Der Auftrag - Robert Whitlow - E-Book

Der Auftrag E-Book

Robert Whitlow

5,0

Beschreibung

Ein außergewöhnlicher Thriller über das spannungsgeladene Israel und den Glauben an einen großen Gott Terror. An der Tagesordnung in Israel. Hana weiß das - sie ist eine arabische Christin und stammt aus Nazareth. Obwohl sie heute in Atlanta wohnt, führt ihr Job als Anwältin sie zurück in ihr Heimatland. Doch nur wenig später wird es für sie gefährlich ... und bald stellt sich die Frage, wem Hana überhaupt vertrauen kann.

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SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe,die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung,die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften,Filme und Musik einsetzt.

Das vorliegende Buch ist ein Roman. Die auftretenden Personen entstammen derFantasie des Autors, und jedwede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenenPersonen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.

ISBN 978- 3-7751-7546-3 (E-Book)ISBN 978-3-7751-6122-0 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: Satz: Satz & Medien Wieser, Aachen

© der deutschen Ausgabe 2022SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbHMax-Eyth-Straße 41 · 71088 HolzgerlingenInternet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: [email protected]

Originally published under the title: Chosen People © 2018 by Robert WhitlowPublished by arrangement with Thomas Nelson, a division of HarperCollinsChristian Publishing, Inc.

Die Bibelverse sind folgender Ausgabe entnommen:Neues Leben. Die Bibel. 2. Auflage 2019 © der deutschen Ausgabe 2002/2006 bySCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Witten/Holzgerlingen.

Übersetzung: Renate HübschUmschlaggestaltung: Oliver Berlin, www.oliverberlin.bizTitelbild: Adobe StockAutorenfoto: © David Whitlow PhotographySatz: Satz & Medien Wieser, Aachen

Für alle, die andere Menschen gern durch Gottes Augen, mit seinem Herzen und als Empfänger seiner Zusagen sehen möchten.

Aber ihr seid anders, denn ihr seid ein auserwähltes Volk. Ihr seid eine königliche Priesterschaft, Gottes heiliges Volk, sein persönliches Eigentum. So seid ihr ein lebendiges Beispiel für die Güte Gottes, denn er hat euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen.

1. Petrus 2,9

Inhalt

Über den Autor

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Danksagungen

Leseempfehlungen

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Über den Autor

ROBERT WHITLOW arbeitete als Anwalt, bevor er Bestsellerautor zahlreicher Justizthriller und Preisträger des Christy Awards für zeitgenössische Belletristik wurde. Er erwarb sein Juradiplom mit Auszeichnung an der University of Georgia School of Law. Mit seiner Familie lebt er in North Carolina, USA.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Prolog

»Hana!«

Beim Klang ihres Namens ließ Hana ihre Cousins stehen und lief zu dem ausgespannten Segeltuch, unter dem Onkel Anwar saß und mit einem abgenutzten Taschenmesser eine Orange schälte. Die sechsjährige Hana war die Sommerhitze in Israel gewöhnt, und eine Temperatur von zweiunddreißig Grad hielt sie nicht davon ab, im Freien zu spielen. Aber wenn das Familienoberhaupt rief, unterbrach sie, was sie gerade tat, und antwortete sofort.

Hana trat in den Schatten und strich sich eine Strähne ihres langen schwarzen Haars aus dem Gesicht. Auf einem weißen Plastikstuhl saß Großonkel Anwar mit seinen 74 Jahren. Die vielfarbige Zeltplane war an dem weitläufigen dreistöckigen Betongebäude befestigt, das die Abboud-Familie seit etlichen Generationen ihr Heim nannte.

»Ja, Onkel!«, antwortete sie höflich. Ihre Mutter hatte ihr eingeschärft, immer ehrerbietig mit älteren Familienmitgliedern zu sprechen.

»Willkommen, Kind.«

Anwar löste ein paar Orangenschnitze und reichte sie Hana. Der gebräunte Daumen des Onkels wies verblasste Narben von Jahrzehnten harter Arbeit in den Olivenhainen rund um Nazareth auf. Hanas Vater war ein wohlhabender Geschäftsmann. Zusammen mit seinen Brüdern besaß er eine Fabrik, die Plastikwasserrohre produzierte, die in ganz Israel und der Westbank verkauft wurden. Die Familie lebte in Reineh, einem arabischen Städtchen vier Meilen nördlich von Nazareth. Onkel Anwar war allerdings in der deutlich größeren alten Stadt wohnen geblieben, in der Jesus den größten Teil seiner Kindheit verbracht hatte.

»Die ist für dich«, sagte Anwar. »Sag mir, ist sie süß?«

Hana kannte die Antwort, aber sie biss in das Fruchtfleisch, sodass ihr der warme Saft in den Mund lief. Orangen aus Israel waren die besten auf der Welt.

»Ja, süß und saftig.«

»Hast du gewusst, dass Gott sagt, wir sollen ›schmecken und sehen‹, dass er gut ist?«

»Nein, Onkel«, erwiderte Hana und machte große Augen.

Immer wieder hatte sie ehrfürchtig und ein wenig ängstlich mitverfolgt, wie Anwar ihren älteren Brüdern und Cousins Fragen stellte, auf die es ihrer Ansicht nach keine Antwort gab.

»Er möchte, dass seine Güte für dich so wirklich ist wie der süße Saft in deinem Mund.«

»Ja«, nickte Hana.

»Weißt du, warum ich dich mit deinem Namen zu mir gerufen habe?«

»Weil du mir eine Orange geben wolltest?«

»Ja.« Über Anwars Gesicht glitt ein Lächeln. »Und weil der Allmächtige dich dazu erwählt hat, dass du jeden Tag deines Lebens in seiner Nähe lebst.«

»Wie bei dem jungen Samuel«, sagte sie und erinnerte sich an die Geschichte, die sie in der Woche zuvor in der kleinen Kirche vernommen hatte, die die Familie besuchte. Es war das erste Mal, dass sie ihren Namen in einer Erzählung der Bibel gehört hatte. Die biblische Hannah war die Mutter von Samuel.

»Stimmt genau. Als Pastor Sadr die Geschichte vorgelesen hat, habe ich an dich gedacht.«

»Nicht an meine Brüder? Die sind schließlich Jungs. So wie Samuel.«

»Gott hat auch einen Plan für Mikael und Nathanil, aber hier geht es um dich«, sagte Anwar und lehnte sich ein wenig vor. »Wenn Gott dich mitten in der Nacht aufweckt, weißt du, was du dann sagst?«

Es war den Erwachsenen in der Familie schon aufgefallen, dass Hana ein sehr waches Auffassungsvermögen besaß.

»Rede, Herr, deine Dienerin hört.«

»Gut.« Mit einem Lächeln lehnte Anwar sich zurück und teilte die Frucht in drei weitere Teile. »Bring das deinen Cousins.«

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Kapitel 1

Hana sang leise vor sich hin, während sie die Vertragsdokumente in verschiedene Ordner sortierte. Jemand hatte den Raum betreten, das spürte sie und wandte sich um. In der Tür stand Janet Dean, die Assistentin, die für Hana und zwei weitere Teilhaber der Kanzlei arbeitete.

»Du singst wie ein Engel. Wie oft habe ich dir das schon gesagt?«, fragte Janet.

»Sehr oft.« Hana lächelte. »Und es beschämt und ermutigt mich jedes Mal aufs Neue.«

»War das Arabisch oder Hebräisch? Nein, lass mich raten. Sing noch ein paar Worte.«

Hana sang die nächste Zeile ihres Liedes, diesmal etwas lauter, dann brach sie ab.

»Hebräisch«, sagte Janet mit Nachdruck. »Ich weiß es, weil du diesen Kehllaut gemacht hast. Selbst der klingt wundervoll.«

»Arabisch«, entgegnete Hana. »Aber mach dir nichts draus. Die Sprachen sind sich schon ähnlich.«

»Ich rate weiter, wenn du weitersingst«, gab Janet zurück. »In der Zwischenzeit kannst du dein Hirn und deine Stimme in den Konferenzraum A bewegen. Mr Lowenstein möchte dich sprechen.«

»In zehn Minuten habe ich ein Meeting mit Mr Collins und seinem Team.«

»Wo du aber nur zuhören wirst. Gladys Applewhite sagt, es sei wichtig. Ich kümmere mich um Mr Collins.«

»Okay. Wer ist noch im Konferenzraum A?«

»Du, Mr Lowenstein und ein Anwalt namens Jakob Brodsky. Ich kann dir nicht sagen, warum er möchte, dass du mir nichts, dir nichts zur Stelle sein sollst.«

Janet redete schon weiter. »Gladys sagt, Brodsky möchte die Kanzlei für irgendeinen internationalen Fall gewinnen. Es geht wohl um Körperverletzung.«

»Körperverletzung?«, hakte Hana nach. »Ist ein Schiff gesunken und es gab Personenschäden?«

Leon Lowensteins Kanzlei war auf internationales Seefahrtsrecht spezialisiert und hatte häufig mit Versicherungsfällen zu tun, in denen es um Millionensummen ging, wenn eine Fracht verloren ging oder an einem Schiff ein Schaden entstand.

»Mehr hat sie nicht gesagt«, antwortete Janet. Sie senkte die Stimme. »Für mich klang es eher nach Piraterie. Wäre ja auch cool, solange niemand getötet wurde oder so. Sie wollen ein Video zeigen, und Mr Lowenstein möchte, dass du es mit ansiehst. Beeil dich. Und keine Sorge wegen Mr Collins.«

Die Vorstellung, es könnte sich bei dem Fall um Piraterie handeln, war keineswegs abwegig. Kurz nachdem Hana in die Firma eingetreten war, hatte Lowenstein schon einmal damit zu tun gehabt – damals ging es um Schadensersatzansprüche aus einem Piratenüberfall vor der Küste von Somalia. Hana strich rasch den dunkelgrauen Rock glatt und zog die weiße Bluse zurecht. Sie war schlank bei einer Größe von einem Meter siebzig und mit ihrem langen schwarzen Haar, der leicht bräunlichen Haut und den dunkelbraunen Augen eine attraktive Frau.

