Der Auftrag - Silvia Roth - E-Book

Der Auftrag E-Book

Silvia Roth

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Beschreibung

Im Frankfurter Wahlkreisbüro von Lorna Hoogstraat explodiert eine Bombe. Doch wer will die junge Politikerin töten? Oder sind die Dinge eigentlich ganz anders, als sie scheinen? Die junge, ehrgeizige Helena Steen gehört zu den Besten ihres Ausbildungsjahrgangs als Personenschützerin bei der Bundespolizei. Außerdem verfügt sie über eine besondere Gabe: Sie denkt Geschichten zu Ende und malt sich dabei deren schlimmstmögliche Wendung aus. Ihre Kommilitonen haben ihr deswegen den Spitznamen "Kassandra" verpasst – und auch in Hels privatem Umfeld stößt ihre "notorische Schwarzseherei" nicht immer auf Gegenliebe. Doch als eine erfolgreiche Nachwuchspolitikerin mit dem Tod bedroht wird und kurz darauf nur knapp einem Anschlag entgeht, bietet sich Hel unvermittelt die Chance ihres Lebens. Spannender Auftakt zur neuen Krimireihe rund um die junge Personenschützerin Helena Steen. Von der Autorin der vom ZDF verfilmten Reihe "Winnie Heller".

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Seitenzahl: 378

Veröffentlichungsjahr: 2022

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SILVIA ROTH

DER AUFTRAG

Ein Helena-Steen-Krimi

Über das Buch:

Im Frankfurter Wahlkreisbüro von Lorna Hoogstraat explodiert eine Bombe. Doch wer will die junge Politikerin töten? Oder sind die Dinge eigentlich ganz anders, als sie scheinen?

Die junge, ehrgeizige Helena Steen gehört zu den Besten ihres Ausbildungsjahrgangs als Personenschützerin bei der Bundespolizei. Außerdem verfügt sie über eine besondere Gabe: Sie denkt Geschichten zu Ende und malt sich dabei deren schlimmstmögliche Wendung aus. Ihre Kommilitonen haben ihr deswegen den Spitznamen „Kassandra“ verpasst – und auch in Hels privatem Umfeld stößt ihre „notorische Schwarzseherei“ nicht immer auf Gegenliebe. Doch als eine erfolgreiche Nachwuchspolitikerin mit dem Tod bedroht wird und kurz darauf nur knapp einem Anschlag entgeht, bietet sich Hel unvermittelt die Chance ihres Lebens. Von der Autorin der vom ZDF verfilmten Reihe „Winnie Heller“.

Über die Autorin:

© privat

Silvia Roth schreibt seit vielen Jahren mit großem Erfolg Kriminalromane und Thriller, Drehbuchvorlagen, Theaterstücke sowie Kinder- und Jugendbücher. Viele ihrer Romane wurden bereits erfolgreich verfilmt, ins Ausland lizensiert und für renommierte Preise nominiert, darunter der Friedrich-Glauser-Preis, der Crime Award der LitCologne und der Hessische Filmpreis. Allein ihre Reihe um die Wiesbadener Kommissarin Winnie Heller verfolgten im gleichnamigen ZDF-Prime-time-Format regelmäßig mehr als sechs Millionen Zuschauer. Silvia Roth ist verheiratet und lebt in Deutschland.

Danke, dass Sie sich für unser Buch entschieden haben! Sie wollen mehr über unsere Bücher erfahren und über unser Programm auf dem Laufenden bleiben? Befreunden Sie sich mit uns auf Facebook, folgen Sie uns auf Instagram oder abonnieren sie unseren Newsletter.

1 Auflage, 2022

© Carl Ueberreuter Verlag, Wien 2022

ISBN 978-3-8000-9012-9 (print)

ISBN 978-3-8000-9912-2 (e-Book)

E-Book-Ausgabe der 2022 im Carl Ueberreuter Verlag erschienenen Buchausgabe.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie das öffentliche Zugänglichmachen z. B. über das Internet.

Lektorat: Caroline Metzger

Covergrafik: © Maxger/iStock

Covergestaltung und Satz: Saskia Beck, s-stern.com

Konvertierung: bookwire.de

www.ueberreuter.at

Inhalt

Prolog

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil

Vierter Teil

Fünfter Teil

Sechster Teil

Prolog

Los Angeles

Sie brachen um Punkt 22:00 Uhr auf. Ganz wie immer. Ein Angestellter hatte den Lexus vollgetankt und unmittelbar neben dem Lift geparkt. Der Schlüssel steckte.

Olav warf seine Manschettenknöpfe in die Ablage der Tür und glitt geschmeidig hinters Lenkrad. Er fuhr grundsätzlich selbst, ganz egal, wie stressig sein Tag gewesen war. Und das hatte in erster Linie mit seinem Bedürfnis nach Kontrolle zu tun. So viel immerhin hatte Irina inzwischen verstanden.

An der Kopfstütze vorbei musterte sie sein Profil. Noch immer wusste sie nicht viel über den Mann, der seit zwei Monaten ihr Gehalt zahlte. Nur, dass Olav sich mit unermüdlichem Fleiß bis in die Konzernspitze hochgearbeitet hatte. Ein bescheidener Mann, ruhig und freundlich, wenn auch auf eine distanzierte Art.

Der Pförtner hob grüßend die Hand, als sie das Tor passierten, während Irina noch einmal den Gurt von Troys Kindersitz überprüfte.

Maribel quittierte ihre Gründlichkeit vom Beifahrersitz aus mit einem flüchtigen Lächeln. Dann zog sie ihre Strickjacke enger um den Körper, lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Doch ihre Haltung wirkte alles andere als entspannt. Irinas Blick streifte die langen, feingliedrigen Finger, die aussahen, als ob sie verknotet wären. Dabei lebte Maribel eigentlich nur für die Wochenenden. Wenn sie in der Stadt waren, verließ sie kaum das Haus. Doch sobald es nach Riversteen ging, blühte sie regelrecht auf. Nur nicht heute, dachte Irina, und irgendetwas an dem Gedanken bereitete ihr Unbehagen.

Nach und nach blieben die Lichter der Großstadt hinter ihnen zurück, und Himmel und Meer rückten näher zusammen.

Aus Troys Kopfhörer drangen leise Musikfragmente. Als Irina sah, dass er schlief, nahm sie ihm den Kopfhörer ab.

Auf der Küstenstraße fiel ihr auf, dass Olav regelmäßig in den Rückspiegel blickte. Sie drehte den Kopf und entdeckte in einiger Entfernung ein bläuliches Scheinwerferpaar. Doch der Wagen war zu weit entfernt, als dass sie etwas erkennen konnte. Trotzdem verstärkte das blaue Licht das Gefühl des Unbehagens, das ihr folgte wie ein Schatten, den sie einfach nicht abschütteln konnte.

Mach dich nicht lächerlich, schalt sie sich. Es ist nichts. Er ist nur gestresst, weil die Berichtsaison ansteht. Und Maribel ist besorgt wegen Troys Hüfte. Nichts weiter … Irina atmete tief durch und ließ ganz bewusst ein paar Minuten verstreichen. Dann schaute sie abermals über ihre Schulter.

Die Scheinwerfer waren verschwunden.

Als sie wieder nach vorn sah, blickte ihr Olav aus dem Rückspiegel heraus direkt in die Augen. Einen kurzen Moment lang verhakten sich ihre Blicke. Dann sah er wieder auf die Straße.

Er hat Angst, stellte Irina verwundert fest, und automatisch suchten ihre Augen den Maxi-Cosi, den sie wie immer zwischen sich und Troys Kindersitz auf der Rückbank befestigt hatte.

