahrung ihres Lebens nichts anderes herauszupressen als dies:

«Ich?? Warum denn??» – Eine Frage, die schon zu Millionen und Abermillionen Malen gestellt wurde und niemals eine Antwort fand.

Die Verhaftung ist eine jähe, mit voller Wucht uns treffende Versetzung, Verlegung, Vertreibung aus einem Zustand in einen anderen.

Da jagten wir glücklich oder trabten wir unglücklich durch die lange winkelige Straße unseres Lebens, an Zäunen, Zäunen, Zäunen entlang, vorbei an moderigen Holzplanken, an Lehmmauern und Eisengittern, vorbei an Umfriedungen aus Ziegel und Beton. Wir verloren keinen Gedanken daran, was wohl dahinter lag. Weder versuchten wir hinüberzublicken, noch uns hinüberzudenken – dahinter aber begann das Land GULAG, gleich nebenan, keine zwei Meter von uns entfernt. Auch hatten wir in diesen Zäunen die Unmenge von genau eingepaßten, gut getarnten Türen und Pförtchen nicht bemerkt. Alle, alle diese Pforten standen für uns bereit – und es öffnete sich rasch die schicksalhafte eine, und vier weiße Männerhände, an Arbeit nicht, dafür aber ans Zuschnappen gewöhnt, packen uns an Beinen, Armen, Haaren, am Ohr oder am Kragen, zerren uns wie ein Bündel hinein, und die Pforte hinter uns, die Tür zu unserem vergangenen Leben, die schlagen sie für immer zu.

Schluß. Sie sind – verhaftet!

Und keine andere Antwort finden Sie darauf als ein verängstigtes Blöken: «W-e-e-r? I-i-ch?? Warum denn??»

Ver-haf-tet-wer-den, das ist: ein Aufblitzen und ein Schlag, durch die das Gegenwärtige sofort in die Vergangenheit versetzt und das Unmögliche zur rechtmäßigen Gegenwart wird. Das ist alles. Mehr zu begreifen gelingt Ihnen weder in der ersten Stunde noch nach dem ersten Tag.

Noch blinkt Ihnen in Ihrer Verzweiflung wie aus der Zirkuskuppel ein künstlicher Mond zu: «Ein Irrtum! Das wird sich schon aufklären!»

Alles andere aber, was sich heute zur traditionellen und sogar literarischen Vorstellung über die Verhaftung zusammengefügt hat, entsteht und sammelt sich nicht mehr in Ihrem bestürzten Gedächtnis, sondern im Gedächtnis Ihrer Familie und der Wohnungsnachbarn.

Das ist: ein schrilles nächtliches Läuten oder ein grobes Hämmern an der Tür. Das ist: der ungenierte stramme Einbruch der an der Schwelle nicht abgeputzten Stiefel des Einsatzkommandos. Das ist: der hinter ihrem Rücken sich versteckende eingeschüchterte Zeuge als Beistand. (Wozu der Beistand? – Das zu überlegen, wagen die Opfer nicht, und die Verhafter haben es vergessen, aber es ist halt Vorschrift; so muß er denn die Nacht über dabeisitzen und gegen Morgen das Protokoll unterschreiben. Auch für den aus dem Schlaf gerissenen Zeugen ist es eine Qual: Nacht für Nacht dabeisein und helfen zu müssen, wenn man seine Nachbarn und Bekannten verhaftet.)

Die traditionelle Verhaftung – das heißt auch noch: mit zitternden Händen zusammensuchen, was der Verhaftete dort brauchen könnte: Wäsche zum Wechseln, ein Stück Seife und was an Essen da ist, und niemand weiß, was notwendig und was erlaubt ist und welche Kleidung am besten wäre, die Uniformierten aber drängen: «Wozu das alles? Dort gibt’s Essen genug. Dort ist’s warm.» (Alles Lüge. Und das Drängen dient nur zur Einschüchterung.)

Die traditionelle Verhaftung hat noch eine stundenlange Fortsetzung, später, wenn der arme Sünder längst abgeführt ist und die brutale, fremde, erdrückende Gewalt sich der Wohnung bemächtigt. Das sieht so aus: Schlösser aufbrechen, Polster aufschlitzen, alles von den Wänden runter, alles aus den Schränken raus, ein Herumwühlen, Ausschütten, Aufschneiden, ein Reißen und Zerren – und Berge von Hausrat auf dem Boden, und Splitter unter den Stiefeln. Und nichts ist ihnen heilig während der Haussuchung! Während der Verhaftung des Lokführers Inoschin stand der kleine Sarg mit seinem eben verstorbenen Kind im Zimmer. Die Rechtshüter kippten das Kind aus dem Sarg heraus, sie suchten auch dort. Sie zerren Kranke aus ihren Betten und reißen Verbände von Wunden.

Für die aber, die nach der Verhaftung zurückbleiben, beginnen ab nun lange Monate eines zerrütteten, verwüsteten Lebens. Die Versuche, mit Paketen durchzukommen. Und überall nur bellende Antworten: «Den gibt es nicht!», «Nicht in den Listen!» Zuvor aber muß man an den Schalter gelangen, aus dem das Gebell schallt, und das bedeutete in den schlimmen Leningrader Zeiten fünf Tage Schlangestehen. Und erst nach Monaten oder nach einem Jahr läßt der Verhaftete selbst von sich hören, oder aber es wird einem das «Ohne Brieferlaubnis» an den Kopf geworfen. Das aber heißt – für immer. «Ohne Brieferlaubnis», das steht fast sicher für: erschossen.

So stellen wir uns die Verhaftung vor.

Es stimmt auch. Die nächtliche Verhaftung von der beschriebenen Art erfreut sich bei uns gewisser Beliebtheit, weil sie wesentliche Vorzüge zu bieten hat. Alle Leute in der Wohnung sind nach den ersten Schlägen gegen die Tür vor Entsetzen gelähmt. Der zu Verhaftende wird aus der Wärme des Bettes gerissen, steht da in seiner halbwachen Hilflosigkeit, noch unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Bei einer nächtlichen Verhaftung ist das Einsatzkommando in einer stärkeren Position: Sie kommen, ein halbes Dutzend bewaffneter Männer gegen einen, der erst die Hose zuknöpft; mit Sicherheit ist auszuschließen, daß sich während der Abführung und der Haussuchung am Hauseingang mögliche Anhänger des Opfers sammeln. Das gemächliche und systematische Aufsuchen von einer Wohnung hier, einer anderen dort, einer dritten und vierten in der drauffolgenden Nacht gewährt den bestmöglichen Einsatz des operativen Personals und die Inhaftierung einer vielfach größeren Zahl von Einwohnern, als der Personalstand ausmacht.

Einen weiteren Vorzug zeigen die nächtlichen Verhaftungen auch darin, daß weder die Nachbarhäuser noch die Straßen zu sehen bekommen, wie viele da nächtens abtransportiert werden. Erschreckend für die allernächsten Hausparteien, sind sie für die Entfernteren nicht existent. Sind wie nicht dagewesen. Über denselben Asphaltstreifen, über den zur nächtlichen Stunde Gefangenenwagen hin und her flitzen, marschieren am hellen Tage frohgemute Jugendscharen, mit Fahnen und Blumen und unbeschwerten Liedern.