Die Außenwand des Konferenzraums A bildete eine Fensterfront, die einen Panoramablick auf den wohlhabenden Stadtteil Buckhead im Norden von Atlanta freigab. Ein langer Glastisch stand in der Mitte des Raums.

Leon Lowenstein, untersetzt und grauhaarig, stand vor dem großen Bildschirm, der an der Wand befestigt war. Neben ihm erblickte Hana einen groß gewachsenen jungen Mann mit kurzen schwarzen Locken in einem schmal geschnittenen Anzug im europäischen Stil mit gelber Krawatte. Lowenstein begrüßte Hana mit einem Lächeln, als sie eintrat.

»Danke, dass Sie so kurzfristig kommen konnten«, sagte er. »Das ist Jakob Brodsky. Er ist Anwalt für Schadensersatz- und Haftungsrecht und spezialisiert auf Personenschäden.

»Nennen Sie mich Jakob.« Der junge Anwalt streckte Hana die Hand entgegen.

»Hana Abboud.«

»Sie sind Israelin?«, erkundigte sich Jakob mit einem fragenden Blick auf Lowenstein.

»Aber keine Jüdin«, ergänzte Lowenstein. »Hana wird es Ihnen erklären.«

»Ich stamme aus einer arabischen Familie in Israel, aus der Nähe von Nazareth. Der kleine Ort heißt Reineh. Mein Studium habe ich an der Hebräischen Universität in Jerusalem absolviert.«

»Und seit gut eineinhalb Jahren arbeitet sie für uns im Bereich Internationales Handelsrecht«, ergänzte Lowenstein.

»Und Sie sind sicher, dass es eine gute Idee ist, dass sie jetzt dabei ist?«, fragte Jakob.

»Ja, das bin ich«, sagte der ältere Anwalt und wischte etwaige Bedenken mit einer Handbewegung fort. »Hana hat einen christlichen Hintergrund.«

Für Hana war der Gesprächsinhalt vertrautes Terrain, aber sie konnte sich nicht vorstellen, warum das für dieses Treffen mit Brodsky relevant sein sollte. Sie hatte schon allzu oft ihre Geschichte erklären müssen, wenn Menschen bei der ersten Begegnung mit ihr alle möglichen irrigen Schlüsse zogen. Sie wandte sich Jakob Brodsky direkt zu.

»Ich bin israelische Staatsbürgerin und kann in Israel wählen, Steuern zahlen und Sozialleistungen in Anspruch nehmen wie jeder andere Staatsbürger auch. Außerdem bin ich Christin und habe zwei Jahre im National-Service-Programm gearbeitet als Ersatz für den Militärdienst.« Hana bemühte sich um einen möglichst sachlichen Ton.

»Verstehe.« Jakob zuckte die Achseln und wandte sich Lowenstein zu. »Habe ich die Zusicherung, dass alles, was ich Ihnen gleich zeige, der anwaltlichen Schweigepflicht unterliegt?«

»Sicher. Aber Sie selbst waren nicht sehr diskret hinsichtlich Ihrer Beteiligung an diesem Fall«, entgegnete Lowenstein. »Meine Assistentin hat mir die Anfrage gezeigt, die Sie an das Forum Strafverteidigung geschickt haben.«

»Ich musste mein Netz weit auswerfen, um überhaupt Unterstützung zu bekommen.«

Jakob hielt einen USB-Stick hoch. »Hier ist das Videomaterial.«

Lowenstein schob den Stick in die Buchse. Hana goss sich ein Glas Wasser ein. Das Video enthielt ein Datum und die Namen »Gloria und Sadie Neumann« neben einem Foto, das Hana entfernt bekannt vorkam. Der ältere Anwalt reichte Jakob die Fernbedienung.

»Ich lasse es einmal ganz durchlaufen«, erklärte Jakob. »Einzelheiten können wir später noch einmal anschauen. Es gibt keine Audiospur.« Er drückte auf Play.

»Den Ort kenne ich«, sagte Hana, nachdem kaum eine halbe Minute verstrichen war. »Es ist der Platz vor der Hurva-Synagoge im jüdischen Viertel in der Altstadt von Jerusalem.«

»Richtig«, bemerkte Jakob. »Das Video stammt aus einer Überwachungskamera an einem Kiosk an der Südwestecke des Platzes. Es wurde im Mai vor vier Jahren aufgenommen.«

Jakob kannte mittlerweile jede Sekunde des elf Minuten langen Videos auswendig; dennoch zog es ihn immer noch unwiderstehlich in seinen Bann. Die Aufnahmen – in Schwarz-Weiß – waren an einem späten Freitagnachmittag entstanden. Der Platz war voller Menschen. Ultraorthodoxe jüdische Männer mit Bart und Schläfenlocken in ihren langen schwarzen Mänteln und bizarren runden Hüten liefen durch das Bild. Die unterschiedlichen Hutformen ließen erkennen, welcher rabbinischen Schule sie zuneigten. Jakob hatte in Brooklyn schon charedische Juden gesehen, aber er hatte nur eine sehr lose Verbindung zu irgendeiner Form von Religion, und die Synagoge besuchte er nie. In den fünf Jahren, seit er aus New York nach Georgia gezogen war, hatte er sich eine Praxis aufgebaut, die sich auf verzwickte Fälle konzentrierte, die andere nicht anpacken mochten. Die Chance, eine schwierige juristische Herausforderung in Angriff zu nehmen, war das, was Jakob morgens aus dem Bett trieb.

Die Kamera folgte zahllosen Menschen, die nicht anders aussahen als Passanten in einer Großstadt, die aus einer Unterführung kommen. Sechs junge israelische Soldaten kamen ins Bild: drei Männer und drei Frauen, alle mit dem Maschinengewehr über der Schulter. Jakob warf einen Blick auf die arabische Israelin, die beim Anblick der Soldaten keine Miene verzog. Wenige Sekunden später tauchte eine Gruppe von fünfzehn bis zwanzig Jugendlichen vor dem Kiosk auf.

»Das … ist das eine Nefesh-B’Nefesh-Gruppe?«, fragte Hana.

»Was?« Jakob warf ihr einen fragenden Blick zu.

»Eine Reise durch Israel. Ein Geburtsrecht für jeden jungen Juden auf der ganzen Welt.«

»Nun, es könnte sein. Ich weiß es nicht genau.«

Zwei junge Araber, einer vielleicht neunzehn, der andere deutlich jünger, beobachteten die Jugendlichen. Einer der erwachsenen Begleiter der Teenies drehte sich um, sodass zu erkennen war, dass er eine Pistole im Holster am Gürtel trug. Aus dem Kiosk kamen vier Jugendliche mit einem Eis in der Hand, und die ganze Gruppe zog weiter. Auch die beiden jungen Araber verschwanden. Drei weitere Menschen gingen auf den Kiosk zu.

»Das ist Familie Neumann«, sagte Jakob. »Ben, Gloria und die dreijährige Sadie. Sie betreten den Kiosk.«

Die Familie verschwand aus dem Blickfeld, und eine zweite Gruppe junger Männer tauchte auf, diesmal orthodoxe Juden, die sich eingehakt hatten.

»War das am Vorabend des Sabbats?«, fragte Hana. »Sieht aus, als wollten sie zur Klagemauer.«

»Ja«, bestätigte Jakob, offensichtlich beeindruckt davon, wie gut die junge Anwältin die Szenen, die sie beobachteten, einordnen konnte. »Wir sind hier nur ein paar Hundert Meter von der Klagemauer entfernt.«

Familie Neumann kam wieder ins Bild. Gloria setzte sich und hielt der kleinen Sadie eine Eiswaffel vor den Mund. Ihr Mann entfernte sich.

»Ben geht in einen Juwelierladen in der Nähe, um eine Kette zu kaufen, die Gloria vorher entdeckt hatte. Aber sie sei zu teuer, hatte sie gesagt, und er solle sie nicht kaufen«, erläuterte Jakob.

»Stopp!« Hana rief es etwas zu laut und erhob sich. »Wenn es das ist, was ich vermute, dann will ich es nicht sehen.«

Jakob drückte die Fernbedienung, und die Szene blieb stehen, Sadie mit dem Eis vor dem offenen Mund. Der junge Anwalt warf einen Blick auf Hana, die noch immer das Bild auf dem Monitor anstarrte.

»Es ist ein Terroranschlag, oder?«, fragte sie.

»Ja. Und Sie sollten es sich mit eigenen Augen ansehen.« Jakobs Tonfall war kälter, als er beabsichtigt hatte. »Es lässt einen nicht los.«

»Ich muss Hana zustimmen«, unterbrach Lowenstein und schüttelte den Kopf. »Es ist eine Sache, über solche Ereignisse am Telefon zu sprechen, und eine andere, wenn man Augenzeuge davon wird.«

»Erinnern Sie sich an diesen Angriff?«, fragte Jakob die Anwältin.

»Nur, dass auch ein amerikanischer Tourist involviert war. Ich lebte zu der Zeit in Großbritannien. Während der paar Monate, die ich weg war, gab es in Israel sehr viele Terrorattacken.«

Jakob fiel auf, wie rasch Hana dem Geschehen das Etikett »Terroranschlag« gab.

Lowenstein wandte sich an Jakob. »Wenn Sie uns bitte für einen Moment entschuldigen«, bat er.

In Jakob stieg der Verdacht auf, dass er den Weg hierher umsonst gemacht hatte. Er trat vor, um den USB-Stick aus dem Gerät zu nehmen.

»Würden Sie uns das Material bitte hierlassen?« Lowenstein klang entschlossen.