„Sie haben Medizin studiert?“, hatte Maribel sie gefragt, nachdem sie Irinas Lebenslauf überflogen hatte. „Schwerpunkt Pädiatrie?“

„Das ist korrekt“, hatte Irina geantwortet. Und vorsichtshalber hinzugefügt: „Aber leider nicht zu Ende.“

Sie hatte fest damit gerechnet, dass Maribel sie nach dem Grund für den Abbruch fragen würde. Immerhin hatte ihre Unterhaltung bis zu diesem Moment eher einem Kreuzverhör als einem Vorstellungsgespräch geglichen. Doch ihre künftige Arbeitgeberin war mit keiner Silbe auf das abgebrochene Studium eingegangen.

„Warum wollen Sie weg aus Deutschland?“, hatte sie stattdessen gefragt.

Und Irina hatte beschlossen, ihr reinen Wein einzuschenken. Selbst auf die Gefahr hin, sich damit für den Job, den sie so dringend brauchte, ein für allemal zu disqualifizieren. Seltsamerweise hatte ihr Geständnis das genaue Gegenteil bewirkt.

„Sie können morgen anfangen“, hatte Maribel gesagt und Irina dabei zum ersten Mal ihr seltenes Lächeln geschenkt. „Siebenhundert Dollar die Woche. Freie Kost und Logis. Vier Wochen bezahlter Urlaub pro Jahr. Einverstanden?“

Irina hatte genickt und selbst, als sie längst wieder auf der Straße gestanden hatte, war sie noch überzeugt gewesen, zu träumen. Sie war ganz und gar nicht daran gewöhnt, dass irgendetwas in ihrem Leben einfach glattging. Und noch immer ertappte sie sich dabei, nach dem versteckten Haken zu suchen. Nach etwas, das faul war an diesem Job, dieser Chance, die sich ihr so unerwartet geboten hatte.

Doch das Vorstellungsgespräch mit Maribel lag inzwischen neun Wochen zurück und Irina konnte sich über die Arbeit wahrhaftig nicht beklagen. Neben ihr gab es eine Sekretärin, eine Haushälterin und mehrere Putzfrauen. Und selbst in Riversteen hatten sie eine Angestellte, die kochte und sauber machte, sodass Irina über die Beaufsichtigung der Kinder hinaus nicht viel zu tun hatte.

Wie aufs Stichwort wurde Tony neben ihr plötzlich unruhig. Die kleinen Füßchen zappelten durch die klimatisierte Fahrgastzellenluft und gleich darauf begann das Baby leise zu wimmern.

„Irgendwas nicht in Ordnung?“, fragte Maribel mit einem Anflug von Sorge.

„Sieht nach Übelkeit aus“, konstatierte Irina, während sie routiniert Tonys Stirn und anschließend auch den Bauchraum des Babys betastete.

„Vielleicht sollten wir kurz anhalten“, schlug Maribel vor. „Bei Troy hat frische Luft immer geholfen.“

Olav verzog das Gesicht. Er brachte die hundertsechzig Kilometer nach Riversteen am liebsten so schnell wie möglich hinter sich.

Als ob auch er auf der Flucht wäre, dachte Irina. Hinzu kam, dass es auf diesem Straßenabschnitt nur wenige Haltemöglichkeiten gab. Jenseits der Fahrbahn fiel die Küste steil zu den Klippen hin ab. Und auf der gegenüberliegenden Seite gab es nur einen winzigen Randstreifen.

„Da vorn“, sagte Maribel.

Olav gab ein resigniertes Stöhnen von sich und steuerte eine staubige Haltebucht auf der Meeresseite an. Zahllose Reifenspuren verrieten, dass hier über Tag Touristen hielten, um Fotos zu machen. Doch jetzt, um kurz vor elf, war der Aussichtspunkt verwaist.

„Lassen Sie nur“, sagte Irina, als sie sah, dass Maribel nach ihrem Mantel griff. „Tony und ich gehen ein paar Schritte auf und ab. Und wenn das nicht hilft, habe ich Vomex im Kofferraum.“

Maribel nickte und griff nach ihrer Thermosflasche, die Tag und Nacht heißen Kaffee enthielt.

Irina nahm das Baby aus seinem Sitz und hörte, wie sie zunächst Olavs und anschließend ihren eigenen Becher füllte. Dann schnappte die Tür des Lexus hinter ihr ins Schloss und das Plätschern des Kaffees verstummte wie abgeschnitten.

Die frische Seeluft ließ Irina frösteln, aber nach all den Klimaanlagen der letzten Tage genoss sie die Extraportion Sauerstoff. Und auch Tony wurde augenblicklich ruhiger. Irina zupfte die cremeweiße Decke zurecht, die wie eine Kapuze um das kleine Köpfchen lag, und ging dann mit schaukelnden Bewegungen auf den Mülleimer am Ende der Haltebucht zu. Dahinter erhoben sich ein paar windzerzauste Büsche in den Nachthimmel, und über dem Ozean glitzerte ein Meer an Sternen.

Gott sei Dank, dachte Irina, ohne recht zu wissen, was sie damit meinte. Dann ging sie weiter.

Neben dem Mülleimer lag etwas auf dem Boden, das wie ein kaputtes Stofftier aussah. Neugierig trat Irina darauf zu. Im selben Moment riss ein Knall die nächtliche Stille in Stücke. Nur Sekundenbruchteile später fegte eine Welle von Hitze über sie hinweg.

Die Wucht der Detonation riss Irina von den Füßen, und instinktiv drehte sie sich so, dass ihr Körper das Baby beschirmte. Glühende Splitter bohrten sich in ihre Waden und Oberschenkel, ringsum prasselten Funken nieder und aus dem völlig zerfetzten Lexus schlugen meterhohe Flammen.

Ein Sprengsatz! Die Erkenntnis zuckte durch Irinas Bewusstsein wie ein Feuerball. Und voller Entsetzen stellte sie fest, dass sie nicht überrascht war. Olav und Maribel waren ihre Zuflucht gewesen. Ihre buchstäblich allerletzte Chance auf ein halbwegs normales Leben. Und doch hatte sie die ganze Zeit über gespürt, dass etwas nicht stimmte. Dass von irgendwoher Gefahr drohte. Tödliche Gefahr …

Sie rappelte sich auf und blinzelte durch den dichten Ascheregen zur Straße. Die Hitze der Explosion hatte ihr die Wimpern versengt und von ihrer Stirn tropfte Blut auf die cremeweiße Babydecke. Aber all das nahm Irina nur ganz am Rande wahr, denn just in diesem Augenblick tauchte hinter der Biegung der Lichtkegel von Scheinwerfern auf.

Zwei kühle blaue Lichtkleckse im Dunkel der Nacht.

Voller Panik begann Irina zu kriechen, rückwärts, das Baby fest an sich gepresst. Wie weit bis zum Mülleimer? Den Büschen? Dem Abgrund? Ihre Beine fühlten sich taub an und die Haut an ihrer rechten Hand hing im wahrsten Sinne des Wortes in Fetzen. Aber sie hatte keine Wahl. Wenn sie nicht auf der Stelle unsichtbar wurden, waren sie tot. Sie und das Baby.

Irina fühlte die Wärme des kleinen Körpers durch den Stoff ihrer Bluse und flüsterte Tony ein paar beruhigende Worte ins Ohr. Dann kroch sie weiter, bis am Rande ihres Gesichtsfeldes endlich das kaputte Stofftier auftauchte. Es war eine Ente mit blaugrünem Gefieder. Sie hatte ein Loch dort, wo eigentlich der Schnabel sein sollte, und an der Seite des Spielzeugs klebte eine milchige Substanz. Joghurt vielleicht …

Nimm es mit! Lass es auf gar keinen Fall dort liegen!

Nichts darf seine Aufmerksamkeit erregen.