Doch die Verhaftenden, deren Dienst ja einzig aus solchen Akten besteht, denen die Schrecken der Festzunehmenden längst etwas Vertrautes und Öde-Langweiliges geworden sind, betrachten den Inhaftnahmevorgang in einem viel weiteren Sinne. Die haben eine große Theorie; man glaube nur ja nicht naiv, es gäbe sie nicht. Die Inhaftnahme, das ist ein wichtiger Abschnitt im Lehrplan der allgemeinen Gefängniskunde, in der eine grundlegende gesellschaftliche Theorie als Basis nicht fehlt. Die Verhaftungen werden nach bestimmten Merkmalen klassifiziert: Verhaftungen am Tag und in der Nacht; zu Hause, im Dienst und unterwegs; erstmalige und wiederholte; Einzel- und Gruppenverhaftungen. Die Verhaftungen werden nach dem Grad der erforderlichen Überrumpelung eingestuft und nach der Stärke des zu erwartenden Widerstandes (doch in Dutzenden Millionen von Fällen wurde kein Widerstand erwartet und auch keiner geleistet). Die Verhaftungen unterscheiden sich nach der Gewichtigkeit der geplanten Haussuchung; nach der Notwendigkeit, bei der Beschlagnahme Protokolle zu führen, das Zimmer oder die Wohnung zu versiegeln, welche Notwendigkeit nicht immer gegeben ist; je nach Bedarf im weiteren Verlaufe auch die Frau des Abgeführten zu verhaften, die Kinder aber ins Kinderheim zu bringen, bzw. den Rest der Familie in die Verbannung, bzw. auch noch die greisen Eltern ins Lager.

O nein, die Formen der Verhaftung sind mitnichten eintönig. Frau Irma Mendel, eine Ungarin, erhielt einmal (im Jahre 1926) in der Komintern zwei Karten für das Bolschoitheater, die Plätze ganz vorn. Der Untersuchungsrichter Klegel machte ihr den Hof, so lud sie ihn ein, mit ihr zu gehen. Sie verbrachten einen trauten Abend, danach fuhr er sie direkt … auf die Lubjanka. Und wenn 1927 auf dem Kusnezki-Most die rundwangige, blondzöpfige Schönheit Anna Skripnikowa, die sich eben blauen Stoff für ein Kleid gekauft hatte, von einem jungen Gecken in eine Droschke verfrachtet wird (und der Kutscher, der hat schon begriffen und schaut finster drein: um den Fuhrlohn ist er bei den Organen betrogen) – dann sollten Sie wissen, daß dies kein romantisches Rendezvous ist, sondern auch eine Verhaftung: Gleich biegen sie zur Lubjanka ein und fahren in den schwarzen Rachen des Tores. Nein, niemals vernachlässigt man bei uns die Verhaftung am Tage, und die Verhaftung unterwegs, und die Verhaftung in brodelnder Menschenmenge. Und es klappte dennoch immer, und die Opfer selbst – das ist das Seltsame daran! – benehmen sich, in voller Übereinstimmung mit den Verhaftenden, maximal wohlerzogen, auf daß die Lebenden vom Untergang des Gezeichneten nichts bemerken.

Nicht jedermann ist in seinem Heim, nach vorherigem Klopfen an der Tür, festzunehmen, nicht jedermann auch an seinem Arbeitsplatz. Bei vermuteter Böswilligkeit des zu Fassenden ist es besser, ihn in Absonderung zu verhaften, fern von der gewohnten Umgebung, von der Familie, den Kollegen, den Gleichgesinnten und den Geheimverstecken: daß er nicht die Zeit habe, etwas zu vernichten, zu verbergen, zu übergeben. Hohe Würdenträger in Partei und Armee wurden bisweilen an andere Orte versetzt; per Salonwagen auf die Reise geschickt und unterwegs verhaftet. Irgendein namenloser Sterblicher hingegen, ein angstgeschüttelter Zeuge der Verhaftungen rundum, den schiefe Blicke seiner Vorgesetzten seit einer Woche schon Böses ahnen ließen, wird plötzlich zum Gewerkschaftsrat beordert, wo man ihm strahlend einen Reisebonus für ein Sanatorium in Sotschi überreicht. Er dankt, er eilt jubelnd nach Hause, um den Koffer zu packen. In zwei Stunden fährt der Zug, er schilt die umständliche Gattin. Und schon am Bahnhof! Noch bleibt Zeit. Im Wartesaal oder an der Theke, wo er rasch ein Bier kippt, wird er von einem überaus sympathischen jungen Mann angesprochen: «Erkennen Sie mich nicht, Pjotr Iwanytsch?» Pjotr Iwanytsch wird verlegen: «Eigentlich nicht … ich weiß nicht recht …» Der junge Mann ist ganz freundschaftliches Entgegenkommen: «Aber, aber, Sie werden sich gleich erinnern …» Und mit ehrfürchtiger Verbeugung zur Gattin hin: «Verzeihen Sie bitte, ich entführe Ihren Gatten bloß für einen Augenblick …» Die Gattin gestattet, der Unbekannte hakt sich bei Pjotr Iwanytsch vertraulich unter und führt ihn ab – für immer oder für zehn Jahre.

Der Bahnhof aber lebt sein hastiges Leben – und merkt nichts … Mitbürger, die Ihr gern Reisen unternehmt! Vergeßt nicht, daß es auf jedem Bahnhof einen Außenposten der GPU gibt mit einigen Gefängniszellen dazu.

Diese Aufdringlichkeit angeblicher Bekannter ist so ungestüm, daß es einem Menschen ohne wölfische Lagererfahrung einfach schwerfällt, sie abzuschütteln. Glauben Sie bloß nicht, daß Sie, wären Sie auch ein Angestellter der Amerikanischen Botschaft, namens, sagen wir Al-der D., davor gefeit sind, am hellichten Tage auf der Gorkistraße beim Hauptpostamt verhaftet zu werden. Da kommt er schon auf Sie zugestürzt, Ihr unbekannter Freund, mit ausgebreiteten Armen, durch die dichte Menge: «Sascha!» ruft er ganz ungeniert. «Ewig dich nicht gesehen! … Schau, wir stehn im Weg, komm doch zur Seite.» Doch wo er Sie hinzieht, an den Rand des Gehsteigs, da ist eben eine Pobeda vorgefahren … (Einige Tage danach wird die TASS voller Entrüstung erklären, es sei über das Verschwinden des Al-der D. in kompetenten Kreisen nichts bekannt.) Ach, wozu viel reden! Unsere Prachtkerle erledigten solche Verhaftungen sogar in Brüssel (so erwischten sie Schora Blednow), da ist Moskau nichts dagegen.

Man muß den Organen Gerechtigkeit widerfahren lassen: In einer Zeit, da Festreden, Theaterstücke und Damengarderoben den Stempel der Serienproduktion zu tragen scheinen, zeigt sich die Verhaftung in vielfältigem Gewand. Man winkt Sie beiseite, nachdem Sie eben am Fabrikstor Ihren Passierschein vorgewiesen haben – und drin sind Sie; man schleppt Sie aus dem Lazarett mit 39 Grad Fieber fort (Ans Bernstein), und der Arzt hat nichts gegen Ihre Verhaftung einzuwenden (soll er’s nur versuchen!); man verhaftet Sie vom Operationstisch weg, auf dem Sie wegen eines Magengeschwürs lagen (N. M. Worobjow, Gebietsschulinspektor, 1936) – und bringt Sie, mehr tot als lebendig, blutverschmiert in die Zelle (so erinnert sich Karpunitsch); Sie bemühen sich um eine Besuchsbewilligung (Nadja Lewitskaja) bei Ihrer abgeurteilten Mutter, man gewährt sie Ihnen – und dann erweist sich der Besuch als Gegenüberstellung und Verhaftung! Im großen Lebensmittelgeschäft Gastronom werden Sie in die Bestellabteilung gebeten und dort verhaftet; ein Pilger verhaftet Sie, der um Christi willen Beherbergung bei Ihnen erbat; ein Monteur verhaftet Sie, der gekommen ist, den Gaszähler abzulesen; ein Radfahrer, der auf der Straße in Sie hineinfuhr; ein Eisenbahnschaffner, ein Taxifahrer, ein Schalterbeamter der Sparkasse und ein rektor – sie alle verhaften Sie, der Sie zu spät den gut versteckten weinroten Ausweis erblicken.