»Es hat mich viel gekostet, es zu bekommen«, erwiderte Jakob. »Ich habe natürlich Kopien, aber ich werde nicht riskieren …«

»Ich möchte nur kurz mit Hana sprechen. Danach wird Gladys sie wieder hereinbitten, und wir setzen unser Gespräch fort.«

Jakob zögerte, dann zuckte er die Achseln. »In Ordnung«, meinte er schließlich und schenkte sich eine Tasse Kaffee für die Wartezeit ein. Lowenstein drückte eine Taste der Konferenzschaltung in der Mitte des Tisches.

»Gladys, führen Sie Mr Brodsky bitte für ein paar Minuten in den Konferenzraum D.«

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Kapitel 2

Die Tür des Konferenzraums schloss sich.

»Mr Lowenstein, es tut mir leid, aber …«, begann Hana.

»Nein«, unterbrach der Seniorpartner und hob die Hand. »Ich entschuldige mich, dass ich Sie nicht über den Zweck des Treffens informiert habe. Ein enger Freund, der die Familie Neumann kennt, rief letzte Woche an und bat mich, mich mit Brodsky zu treffen. Es kam mir erst in den Sinn, Sie hinzuzuziehen, als Gladys mir sagte, dass er bereits bei uns im Wartebereich sitzt.«

Mr Lowenstein war immer höflich zu Hana und gab ihr das Gefühl, in der Kanzlei willkommen zu sein. Der Seniorchef und seine Frau hatten Hana eine Woche nach ihrer Ankunft in Atlanta zum Abendessen in ihr elegantes Heim eingeladen. Später hatte Mrs Lowenstein darauf bestanden, dass Hana bei einem aufwendigen Abendessen für einen der wichtigsten Mandanten der Kanzlei neben ihr saß.

Hana schaute auf den Bildschirm. Das Bild des Kindes verschwand, der Monitor schaltete in den Ruhezustand.

»Wer starb?«, fragte sie.

»Gloria Neumann wurde von einem Terroristen getötet.«

Hana presste für einen Moment die Lippen zusammen, um ihre professionelle Gelassenheit zurückzugewinnen. »Was will Mr Brodsky?«

»Er möchte Collins, Lowenstein und Capella als Co-Anwälte in den Fall einbeziehen. Diese Kanzlei nimmt normalerweise keine Klagen wegen Körperverletzung an, und wir haben keine Erfahrung mit Fällen, die unter dem Antiterrorgesetz eingehen. Aber wir haben viel Erfahrung darin, Verschleierungstaktiken der großen Konzerne zu durchleuchten, um versteckte Vermögenswerte aufzudecken. Erinnern Sie sich an den Harkins-Prozess? Wir haben drei Scheinfirmen entlarvt, eine davon war offshore, und haben über fünf Millionen Dollar für unseren Mandanten herausgeholt.«

Hana erinnerte sich an die ausgiebige Feier in der Kanzlei und die Bonusschecks, nachdem der Fall gewonnen worden war. Sie war erst seit drei Wochen in Atlanta gewesen und hatte dennoch tausend Dollar erhalten.

»Ja, Sir.«

»Und dieser Fall wird genauso enden – wir werden damit beschäftigt sein, trübe Geldgeschäfte aufzudecken. Brodsky will eine Anwaltskanzlei ins Spiel bringen, die den Rechtsstreit finanzieren kann – im Gegenzug für einen Prozentsatz dessen, was wir herausholen. Ob er es zugeben will oder nicht, aber er hat nicht die Fähigkeiten, um ein komplexes Verfahren richtig anzugehen. Heute ist nur ein erster Schritt. Ich habe es gegenüber den Teilhabern noch nicht erwähnt. Die haben aber das letzte Wort.«

Hana wusste wenig über die Firmenpolitik, aber sie vermutete, dass Lowenstein sich durchsetzen würde, egal, was die anderen Partner wünschten.

»Und ich bin mir nicht sicher, ob es durchgehen würde, selbst wenn ich den Fall übernehmen wollte«, fuhr er fort.

»Nicht?« Hana war ehrlich erstaunt.

»Na ja, mein Name auf dem Briefkopf zählt schon etwas. Aber es gibt acht Eigenkapitalpartner, und sie müssten den Verlust mittragen, wenn wir den Fall übernehmen und keinen Schadensersatz erwirken. Risiken einzugehen, ist nicht so ihr Ding.«

Hana vermutete, dass Mr Collins in die Kategorie der Risikoscheuen fiel. Frank Capella, Spezialist für Wertpapierrecht, war eher ein Glücksspieler.

Lowenstein sah auf seine Uhr. »Ich möchte Brodsky nicht zu lange warten lassen.«

»Werden Sie sich das Video ansehen?«, fragte Hana.

»Ich muss es mir ansehen, um mir eine eigene Meinung darüber zu bilden, wie ich den Fall den Partnern in der Kanzlei präsentiere. Aber es ist nicht nötig, dass Sie das tun. Das Letzte, was ich will, ist, dass Sie Albträume bekommen.«

»Vielen Dank«, sagte Hana.

»Und bitte entschuldigen Sie noch einmal, dass ich Sie nicht vorher über den Zweck des Treffens informiert habe.«

»Das ist nicht nötig, Mr Lowenstein. Terroranschläge können sich überall auf der Welt ereignen. Aber Israel ist ein so kleines Land – wenn es dort passiert, haben alle das Gefühl, es war in der Nachbarschaft.«

Der Seniorchef wies mit der Fernbedienung auf den Bildschirm. »Und dieser Anschlag zog sogar Kreise von Jerusalem bis Atlanta.«

Hana stand auf, um den Konferenzraum zu verlassen, als das Bild von Sadie Neumann wieder auftauchte. Sie warf einen Blick darauf und zögerte.

»Wie alt war Gloria Neumann?«, fragte sie.

»Einunddreißig, als der Anschlag geschah.«

In vier Monaten würde Hana ihren einunddreißigsten Geburtstag feiern. Sie würde nach Israel fliegen, um zehn Tage mit Familie und Freunden zu verbringen.

»Und Sadie ist ihr einziges Kind?«

»Ja«, sagte Lowenstein. »Brodsky hat alle Fakten schriftlich zusammengestellt – falls Sie es lesen möchten.«

Hanas biss sich auf die Lippen. Sie konnte sich entweder das Video ansehen oder eine rasche Onlinerecherche durchführen, in jedem Fall hätte sie die relevanten Details in wenigen Minuten vorliegen.

»Ich will es mir eigentlich nicht ansehen, aber ich kann den Eindruck nicht loswerden, ich sollte es tun«, sagte sie. Langsam sank sie auf einen Stuhl.

Lowenstein hob die Augenbrauen. »Und Sie sind sich ganz sicher?«

Hana nickte grimmig.

Sie umklammerte die Armlehnen des Stuhls, als Lowenstein auf die Abspieltaste drückte. Das Video wurde fortgesetzt. Hana hielt den Atem an, als Sadie sich vorbeugte, um am Eis zu lecken. Das geschah ein paar Mal. Hana zwang sich, gleichmäßig zu atmen. Ein Mann ging schnell an Mutter und Tochter vorbei. Hana zuckte zusammen. Nichts geschah.

Plötzlich gab es eine Bewegung, und mehrere Leute rannten an Gloria und Sadie vorbei. Gloria stand plötzlich auf, das Eis glitt ihr aus der Hand. Zwei dunkel gekleidete Gestalten, eine deutlich größer als die andere, kamen kurz ins Bild. Der größere Mann hieb auf Sadies Kopf, und Gloria konnte sich gerade weit genug herumwerfen, um den Schlag abzufangen. Durch den Kamerawinkel konnte Hana nicht erkennen, was der Mann in der Hand hielt.

Aber als er sie wieder hob, sah sie, dass er ein großes Messer umklammerte. Er zog es Gloria von rechts nach links über den Hals. Sie versuchte noch auszuweichen, als er erneut zustach. Gloria stürzte zu Boden und begrub Sadie unter sich. Der Angreifer hob das Messer noch einmal, aber bevor er Mutter oder Tochter erreichen konnte, sackte er in sich zusammen und fiel auf die am Boden liegende Gloria.

Plötzlich drehte sich der kleinere der beiden Männer um, sodass sein Gesicht deutlich zu sehen war – ein arabischer Junge, ein Teenager. Da bemerkte Hana, dass er einen Mantel trug, obwohl es im Mai in Jerusalem schwülheiß sein konnte. »Er trägt eine Selbstmordweste!«, rief sie aus.

Der Junge griff mit der rechten Hand in den Mantel und hob die linke. Im Bruchteil einer Sekunde erschienen drei Soldaten in Grenzschutzuniformen mit gezogenen Waffen. Der Junge ging zu Boden und hob die Arme ausgestreckt über den Kopf. Einer der Soldaten zog Gloria Neumann unter dem Körper des Mannes hervor, der sie niedergestochen hatte, ein anderer hob Sadie auf, deren Mund zu einem stummen Schrei geöffnet war. Mutter und Tochter waren beide blutverschmiert. Hana wollte wegschauen, konnte es aber nicht. Die Bilder endeten abrupt.

»Das war’s«, sagte Lowenstein beklommen. »Gloria starb drei Stunden später im Hadassah Medical Center. Es besteht kein Zweifel: Sie hat sich geopfert, um ihre Tochter zu retten.«

»Wurde das Mädchen verletzt?«

»Sadie erlitt eine Schnittwunde an der rechten Wange. Brodsky hat ein Foto von ihr in das Paket mit den Unterlagen gelegt.«

Lowenstein schob das Foto über den Tisch. Sadie war ein hübsches Kind mit schwarzen Haaren, aber über ihre rechte Wange lief eine Narbe bis zum Mund, was dazu führte, dass das Gesicht des kleinen Mädchens leicht asymmetrisch wirkte. Auf der rechten Seite hing der Mundwinkel herab. Hana blieb am schwermütigen Ausdruck in Sadies Augen hängen.