Irinas Finger gruben sich in den zerschlissenen Stoff, während ihre überwachen Sinne den Geruch faulender Lebensmittel registrierten. Rostiges Metall, zersetzt vom Salz des Ozeans. Verstreute Glasscherben. Eine davon bohrte sich in ihren Oberschenkel, als Irina sich mit letzter Kraft hinter den stinkenden Abfallbehälter schob und hastig die Beine nachzog.

Das blaue Licht hatte unterdessen den Lexus erreicht. Der Wagen stoppte. Kurz darauf trat eine Gestalt aus dem Dunkel hinter den Scheinwerfern. Sie verharrte einen Augenblick neben dem brennenden Wrack, als müsse sie sich explizit davon überzeugen, dass das zerstörerische Werk tatsächlich vollbracht war. Dann drehte sie plötzlich den Kopf und blickte in Irinas Richtung.

Irina erstarrte.

Er hat mich gesehen!

Er MUSS mich gesehen haben!

Wir sind verloren.

Das Baby spürte ihre Angst und begann zu weinen, doch Irina hielt ihm den Mund zu. In ihren Wunden pochte das Blut, während die Luft um sie herum immer dicker wurde. Es war, als versuchte sie, Teer zu atmen. Zugleich blitzten vor ihrem inneren Auge Bruchstücke von Erinnerungen auf: Maribel am Kamin. Der Duft von frischem Stockbrot und Kaffee. Das kleine, blau lackierte Boot, mit dem sie hin und wieder zum Angeln rausfuhren. Und vor dem Haus eine Kinderschaukel …

Irina begann zu zittern. Unkontrolliert. Wild.

Eilig sah sie wieder Tony an. In den klaren Babyaugen spiegelte sich der Widerschein der Flammen, die in ungebremster Wut über den Nachthimmel leckten.

„Sei still“, flüsterte Irina beschwörend. „Er darf uns nicht finden.“

Sie presste die Stirn gegen den rostigen Abfalleimer und lauschte dem Schlag ihres Herzens. Oder war es der Herzschlag des Babys? Sie wusste es nicht.

Irgendwann hörte sie, wie der Fahrer einstieg und den Wagen zurücksetzte. Nur Sekunden später krachte Blech auf Blech.

Irina schob den Kopf um die Ecke und sah gerade noch, wie der Lexus über die Klippe stürzte. Das Kreischen von Metall auf den schroffen Steinen dröhnte wie ein letzter verzweifelter Hilferuf aus dem Abgrund herauf.

Dann war es von einer Sekunde zur anderen totenstill. Nur das Flattern des Windes war zu hören. Das Flattern des Windes und das Motorengeräusch eines teuren SUV, der sich zügig vom Ort des Geschehens entfernte.

ERSTER TEIL

Dreiundzwanzig Jahre später …

1

Frankfurt am Main, Wahlkreisbüro von Lorna Hoogstraat

Margit Klug hatte den Jungen nicht hereinkommen gehört. Nur deshalb zuckte sie zusammen, als er plötzlich vor ihr stand. Er trug ein dunkelblaues Basketballshirt mit einer aufgedruckten Vierzehn und seine Augen leuchteten ihr aus dem Halbdunkel des Vorraums entgegen wie zwei glühende Kohlen. Automatisch blickte Margit an ihm vorbei, zur Tür. Aber da war niemand. Keine Begleitperson. Kein Erwachsener. Nur der Junge … Vielleicht hatte er sich in der Tür geirrt.

„Kann ich dir helfen?“, fragte sie.

Der Junge hielt ihr ein Päckchen von der Größe eines Schuhkartons entgegen. „Ich soll das hier abgeben.“

Margits Augen scannten die Schachtel. „Was ist das?“

„Keine Ahnung.“ Er zuckte die Achseln. „Ich soll’s nur abgeben.“ Auf dem Schreibtisch hinter dem Tresen begann das Telefon zu klingeln.

„Warte kurz“, sagte Margit und nahm den Anruf entgegen. Sie spürte die Blicke des Jungen in ihrem Rücken, als sie sich abwandte.

„Cornelia Sudek nochmal, Hessischer Rundfunk“, meldete sich eine angenehm dunkle Frauenstimme. „Ich wollte fragen, ob Sie denn inzwischen schon Gelegenheit hatten, mit Frau Hoogstraat über das geplante Porträt …“

Margit klemmte das Telefon zwischen Ohr und Schulter fest und angelte den Ausdruck einer E-Mail aus dem obersten Fach ihrer Postablage. Die Anfrage der Reporterin war erst zwei Stunden alt und komplett in Rot geschrieben. Ein Umstand, der Margit gleich auf den ersten Blick gegen die Absenderin aufgebracht hatte.

„Ich habe Ihre Mail umgehend an Frau Hoogstraats persönliche Referentin weitergeleitet“, fiel sie der Journalistin freundlich, aber bestimmt ins Wort. „Und ich gehe davon aus, dass sich Frau Dorn zeitnah bei Ihnen melden wird.“

Doch ihre Gesprächspartnerin war viel zu erfahren, um sich mit vagen Versprechungen hinhalten zu lassen.

„Ich brauche Frau Hoogstraats Zusage bis spätestens acht“, erklärte sie in bemerkenswert gleichgültigem Ton. „Sonst ist da leider gar nichts mehr zu machen.“

„Ich gebe es weiter“, versprach Margit, aber Cornelia Sudek hatte die Verbindung bereits unterbrochen.

Arrogante Kuh!

Margit seufzte und drückte die Kurzwahl von Vicky Dorn. Doch leider meldete sich abermals nur die Mailbox. Schicksalsergeben trat Margit an den Computer und rief die E-Mail auf, die sie Vicky vor knapp zwei Stunden geschrieben hatte. Sie versah die Nachricht mit einem zusätzlichen Ausrufezeichen und dem Vermerk: EILT. Dann klickte sie auf ERNEUT SENDEN und drehte sich wieder zu dem Jungen im Basketballshirt um. Doch der Raum vor der Theke war leer.

Margit ging langsam zur Tür, die sperrangelweit offen stand, und blickte die Straße entlang. Der Bürgersteig war regennass und die meisten Autos fuhren bereits mit Licht. Gleich um die Ecke begann das Bankenviertel, von wo aus Männer und Frauen in steifer Businesskleidung ihrem wohlverdienten Feierabend entgegeneilten. Doch von dem Jungen im Basketballshirt war weit und breit nichts mehr zu sehen.

Kopfschüttelnd kehrte Margit zur Theke zurück und betrachtete das Päckchen, das sie dort abgelegt hatte. Es war an das „Wahlkreisbüro Lorna Hoogstraat“ adressiert, frankiert und gestempelt, was Margit angesichts der Umstände irgendwie merkwürdig fand. Aber vielleicht war der Junge der Sohn eines DHL-Fahrers, der rasch aus dem Wagen sprang und kleinere Sendungen abgab, während sein Vater in zweiter Reihe hielt.

Sie hob das Päckchen an und schüttelte es vorsichtig hin und her. Es war überraschend leicht und hatte eine Aufreißhilfe, wie Margit sie von den Kartontaschen kannte, in denen sie Flyer und andere Drucksachen erhielten. Doch das Allermeiste lief heutzutage ohnehin digital. Ganz anders als früher, dachte Margit mit einem Anflug von Wehmut. Sie war vierundfünfzig und hatte bereits für zwei Ministerpräsidenten und mehrere Bundestagsabgeordnete gearbeitet. Früher hatten sie waschkörbeweise Briefe und Päckchen bekommen – vom selbst gebackenen Kuchen bis zu Tierkadavern. Doch heute kamen selbst die Morddrohungen in aller Regel per E-Mail. Und manchmal waren sie sogar unterschrieben …

Margit drehte das Päckchen um und zog an der Aufreißhilfe.