Manch eine Verhaftung gleicht einem Spiel: Unerschöpflich ist der darin investierte Erfindergeist, unversiegbar die saturierte Energie, aber das Opfer, das würde sich ja auch sonst nicht wehren. Ob die Einsatzkommandos auf diese Weise ihren Sold und ihre Vielzahl rechtfertigen wollen? Es würde doch, scheint’s, fürwahr genügen, allen in Aussicht genommenen Karnickeln Vorladungen zu schicken – und sie kämen auf die Minute genau zur bestellten Zeit eingetrudelt mit ihrem Bündel und marschierten gehorsam durch das schwarze Eisentor des Staatssicherheitsdienstes, um das Fleckchen Boden in der ihnen zugewiesenen Zelle in Besitz zu nehmen. (Mit dem Kolchosbauern wird es genauso gehandhabt, wozu auch die Mühe, nachts auf lausigen Straßen zu seiner Hütte zu fahren? Man beordert ihn zum Dorfrat, dort schnappen sie ihn. Einen Hilfsarbeiter bestellen sie ins Kontor.)

Gewiß, keine Maschine kann mehr schaffen, als ihr in den Rachen geht. In den angespannten, randvollen Jahren 1945/46, als aus Europa Züge um Züge angerollt kamen, die allesamt verschlungen und auf den Archipel GULAG verfrachtet werden mußten, da fehlte schon solch überschüssiges Spiel, die Theorie selbst verblich, der rituelle Federschmuck fiel ab, und es glich die Verhaftung von Zehntausenden einem armseligen Appell: Vorn standen sie mit Namenslisten, ließen die Fracht aus einem Waggon antreten und in einen anderen verstauen, womit die ganze Verhaftung auch schon zu Ende war.

Jahrzehntelang zeichneten sich die politischen Verhaftungen bei uns eben dadurch aus, daß Leute geschnappt wurden, die unschuldig waren – und daher auf keinerlei Widerstand vorbereitet. Die Folge war ein allgemeines Gefühl der Verlorenheit, die (bei unserem Paßsystem mitnichten unbegründete) Vorstellung, es sei unmöglich, der GPU-NKWD zu entfliehen. Und selbst in Zeiten wahrer Verhaftungsepidemien, als die Menschen sich allmorgendlich von ihrer Familie verabschiedeten, weil sie nicht sicher waren, abends nach der Arbeit auch wieder heimzukehren – selbst damals ergriff fast keiner die Flucht (und nur wenige begingen Selbstmord). Was ja auch bezweckt wurde. Ein sanftes Schaf ist des Wolfes Leckerbissen.

Es geschah auch aus mangelnder Einsicht in die Mechanik der Verhaftungsepidemien. Die Organe verfügten meist über keine fundierte Motivierung für die Auswahl der zu Verhaftenden, der auf freiem Fuß zu Belassenden, sie hatten ja einzig und allein die Sollziffer zu erreichen. Die Erzielung der vorgegebenen Zahl konnte nach bestimmten Richtlinien erfolgen, ein andermal aber auch völlig zufällig sein. Im Jahre 1937 kam eine Frau ins Empfangsbüro der Nowotscherkassker NKWD, um sich zu erkundigen, was mit dem hungrigen Säugling ihrer verhafteten Nachbarin geschehen solle. «Nehmen Sie bitte Platz», sagte man ihr, «wir werden uns erkundigen.» Sie wartete zwei Stunden – dann führte man sie aus dem Empfangsraum in eine Zelle: Die Zahl mußte raschest «aufgefüllt» werden, an einsatzbereiten Mitarbeitern mangelte es – wozu in der Stadt suchen, wenn diese da schon hier war!

Allgemeine Schuldlosigkeit bewirkt auch allgemeine Untätigkeit. Vielleicht holen sie dich nicht? Vielleicht geht’s vorbei? A. I. Ladyschenski, dem Oberlehrer an der Schule des gottverlassenen Städtchens Kologriw, wurde im siebenunddreißiger Jahr auf dem Markt von einem Bauern die Warnung zugesteckt: «Alexander Iwanytsch, geh fort, du bist in den Listen!» Er blieb: Hängt nicht die ganze Schule an mir, gehen nicht auch ihre Kinder in meine Klasse – warum sollten sie mich holen? … (Einige Tage später war er verhaftet.) Nicht jedem ist es wie Wanja Lewitski gegeben, mit vierzehn bereits zur Einsicht zu gelangen: «Jeder ehrliche Mensch kommt ins Gefängnis. Jetzt sitzt Papa, wenn ich groß bin – holen sie mich.» (Sie verhafteten ihn mit dreiundzwanzig.) Die schimmernde Hoffnung läßt die meisten dumm werden. Ich bin unschuldig, warum sollten sie mich holen? Ein Mißverständnis! Schon packen sie dich am Kragen, schleifen dich fort, du aber kannst es nicht lassen, dich selbst zu beschwören: «Ein Mißverständnis! Es wird sich erweisen!» Die anderen holen sie massenweise, ohne Logik auch dort, und doch bleibt in jedem einzelnen Fall ein Vielleicht: «Vielleicht ist gerade der …?» Du aber, du bist doch ohne Zweifel unschuldig! Für dich sind die Organe eine menschlich-logische Institution: Unschuld erwiesen – in Freiheit gesetzt.

Wozu solltest du demnach davonlaufen? … Und warum solltest du dann Widerstand leisten? … Du würdest deine Lage damit bloß verschlimmern, die Wahrheitsfindung erschweren. Was Widerstand?! – Auf Zehenspitzen, wie befohlen, gehst du die Treppe hinab, damit die Nachbarn gottbehüt nichts hören.

Und dann – wogegen sich eigentlich wehren? Dagegen, daß sie dir den Hosengürtel abnehmen? Daß sie dir befehlen, in der Ecke stehen zu bleiben – oder das Haus zu verlassen? Der Abschied besteht aus vielen winzigen Rundherums, aus zahllosen Nichtigkeiten, um die im einzelnen zu streiten wohl keinen Sinn hätte (derweilen die Gedanken des Verhafteten um die einzige gewaltige Frage kreisen: «Wofür?») – doch all dieses Nebensächliche fügt sich unabwendbar zur Verhaftung zusammen.

Ja, wer weiß denn überhaupt, was sich im Herzen eines Frischverhafteten abspielt! – Dies allein verdiente ein eigenes Buch. Da fänden sich Gefühle, die wir gar nicht vermuten würden. Als im Jahre 1921 die neunzehnjährige Jewgenija Dojarenko verhaftet wurde und drei Tschekisten ihr Bett und ihre Kommode durchwühlten, blieb sie ruhig und gelassen: Wo nichts ist, werden sie nichts finden. Plötzlich stießen sie auf ihr intimes Tagebuch, das sie selbst der Mutter nicht gezeigt hätte, und dies allein: daß feindselige fremde Kerle darin lesen konnten, erschütterte sie stärker als die ganze Lubjanka mit ihren Gitterfenstern und Verliesen. Wo die Verhaftung solche persönlichen Gefühle und Regungen aufrührt, tritt für viele sogar die Angst vor dem Gefängnis in den Hintergrund. Ein Mensch, der innerlich nicht auf Gewalt vorbereitet ist, wird dem Gewalttäter gegenüber stets den kürzeren ziehen.

Nur wenige ganz Schlaue und Waghalsige vermögen prompt zu reagieren. Der Direktor des Geologischen Instituts der Akademie der Wissenschaften, Grigorjew, den sie 1948 abholen kamen, verschanzte sich in seiner Wohnung und hatte zwei Stunden Zeit, Dokumente zu verbrennen.

Manchmal aber ist das erste Gefühl des Festgenommenen jenes der Erleichterung, ja sogar der FREUDE! Auch das liegt in der Natur des Menschen. Und ist auch früher schon vorgekommen: Die in Sachen Alexander Uljanow gesuchte Lehrerin Serdjukowa aus Jekaterinodar fand ihre Ruhe erst wieder, als sie verhaftet wurde. Doch tausendfach wiederholte es sich in Zeiten von Verhaftungsepidemien: Wenn rundum zu Dutzenden Leute verhaftet werden, die so sind wie du, hier einer und dort einer, aber dich holen sie nicht, dich lassen sie noch zappeln – da leidest du mehr, als wenn sie dich schon verhaftet hätten, da finden sich am Ende auch die Willensstärksten total zermürbt. Wassilij Wlassow, ein furchtloser Kommunist, von dem im folgenden noch öfter die Rede sein wird, hatte es, entgegen den guten Ratschlägen seiner parteilosen Mitarbeiter, abgelehnt, die Flucht zu ergreifen, und litt unsäglich darunter, daß sie ihn, der allein von der gesamten Leitung des Kadyjsker Bezirkes (1937) in Freiheit geblieben war, durchaus nicht holen wollten. Er hätte dem Angriff gern ins Auge gesehen, konnte es nicht anders, beruhigte sich erst, als der Schlag erfolgt war, und fühlte sich in den ersten Tagen nach der Verhaftung so wohl wie schon lange nicht mehr.