»Wann wurde das Foto gemacht?«, fragte sie.

»Vor wenigen Monaten. Sie ist jetzt fast sieben.«

»Sie sieht älter aus. Kann man das Gesicht mit plastischer Chirurgie wiederherstellen?«

»Ich weiß nichts über den medizinischen Befund im Einzelnen. Aber sie wird von einem Kinderpsychologen betreut.«

Nach einem letzten Blick auf das Foto und einem kurzen stillen Gebet für das mutterlose Kind gab Hana Lowenstein das Bild zurück.

»Und die Täter?«

»Zwei Brüder aus der Gegend von Ramallah im Westjordanland. Ich erinnere mich nicht an den Namen der Stadt, aber vielleicht sagt er Ihnen etwas. Brodsky gab an, sie kämen aus einer wohlhabenden Familie, was mich überrascht.«

»Mich nicht. Es sind oft die besser gebildeten Leute, die der dschihadistischen Ideologie verfallen.«

Lowenstein nahm ein Blatt aus dem Ordner und setzte sich die Lesebrille auf. »Abdul Zadan, der ältere Bruder, wurde von den Soldaten erschossen. Tawfik Zadan, der Jüngere, trug die Selbstmordweste, die nicht detonierte. Tawfik wurde in Gewahrsam genommen.«

»Hat sich irgendeine Gruppe zu dem Anschlag bekannt? Hamas, Hisbollah, Al-Aqsa-Brigaden, ISIS?«

Lowenstein schüttelte den Kopf. »Nein. Alle bekannten Organisationen lobten die Tapferkeit der Zadan-Brüder, aber sie übernahmen keine Verantwortung für den Anschlag. Tawfik gab eine Erklärung ab, in der er behauptete, er und sein Bruder seien auf einer Mission für Allah. Wenn keine Verbindung zu einer bestimmten Gruppe nachzuweisen ist, wird es schwer sein, eine Klage zu rechtfertigen, da der Hauptzweck des Gesetzes darin besteht, den Terroristen den Geldhahn abzudrehen.«

Hana kannte sich mit den amerikanischen Antiterrorgesetzen nur begrenzt aus. »Wie die Klagen gegen Banken aus dem Nahen Osten, bei denen Terrorgruppen ihre Geldmittel verwahrten?«, fragte sie.

»Genau.« Lowenstein nickte.

Hana hatte ihre Anwaltslizenz in Israel erworben, und ihre Aufgabe als israelische Anwältin in der Kanzlei war es, die Geschäftsbeziehungen zu den internationalen Mandanten zu pflegen. Sie war mit den Feinheiten des US-Zivilrechts nicht vertraut, aber sie wusste, dass es einen sehr langen Arm des Gesetzes brauchte, um quer über den Atlantik und das Mittelmeer in die dunklen Nischen einer Terrorzelle zu gelangen.

»Ich verstehe, warum Brodsky keine Kanzlei gefunden hat, die ihm hilft«, sagte sie.

»Stimmt, aber ich habe in meiner Karriere schon viele Situationen entwirrt, die unauflösbar zu sein schienen. Manche Ermittlungen beginnen mit sehr wenigen Informationen, mit denen man arbeiten kann.« Lowenstein unterbrach sich. »Nachdem Sie jetzt das Video gesehen haben – möchten Sie am Gespräch mit Brodsky teilnehmen?«

»Wenn Sie das wünschen.«

Lowenstein musterte sie ein paar Sekunden lang. »Nein, das wird nicht notwendig sein. Aber ich habe vielleicht später noch ein paar Fragen an Sie.«

Hana verließ den Konferenzraum. Auf dem Weg zu ihrem Büro kam sie am Konferenzraum D vorbei. Durch die Glaswand sah sie Jakob Brodsky auf seinem Stuhl sitzen, eine Tasse Kaffee vor sich auf dem Tisch. Er war gerade in irgendetwas auf seinem Handy vertieft, schaute aber auf, als sie näher kam. Ihre Blicke trafen sich. Sie sah zuerst weg.

Hana loggte sich nicht ins Internet ein, um mehr über den Angriff auf Familie Neumann zu erfahren. Auch wenn Lowenstein sie schonen wollte – sie konnte das Bild der mit Blut bedeckten kleinen Sadie Neumann mit dem vor Angst weit aufgerissenen Mund nicht aus ihrem Kopf vertreiben.

Hana konnte den Gedanken nicht ertragen, dass etwas ähnlich Schreckliches einer ihrer Nichten oder deren Mütter zustoßen könnte. Sie schloss die Augen und betete mit einem einzigen Wort, das sie von den Älteren in ihrer Familie gelernt hatte.

»Shlama, shlama.«

Es war das uralte aramäische Gebet um Frieden, in der Sprache, die auch Jesus gesprochen hatte und die nur noch hier und da in vereinzelten arabisch- oder syrisch-christlichen Gemeinden lebendig war.

Der vertraute Klang des alten Gebetswortes brachte ein wenig Frieden in Hanas Seele.

Während Jakob im Konferenzraum D wartete, erhielt er zwei weitere Absagen von Kanzleien, die er für seinen Kampf um Gerechtigkeit kontaktiert hatte, in beiden Fällen ohne Begründung. Bisher war es ihm nicht gelungen, die Leidenschaft und gerechte Empörung, die er angesichts dieser Tragödie empfand, mit Erfolg zu vermitteln. Der Fall war schon vertrocknet, bevor er überhaupt reif war. Keine der großen Kanzleien, die bei Terrorismusprozessen zu den Vorreitern zählten, war bereit, sich überhaupt nur mit ihm zu treffen, nachdem sie erste Erkundigungen eingezogen hatten. Aber bisher hatte das Jakob nicht abgeschreckt.

Als er entschieden hatte, den Fall zu übernehmen, war eines der ersten Dinge, die er mit Ben vereinbarte, einen weiteren Anwalt zu engagieren.

Jakob postete Anfragen in zwanzig Anwaltsforen und versorgte die fast fünfzig Personen und Kanzleien, die sich daraufhin bei ihm meldeten, mit Informationen. Nichts davon führte zu konkreten Ergebnissen, hauptsächlich, weil Jakob nicht in der Lage war, den Namen eines Beklagten zu nennen, den man auf erhebliche Geldsummen verklagen könnte. Ein paar von Jakobs Anfragen hatten irgendwie den Weg über den professionellen Kreis der Kanzleien hinaus gefunden, und er hatte ein paar E-Mails von anderen Interessierten erhalten, darunter ein Literaturagent, der die Filmrechte an Gloria Neumanns Geschichte erwerben wollte. Die Möglichkeit, die Unterstützung von Collins, Lowenstein und Capella zu gewinnen, hatte Jakob neuen Auftrieb gegeben, herauszufinden, ob es eine Verbindung zwischen den Zadan-Brüdern und einer identifizierbaren terroristischen Organisation mit nennenswerten Vermögenswerten gab.

Jakob hatte seine Nachforschungen nicht auf das englischsprachige Internet beschränkt. Er sprach ausgezeichnet Russisch, und so richtete er einen Account ein, der es ihm ermöglichte, ins Darknet der ehemaligen Sowjetunion einzutauchen. Es war gefährlich, ein Ort der Hacker, Datendiebe und Verfechter bizarrer Verschwörungstheorien.

Er gab sich das Profil eines Russen, der mit fundamentalistischen islamischen Zielen sympathisierte, erkundete zahllose Webseiten und las schaurige Blogeinträge. Suchanfragen, die islamische Dschihadisten erwähnten, führten in der Regel zu Informationen über Einzelpersonen und Gruppen in zentralasiatischen Ländern mit überwiegend muslimischer Bevölkerung: Aserbaidschan, Tschetschenien, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan und Usbekistan. Viele Menschen in dieser Region waren kulturelle Muslime, aber andere hatten sich bewusst radikal-fundamentalistischen Glaubensrichtungen angeschlossen. Die meisten Informationen, die Jakob ausfindig machte, richteten sich gegen Russland, das die Region seit Jahrtausenden beherrschte. Aber es gab auch Schmähungen gegen korrupte westliche Gesellschaften und gegen den »Eindringling« Israel, der nach islamistischer Auffassung unrechtmäßig Land besetzte, das unter islamischer Kontrolle und der Scharia stehen sollte. Immer, wenn das Thema Israel auftauchte, grub Jakob tiefer.

Jakob hatte viele verworrene Hetzschriften gelesen, die die wahren Gläubigen aufforderten, sich zu erheben und im Dschihad zu sterben. Aber es gab auch durchdachtere Videos und Posts, die auf eine bessere Organisation und mehr Geld im Hintergrund hindeuteten. Bisher hatte er acht konkrete Hinweise auf terroristische Aktivitäten aufgespürt, die gegen Juden in Israel gerichtet waren. Drei dieser Seiten, eine in Tadschikistan und zwei in Tschetschenien, feierten den Tod von Gloria Neumann, ohne sich direkt zu dem Anschlag zu bekennen. Es war erschütternd, den Namen dieser Frau in einer giftsprühenden Hasstirade zu lesen, die auf der anderen Seite der Erdkugel verfasst worden war.

In einem erschreckenden Rekrutierungsvideo aus Tschetschenien warb ein großer, schlanker, europäisch aussehender Mann um die vierzig leidenschaftlich für das glorreiche Unterfangen des Dschihad – in Englisch mit amerikanischem Akzent. Der bärtige Mann rief die englischsprachigen Muslime auf, dem Ruf zu folgen, die dekadenten Gesellschaften des Westens zu verlassen und sich ganz der Verbreitung des islamischen Glaubens zu widmen, bis der Islam die ganze Welt beherrschte.