Das Letzte, was ihr Gehirn registrierte, war der ohrenbetäubende Knall, der ihre Trommelfelle platzen ließ. Dann wurde es schlagartig finster.

2

Ehemaliger Truppenübungsplatz nahe St. Augustin

Helena Steen, genannt „Hel“, versuchte, ihren Atem unter Kontrolle zu bringen. Nicht die leichteste Aufgabe, wenn man gerade zehn Kilometer Waldlauf in fünfunddreißig Minuten hinter sich hat. Aber sie durfte sich keinen Fehlschuss erlauben. Die Ergebnisse von heute flossen in ihre Quartalsbeurteilungen ein. Ihr Haar war nass vom Nieselregen und zwischen den künstlich aufgeschütteten Hügeln hingen Schleier von Feuchtigkeit. Die Bunkeranlage stammte noch aus Zeiten, in denen sich die Amerikaner nicht ausschließlich auf sich selbst konzentriert hatten. Seither rottete sie mehr oder weniger ungehindert vor sich hin. Durch die Sohlen ihrer Sneakers konnte Hel den bröckligen Asphalt fühlen.

Ihr Ziel befand sich direkt vor dem Eingang des Bunkers mit der Nummer Neunzehn. Drei Scheiben, auf unterschiedlichen Höhen platziert. Keine von ihnen hatte mehr als dreißig Zentimeter Durchmesser. Links von ihr pfiff bereits das erste Projektil durch die Luft. Mark Bender – topfit, arrogant und einer ihrer schärfsten Konkurrenten – war ihr bereits wieder einen Schuss voraus. Hels Unterlid zuckte. Dann kam ihr Körper schlagartig zur Ruhe.

Ausatmen. Fixieren. Schuss eins.

Die Scheibe war zu weit entfernt, als dass sie das Ergebnis hätte erkennen können. Aber sie hatte ein gutes Gefühl.

Also dann … Schuss zwei.

Wiederum war Mark Bender eine Millisekunde schneller. Aber es kam nicht allein auf Geschwindigkeit an, sondern auch auf Präzision.

Hel gönnte sich einen weiteren tiefen Atemzug. Dann krümmte sich ihr Zeigefinger erneut um den Abzug ihrer HK USP 45 Tactical.

„Danke, das war’s“, schepperte es gleich darauf aus dem Megafon ihres Übungsleiters. „Die Ergebnisse finden Sie morgen früh in Ihrem Postfach.“

Hel ließ die Waffe sinken, wischte sich mit dem Ärmel ihrer Trainingsjacke den Schweiß von der Stirn und trabte dann in gemäßigtem Tempo Richtung Umkleide.

Wie immer waren Bonnie und sie in dem unbeheizten Waschraum unter sich.

„Und?“, fragte Bonnie, die bereits wieder Jeans und T-Shirt trug. „Wie ist es gelaufen?“

„Geht so“, antwortete Hel.

„Das sagst du immer“, versetzte Bonnie. „Und dann bist du wieder bei achtundneunzig Prozent.“

„Ich war noch nie bei achtundneunzig Prozent“, widersprach Hel. Doch da war ihre Freundin bereits aus der Tür.

Seit ein paar Tagen war die Stimmung zwischen ihnen spürbar angespannt, obwohl sie sich eigentlich von Beginn an gut verstanden hatten. Und inzwischen hatte Hel das Gefühl, dass Bonnie ihr systematisch aus dem Weg ging.

Ich sollte endlich lernen, meine Klappe zu halten, dachte sie und stopfte ihre verschwitzten Sachen in die dunkelblaue Sporttasche mit dem Logo der Bundespolizei. Im selben Moment meldete sich ihr Smartphone. Hel warf einen Blick auf das Display.

„Hi Leo.“

„Wo steckst du?“

Sie lachte. „Du klingst wie eine eifersüchtige Ehefrau.“

Am anderen Ende der Leitung machte sich ratloses Schweigen breit. Als Asperger-Autist hatte ihr Mitbewohner schon von Haus aus gewisse Schwierigkeiten beim Erfassen und Verarbeiten von ironischen Bemerkungen. Und da Hel sich selbige aus Rücksicht auf ihren Seelenfrieden in den letzten Monaten konsequent verkniffen hatte, brachte ihre Antwort Leo gleich doppelt ins Schleudern.

„Ich bin noch auf dem Schießplatz“, schob sie eilig hinterher.

Leo gab ein erleichtertes Brummen von sich. „Ah.“

„Soll ich Essen mitbringen?“

„Hm.“

Hel stutzte. „Sonst noch ein Grund, warum du mich anrufst?“

Sein Zögern ließ in ihr augenblicklich sämtliche Alarmglocken schrillen, obwohl Leo sich auch sonst nur äußerst sparsam mitteilte. Die ersten drei Wochen des Zusammenlebens in ihrer kleinen WG hatten sie mehr oder weniger schweigend verbracht. Doch zu Beginn der vierten Woche war Leo eine kurzfristige Veränderung in Hels Whatsapp-Frequenz aufgefallen, die ihn veranlasst hatte, sein Schweigen zu brechen.

„Was is?“, hatte er über den Rand seines Bildschirms hinweg gefragt, nachdem Hel kurz nach dem Frühstück bereits die dritte Nachricht an diesem Morgen erhalten hatte.

„Nichts“, hatte sie lächelnd entgegnet. „Alles bestens.“

Leos wasserblaue Augen waren misstrauisch zwischen ihr und ihrem Smartphone hin und her gewandert. Und irgendwann hatte Hel es nicht länger übers Herz gebracht, ihn zappeln zu lassen: „Ich habe heute Geburtstag.“

Leos Antwort auf ihre Eröffnung hatte „Okay“ gelautet. Aber am Abend, als Hel von ihrem Forensiklehrgang in das kleine Zweizimmer-Apartment zurückgekehrt war, hatte sie einen Schokoriegel auf ihrem Nachtschrank vorgefunden. Sogar einen mit weißer Schokolade, obwohl sie nie erwähnt hatte, dass sie die am liebsten aß.

Seit damals wusste sie, dass sie gern mit Leo zusammenwohnte.

„Komm schon“, drängte sie, als ihr sein Schweigen zu lange dauerte. „Sag mir, was los ist!“

„Das Krankenhaus hat angerufen.“

Hels Finger schlossen sich fester um das Smartphone. „Wer?“, fragte sie nur.

„Mira.“

Sie schluckte, obwohl sich damit im Grunde nur bestätigte, was sie bereits erwartet hatte: Erst gestern hatte Miras Mutter sie angerufen und stolz berichtet, dass es ihrer Tochter endlich besser ginge. Die Schmerzen seien so gut wie weg, und Mira habe sogar ein halbes Brötchen gegessen. Zum ersten Mal seit Wochen … Hels Augen wanderten zu den beiden schmalen Fenstern, die unter der Decke des Waschraums klebten wie zwei Schießscharten. Sie kannte Miras Krankenakte, und ihr war klar gewesen, dass die Befunde der Achtjährigen keinerlei Verbesserung erhoffen ließen. Zugleich wusste sie aus Erfahrung, dass sich der Zustand vieler Patienten unmittelbar vor dem Tod noch einmal signifikant verbesserte. Daher hatte sie nach dem Gespräch mit Miras Mutter bereits geahnt, was ihnen bevorstand. Trotzdem traf sie der Schmerz mit voller Wucht.

Warum kann ich mich nicht einfach mal irren?, dachte sie, während ihr Tränen, die sie nicht weinen wollte, aus den Augen platzten. Am anderen Ende der Leitung ließ Leo derweil ein nervöses Räuspern hören.

„Alles klar?“, fragte er vorsichtig.