Vater Iraklij, ein Geistlicher, fuhr 1934 an Alma-Ata, um die dorthin verbannten Gläubigen zu besuchen; unterdessen wurde er zur Verhaftung ausgeschrieben und dreimal in seiner Moskauer Wohnung gesucht. Als er zurückkam, wurde er am Bahnhof von Mitgliedern seiner Gemeinde abgefangen und nicht nach Hause gelassen: Acht Jahre lang versteckten sie ihn von Wohnung zu Wohnung. Am Ende war er von diesem gehetzten Leben derart entnervt, daß er freudig Gott pries, als sie 1942 seiner doch noch habhaft wurden.

«Widerstand! Wo war euer Widerstand?» – So werden heute die Betroffenen von den Verschontgebliebenen getadelt.

Gewiß, hier hätte er beginnen müssen, bei der Verhaftung selbst.

Und hatte nicht begonnen.

So werden sie denn abgeführt. Bei einer jeden Tagesverhaftung gibt es diesen kurzen, unwiederbringlichen Augenblick, da Sie – getarnt, nach feiger Absprache, oder auch ganz offen, mit gezückten Pistolen – durch eine hundertköpfige Menge von ebenso unschuldigen und verlorenen Menschen geführt werden. Ihr Mund ist nicht geknebelt! Sie können schreien, hätten unbedingt schreien müssen! Brüllen, daß Sie verhaftet wurden! Daß verkleidete Männer auf Menschenjagd ausgehen! Daß eine falsche Anzeige genügt, um eingesperrt zu werden! Daß in aller Stille Millionen mundtot gemacht werden! Und solche Schreie zu jeder Stunde und an allen Ecken und Enden einer Stadt – sie hätten unsere Mitbürger vielleicht aufhorchen lassen? sie gezwungen aufzubegehren? die Verhaftung um einiges erschwert?

Im Jahre 1927, als unsere Gehirne durch blinden Gehorsam noch nicht vollends aufgeweicht waren, versuchten zwei Tschekisten am hellichten Tag auf dem Serpuchow-Platz eine Frau zu verhaften. Sie klammerte sich an einen Laternenpfahl, begann zu schreien, wollte nicht freiwillig mitgehen. Ringsherum versammelte sich eine Menschenmenge. (Was not tat, war so eine Frau, aber auch so eine Menge! Nicht jeder Passant senkte den Blick, nicht jeder versuchte vorbeizuhuschen!) Die sonst so fixen Kerle wurden sofort kleinlaut. Im Lichte der Öffentlichkeit können sie nicht arbeiten. Sie sprangen in ihr Auto und fuhren ab. (Die Frau hätte sofort auf den Bahnhof und wegfahren müssen! Sie ging aber nach Hause. Und wurde nachts auf die Lubjanka gebracht.)

Doch über Ihre angsttrockenen Lippen kommt kein einziger Laut, und die vorbeiströmende Menge nimmt Sie und Ihre Henker, sorglos, wie sie ist, für promenierende Kumpane.

Ich selbst hatte mehrmals Gelegenheit zu schreien.

Es war am elften Tag meiner Verhaftung, als ich in Begleitung von drei Schmarotzern von der Armeeabwehr, denen ihre vier Beutekoffer eine größere Last waren als ich (daß sie sich auf mich verlassen konnten, hatten sie während der langen Fahrt bereits erfaßt), auf dem Bjelorussischen Bahnhof in Moskau ankam. Sie nannten sich Sonderbewachung, in Wahrheit störten sie die Maschinengewehre bloß, wo sie doch die vier zentnerschweren Koffer schleppen mußten – mit Sachen, die sie und ihre Vorgesetzten von der Smersch-Abwehr der 2. Bjelorussischen Front in Deutschland zusammengestohlen hatten und nun unter dem Vorwand, mich bewachen zu müssen, den Lieben in der Heimat brachten. Den fünften Koffer schleppte ich selbst, ohne jede Begeisterung: es waren darin meine Tagebücher und Werke – die Indizien meiner Untaten.

Alle drei kannten sich in der Stadt nicht aus, so mußte ich den kürzesten Weg zum Gefängnis wählen, mußte ich sie selbst zur Lubjanka führen, wo sie niemals gewesen waren (ich aber verwechselte das Ganze mit dem Außenministerium).

Nach einem Tag in der Armeeabwehr; nach drei Tagen in der Frontabwehr, wo mich die Zellengenossen bereits aufgeklärt hatten (darüber, wie die Untersuchungsrichter lügen, drohen und prügeln; darüber, daß keiner, einmal verhaftet, wieder freigelassen wird; daß die zehn Jahre unentrinnbar feststehen), fand ich mich plötzlich wie durch ein Wunder in der freien Welt. Vier Tage lang fuhr ich als Freier unter Freien durchs Land, obwohl mein Körper bereits auf faulendem Stroh neben dem Latrinenkübel gelegen, obwohl meine Augen bereits die Geprügelten und Schlaflosen gesehen, meine Ohren die Wahrheit vernommen, mein Mund vom Häftlingsfraß gekostet hatte – warum also schweige ich? Warum schleudere ich nicht die Wahrheit in die betrogene Menge, jetzt, in meiner letzten öffentlichen Stunde?

Ich schwieg in der polnischen Stadt Brodnica – mag sein, sie verstanden dort kein Russisch? Kein Wort rief ich auf den Straßen von Bialystok – mag sein, dies alles ging die Polen gar nichts an? Keinen Laut verlor ich auf der Station Wolkowysk – doch die war fast menschenleer. Wie selbstverständlich spazierte ich mit den drei Banditen über den Bahnsteig von Minsk – doch der Bahnhof war zerstört. Nun aber führe ich die drei Smersch-Leute durch die weißbekuppelte runde Eingangshalle der Metrostation Bjelorusskaja, eine Flut von elektrischem Licht, und von unten herauf, uns entgegen, über parallel laufende Rolltreppen, zwei Ströme dichtgedrängter Moskauer. Es kommt mir vor, als schauten sie mich alle an! Sie werden heraufgetragen, eine endlose Reihe, aus den Tiefen des Nichtwissens unter die strahlende Kuppel – zu mir, um ein winziges Wörtchen Wahrheit zu erfahren – warum schweige ich denn?

Aber jeder hat immer ein Dutzend wohlgefälliger Gründe parat, die ihm recht geben, daß er sich nicht opfert.

Der eine hofft noch immer auf einen glimpflichen Ausgang und fürchtet, sich durch Schreie die Chancen zu verbauen (wir haben ja keine Nachricht aus der jenseitigen Welt, wir wissen ja nicht, daß sich unser Schicksal vom Augenblick der Verhaftung an für die schlechteste Variante entschieden hat und es nichts mehr daran zu verschlimmern gibt). Die anderen sind noch nicht reif für Begriffe, die sich zu Warnrufen an die Menge zusammenfügen könnten. Denn einzig der Revolutionär trägt seine Losungen auf den Lippen und läßt ihnen freien Lauf; woher kämen sie dem gehorsamen, unberührten Durchschnittsbürger? Er weiß einfach nicht, was er rufen sollte. Und schließlich gibt es jenen Schlag Menschen, deren Brust randvoll ist, deren Augen zuviel gesehen haben, als daß sich diese Flut in einigen zusammenhanglosen Aufschreien hätte ergießen können.