Im Jahr zuvor hatte Jakob für eine behinderte Vietnamesin, die zu Unrecht aus ihrer Wohnung vertrieben worden war, einen Prozess gewonnen. Drei Anwaltskanzleien und das örtliche Rechtshilfebüro hatten es abgelehnt, sie zu vertreten. Jakobs Anwaltshonorar rechtfertigte kaum die Stunden, die er dafür investieren musste, aber das Urteil der Geschworenen ermöglichte es seiner Mandantin, die Anzahlung für ein kleines Häuschen zu leisten, in dem sie näher bei ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter wohnen konnte. Aber der Fall Neumann – der lag auf einem anderen juristischen Stern.

Leon Lowenstein war Jakobs vielversprechendste Spur gewesen. Dass es eine persönliche Verbindung zwischen Lowenstein und einem Freund von Ben Neumann gab, beflügelte Jakobs Hoffnungen. Alles, was er über Lowensteins Erfahrung und Hintergrund recherchiert hatte, steigerte seinen Optimismus. Der jüdische Anwalt war ein großzügiger Philanthrop, der genug Geld verdient hatte, um ein paar Dollar für eine gerechte Sache zu riskieren. Und was noch wichtiger war: Lowenstein war in seinem Spezialgebiet, dem Seerecht, bereits auf terroristische Aktivitäten gestoßen. Jakob hegte die optimistische Vorstellung, dass es von der Verfolgung somalischer Piraten in Hochgeschwindigkeitsbooten zu messerschwingenden Dschihadisten in Jerusalem nur ein kleiner Schritt wäre.

Das unerwartete Auftauchen der arabischen Anwältin war wie ein Warnschild gewesen, und als sie verlangte, dass er das Video stoppte, befürchtete Jakob, er hätte seine Zeit verschwendet. Es würde schwer werden, Ben die Nachricht zu überbringen, dass er noch immer keinen Erfolg vorweisen konnte. Er sah auf, als Hana in schnellem Schritt am Konferenzraum vorbeiging. Ihre Miene war undurchschaubar.

Was Jakob über den Konflikt zwischen Arabern und Juden im Nahen Osten wusste, beschränkte sich auf Stichpunkte, aber man musste kein Politexperte sein, um zu erkennen, dass die Fronten zwischen den Gruppen verhärtet und erstarrt waren. Ja, diese Anwältin war nach eigener Auskunft israelische Staatsbürgerin und hatte Zivildienst geleistet. Das klang nach Neutralität und damit positiv, aber er war sich nicht sicher, wie viel Gewicht er dem beimessen sollte.

Die ältere Dame, die Jakob in den Konferenzraum geführt hatte, kam zurück und unterbrach seine Gedanken. »Mr Lowenstein erwartet Sie.«

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Kapitel 3

»Ms Abboud und ich haben uns auch den Rest des Videos angesehen«, erklärte der ältere Anwalt. »Ben und Sadie Neumann haben einen schlimmen Verlust erlitten und verdienen eine Chance auf Gerechtigkeit.«

»Sie wollen helfen?« Jakobs Überraschung war deutlich zu hören.

»Ich bin bereit, den Fall den Teilhabern der Kanzlei vorzustellen. Das wäre der nächste Schritt.« Lowenstein legte die Hand auf den schmalen Aktenordner auf dem Tisch. »Aber ich brauche mehr als das, was Sie hier zusammengestellt haben, um sie zu überzeugen, dass unsere Kanzlei Ihren Einsatz unterstützen sollte. Wie sind Ihre vertraglichen Absprachen mit Mr Neumann?«

»Ein Drittel Erfolgsbeteiligung, wenn der Fall vor dem Prozess beigelegt wird; vierzig Prozent, wenn wir den Fall verhandeln.«

»Das ist fair angesichts der Herausforderung, die der Fall darstellt. Wie viel wollen Sie und Ben Neumann in die Prozesskosten investieren?«

Jakob räusperte sich. »Mr Lowenstein, vor allem aus diesem Grund bin ich hier. Mein Mandant und ich können einen solchen Rechtsstreit nicht finanzieren.«

»Und Collins, Lowenstein und Capella ist eine Kanzlei, keine Bank. Ihre Seite wird die nötigen Mittel auf den Tisch legen müssen.«

Jakobs Hirn arbeitete fieberhaft. Eine Tür, die nur einen Spaltbreit offen stand, war besser als eine, die verschlossen war. Er sprach rasch und aufrichtig: »Ben Neumann ist Filialleiter bei einem Herrenausstatter und verfügt nicht über nennenswerte Geldmittel. Sadie ist auf einer Privatschule. Angesichts der Kosten für Schule, Kinderbetreuung und Arztbesuche sind wohl nicht mehr als ein paar Tausend Dollar möglich.«

»Hat er nach Glorias Tod etwas von einer Lebensversicherung erhalten?«

Jakob war froh, dass er Ben bei ihrem letzten Treffen danach gefragt hatte. »Ja, davon konnte er die Beerdigung bezahlen, Glorias Studiendarlehen zurückzahlen und ein neues Auto kaufen.«

»Ich möchte trotzdem vorschlagen, dass er mindestens 40 000 Dollar für notwendige Auslagen beisteuert. Natürlich könnte Ihre Kanzlei das auch tun. Wir würden zunächst diesen Fonds aufbrauchen, bevor die Kanzlei die Finanzierung des Falles übernimmt.«

Jakob schluckte. Er hatte noch seinen Studienkredit abzuzahlen, besaß vier Kreditkarten, mit deren Kontoständen er jonglierte wie ein Zirkusclown mit brennenden Fackeln, und eine neue Wohnung. Er hatte praktisch keine Reserven, aber ein aussichtsreicher Fall stand kurz vor dem Abschluss und würde ein Honorar im Bereich von 20 000 Dollar einbringen. Vielleicht könnten Ben und er jeweils dieselbe Summe beisteuern.

»Wenn wir das tun, wie viel würde Ihre Kanzlei über die 40 000 hinaus dazugeben?«

»Ich würde meinen Partnern eine Summe von 250 000 Dollar vorschlagen. Bei einer Aufteilung des Anwaltshonorars von siebzig zu dreißig.«

Jakob nickte. »Ich denke, das ist fair. Ich wäre zufrieden mit siebzig Prozent.«

»Nein. Das heißt siebzig Prozent für uns und dreißig für Sie.«

»Aber ich würde die ganze juristische Arbeit machen!«, protestierte Jakob.

»Mr Brodsky«, erwiderte Lowenstein ungerührt, »wenn wir zustimmen, den größten Teil der Kosten für den Fall zu übernehmen, werden wir auch an jedem Aspekt dieses Falles beteiligt sein, von der Recherche über die Verhandlung bis hin zu eventuellen Berufungen.«

»Dieser Fall ist meine Sache«, sagte Jakob. »Das ist keine Abtretung.«

»Sie werden Ihren Teil des Honorars verdienen. Aber es wäre unfair, eine Honoraraufteilung vorzunehmen, die nur darauf beruht, dass Sie uns den Fall zugespielt haben.«

»Sie würden mit entsprechenden Kollegen aus meinem Team zusammenarbeiten«, fuhr Lowenstein fort. »Und ich hätte die Gesamtleitung des Falles.«

Jakob hatte nur einen mittelmäßigen Studienabschluss vorzuweisen; eine Kanzlei wie Collins, Lowenstein und Capella würde ihn daher niemals einstellen, denn sie nahmen nur die Besten jedes Jahrgangs. Mit jemandem wie Leon Lowenstein zusammenzuarbeiten und zu sehen, wie seine Kanzlei einen großen Fall anpackte, wäre nicht nur gut für Ben Neumann, es wäre auch für Jakob eine unschätzbare Erfahrung, egal, was er dabei verdiente.

»Das ist eine Menge wert«, gab er zu, presste die Lippen zusammen und erwog rasch seine Optionen. Es gab keine.

»Einverstanden.«

»Vorbehaltlich der Genehmigung durch unsere Teilhaber.«

»Ja, natürlich. Und natürlich der Zustimmung von Mr Neumann.«

»Sie machen Ihren Job, wir machen unseren«, sagte Lowenstein. »Ben und Sadie Neumann haben die bestmögliche juristische Vertretung verdient.« Er warf Jakob einen stählernen Blick zu. »Und ich meine das mit jeder Faser meiner Existenz. Sonst würden wir dieses Gespräch nicht führen. Glorias Leben war wichtig, und ihre Mörder müssen zur Verantwortung gezogen werden.«

Hana speicherte den Übernahmevertrag einer Investmentfirma aus dem Silicon Valley für ein israelisches Softwareunternehmen mit Sitz in Ra'anana, einer Stadt etwa zwanzig Kilometer nördlich von Tel Aviv. Das Hin- und Herspringen zwischen Englisch und Hebräisch bei einem so komplexen Text war anstrengend. Hana brauchte eine Pause; sie stand auf und ging zu Janets Schreibtisch.

»Und, ging es nun um Piraterie?«, fragte Janet.

»Nein, viel schlimmer.«

»Kannst du es mir sagen, oder soll ich besser nicht fragen?«

Hana zögerte. Janet war eine gute Seele, die es nicht verdient hatte, unnötig mit dem belastet zu werden, was auf dem Hurva Square geschehen war.

»Ich erspare dir die Details vorerst«, sagte sie daher. »Mr Lowenstein muss mit den Teilhabern über den Fall sprechen.«

»Wow!« Janet machte große Augen.