„Sicher“, sagte Hel und wischte eilig die Tränen weg. „Ich bin in einer halben Stunde zu Hause.“

Sie unterbrach die Verbindung, bevor ihr Mitbewohner noch irgendetwas entgegnen konnte. Dann putzte sie sich die Nase, verstaute ihre Waffe und verließ die Umkleide.

3

Landsitz Vintergaarden, Südschweden

Wer das schmiedeeiserne Tor von Vintergaarden passiert, hat augenblicklich das Gefühl, die Realität zu verlassen: Uralte Kastanien werfen ihre langen, tiefdunklen Schatten über die Auffahrt, und selbst die Hecken sind an manchen Stellen mehr als vier Meter hoch. Dazwischen kann man hier und da einen Springbrunnen oder eine Laube erahnen. Hinter dem Haus, das im Stil des Klassizismus erbaut wurde, befindet sich ein Swimmingpool ohne Wasser. Lediglich ein paar Pfützen stehen auf dem Grund, und zwischen den wertvollen Mosaiken klebt Laub. Über dem gesamten Areal liegt eine tiefe, unwirkliche Stille. Sie dringt durch das geöffnete Fenster im ersten Stock und hüllt den Mann auf dem Bett in einen Kokon trügerischen Friedens.

Doch Heinrich Mogendorf lässt sich nicht täuschen. Nicht mehr.

Glaubst du an Zufall?

Seine Augen suchen das Foto über dem Kamin. Das letzte, ganz rechts. Die Aufnahme zeigt ein junges Ehepaar. Die Frau ist hochschwanger, ihr kleiner Sohn klammert sich scheu an das Bein seines Vaters. Der Junge ist dunkelhaarig wie seine Mutter. Und auch die tiefbraunen Augen hat er von Mutter und Großmutter geerbt. Die gleiche Schönheit, denkt Mogendorf, und wenn er noch lächeln könnte, würde er es tun. Manchmal, wenn er die Augen schließt, sieht er Troy wieder über die Wiese tollen. Die kurzen Beinchen fest gegen die Pedale seines roten Dreirads gestemmt. Ausgelassen. Lebendig. Und doch für immer verloren …

Sein Blick wandert weiter zu dem fahrbaren Computertisch, der in der Ecke neben dem Fenster steht. Rechner und Bildschirm sind sorgsam mit passenden Plastikhüllen versehen. Immerhin hat die Anlage den Wert eines Einfamilienhauses – ein Wunderwerk der Technik, das Beste, was derzeit auf dem freien Markt zu haben ist. Mogendorfs Augen füllen sich mit Tränen der Wut. Er sieht zu, wie sie vom Rand seiner Wimpern auf sein akkurat gebügeltes blaues Hemd fallen.

„Ziehen Sie ihn an, als ob er ins Büro müsste“, lautet die Anweisung, die Mascha tagtäglich gewissenhaft befolgt, weil sie plausibel ist.

Mascha kennt ihn gut. Beinahe ihr ganzes Leben hat sie in seinen Diensten gestanden. Sie hat seine Hemden gebügelt und seine Gäste bewirtet. Sie weiß ganz genau, wie er tickt. Und den Tag in einem gebügelten Hemd zu verbringen, selbst wenn man sich in seinem Zustand befindet, entspricht dem Bild, das sie sich in zweiundvierzig Jahren von ihrem Arbeitgeber gemacht hat.

Wie perfide, denkt er bitter. Es bedurfte vieler solcher Wahrheiten, um die eine Lüge verkaufen zu können: Dass er seinen Computer nicht mehr will. Dass es ihn aufregt, zu kommunizieren. Dass er seine Ruhe haben möchte. Ironischerweise hat er nach exakt demselben Prinzip früher seine Geschäfte gemacht. Viel Geld investieren und bewusst auf Vorteile verzichten, um Glaubwürdigkeit aufzubauen. Und alles nur, damit man seinen Geschäftspartner im entscheidenden Augenblick umso leichter über den Tisch ziehen kann. Auf lange Sicht zu planen – darin ist er einer der Besten gewesen. Dass sich seine Fähigkeiten vererbt haben könnten, ist ihm freilich nie in den Sinn gekommen.

Auch so ein Versäumnis …

Seine Augen suchen die Beule in der Abdeckung, unter der sich die Retina-Steuerung befindet. Der Computer ist seine letzte Hoffnung gewesen. Der letzte Strohhalm, den er mit ein wenig Glück vielleicht hätte zu fassen bekommen können. Aber jetzt steht die Anlage unbenutzt in der Ecke und Mascha ist unerreichbar geworden, obwohl sie ihm nach wie vor mehrmals täglich so nahe kommt, dass kein Blatt mehr zwischen ihre Körper passt.

Glaubst du an Zufall?

Nein, denkt er. Tue ich nicht. Nicht mehr …

Vor dem Fenster frischt der Wind auf. Hin und wieder kommt eine Amsel auf das Sims und blickt mit schief gelegtem Kopf zu ihm herein. Es ist immer dieselbe, soweit er das beurteilen kann, und von Zeit zu Zeit fragt er sich, was sie von ihm will.

Als er die Schritte hört, sind sie bereits auf der Treppe. Sein Puls beschleunigt sich. Dabei war er nie besonders schreckhaft. Trotz allem.

Ruhig Blut, ruft er sich ärgerlich zur Ordnung. Vermutlich ist es nur der Arzt. Aber warum hat er in diesem Fall den Wagen nicht gehört? Seine Ohren funktionieren nach wie vor gut. Überdurchschnittlich gut sogar, wenn man den Ärzten glaubt. Was eigentlich kein Wunder ist. Wer nicht sprechen kann, muss hören …

Er sieht die Tür an und beginnt zu zittern. Aber selbst das geschieht ohne Beteiligung seiner Muskeln.

4

Ehemaliger Truppenübungsplatz nahe St. Augustin

Auf dem Weg zum Parkplatz fing es wieder an zu regnen. Die Tropfen mischten sich mit den Resten von Hels Tränen, aber ansonsten hatte sie sich wieder im Griff. Trotzdem blitzte hier und da Miras Gesicht zwischen den Stämmen der Bäume auf, als sie die lange, von Pfützen übersäte Zufahrt hinunterging. Das zarte Kindergesicht mit den brennenden Augen, die so unfassbar freudig geleuchtet hatten, wann immer Hel in ihrem Clownkostüm durch die Tür getreten war …

Die meisten ihrer Kameraden hatten die Anlage bereits verlassen.

Hels Discovery stand mutterseelenallein unter den tief hängenden Zweigen einer Buche. Sie zerrte den Autoschlüssel aus der Tasche, als sie hinter sich ein Motorengeräusch hörte. Hel drehte den Kopf und sah eine gepanzerte Limousine, die ihr vom Trainingsparcours her entgegenkam. Da die Zufahrt an dieser Stelle sehr schmal war, wich sie auf den Grasstreifen aus. Doch der Fahrer hatte nicht vor, sie zu überholen.

Hel fühlte die Wärme der Motorhaube durch den Stoff ihrer Jeans, als der Wagen direkt neben ihr zum Stehen kam. Gleich darauf öffnete sich die hintere Seitentür.

„Steigen Sie ein!“

Hel linste in den Fond. Sie war Erin Weisz bislang nur ein einziges Mal begegnet, auf dem Hauptstadtempfang ihrer Behörde letzten Herbst. Aber natürlich hatte die Direktorin der Dienststelle Personenschutz Inland bei dieser Gelegenheit nicht die geringste Notiz von ihr genommen. Hel hingegen kannte sämtliche Geschichten, die über Erin Weisz im Umlauf waren. Die wenigsten davon waren schmeichelhaft.

„Irgendwas nicht in Ordnung?“, fragte sie mit einem Anflug von Sorge.

Erin schenkte ihr ein Lächeln, das irgendwo auf dem Weg zu ihren Augen stecken blieb. Sie trug ein schlichtes dunkelblaues Businesskostüm und duftete dezent nach Hermès.