Ich aber – ich schweige auch noch aus einem anderen Grund: Für mich sind diese Moskauer, die da auf den Stufen zweier Rolltreppen sich drängen, noch immer zu wenige – zu wenige! Zweihundert, zweimal zweihundert Menschen würden hier meinen Klageschrei hören – was aber mit den zweihundert Millionen? … Ganz vage schwebt mir vor, daß ich irgendwann einmal auch zu den zweihundert Millionen sprechen werde …

Einstweilen aber werde ich, der ich den Mund nicht aufbrachte, von der Rolltreppe ins Fegefeuer getragen.

Und werde auch in der Station Ochotnyj rjad schweigen.

Und beim Hotel Metropol den Mund nicht öffnen.

Und nicht die Arme emporwerfen auf dem Golgatha des Lubjanka-Platzes …

 

 

Ich erlebte wahrscheinlich von allen vorstellbaren Arten der Verhaftung die allerleichteste. Sie riß mich nicht aus den Umarmungen der Familie, sie entriß mich nicht dem uns so teuren heimischen Alltag. Eines mattmüden europäischen Februartages erwischte sie mich auf einer schmalen Landzunge an der Ostsee, wo wir die Deutschen oder, was unklar war, die Deutschen uns, umzingelt hielten – und beraubte mich lediglich der gewohnten Truppenabteilung samt der Eindrücke aus den letzten drei Kriegsmonaten.

Der Brigadekommandeur beorderte mich zum Kommandoposten, bat mich aus irgendeinem Grunde um meinen Revolver, den ich ihm gab, nichts Böses ahnend – da stürzten aus der reglosen, wie gebannten Offiziersgruppe in der Ecke zwei Abwehrleute hervor, durchquerten mit einigen Sätzen das Zimmer: Vier Hände verkrallten sich gleichzeitig in den Stern auf der Mütze, in die Achselklappen, das Koppel, die Kartentasche; dazu riefen sie dramatisch:

«Sie sind verhaftet!!!»

Versengt, durchbohrt vom Scheitel bis zur Sohle, fiel mir nichts Klügeres ein als:

«Ich? Weswegen?!»

Obwohl es auf diese Frage üblicherweise keine Antwort gibt, o Wunder, ich bekam sie! Es verdient, erwähnt zu werden, weil es so gar nicht unseren Gepflogenheiten entspricht. Nachdem die Smersch-Leute aufgehört hatten, mich auszuweiden, wobei sie mir samt der Tasche meine schriftlichen politischen Betrachtungen wegnahmen und mich nun, irritiert durch das Klirren der Fensterscheiben im deutschen Granatfeuer, eiligst zum Ausgang hin bugsierten, hörte ich plötzlich jemanden zu mir sprechen – ja doch! Über diese blinde Mauer, die das schwer auf dem Raum lastende Wort «verhaftet» zwischen mir und den Zurückbleibenden errichtet hatte, über diese Pestwehr hinweg, die kein Wort mehr übertreten durfte, drangen zu mir die undenkbaren, märchenhaften Worte des Brigadekommandeurs:

«Solschenizyn! Kehren Sie um.»

Und ich, durch eine jähe Wendung aus den Händen der Smersch-Leute befreit, machte einen Schritt zurück. Ich kannte den Oberst kaum, er ließ sich nie zu simplen Gesprächen mit mir herab. In seinem Gesicht sah ich immer nur Befehl, Ungeduld, Zorn. Jetzt aber war es nachdenklich erhellt: War es Scham wegen der erzwungenen Teilnahme an einer schmutzigen Sache? War es Aufruhr gegen das lebenslange klägliche Sich-ducken-Müssen? Aus dem Kessel, in dem vor zehn Tagen seine Artillerieabteilung mit zwölf schweren Geschützen geblieben war, habe ich meine Aufklärungsbatterie fast ohne Verluste heil herausgebracht – sollte er sich nun wegen eines Fetzens abgestempelten Papiers von mir lossagen?

«Haben Sie …», begann er mit Nachdruck, «einen Freund an der Ersten Ukrainischen Front?»

«Halt! … Das ist verboten!» fuhren die beiden vom Smersch, ein Kapitän und ein Hauptmann, den Oberst an. Erschrocken duckte sich das Gefolge der Stabsoffiziere, als hätten sie Angst, einen Teil von des Chefs unglaublicher Leichtfertigkeit auf sich nehmen zu müssen (die Männer von der Polit-Abteilung machten Ohren – im Hinblick auf das gegen den Brigadekommandeur zu liefernde Material). Immerhin, ich hatte genug gehört: Ich begriff sofort, daß ich wegen des Briefwechsels mit meinem Schulfreund verhaftet worden war, begriff auch, aus welcher Richtung ich die Gefahr zu erwarten hatte.

Hier hätte er auch innehalten können, mein Sachar Georgijewitsch kin! Doch nein! Noch muß er sich besudelt, noch brüskiert gefühlt haben, denn er erhob sich (niemals in jenem früheren Leben war er aufgestanden wegen mir!), streckte mir über die Pestwehr hinweg die Hand entgegen (niemals hatte er mir, solange ich frei war, die Hand gereicht!), ergriff sie fest, zum stummen Entsetzen des Gefolges, und sagte, warme Entspanntheit auf dem immer strengen Gesicht, furchtlos und deutlich:

«Ich wünsche Ihnen … Glück … Hauptmann!»

Nicht nur war ich kein Hauptmann mehr – ich war ein entlarvter Feind des Volkes (denn es ist bei uns jeder Festgenommene von Anfang an auch schon vollkommen entlarvt). Wem also wünschte er Glück – einem Feind?

 

Dieses Buch wird nicht Erinnerung an mein eigenes Leben sein. Darum will ich davon absehen, über die komischen Einzelheiten meiner ganz und gar unüblichen Verhaftung zu erzählen. In jener Nacht mühten sich die Smersch- Leute vergeblich mit ihrer Straßenkarte ab (sie verstanden sich nicht aufs Kartenlesen), resignierten bald und überreichten sie schließlich mir, mit liebenswürdigen Komplimenten und der Bitte, dem Fahrer doch den Weg zur Armeeabwehrstelle zu zeigen. Mich selbst und meine Begleiter wies ich denn in dieses Gefängnis ein und wurde zum Dank dafür sogleich nicht in eine Zelle, sondern in den Karzer gesperrt. Diese Speisekammer eines deutschen Bauernhofes, die provisorisch als Karzer diente, möchte ich allerdings nicht übergehen.

Sie hatte die Länge eines ausgestreckten Menschenkörpers und die Breite von drei dicht aneinandergereihten Männern, ein vierter mußte sich bereits hineinzwängen. Dieser vierte war ich, eingeliefert nach Mitternacht, die drei Liegenden blinzelten mich im Licht der Ölfunzel verschlafen und unfreundlich an und rückten ein wenig, so daß ich Platz hatte, mich dank der Schwerkraft allmählich zwischen zwei Körper einzukeilen, bis auch meine Seite das auf dem Boden liegende Stroh berührte. So waren unser in der Kammer acht Stiefel gegen die Tür und vier Uniformmäntel. Sie schliefen, ich loderte. Je selbstbewußter ich als Hauptmann noch tags zuvor war, desto schmerzlicher traf es mich, eingezwängt am Boden dieser Kammer zu liegen. Die steif gewordenen Glieder ließen meine Nachbarn ein ums andere Mal aufwachen, dann drehten wir uns in einem gemeinsamen Schwung auf die andere Seite.

Gegen Morgen hatten die anderen ausgeschlafen, man gähnte, ächzte, zog die Beine an, verkroch sich in die verschiedenen Ecken und ging daran, Bekanntschaft zu machen.

«Und du, wofür sitzt du?»

Mich jedoch hatte unter dem vergifteten Dach des Smersch bereits der dumpfe Hauch des Auf-der-Hut-Seins angeweht, so tat ich einfältig erstaunt:

«Keine Ahnung. Glaubt ihr, die sagen’s einem, die Hunde?»