Hana bedauerte sofort, dieses Detail verraten zu haben. »Das bleibt aber unter uns!«

»Aber natürlich. Gehst du wieder allein essen?«

»Ja.«

»In Mr Capellas Gruppe gibt es ein paar Kolleginnen, die öfter zusammen zu Mittag essen. Warte, ich kläre das mit Thalia Botts, die in diesem Team ist. Ich wette, die würden sich freuen, wenn du …«

»Danke, aber nein«, sagte Hana mit einem Lächeln. »Was ich jetzt vor allem brauche, ist Entspannung. Eine Frauenrunde wäre gerade keine Erholung für mich.«

»Wie du meinst«, sagte Janet achselzuckend. »Aber du brauchst dringend jemanden, der dein Sozialleben auf Vordermann bringt. Ich war kaum ein halber Mensch, bis ich Donnie kennenlernte. Und er war nur ein Bruchteil dessen, was seitdem aus ihm geworden ist. Zusammen sind wir jetzt fast ein ganzer Mensch.«

Hana gluckste. »Ich bin im Lauf der Woche noch zum Abendessen verabredet.«

»Mit einem Mann?« Janets Augenbrauen schossen in die Höhe.

»Ja, mit einem Mann. Ich war vor ein paar Wochen mal in einer großen Gemeinde zum Gottesdienst, und dort habe ich ihn kennengelernt. Er möchte gern mehr über die arabische Kultur erfahren.«

»Ja, das möchte ich wetten.« Janet nickte vielsagend und fügte hinzu: »Besonders von jemandem wie dir.«

Hana entfernte sich kopfschüttelnd und nahm den Aufzug zum Parkdeck. In Israel, wo praktisch jeder Zentimeter des kleinen Landes mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar war, hatte sie nie ein Auto besessen. Doch kurz nach ihrem Umzug nach Atlanta hatte sie einen dreijährigen Leasingvertrag für einen kleinen deutschen Importwagen abgeschlossen.

Es gab fünf oder sechs Restaurants in der Nähe, in denen Hana regelmäßig zu Mittag aß. Heute entschied sie sich für einen kleinen Feinkostladen mit Mittagstisch. Der Inhaber war ein Araber, dessen Familie aus dem Libanon in die USA eingewandert war. Der Feinkostladen war überfüllt, die Leute standen Schlange vor dem Tresen. Hana trat ein und begrüßte Mahmoud Akbar in fließendem Arabisch.

»Hana, tun Sie mir das nicht an«, antwortete der kahlköpfige Mann um die fünfzig auf Englisch. »Ich bin mit dreizehn aus Beirut nach Baltimore gezogen. Alles, was ich gerade verstanden habe, war irgendwas davon, dass die Sonne für mich scheint. Dabei war es den ganzen Morgen bewölkt.«

Arabisch ist eine komplexe Sprache. Selbst für eine schlichte Begrüßung gab es unzählige Varianten.

»Ziemlich nah dran«, erwiderte Hana auf Englisch. »Es war ein Gruß und ein Segen: ›Möge die Sonne über dir aufgehen und ihre Wärme deinen schmerzenden Knochen guttun.‹«

Akbar lächelte. Er schnitt gerade Streifen von einer großen Fleischrolle, die sich auf einem Spieß vor einem vertikalen Grill drehte, während sein Mitarbeiter das geschnetzelte Fleisch rasch in aufgeschnittenes Fladenbrot schaufelte. Die Schawarma-Sandwiches waren das bei Weitem beliebteste Mittagsangebot im Laden. Akbar wischte sich die Stirn mit dem kleinen Handtuch, das in seiner Schürze steckte.

»Was darf’s sein?«, fragte er.

»Frühstück und Mittagessen, bitte«, antwortete sie. »Aber nur eine kleine Portion. Ich muss heute Nachmittag arbeiten und kann mir kein Nickerchen leisten.«

»Labneh und Makanek?«

Hana nickte. »Ja, gern.«

Der Besitzer reichte das lange Messer weiter an seinen Sohn Gadi, einem mürrischen jungen Mann, der nie Interesse daran zeigte, sich mit Hana zu unterhalten, egal in welcher Sprache. Akbar löffelte Labneh-Dip, einen mit fein gehackten Gurken, Dill, Knoblauch und Salz gewürzten Frischkäse, in eine Schüssel und gab ein paar Streifen frisch geschnittener Gurke dazu. Hana tauchte einen Gurkenstreifen in den Dip und wartete, während der Ladeninhaber ein paar der kleinen Makanek-Würstchen, einer Kombination aus Lamm- und Rindfleisch, auf den Grill legte.

»Rusty! Mehr Pommes frites in die Fritteuse, bitte«, rief Akbar einem Mitarbeiter zu. »Man sollte meinen, dass sie es merken, wenn die Pommes frites knapp werden«, schimpfte er und wandte sich wieder Hana zu.

Dann drehte er die Miniaturwürstchen auf dem Grill, und wenige Augenblicke später legte er sie in eine Schüssel und beträufelte sie mit Granatapfelsirup. Hana legte einen Zwanzigdollarschein auf den Tresen. Während sie auf ihr Wechselgeld wartete, nahm sie einen Bissen von der Wurst, deren herzhaften Geschmack der süße Sirup noch verstärkte.

»Ihre Makanek sind köstlich«, sagte Hana und wischte sich die Lippen mit einer dünnen Papierserviette ab. »So gut wie die, die ich im Libanon gegessen habe. Ich war dort einmal an einer amerikanischen Schule, um an einem Debattierwettbewerb teilzunehmen.«

Akbar beugte sich vertraulich zu ihr hinüber. »Ihr Vater war sicher sehr stolz auf Sie, damals wie heute«, sagte er leise. »Aber ich mache mir Sorgen um Gadi. Er geht abends zu irgendwelchen Meetings und will mir nicht sagen, worum es dabei geht. Und ich habe ihn dabei erwischt, wie er sich auf dem Handy religiöses Zeug ansah. Dinge, die mir nicht gefallen und mit denen ich nicht einverstanden bin.«

»Was denn für Dinge?«, fragte Hana. Ihr wurde das Herz schwer.

»Nichts Gutes.« Akbar warf über die Schulter einen Blick zu seinem Sohn. »Ich weiß, diese Inhalte stammen aus dem Wahhabismus. Als ich es ansprach, bestand er darauf, dass ich es Salafismus nenne. Vor der Öffnung heute Morgen hatten wir deshalb einen heftigen Streit.«

Hana schaute zu Gadi hinüber, der gerade sehr geschickt Schawarma-Fleisch abschnitt. Nachdem sie erst vor Kurzem das Neumann-Video angesehen hatte, ließ der Anblick des scharfen Messers in seinen Händen sie erschaudern.

»Er sagt, die Saudis glauben an diese Lehre. Und Allah hat sie so sehr gesegnet, dass sie das reichste Volk der Welt sind.«

»Ja, sie verfügen über die reichsten Ölvorkommen der Welt.«

Akbar wies nach oben. »Wer hat das Öl unter das Land gebracht, auf denen der Prophet lebte?«

Hana hatte Akbar noch nie anvertraut, dass sie Christin war. Sie wusste, dass er sie für eine weltliche Muslimin hielt, wie er selbst einer war. Sie zögerte.

Rusty, der Junge, der die Pommes frites zubereitete, rief etwas herüber.

»Ich werde für Sie und für Ihren Sohn beten«, sagte Hana schnell.

Akbar warf ihr einen verwirrten Blick zu und huschte davon. Hana trug nie eine Kopfbedeckung, und im Islam durfte keine Frau beten, ohne ein Kopftuch zu tragen. Er konnte sich daher keinen Reim darauf machen, wieso sie ihm anbot, für ihn zu beten.

Hana beendete ihre Mahlzeit, während ihr Blick weiter auf Gadi lag.

Ihr Kopf mochte unbedeckt sein, aber ihr Herz war weit geöffnet, und sie betete zum Gott des Himmels und der Erde für diesen Vater und seinen Sohn.

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Kapitel 4

Auf dem Weg zurück in sein Büro hielt Jakob, um sich einen Cheeseburger zu kaufen. Als Einwanderer der ersten Generation aus der früheren Sowjetunion genoss er seine Freiheit in jeder Hinsicht, und er war nicht daran interessiert, sich selbst einzuschränken, indem er sich an jüdische Speisevorschriften hielt. Wenn er allerdings mit anderen Juden essen ging, passte er sich an; er wollte niemanden verletzen. Er wartete ab, was die anderen bestellten, bevor er seine Wahl traf. Da ihm Essen fast in jeder Form schmeckte, war es nie schwierig, etwas zu finden, das er mochte.

Seine starke Freiheitsliebe hatte Jakob von seinem Vater geerbt, einem jüdischen »Refusenik«, der jahrelang versucht hatte, dem Kommunismus zu entkommen, doch man hatte ihm die Ausreisevisa für sich selbst und seine Familie stets verweigert. Wegen seines offenkundigen Wunsches, zu emigrieren, wurde Anatoly Brodsky verfolgt und sogar zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Brodsky senior hatte den ausgeprägten Starrsinn seinem jüngsten Sohn vererbt. Erst nach dem Zerfall der Sowjetunion konnte die Familie auswandern und sich in New York niederlassen. Ein großes gerahmtes Foto der Freiheitsstatue hing im Wohnzimmer ihres Familienheims auf Long Island, in dem Jakob seit seinem zehnten Lebensjahr gewohnt hatte. Seinen russischen Akzent hatte er dort rasch verloren und sprach bald wie ein geborener New Yorker.

Dass Jakob den Fall von Ben Neumann vertrat, war auf Empfehlung eines früheren Mandanten zustande gekommen, eines gewissen Ken Smith. Jakob hatte sich bereit erklärt, sich mit Ben zu treffen, und voller Anteilnahme angehört, was vor der Hurva-Synagoge geschehen war. Aber erst, als er das Überwachungsvideo auf Bens Laptop gesehen hatte, hatte er das vertraute Feuer im Bauch verspürt – für ihn immer ein Zeichen, dass er ernsthaft erwägen sollte, einen Fall zu übernehmen. Aber es gab eine Frage, die er stellen musste, bevor er sich den nächsten Schritt gestatten konnte.