„Steigen Sie ein“, wiederholte sie. Dieses Mal mit unüberhörbarem Nachdruck.

Zögernd glitt Hel auf den Rücksitz. Kaum dass die Tür ins Schloss gefallen war, gab der Fahrer Gas.

„Sie haben vor Kurzem an einem JAMAM-Lehrgang in Tel Aviv teilgenommen“, begann Erin ohne jede Einleitung. „Evakuierung von Schutzpersonen aus Fahrzeugkonvois und anderen High Risk Zones.“

„Es war nicht direkt die JAMAM“, beeilte sich Hel klarzustellen. „Eher eine nachgeordnete Aufklärungseinheit.“

„Die Beurteilung Ihrer Ausbilder dort ist sehr positiv ausgefallen“, fuhr die Direktorin fort, ohne auch nur mit einer Silbe auf Hels Einwand einzugehen. „Und auch sonst erzielen Sie durchweg überdurchschnittliche Ergebnisse.“ Ihre Augen streiften Hels Tasche. „Selbst beim Sport findet sich Ihr Name regelmäßig unter den oberen zehn Prozent.“

„Wir sind zweiundfünfzig im Jahrgang“, entgegnete Hel trocken. „Das bedeutet, dass allein in meiner Stufe regelmäßig fünf Leute besser abschneiden als ich.“

Erin Weisz schenkte ihr ein mitleidiges Lächeln. „Jetzt klingen Sie wie Ihr Freund Leo.“

Sie hatte ganz beiläufig gesprochen, aber Hel erfasste die Bedeutung der Bemerkung sofort. Natürlich war ihr klar, dass das bisschen Privatleben, das sie sich gönnte, für ihre Behörde ein offenes Buch war. Aber wenn die Direktorin der PSI wusste, welchen Umgangston sie mit ihrem Mitbewohner pflegte, wurde die Sache interessant!

„Warum bin ich hier?“, fragte sie so ruhig es ihre aufgewühlte Seelenlage erlaubte.

Die Direktorin antwortete mit einer Gegenfrage: „Wann haben Sie zum letzten Mal die Nachrichten gehört?“

„Vor zweieinhalb Stunden.“ Zu lange. Hel fühlte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Informiert zu sein, war ein wichtiger Teil ihrer Arbeit. Und normalerweise checkte sie gleich nach dem Training die Meldungen. Normalerweise …

Die erwartete Rüge blieb allerdings aus. Stattdessen hielt Erin Weisz ihr ein Tablet unter die Nase.

EILMELDUNG, las Hel in den Tickermeldungen von n-tv. ***ANSCHLAG AUF NACHWUCHSPOLITIKERIN IN FRANKFURT***BRIEFBOMBE VERLETZT MITARBEITERIN SCHWER***VERTRETER ALLER PARTEIEN ÄUSSERN BESTÜRZUNG***

Hel sah hoch. „Und die betroffene Politikerin ist …?“

„Lorna Hoogstraat.“

Das überraschte Hel. Zwar war Lorna Hoogstraat der unbestrittene Shootingstar der Politikszene: jung, tatkräftig und geradezu erschreckend schlagfertig. Jemand, dem man ohne weiteres zutraute, in absehbarer Zeit ein Ministerium zu leiten. Oder sogar das Kanzleramt. Doch bislang hatte Hel die toughe Brünette nicht als besonders polarisierend wahrgenommen. Eher im Gegenteil …

„Haben auch andere Politiker Sprengsätze erhalten?“, fragte sie, um Zeit zu gewinnen.

Erin schüttelte den Kopf. „Nur Lorna Hoogstraat.“

„Gibt es ein Bekennerschreiben?“

„Bislang nicht.“

Hels Blick suchte wieder das Tablet. „Aber Frau Hoogstraat war nicht in der Nähe, als die Bombe detonierte, oder?“

Die Direktorin verneinte. „Sie hielt sich zum fraglichen Zeitpunkt in der Lichtigfeld-Schule auf, wo sie an einer Podiumsdiskussion zum Thema „Antisemitismus und Globalisierung“ teilnahm.“

In Hels Kopf blitzte das Bild eines vierstöckigen Gebäudes auf: Kameras. Sicherheitszäune. Polizeiautos vor dem Eingang. Die üblichen Schutzmaßnahmen für jüdische Einrichtungen in Deutschland.

„Gibt es da einen Zusammenhang?“

„Wissen wir noch nicht“, winkte Erin ab. Dann griff sie in die Aktentasche zu ihren Füßen und zog ein daumendickes Schriftstück heraus. „Ich nehme an, Sie sind mit Frau Hoogstraats politischen Positionen vertraut?“

Die Frage war rein rhetorisch. Umfassend über das politische Geschehen informiert zu sein, gehörte schließlich zu ihrem Job. Aber Hel nickte trotzdem.

Erin nickte auch und blickte an Hel vorbei aus dem Fenster, wo der Wald mit jeder Minute finsterer wurde.

„Und wie würden Sie diese Positionen im Hinblick auf die aktuellen Geschehnisse bewerten?“

„Spontan fällt mir nichts ein, das Lorna Hoogstraat dazu prädestinieren würde, zur Zielfigur radikaler Kräfte zu werden“, antwortete Hel mit aller gebührenden Vorsicht.

„Sehr diplomatisch formuliert“, befand Erin mit einem süffisanten Lächeln. „Hoogstraats politische Gegner sind da übrigens weniger zurückhaltend. Sie behaupten, Lorna hätte nicht mal zur Frage ihres Lieblingsessens eine eigene Meinung. Was natürlich Unsinn ist. Aber wie so oft steckt zweifellos auch ein Körnchen Wahrheit in dieser Art von Gerede.“ Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück und schlug gelassen die Beine übereinander. „Apropos Gerede: Wissen Sie, wie mein Spitzname innerhalb der Behörde lautet?“

Der unerwartete Themenwechsel hebelte Hel einen Moment lang völlig aus.

Erin bemerkte es und lächelte. „Sie nennen mich den Aasgeier“, erklärte sie so sachlich, als verlese sie die Nachrichten. „Bezogen auf meine Fähigkeit, aus dem Scheitern sowohl meiner Gegner als auch meiner politischen Weggefährten Kapital zu schlagen. Wie lautet Ihrer?“

„Ich kümmere mich nicht darum, was andere sagen“, entgegnete Hel.

„Selbstverständlich tun Sie das“, widersprach Erin. „Und Sie wissen sehr genau, wie Ihre Kommilitonen Sie nennen, wenn Sie nicht in der Nähe sind.“

Hel blickte auf ihre Knie hinunter, die nass waren vom Regen. „Sie nennen mich Kassandra.“

„Ärgert Sie das?“

„Sollte es?“

„Die tragische Heldin, die das Unheil voraussieht und niemals Gehör findet …“ Erins Stahlaugen blitzten. „So gesehen ist der Name eigentlich unzutreffend, nicht wahr? Immerhin ist es eines Ihrer größten Probleme, dass man Ihnen sehr wohl Gehör schenkt. Denn das macht Sie automatisch zu der Spielverderberin, die Sie nicht sein wollen. Und darum setzen Sie sich nach Dienstschluss eine rote Nase auf und spielen den Clown für todkranke Kinder.“

Erin hatte sich keinen Millimeter bewegt und doch hatte Hel das Gefühl, dass die Direktorin ihr in den letzten paar Sekunden nähergekommen war. Und offenbar war sie noch lange nicht fertig mit ihr …

„Ihre Eltern sind kurz nach Ihrer Geburt bei einem Autounfall ums Leben gekommen?“, resümierte sie mit der Routine der berufsmäßigen Informationsbeschafferin. „Und Sie sind bei Ihrer Großmutter an der Nordsee aufgewachsen?“

„Ja, auf Borkum.“ Hel hatte sich angewöhnt, das immer gleich dazuzusagen. Nordsee – das assoziierten die meisten Menschen mit Hamburg. Einer Metropole. Doch in ihrem Fall sah die Wahrheit grundlegend anders aus.