Meine Nachbarn hingegen, Panzerleute in schwarzen Helmmützen, verschwiegen nichts. Drei ehrliche, drei natürliche Burschen waren es, von der Art Menschen, die ich liebgewonnen hatte während des Krieges, selber komplizierter und auch schlechter als sie. Alle drei waren Offiziere. Auch ihnen hatte man wild und hastig die Achselstücke abgerissen, das Futter sah an manchen Stellen hervor. Helle Flecken auf den verschmutzten Blusen waren die Spuren der abgenommenen Orden, dunkle, rote Narben an den Händen und in den Gesichtern – die Male von Verwundungen und Verbrennungen. Zu ihrem Pech war ihre überholungsbedürftige Abteilung ins selbe Dorf eingezogen, in dem die Abwehr Smersch der 48. Armee in Quartier lag. Abgespannt vom Gefecht, das vorgestern war, hatten sie gestern über den Durst getrunken und waren etwas abseits vom Dorf in einen Badeschuppen eingebrochen, in den sie zwei aufreizende Weibsbilder sich einsperren sahen. Mit ihren torkelnden Verehrern hatten die Mädchen leichtes Spiel: dürftig bekleidet, aber heil, liefen sie davon. Doch es stellte sich heraus, daß die eine nicht irgendwem, sondern dem Chef der Armeeabwehr persönlich gehörte.

Ja! Nach drei Wochen Krieg in Deutschland wußten wir Bescheid: Wären die Mädchen Deutsche gewesen – jeder hätte sie vergewaltigen, danach erschießen dürfen, und es hätte fast als kriegerische Tat gegolten; wären sie Polinnen oder unsere verschleppten Russenmädel gewesen – man hätte sie zumindest nackt übers Feld jagen dürfen und ihnen auf die Schenkel klatschen … ein Spaß, nichts weiter. Da aber die Betreffende die «Feld- und Armeegattin» des Abwehrchefs war, konnte ein beliebiger Sergeant aus dem Hinterland herkommen und den drei Frontoffizieren boshaft grinsend die Achselstücke runterreißen, die ihnen laut Frontbefehl zustanden, die Orden abnehmen, die ihnen das Präsidium des Obersten Sowjet verliehen hatte; und die drei Krieger, die vom ersten Tag an dabei waren und vielleicht manch eine feindliche Befestigungslinie zu durchbrechen halfen, erwartete nun das Militärtribunal, das ohne ihren Panzer, es ist denkbar, in diesem Dorf sich erst gar nicht hätte einrichten können.

Die Ölfunzel löschten wir aus; sie hatte sowieso schon alles verbraucht, was es für uns noch zum Atmen gab. In die Tür war ein postkartengroßes Guckloch geschnitten, durch das aus dem Gang ein Schimmer von Licht drang. Als fürchteten die draußen, es würde uns mit Tagesanbruch allzu bequem werden, setzten sie uns alsbald einen fünften herein. Er trat ein, in nagelneuer Soldatenuniform, die Mütze ebenso neu, und offenbarte uns, als er den Kopf vors Guckloch hielt, ein stupsnasiges, frisch rotwangiges Mondgesicht.

«Woher kommst du, Bruderherz? Was bist du?»

«Von der anderen Seite», antwortete er fröhlich. «Ein Spion.»

«Mach Witze!» Wir waren baff. (Ein Spion, der es selbst zugibt? Das suche einer bei Schejnin und den Brüdern Tur!)

«Was sollen da Witze, in Kriegszeiten!» Der Junge seufzte bedächtig. «Könnt ihr mir beibringen, wie ich aus der Gefangenschaft anders heimkommen soll?»

Er hatte mit seiner Erzählung kaum begonnen: wie er tags zuvor von den Deutschen hinter die Frontstellungen geschickt wurde, um da zu spionieren und Brücken in die Luft zu sprengen, statt dessen aber gleich ins nächste Bataillon ging, sich zu ergeben, und wie ihm der total übermüdete Bataillonskommandeur partout nicht glauben wollte und ihn zur Krankenschwester in Behandlung schickte – als jäh neue Eindrücke über uns hereinbrachen.

«Zum Austreten! Hände auf den Rücken!» schrie durch die sich öffnende Tür ein Klotz von Feldwebel, der durchaus tauglich gewesen wäre, die Lafette einer 122-mm-Kanone zu ziehen.

Auf dem Bauernhof draußen standen bereits MP-Schützen postiert, deren Aufgabe es war, den uns zugewiesenen Pfad rund um die Scheune zu bewachen. Ich kochte vor Zorn, daß irgendein Feldwebellümmel es wagen konnte, uns Offizieren «Hände auf den Rücken» zu befehlen, die Panzerleute aber hielten die Hände wie geheißen, und ich trottete ihnen nach.

Hinter der Scheune war ein Quadrat Erde eingezäunt, festgetretener Schnee lag noch darauf und eine Unzahl von Häufchen menschlichen Kots, so dicht und chaotisch darüber verstreut, daß es große Mühe machte, Platz für seine zwei Füße zu finden. Schließlich fanden wir uns zurecht und hockten, alle fünf, an verschiedenen Stellen nieder. Zwei mürrische Soldaten hielten ihre Maschinenpistolen gegen uns Hockende im Anschlag; der Feldwebel begann, kaum daß eine Minute vergangen war, uns mit schriller Stimme anzutreiben.

«Na, was ist, wollt ihr euch nicht beeilen? Bei uns geht das Austreten fix!»

Neben mir saß einer der Panzerleute, ein langer, düsterer Oberleutnant aus Rostow. Sein Gesicht war schwarz angehaucht von metallischem Staub oder Rauch, trotzdem konnte man ganz deutlich die große rote Narbe quer über die Wange sehen.

«Wo ist denn das –bei euch?» fragte er leise, ohne die Absicht zu bekunden, sich mit der Rückkehr in den kerosinverstunkenen Karzer besonders zu beeilen.

«Im Abwehrdienst Smersch!» verkündete stolz und mit übermäßiger Emphase der Feldwebel. (Die Abwehrleute hingen mit besonderer Liebe an diesem, aus Smert schpionam – «Tod den Spionen» – geschmacklos zusammengebrauten Wort. Sie meinten, es wirke abschreckend.)

«Bei uns aber geht’s langsam», erwiderte der Oberleutnant versonnen. Der Helm war ihm in den Nacken gerutscht, darunter kam ein Schopf noch nicht geschorener Haare zum Vorschein. Seinen frontgegerbten rauhen Hintern hielt er in die wohltuend frische Brise.

«Wo denn bei euch?» herrschte ihn der Spieß lauter als notwendig an.

«In der Roten Armee», antwortete aus der Hocke sehr ruhig der Oberleutnant und sah dabei den mißlungenen Kanonier kühl abwägend an.

 

So machte ich meine ersten Atemzüge von der Gefängnisluft.

Fußnoten

[*]

Hier und im folgenden werden bei Abkürzungen russischer Begriffe die kyrillischen Anfangsbuchstaben dem deutschen Gebrauch entsprechend in Lateinschrift transkribiert (GPU, GULAG, NKWD usw.). Die Aufschlüsselung siehe im Abkürzungsverzeichnis, Seite 533.

2Die Geschichte unserer Kanalisation

Wenn man heutzutage über die Willkür des Personenkults sich ergeht, bleibt man immer wieder bei den oft bemühten Jahren 1937/38 hängen. Und es prägt sich dies ins Gedächtnis ein, so als habe vorher niemand gesessen, als sei nachher keiner eingesperrt worden, alle bloß 1937 und 1938.

Ohne über irgendeine Statistik zu verfügen, fürchte ich dennoch nicht fehlzugehen, wenn ich sage, daß der Strom der Jahre 37/38 weder der einzige noch auch der hauptsächliche war, vielleicht nur einer von den drei großen Strömen, die die düsteren stinkigen Rohre unserer Gefängniskanalisation beinahe zum Bersten brachten.