»Warum wollen Sie einen Prozess anstrengen?«, fragte er Ben. »Es wird nur dazu führen, dass Ihr Verlust Ihnen umso bewusster wird.«

»Meinen Sie, das ist er nicht sowieso schon?«, hatte Ben gefragt. »Jedes Mal, wenn ich meine Tochter ansehe, sehe ich das Gesicht ihrer Mutter. Und wenn ich Sadie auf die Wange küsse, berühren meine Lippen die Narbe, die der Mörder meiner Frau dort hinterlassen hat. Ja, ich habe die Liebe meines Lebens verloren. Aber sie würde wollen, dass ich etwas tue – irgendetwas –, damit nicht noch einer Familie dasselbe Leid widerfährt wie uns. Als ich von den Antiterrorgesetzen und dieser neuen Prozessform las, wusste ich: Diese Spur muss ich verfolgen, so gut ich nur kann.«

Jakob hörte ihm aufmerksam zu. Wenn Ben Neumann die Chance dazu bekäme, könnte er seine Geschichte auf eine Weise darstellen, die auch die abgebrühtesten Geschworenen erweichen würde. Die Antiterrorgesetze waren ein US-amerikanisches Gesetzespaket, das der Kongress 1990 in Kraft gesetzt hatte. Es ermöglichte, Menschen, die »im Hinblick auf ihre Person, ihr Eigentum oder ihr Geschäft durch einen Akt internationalen Terrorismus« geschädigt wurden, beim Obersten Gerichtshof der USA eine Klage mit der Forderung einer dreifachen Entschädigung für ihren Verlust geltend zu machen. »Internationaler Terrorismus« war definiert als »Aktivitäten, die … Gewalttaten oder Taten, die Menschenleben gefährden könnten und die Strafgesetze der Vereinigten Staaten verletzen.«

»Ken hat gesagt, dass Sie sich von Herausforderungen nicht abschrecken lassen«, sagte Ben. »Er hat mir erzählt, wie Sie immer tiefer gegraben haben, bis Sie wussten, wer für die Verletzungen seines Sohnes verantwortlich war. Die anderen Anwälte haben mir geraten, dass ich genau das brauche: jemanden, der sich in eine Sache vergräbt und herausfindet, ob die Täter allein gehandelt haben oder nicht.«

»Ich habe keine Erfahrung in diesem Rechtsgebiet«, sagte Jakob. »Und es wäre sehr teuer, eine solche Schadensersatzklage zu recherchieren und vor Gericht zu vertreten.«

»Verstehe«, sagte Ben offensichtlich enttäuscht. Er seufzte frustriert. »Aber danke, dass Sie bereit waren, mit mir zu sprechen.« Er schloss den Laptop und erhob sich.

»Gehen Sie noch nicht.« Jakob hob Einhalt gebietend die Hand. »Sehen Sie sich wenigstens einen Vertragsentwurf zwischen Anwalt und Mandant an.«

Es hatte einen Unfall gegeben, und der Verkehr stockte, sodass Jakob doppelt so lange wie sonst brauchte, um seine Kanzlei zu erreichen. Sie lag in einem zweistöckigen Gebäude mit acht Apartments und einem gemeinsamen Konferenzraum im Erdgeschoss. Fünf der acht Mietparteien waren Anwälte. Außer den Juristen gab es noch einen Versicherungsagenten, einen Finanzberater und einen Heilpraktiker.

Eine Sekretärin im Erdgeschoss nahm die Anrufe für alle Mietparteien entgegen. Maddie verfügte über die beeindruckende Fähigkeit, sich in Sekundenschnelle mit dem Namen der jeweils richtigen Firma zu melden, je nachdem, welches Lämpchen an der Telefonanlage blinkte.

»Kanzlei Jakob Brodsky.« Maddie nahm gerade einen Anruf entgegen, als Jakob das Gebäude betrat. Es folgte eine kurze Pause. »Ich verbinde Sie direkt mit ihm.«

»Das war niederträchtig«, rief Jakob ihr zu, während er die Treppe hinaufrannte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend.

Der Wettbewerb um neue Mandanten war heftig. Leute, die auf der Suche nach einem Anwalt waren, der auf Schadensersatzklage bei Körperverletzung spezialisiert war, hatten meist eine Liste von Kontakten, die sie durchtelefonierten, und hinterließen keine Nachricht. Nach dem fünften Klingeln würde sein Anrufbeantworter anspringen. Jakob verhedderte sich mit dem Schlüssel, bekam dann aber die Tür auf, hechtete zum Telefon auf seinem Schreibtisch und nahm den Hörer ab.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte er etwas atemlos und ließ sich in den Ledersessel sinken.

»Mr Brodsky?«

»Ja, am Apparat.«

»Hier spricht Amanda Brooks von der Brookstone-Kanzlei. Sie haben mit Natalie Fletchall in unserem Büro über den Harrison-Fall gesprochen.«

Jakob setzte sich aufrechter hin. Es war der Fall, von dem er hoffte, er würde ihm das Honorar einbringen, das er als seinen Teil zu den Kosten des Neumann-Prozesses beisteuern konnte.

»Ja«, sagte er. »Ich habe Natalie letzte Woche per E-Mail eine Forderung von 80 000 Dollar geschickt, zusammen mit der Klageschrift, die ich beim Fulton County Superior Court einreichen werde, wenn wir uns nicht einigen können. Niedriger kann ich nicht gehen, um den Fall noch vor einem Gerichtsverfahren zu klären.«

»Dann ist das ein Deal. Die Versicherungsgesellschaft möchte diese Sache gern beenden. Innerhalb einer Stunde haben Sie unsere Standardfreigabe in Ihrem Postfach. Sobald wir eine unterschriebene Kopie der Freigabe erhalten haben, schicken wir den Scheck, zahlbar an Sie und Ihren Mandanten.«

Jakob rief seinen Mandanten an, um ihm die gute Nachricht zu überbringen, und versuchte dann erfolglos, Ben Neumann zu erreichen. Er hinterließ eine knappe Sprachnachricht.

»Gute Neuigkeiten. Rufen Sie mich an.«

Hana putzte sich die Zähne, um ihren Kollegen den Knoblauchgeruch zu ersparen. Dann arbeitete sie an einigen juristischen Dokumenten auf Hebräisch und sandte sie an den Mandanten in Ra’anana. Sie wollte gerade eine kurze Pause machen, als es an der Tür klopfte. Unwillkürlich antwortete sie auf Hebräisch, korrigierte sich aber sofort. Mr Collins trat ein. Der Anwalt war Mitte sechzig, kahlköpfig und übergewichtig, und kam nur äußerst selten in ihr Büro.

»Tut mir leid«, begann Hana. »Ich musste eine Weile zwischen Englisch und Hebräisch hin- und herspringen.«

»Was der Kanzlei zugutekommt. Sie sagten: ›Ja, bitte.‹ Richtig?«

»Korrekt.«

Mr Collins schloss die Tür und setzte sich auf den Stuhl vor Hanas Schreibtisch.

»Ich wollte mit Ihnen über Ihr Meeting mit Leon heute Vormittag sprechen.«

Jim Collins war eher eine Schildkröte als ein Kaninchen, und Hana wusste, dass er eine Weile brauchen würde, bis er zum Anlass seines Besuchs kam.

»Hat er Sie gebeten, zu recherchieren, welchen Hintergrund und welche Erfahrung Jakob Brodsky hat?«

»Nein, aber er hat erwähnt, dass er später noch einige Fragen haben könnte.«

»Und Sie haben das Video von der Terrorattacke in Jerusalem gesehen?«

»Zuerst habe ich es abgelehnt, aber dann habe ich meine Meinung geändert.«

»Warum das?«

Hana dachte, die Antwort sei offensichtlich. »Eine Frau wurde erstochen und ihre kleine Tochter schwer im Gesicht verletzt. Der junge Araber, der es getan hat, wurde erschossen. Das ist nichts, was ich gern sehe oder in meiner Erinnerung haben möchte.«

»Leon hat Sie vor dem Meeting nicht gewarnt?«

»Gewarnt?«

»Oder Ihnen irgendwelche Informationen gegeben?«

»Nein, aber er hat sich entschuldigt. Er sagte mir, es sei eine Last-Minute-Entscheidung gewesen, mich hinzuzuziehen, und da war Mr Brodsky bereits in der Kanzlei eingetroffen.«

Hana fühlte sich unwohl. Es hatte den Anschein, als wäre Mr Collins dabei, Informationen zu sammeln, um in der Teilhaberversammlung gegen seinen Kollegen zu votieren.

»Was hat Leon Ihnen sonst noch über den Fall gesagt?«

»Er erwähnte, dass es nicht einfach sein würde, einen Beklagten zu finden, geschweige denn einen, der zahlungskräftig genug wäre, um Schadensersatz zu leisten. Und dass die Entscheidung darüber, ob die Kanzlei in den Fall einsteige, bei den Teilhabern läge.«

Mr Collins nickte und sah Hana dann direkt an. »Wenn Sie eine Stimme hätten, würden Sie dafür oder dagegen stimmen?«

»Mr Collins«, protestiere Hana. »Es steht mir nicht zu …«

»Es steht Ihnen zu, wenn ich Sie so direkt frage.« Der Seniorpartner sprach bestimmter als sonst. »Und genau das tue ich. Sie sind Araberin und israelische Staatsbürgerin. Sie haben eine Perspektive auf die Sache wie kein anderer Kollege in dieser Kanzlei. Ich möchte wissen, was Sie über den Fall denken.«

Bilder aus dem Video schossen Hana durch den Kopf: Gloria Neumann, die zu Boden sinkt, und Abdul Zadan, der auf sie stürzt. »Ich würde dagegen stimmen«, antwortete Hana.