„Mochten Sie das Inselleben?“

„Nein.“

„Warum nicht?“

„Es war mir zu eng.“

Ihre Ehrlichkeit entlockte Erin ein Lächeln.

Doch Hel hatte allmählich genug: „Können wir uns diesen ganzen Quatsch nicht einfach sparen?“, bat sie. „Ich meine, Sie wissen doch offensichtlich nur zu gut, wer ich bin.“

„Nein“, erwiderte Erin todernst. „Ich weiß nur, wo Sie herkommen.“

Hel stieß ein resigniertes Stöhnen aus und wandte den Blick ab. Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander und blickten in unterschiedliche Richtungen. Die Stille des Waldes vermittelte sich sogar über das leise Surren des Motors hinweg, und als sie wieder einmal schlucken musste, empfand Hel das Geräusch als unverhältnismäßig laut und störend.

Was, zur Hölle, will diese Frau von mir?, hämmerte es hinter ihrer Stirn. Was trieb die erfolgreichste Rekrutenwerberin der Behörde den weiten Weg aus Berlin hierher? Auf diesen verdreckten Übungsplatz mitten in der rheinischen Provinz?

Sie zuckte zusammen, als Erin Weisz neben ihr ruckartig den Kopf wandte.

„Sie haben die bemerkenswerte Fähigkeit, eine Geschichte zu Ende zu denken und sich dabei deren schlimmstmögliche Wendung auszumalen“, ließ sie sich zu erklären herab, als hätte sie Hels stumme Fragen gehört. „Eine Begabung, die viele Ihrer Mitmenschen vorschnell als notorische Schwarzseherei abtun. Einigen sind Sie direkt unheimlich, weil Ihre Prognosen – im Nachhinein betrachtet – fast wie Hellseherei daherkommen. Aber wenn Sie mich fragen, haben Sie einfach ein verdammt gutes Gespür für Dinge, die sozusagen in der Luft liegen. Nehmen wir nur Ihre Freundin Bonnie …“

Hels Finger krallten sich in das Leder der Sitzbank. Sie hatte immer mehr das Gefühl, dieses Gespräch nicht führen zu wollen. Aber ihr war auch klar, dass sie keine Wahl hatte. Erin Weisz war keine Frau, bei der man einfach Nein sagte. Also verkniff sie sich die Antwort, die ihr auf der Zunge lag, und bemühte sich um eine möglichst gleichmütige Miene zu Erins Vortrag.

„Bonnie verliebt sich in Manuel, einen ebenso erfolgreichen wie gut aussehenden Bauingenieur“, setzte diese derweil ihre Rede fort. „Er schlägt ihr vor, eine Woche in die Karibik zu fliegen, um sich besser kennenzulernen. Und natürlich ist die gute Bonnie außer sich vor Glück. Doch bevor sie zusagt, beschließt sie, ihre Freundin Kassandra um Rat zu fragen …“

„Ihr Fehler“, kommentierte Hel bitter.

„Oh, nein.“ Erin hob abwehrend die Hände. „Sie um Rat zu fragen, war das Vernünftigste, was Bonnie tun konnte.“

Hel verzog das Gesicht. „Das sieht Bonnie ganz offenbar anders.“

„Natürlich.“ Die Direktorin zuckte gelangweilt die Achseln. „Die meisten Menschen ertragen die Wahrheit nur, wenn Sie schmeichelhaft ist. Und das trifft, wie Sie wissen, nur in wenigen Ausnahmefällen zu. Aber haben Sie sich nie gefragt, warum man Sie trotzdem ständig um Rat bittet?“

„Nein“, versetzte Hel inbrünstig. „Ich habe nicht die leiseste Ahnung.“

„Ich denke, die Menschen erhoffen sich von Ihnen eine Art Absolution.“ Die Direktorin sah wieder aus dem Fenster. Ihr Gesicht war seltsam alterslos, obwohl sie – soweit Hel das beurteilen konnte – dem Eindruck in keiner Weise nachzuhelfen versuchte. Ihr Make-up war dezent und das naturblonde Haar von feinen Silbersträhnen durchzogen. „Wenn Sie zu Bonnie gesagt hätten: ‚Oh ja, flieg unbedingt auf die Malediven, dieser Manuel ist das Beste, was dir passieren kann‘, dann hätte sie es vielleicht geschafft, die mahnenden Stimmen in ihrem Kopf zum Schweigen zu bringen. Denn ob Sie’s glauben oder nicht: Die meisten Leute wissen tief in ihrem Inneren sehr genau, dass es höchst unklug wäre, zu tun, was ihnen gerade vorschwebt. Aber sie bringen einfach nicht die innere Stärke auf, sich selbst einen Riegel vorzuschieben.“ Sie griff wieder nach ihrem Tablet und rief ein Schriftstück auf. „Manuel Neubert“, las sie. „Zweifach geschieden, Vater eines ehelichen und zweier unehelicher Kinder, für die er rein theoretisch unterhaltspflichtig wäre, wenn ihm seine Spielsucht nicht einen Schuldenberg von 352.000,00 Euro eingetragen hätte.“ Sie sah wieder Hel an. „Da wäre ihm die Erbschaft, die Ihre Freundin Bonnie vor Kurzem gemacht hat, zweifellos sehr zupass gekommen, denken Sie nicht auch?“

Hel zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Von einer Erbschaft höre ich heute zum ersten Mal.“

„Ich weiß“, stellte Erin unsentimental fest. „Genau aus diesem Grund sind Sie hier. Denn Sie haben nicht nur alle Eventualitäten auf dem Zettel, sondern verfügen auch über Sensoren, die weit über das normale Maß eines gesunden Instinktes hinausgehen.“

„Aber was hat das alles mit dem Anschlag auf Lorna Hoogstraat zu tun?“, platzte es aus Hel heraus.

Die Direktorin wurde schlagartig ernst. „Das Attentat von heute markiert nur den vorläufigen Höhepunkt einer Entwicklung, die Lorna Hoogstraats Wahlkampfteam bereits seit geraumer Zeit beunruhigt“, erklärte sie, und ihre sorgfältig manikürten Finger glitten über die Akte, die noch immer zwischen ihnen lag. „Bis vor ein paar Wochen war Lorna den meisten Menschen in diesem Land trotz ihres Erfolges mehr oder weniger gleichgültig. Doch auf einmal schießen ihre Feinde wie Pilze aus dem Boden, ohne dass wir einen Grund dafür ausmachen können. Sie hat nichts gesagt oder getan, was sich nennenswert von ihren früheren Positionen abheben würde. Und die sind – wie Sie ganz richtig festgestellt haben – weder übermäßig polarisierend noch besonders spektakulär.“

„Dann geht es vielleicht um etwas Persönliches“, schlug Hel vor.

Die Direktorin kniff die Augen zusammen. „Ja. Vielleicht.“

„Haben Sie Lorna Hoogstraats Vergangenheit im Hinblick auf diese Möglichkeit durchleuchtet?“

„Ich dachte, das könnten Sie übernehmen.“ Erin reichte Hel die Akte und einen silbernen USB-Stick. „Hier drin steht alles, was wir bislang wissen. Und das ist, wie Sie feststellen werden, erstaunlich wenig für eine Frau, die achtundneunzig Prozent ihrer Zeit in der sogenannten Öffentlichkeit verbringt.“ Sie beugte sich vor und klopfte gegen die Glasscheibe, die sie von ihrem Fahrer trennte, woraufhin dieser den Wagen in einen nahen Waldweg lenkte, um zu wenden. „Auf dem Stick finden Sie auch ergänzendes Videomaterial: Hoogstraats Reden, Mitschnitte ihrer letzten Auftritte und dergleichen mehr.“

Hels Finger spielten mit dem USB-Stick. Das Ganze klang nach jeder Menge Fleißarbeit, und vermutlich würde Erin sie gnadenlos ausnutzen. Aber dieser Auftrag bot auch eine Chance. Und Hel hatte die Erfahrung gemacht, dass das eine selten ohne das andere zu haben war.