Vorher war der Strom der Jahre 1929/30 gewesen, ein Strom, so mächtig wie der Ob, der gut fünfzehn Millionen Muschiks (wenn nicht gar mehr) in die Tundra und in die Taiga geschwemmt hat. Doch die Bauern sind der Sprache nicht mächtig, des Schönschreibens nicht kundig, sie verfaßten weder Beschwerden noch Memoiren. Die Untersuchungsrichter haben sich mit ihnen nächtens nicht abgemüht. Protokolle waren für sie zu schade – es genügte die Verordnung ihres heimatlichen Dorfsowjet. Verströmt war dieser Strom, aufgesogen vom ewigen Frostboden, und auch die allerhitzigsten Köpfe erinnern sich kaum noch daran. Als hätte er das russische Gewissen nicht einmal gestreift. Indessen war kein Verbrechen Stalins (und unser aller) schwerer als dieses gewesen.

Und nachher gab’s den Strom von 1944–46, einen Jenissej von Strom durchaus: Ganze Nationen wurden durch die Abflußrohre gepumpt und dazu noch Millionen und Abermillionen von Heimkehrern aus Kriegsgefangenschaft und Zwangsarbeit – auch dies unsere Schuld, daß sie unter die Deutschen gerieten! (Das war Stalins Art, Wunden auszubrennen, damit sich rascher Schorf bilde und dem müden Leib des Volkes keine Atempause gegeben werden müsse.) Doch auch in diesem Strom war überwiegend einfaches Volk; es schrieb keine Memoiren.

Der Strom des siebenunddreißiger Jahres aber riß auch Hochgestellte und Einflußreiche mit sich, Leute mit Parteivergangenheit und Menschen mit höherer Bildung; fortgeschwemmt wurden sie ins Inselreich GULAG, zurück aber blieben Wunden, in den Städten, aus denen sie kamen. Und diejenigen, die er gestreift hatte – wie viele waren es, die sich aufs Schreiben verstanden! –, schreiben denn heute alle und führen es alle im Munde: das Jahr 37! Eine Wolga von menschlichem Leid!

Sag aber einem Tataren, Kalmücken oder Tschetschenen: «Neunzehnhundertsiebenunddreißig» – er wird bloß mit der Achsel zucken. Und was soll Leningrad mit dem Jahr 37, wo es vorher das fünfunddreißiger Jahr gehabt hatte? Und die zum zweiten Mal einsaßen oder die Balten, soll für sie 1948/49 leichter gewesen sein? Mögen die Eiferer der Geographie und des guten Stils nun einwenden, ich hätte in Rußland manch anderen Fluß vergessen – nur Geduld, noch sind die Ströme nicht alle genannt, laßt mir bloß genug Papier. Dann werden aus den Strömen die übrigen Namen fließen.

Es ist bekannt, daß jedes Organ ohne Übung verkümmert.

Wenn wir also wissen, daß den Organen (diese widerliche Bezeichnung stammt von ihnen selbst), die da besungen wurden und emporgehoben über allem Lebenden, kein winziger Fühler abstarb, sondern umgekehrt, immer neue erwuchsen, muskelstark und beweglich, dürfte es uns nicht schwerfallen zu erraten, daß sie ständig in Übung waren.

In den Rohren gab es Pulsschwankungen – einmal lag der Druck über dem kalkulierten, ein andermal auch darunter, doch niemals blieben die Gefängniskanäle leer. Blut, Schweiß und Harn, was von uns nach der Ausquetschung übrigblieb, sprudelte darin ohne Unterlaß. Die Geschichte dieser Kanalisation ist die Geschichte eines nicht erlahmenden Soges, einer nicht versiegenden Strömung, mit Hochwasser und Ebbe und wieder Hochwasser, und die Ströme waren einmal mächtiger und dann wieder schwächer, und von allen Seiten kamen noch Bäche, Bächlein, Rinnsale und einzelne mitgeschwemmte Tröpfchen hinzu.

Die im weiteren angeführte chronologische Aufzählung, in der mit gleicher Sorgfalt die Ströme aus Millionen von Verhafteten und die Bächlein aus einfachen unscheinbaren Dutzenden vermerkt werden, ist noch lange nicht komplett, noch dürftig und durch meine Möglichkeiten beschränkt, in die Vergangenheit vorzudringen. Viele Ergänzungen werden notwendig sein, durch Menschen, die wissen und am Leben geblieben sind.

Heutige Überlegungen über die Jahre 1918–20 bringen uns in Verlegenheit: Sind auch all jene den Gefängnisströmen zuzurechnen, die noch vor der Gefängniszelle umgelegt wurden? Und in welche Rubrik mit jenen, die von den Kombeds an der Scheunenwand des Dorfsowjet oder in den Hinterhöfen liquidiert wurden? Und die Teilnehmer an den zuhauf entlarvten Verschwörungen in den Provinzen, für jedes Gouvernement eine eigene. Haben sie auch nur mit einem Fuß das Inselreich betreten, oder waren sie nicht mehr dazugekommen, gehören somit nicht zum Gegenstand unserer Untersuchung? Von der Niederwerfung einiger berühmter Revolten abgesehen (Jaroslawl, Murom, Rybinsk, Arsamas), kennen wir manche Ereignisse bloß ihrem Namen nach – zum Beispiel das Gemetzel von Kolpino im Juni 1918 – was? warum? wer? wen? … Wohin das eintragen also?

Nicht minder schwer fällt auch diese Entscheidung: Wohin – in die Gefängnisströme oder in die Bilanz des Bürgerkrieges – gehören die Zehntausende von Geiseln, jene persönlich keiner Verbrechen angeklagten, namentlich nicht einmal mit Bleistift in Listen aufnotierten friedlichen Bürger, deren Vernichtung zur Abschreckung erfolgte und aus Rache an den militärischen Feinden oder den aufständischen Massen. Nach dem 30. August 1918 wies die NKWD die lokalen Stellen an, «sofort alle rechten Sozialrevolutionäre zu verhaften und von den Bourgeois und Offizieren eine ansehnliche Zahl von Geiseln zu nehmen». (Na, geradeso, als wenn nach dem Zarenattentat der Alexander-Uljanow-Gruppe nicht nur ihre Mitglieder allein verhaftet worden wären, sondern noch alle Studenten in Rußland und eine ansehnliche Zahl von Semstwo-Leuten dazu.) Mit Beschluß des Verteidigungsrates vom 15. Februar 1919 – offensichtlich unter Lenins Vorsitz? – wurde der Tscheka und der NKWD nahegelegt, als Geiseln Bauern jener Gegenden zu nehmen, wo die Freilegung der Eisenbahngeleise von Schneeverwehungen «nicht ganz zufriedenstellend vor sich geht», damit sie, «falls die Arbeiten nicht durchgeführt werden, erschossen werden können».

Allemal uns beschränkend, das heißt, nur die gewöhnlichen Verhaftungen im Auge behaltend, müssen wir doch vermerken, daß bereits mit Frühjahr 1918 der langjährige ununterbrochene Strom der verräterischen Sozialisten seinen Anfang nahm.

In vollem Umfang erkannt wurde auch schon 1919 die Verdächtigkeit der aus dem Ausland heimkehrenden Russen (wozu? in wessen Auftrag?) – aus diesem Grunde verhaftete man die aus Frankreich heimkehrenden Offiziere des russischen Expeditionskorps.

Ebenfalls im neunzehner Jahr wurden im weiten Umkreis um die echten und die Pseudoverschwörungen («Nationales Zentrum», Militärverschwörung) in Moskau, Petrograd und anderen Städten Erschießungen nach Listen durchgeführt (das heißt, es wurden freie Menschen gleich zur Erschießung ausgehoben).

Im Januar 1919 wurden die Verordnungen über die Lebensmittelaufbringung erlassen und für die Durchführung Spezialabteilungen –Prodotrjady – geschaffen. Im Dorf stießen sie allerorts auf Widerstand, hier auf beharrliches Ausweichen, dort auf stürmische Ablehnung. Die Beseitigung dieser Gegenwirkung ergab (die an Ort und Stelle Erschossenen nicht mit eingerechnet) einen ebenfalls beachtlichen Strom von Verhafteten: er kam zwei Jahre nicht zum Versiegen.