»Warum?«

Hana war versucht, die Schwierigkeit, einen zahlungsfähigen Beklagten zu finden, als Hauptgrund für ihre Ablehnung zu nennen, aber sie wusste, das war nicht wahr. »In Israel reden wir immer davon, dass wir uns von der Gewalt, die uns umgibt, nicht davon abhalten lassen wollen, ein normales Leben zu leben«, erwiderte sie. »Ich bin nicht nach Atlanta gezogen, um dieser Welt zu entkommen. Aber ich dachte, ich könnte sie hinter mir lassen, solange ich hier arbeite. Das ist die beste Antwort, die ich Ihnen geben kann.«

Jim Collins schwieg einen Moment, dann stand er auf. »Vielen Dank. Ich respektiere Ihre Perspektive«, sagte er, verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich.

Hana atmete tief durch und starrte eine Weile aus dem Fenster. Aber sie nahm nicht die Skyline vor dem klaren blauen Himmel wahr. Stattdessen reiste sie in Gedanken vom Norden Atlantas zum Hurva Square in Jerusalem.

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Kapitel 5

Jakob trat auf den Flur vor seinem Büro, um sich ein Glas Wasser aus dem Wasserspender zu holen, als Butch Watson, einer der anderen Anwälte im Gebäude, mit einem schweren Aktenkoffer in der Hand die Treppe heraufkeuchte. Butch war dabei, sich als Treuhand- und Vermögensanwalt zu etablieren, und er traf seine Mandanten oft in den Räumen ihrer Finanzberater oder Börsenmakler.

»Warum nimmst du nicht den Aufzug?«, fragte Jakob und wies auf den schweren Koffer.

»Ich habe meiner Frau versprochen, öfter zu Fuß zu gehen«, erwiderte der breitschultrige junge Anwalt. »Seit wir wissen, dass sie mit Zwillingen schwanger ist, habe ich mehr zugenommen als sie.«

»Wann ist es denn so weit?«

»In drei Wochen«, sagte Butch. »Und ich hoffe, die Jungs können in der Offensive spielen wie ich und einen Freifahrtschein fürs College bekommen.«

Butchs überflüssige Pfunde beschwerten einen Körper, dem man noch immer ansah, dass er mal zwei Zentner stemmen konnte. Gelegentlich gingen Jakob und Butch auf ein Bier in eine Sportbar. Wenn jemand Butch zu einer Runde Armdrücken herausforderte, setzte Jakob immer auf Butch.

Jakob deutete auf den Aktenkoffer. »Guter Mandant?«

Auf Butchs Gesicht erschien ein breites Lächeln. »Ja. Und nicht nur einer. Ich habe mich gerade mit einem Börsenmakler getroffen, der im College gegen mich gespielt hat. Zum Glück haben wir uns heute besser verstanden als vor zehn Jahren, wo wir uns die Köpfe eingeschlagen haben. Ich hatte die Einzelheiten des Spiels vergessen, aber er wusste noch, dass ich damals ein Foul Penalty bekam, weil ich sein Gesichtsgitter gepackt und versucht habe, ihm den Kopf vom Hals zu reißen. Er hat darüber gelacht, denn sein Team hat damals gewonnen. Er hat versprochen, mir so viele Mandanten zu schicken, wie er kann.«

»Gratuliere.«

»Und du? Gibt es Fortschritte bei der Suche nach einem finanzkräftigen Mitstreiter in deinem Antiterror-Fall?«

»Ich hatte gerade mein bisher bestes Meeting.« Jakob gab ihm eine Kurzfassung seines Gesprächs mit Leon Lowenstein.

»Du bist der Typ, der für einen großen Gewinn ein großes Risiko eingeht, jemand, der den Fünfzig-Meter-Pass übers Spielfeld in die doppelte Deckung schleudert«, kommentierte Butch. »Ich bin eher der Zwei-Meter-Typ, der damit nur Staub aufwirbelt. Ich wünschte, ich könnte mich nur mit einem winzigen Anteil in die Aktion einkaufen, aber ich muss jeden Cent sparen, weil die Jungs ja bald da sind.«

»Die Absicht zählt«, erwiderte Jakob.

Butch setzte den Weg zu seinem Büro fort. »Aber jetzt muss ich sehen, ob ich aus meinen Fingern noch sechzig Wörter pro Minute herausleiern kann – es wartet ein Berg von Treuhandurkunden.«

Zehn Minuten später klingelte Maddie Jakob an. »Mr Ben Neumann und eine zauberhafte junge Lady sind hier, um dich zu sprechen. Er sagt, er hat keinen Termin …«

»Ist okay. Schick sie hoch.«

Ben und Sadie Neumann kamen bereits die Treppe herauf. Sadie trug ihre Schuluniform: weiße Bluse, himmelblauer Pullover und dunkelblaue Mary-Jane-Schuhe. Ihr schwarzes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, der über einen kleinen orangefarbenen Rucksack fiel. Ihr Vater trug einen gut geschnittenen Anzug. Das dunkle Haar war mit einzelnen grauen Strähnen durchzogen.

»Ich war mit Sadie auf dem Weg zu einem Therapietermin, als ich Ihre Nachricht erhielt«, sagte Ben. »Wir müssen ohnehin hier vorbei.«

»Perfektes Timing«, antwortete Jakob. »Kommen Sie rein.«

Jakobs Büro war geräumig und ausgestattet mit erstklassigen Möbeln, die ein Innenarchitekt ausgesucht hatte. Der große Holzschreibtisch besaß eine Ledereinlage, etliche Lederstühle standen im Raum.

Sadie suchte sich einen weinroten Stuhl in einer Ecke des Raumes und kletterte hinauf. Ihre Füße baumelten ein paar Zentimeter über dem Boden.

Ben nahm ein Tablet aus dem Rucksack des Mädchens. Sie steckte sich die Kopfhörer in die Ohren, und nach ein paar Sekunden klebten ihre Augen am Bildschirm.

»Und sie wird uns nicht hören?«, wollte Jakob wissen.

Ben lächelte. »Sie haben keine Kinder, was?«

»Nein.«

»Kinder haben kein Problem damit, die reale Welt für eine imaginäre zu verlassen, vor allem, wenn sie ein elektronisches Gerät haben, das sie dorthin bringt.«

Jakob setzte sich an seinen Schreibtisch. »Heute Morgen hatte ich ein konstruktives Gespräch mit Leon Löwenstein«, begann er. »Danke, dass Sie den Kontakt hergestellt haben. Seine Kanzlei ist daran interessiert, an dem Fall mitzuarbeiten.«

»Tatsächlich?« Ben richtete sich auf.

»Er hat sich das Video angesehen und ist ebenso der Meinung, dass Sie und Sadie eine juristische Vertretung verdienen.« Jakob erklärte das angedachte Prozedere, das vorsah, dass Lowenstein den Fall seinen Partnern vorstellte.

Ben runzelte die Stirn. »Das klingt aber nicht so gut.«

»Aber wir haben eine Chance«, sagte Jakob optimistisch. »Allerdings gibt es noch eine zweite Vorbedingung, bevor wir die nächsten Schritte einleiten können. Sie und ich müssen uns verpflichten, 40 000 Dollar auf das Kanzleikonto einzuzahlen. Mr Lowenstein möchte seinen Partnern empfehlen, 250 000 Dollar zu investieren, um die Kosten für Expertisen, Ermittler, Protokolle und Reisekosten abzudecken. Jeder, den wir als Beklagten benennen, wird sich mit allen Mitteln dagegen wehren, uns etwas zu zahlen. Denn eventuell müssen sie dann auch andere Terroropfer und deren Familien entschädigen. Ich bin bereit, 20 000 zu zahlen, wenn Sie denselben Betrag beisteuern können. Sie sehen, ich glaube an den Fall.«

Jakob wartete auf Bens Antwort. Aber sein Mandant schwieg, sein Blick ruhte auf Sadie, die noch immer gebannt auf ihr Tablet starrte.

»Sie wissen, wie viel mir daran liegt, die Sache zu verfolgen«, sagte Ben schließlich. »Und ich schätze es mehr, als ich sagen kann, dass Sie zu einem solchen Einsatz bereit sind. Aber es ist schon eine Menge Geld, das ich da aufbringen muss. Ich habe zwar noch etwas von der Lebensversicherung, aber es wird noch eine Weile dauern, bevor ich daran denken kann, mir Rücklagen zu bilden. Gloria hat unsere Familienfinanzen immer gut im Blick gehabt, und sie war nicht verschwenderisch. Ich bin da impulsiver. In den letzten Jahren habe ich jeden Penny dafür ausgegeben, Sadie so glücklich wie möglich zu machen.«

Jakob war erleichtert, dass sein Mandant das Geld aus der Versicherung nicht vollständig aufgebraucht hatte. »In aller Regel muss man bei einem Gerichtsverfahren davon ausgehen, dass es immer mehr Zeit und Geld verschlingt, als man denkt. Zusätzlich zum finanziellen Beitrag, um das Verfahren abzudecken, hat Mr Lowenstein auch zahlreiche Anwälte in seiner Kanzlei, die mir assistieren werden«, erklärte Jakob.

»Was werden Sie dabei tun?«

»Ich werde der Hauptanwalt sein, bei dem alle Fäden zusammenlaufen.«

»Haben Sie etwas Geduld mit mir«, sagte Ben nach ein paar Momenten des Schweigens. »Das ist eine schwerwiegende Entscheidung, und ich muss sie gut durchdenken.«

Für den Rest des Nachmittags legte sich ein Gefühl der Schwere auf Hana. Ihr Gespräch mit Jim Collins über den Terrorangriff in Jerusalem hatte ihr ebenso viel offenbart wie dem Seniorpartner ihrer Kanzlei: Sie hatte ihren Wechsel in die Vereinigten Staaten nie als Flucht verstanden. Es war einfach eine Chance, in einer neuen Umgebung zu arbeiten, in der