„Denken Sie, der Täter ist auf mediale Aufmerksamkeit aus?“, wandte sie sich wieder an ihre Gesprächspartnerin.

„Falls ja, hätte er sich die Falsche ausgesucht.“

„Wieso?“

„Weil Lorna Hoogstraats Berater mit Nachdruck darauf bestehen, die Bedrohung geheim zu halten.“ Die Direktorin nahm eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank neben ihrem Sitz und schraubte den Deckel ab. „Sie haben offenbar Angst, dass ihr Schützling zu ängstlich rüberkommt.“

Hel runzelte die Stirn. „Ist ängstlich denn allen Ernstes schlimmer als sorglos?“

„Ich schätze, Politiker sollten im Zusammenhang mit Bedrohungslagen eher Attribute wie unbeeindruckt ansteuern“, erwiderte Erin lächelnd. „Zumindest wenn sie in Erwägung ziehen, eines Tages ganz oben mitzuspielen.“ Sie setzte die Flasche an die Lippen und nahm einen Schluck. „Sie sind vom Unterricht freigestellt, solange es dieser Einsatz erfordert“, erklärte sie dann. „Unser Unterstützungsgesuch liegt Ihrem Vorgesetzten bereits vor. Die offizielle Begründung lautet: personelle Engpässe.“

„Aber ich befinde mich noch in der Ausbildung“, widersprach Hel. „Ich bin nicht qualifiziert für eine Aufgabe dieser Größenordnung.“

„Nur keine falsche Bescheidenheit, meine Liebe“, wischte Erin ihren Einwand mit einer knappen Geste vom Tisch. „Ihre Instinkte machen Sie zu einer idealen Kandidatin für den Job. Außerdem bekommen Sie einen erfahrenen Kollegen zur Seite gestellt, der sich um Frau Hoogstraats Sicherheit kümmert, während Sie sich in aller Ruhe Ihrer eigentlichen Aufgabe widmen.“

„Die da wäre?“

„Bezeichnen wir es der Einfachheit halber als Gefahrenanalyse.“ Die Direktorin tippte auf den Aktendeckel. „Studieren Sie die Vorgeschichte und begleiten Sie Lorna Hoogstraat ein paar Tage auf ihrer Wahlkampftour.“

„Und dann?“, fragte Hel.

„Schreiben Sie einen Bericht.“

„Das ist alles?“

Erin nickte. „Ja, das ist alles.“

Hel glaubte ihr kein Wort, aber sie hütete sich, das zu zeigen. „Wer sonst weiß von dem Einsatz?“

„Sie, ich, Ihr Vorgesetzter und der Kollege vor Ort“, zählte die Direktorin routiniert auf. „Ach ja, und natürlich Ihr Freund Leo, der Sie aus dem Hintergrund heraus als Analyst unterstützen wird.“

Der Gedanke, dass Leo mit von der Partie sein würde, beruhigte Hel ein wenig. „Wann fange ich an?“, fragte sie.

„Ein Fahrer wird Sie morgen früh um 6:30 Uhr zu Hause abholen. Um Punkt 9:00 Uhr treffen Sie sich in Frankfurt mit Lorna Hoogstraats Wahlkampfteam.“

„Brauche ich eine spezielle Legitimation?“

Die Direktorin griff abermals in ihre Aktentasche und zog eine ID-Card der PSI heraus. Auf der Vorderseite prangte Hels Foto. „Sie benutzen, wo immer es geht, Ihren normalen Dienstausweis, der Sie als Beamtin der Bundespolizei ausweist, und nur in Ausnahmefällen diese Karte“, mahnte sie. „Sollten Sie Zusatzinformationen benötigen, die Ihnen auf dem regulären Dienstweg nicht zugänglich sind, rufen Sie mich an.“ Sie reichte Hel ein nagelneues Smartphone. „Die Nummer ist vorinstalliert. Benutzen Sie das Gerät ausschließlich zur Kommunikation mit mir, Leo oder Ihrem Kollegen in Frankfurt. Alles andere lassen Sie über Ihr normales Diensthandy laufen, verstanden?“

Hel nickte.

„Ich erwarte Ihre erste Zusammenfassung bis morgen Abend, 22:00 Uhr.“

Der Wagen stoppte und Hel stellte überrascht fest, dass sie bereits wieder auf dem Parkplatz waren.

„Wir hören voneinander“, sagte Erin und zog die Autotür zu. Der Fahrer gab umgehend Gas.

Hel lauschte dem Knirschen des Schotters unter den Reifen und zog fröstelnd die Schultern hoch. Es regnete nicht mehr. Dafür war der Wind spürbar aufgefrischt. Der Wald ringsum knarrte und ächzte unter den Böen, die von Westen heranfegten. Und irgendwo in weiter Ferne glaubte Hel, den Ruf eines Käuzchens zu hören.

Bedeutete dergleichen nicht Unglück?

Sie sah den Rücklichtern der Limousine nach, bis sie in der Dunkelheit verschwunden waren. Erst dann stieg sie in ihren Wagen und fuhr nach Hause.

5

Frankfurt, Begegnungszentrum Nachtcafé e.V.

„Was ist denn da passiert?“

Das Mädchen in der Schlange vor ihm dreht den Kopf und glotzt ihn aus leeren braunen Augen an. Ihren Namen weiß er nicht. Nur, dass sie Chrystal Meth raucht und hin und wieder herkommt, um zu duschen.

„Hm?“

Anstelle einer Antwort deutet er auf den Fernsehbildschirm in der Ecke, wo ein Reporter mit ernster Miene in das Mikrofon eines überregionalen Fernsehsenders spricht. Auf seinem Gesicht flimmert der Abglanz von Blaulicht. Aber der Ton ist abgeschaltet. So wie immer.

„Dieser kleine Park, da im Hintergrund“, sagt er. „Ist das nicht der in der Herthauer Straße?“

Das Crystal-Meth-Mädchen blickt folgsam in die Richtung seines ausgestreckten Zeigefingers. Aber er bezweifelt, dass sie überhaupt irgendetwas wahrnimmt.

„Vergiss es“, murmelt er.

Das Mädchen macht einen Schritt vorwärts und er tut es ihr gleich. Doch sein Blick klebt wie festgefroren am Fernseher in der Ecke. Die Kamera schwenkt vom Gesicht des Reporters nach links, auf eine rußgeschwärzte Fassade. Und auf ein Loch, das früher einmal eine Tür gewesen ist …

„He, du Penner“, protestiert eine Stimme in seinem Rücken. „Worauf wartest du?“

Er zuckt erschrocken zusammen und schließt eilig die Lücke, die sich vor ihm aufgetan hat.

„Na, was ist jetzt?“ Die Frau an der Essensausgabe schwenkt einladend ihre Kelle. Am Griff klebt ein bisschen eingetrocknete Kartoffelsuppe. „Willst du hier essen oder Wurzeln schlagen?“

Eilig hält er ihr sein Tablett entgegen. Gleich darauf landet eine Portion Suppe mit einem satten Klatscher auf seinem Teller. Mettwurst heute. Eigentlich ein Grund zur Freude …

„Brot gibt’s da hinten“, erklärt die Frau hinter der Theke. Sie ist neu. Zumindest hier. „Der große Korb in der Ecke.“