Vom Mai 1920 stammt der Beschluß des Zentralkomitees «über die Diversionstätigkeit im Hinterland». Aus Erfahrung wissen wir, daß jeder derartige Beschluß den Impuls für einen neuen allumfassenden Häftlingsstrom gibt.

Wir wissen (wissen nicht …), daß 1920 der Prozeß des Sibirischen Bauernbundes stattfand; Ende 1920 erfolgte auch die vorläufige Zerschlagung des Bauernaufstandes von Tambow. (Dort gab es kein Gerichtsverfahren.)

Doch der Hauptanteil des in den Tambower Dörfern requirierten Menschenmaterials entfällt auf den Juni 1921. Über das ganze Tambower Gouvernement waren Konzentrationslager für die Familien der aufständischen Bauern verstreut.

Noch zuvor, im März 1921, wurden, auf dem Umweg über die Trubezkoi-Bastionen der Peter-Paul-Festung, die Matrosen des aufständischen Kronstadt, abzüglich der Erschossenen, auf die Inseln des Archipels gebracht.

Im selben Jahr wurden die Verhaftungen der «Anderparteimitglieder» erweitert und ins rechte Lot gebracht. Im Grunde waren ja alle politischen Parteien Rußlands, die regierende ausgenommen, bereits erledigt.

Im Frühjahr 1922 entschied die eben in GPU umbenannte Sonderkommission für die Bekämpfung der Konterrevolution, daß es an der Zeit sei, sich um Kirchenbelange zu kümmern. Da stand nun auch die «kirchliche Revolution» auf der Tagesordnung: Die Leitung mußte abgesetzt und eine neue bestellt werden, welche ein Ohr nur dem Himmel böte, das zweite indessen zur Lubjanka hinhielte. Solches versprachen die Anhänger der Lebendigen Kirche, die aber ohne Hilfe von außen den Kirchenapparat nicht überwältigen konnten. Darum wurden der Patriarch Tichon verhaftet und zwei aufsehenerregende Prozesse mit Todesstrafen inszeniert: einer in Moskau, wegen Verbreitung des Patriarchenaufrufs, einer in Petrograd, gegen den ten Wenjamin, der sich der Machtübernahme durch die «Lebendigen Kirchler» in den Weg stellte. In den Gouvernements und Landkreisen wurden hier und dort Metropoliten und Erzbischöfe verhaftet; den großen Fängen folgten, wie immer, Schwärme von kleineren Fischen, Oberpriestern, Mönchen und Diakonen, die in den Zeitungen unerwähnt blieben. Verhaftet wurde, wer auch unter Druck den Lebendige-Kirche-Erneuerern den Treueschwur verweigerte.

Die Geistlichen stellten den Pflichtteil eines jeden Jahresfanges; die silbergrauen Popenhäupter waren in jeder Gefängniszelle, später in allen nach den Solowki abgehenden Häftlingspartien zu finden.

In die Fänge gerieten seit den frühen zwanziger Jahren auch die Gruppen von Theosophen, Mystikern, Spiritisten (die Gruppe des Grafen Pahlen hielt ihre Gespräche mit den Geistern protokollmäßig fest), religiöse Vereine, Philosophen des Berdjajewschen Kreises. En passant wurden die «Ostkatholiken» (die Nachfolger Wladimir Solowjews), die Gruppe der A. I. Abrossimowa, ausgehoben. Irgendwie schon ganz von selbst fanden sich Katholiken, die polnischen Pfarrer, hinter Schloß und Riegel.

Es konnte jedoch die totale Ausmerzung der Religion in diesem Lande, eines der Hauptziele der GPU-NKWD während der zwanziger und dreißiger Jahre, erst durch Massenverhaftungen unter den orthodoxen Gläubigen selber erreicht werden. Intensiv wurde die Aushebung, Verhaftung und Verbannung von Mönchen und Nonnen vorangetrieben, jener schwarzen Flecken auf dem früheren russischen Leben. Verhaftet und vor Gericht gestellt wurden die Aktivisten unter den Laien. Die Kreise weiteten sich mehr und mehr: Bald wurden einfach gläubige Gemeindemitglieder eingefangen, alte Menschen, besonders viele Frauen, die in ihrem Glauben hartnäckiger waren und nun, in den Durchgangsgefängnissen und Lagern, für lange Zeit ebenfalls den Beinamen Nonnen erhielten.

Es hieß allerdings, daß sie nicht um ihres Glaubens willen verhaftet und abgeurteilt wurden, sondern wegen der öffentlichen Bekundung ihrer Überzeugungen und wegen der entsprechenden Erziehung der Kinder. So erklärt es Tanja Chodkewitsch:

«Du kannst in voller FREIHEIT beten,

Doch … daß nur Gott allein dich hört.»

(Wegen dieses Gedichts bekam sie zehn Jahre.) Ein Mensch, der glaubt, das geistig Wahre zu erkennen, muß dies vor seinen Kindern verbergen! Die religiöse Erziehung der Kinder wurde in den zwanziger Jahren nach § 58,10, das heißt, als konterrevolutionäre Agitation klassifiziert! Zugegeben, man bot den Gläubigen vor Gericht eine Chance: Sie sollten bloß der Religion abschwören. Es gab Fälle, wenn auch wenige, wo der Vater abschwor und daheimblieb mit den Kindern, die Mutter aber dieser Kinder den Weg nach den Solowki wählte (in all diesen Jahrzehnten waren die Frauen in ihrem Glauben standhafter gewesen). Für die Religion bekam man den Zehner, die damalige Höchststrafe.

(Im Zuge der Müllbeseitigung in den Städten für die anbrechende reine Gesellschaft wurden in denselben Jahren, besonders 1927, die nach den Solowki abgehenden «Nonnen»-Transporte mit Prostituierten komplettiert. Parteigängerinnen des sündigen irdischen Lebens, fielen sie unter einen leichteren Paragraphen und erhielten drei Jahre. Die Verhältnisse, die sie während des Transports, in den Zwischenlagern und auf den Solowki selbst antrafen, waren der Ausübung ihres fröhlichen Gewerbes nicht hinderlich, sie verdingten sich bei den Chefs wie bei der Wachmannschaft und kehrten nach drei Jahren mit schweren Koffern zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Den Religiösen hingegen war eine Rückkehr zu Kind und Heim für immer verbaut.)

Schon in den frühen zwanziger Jahren kamen rein nationale Ströme in Fluß. Die Ströme fließen durch unterirdische Rohre und sanieren das an der Oberfläche blühende Leben.

Nach dem Prozeß der Industriepartei stand für 1931 der grandiose Prozeß gegen die Werktätige Bauernpartei auf dem Programm – einer angeblich (nie und nirgends!) existierenden riesigen Untergrundorganisation, welche sich aus Kreisen der ländlichen Intelligenz, der Konsum- und Agrargenossenschaften und der Spitze der gebildeten Landwirte rekrutiert und auf den Sturz der proletarischen Diktatur hingearbeitet habe. Beim Prozeß der Industriepartei wurden die «Werktätigen Bauern» bereits als entlarvt und allseits durchschaut erwähnt.

Da hatte es sich Stalin in einer schönen grüblerischen Nacht plötzlich anders überlegt – warum, das werden wir vielleicht nie mehr erfahren. Wollte er sein Seelenheil retten? – Dazu war’s zu früh. War er die Eintönigkeit leid? Stieß es ihm schon auf? Rührte sich ein Gefühl für Humor? Doch niemand wird es wagen, Stalin des Humors zu zeihen! Viel eher war’s so: Bald würde das ganze Dorf sowieso an Hunger krepieren, nicht zweihunderttausend bloß, wozu also sich um diese bemühen. So wurde denn die gesamte Bauernpartei abgesagt, alle Geständigen wurden aufgefordert, die Geständnisse zu widerrufen (ihre Freude kann man sich leicht vorstellen!).

Es drängen sich die Absätze, es drängen sich die Jahre – und nie werden wir dahingelangen, alles der Reihe nach aufzuzeichnen (die GPU jedoch, die wurde bestens damit fertig! Die GPU, die gab sich keine Blößen!). Aber niemals wollen wir vergessen: