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Von Kind auf ist Hannah zum Überleben erzogen worden: fliehen, kämpfen, beschützen. Ihre Lehrer: drei Jahrzehnte der Angst. Dreißig Jahre voller Albträume. Doch das hier ist kein Albtraum. Es ist Wirklichkeit. Ein Mann verfolgt die Frauen ihrer Blutlinie, seit fünf Generationen, durch ein uraltes Geheimnis geschützt. Er will ihr das Liebste nehmen: ihr Kind. Und Hannah kann keinem trauen. Keinem. «Ein echter Pageturner. Nicht vorm Einschlafen lesen!» (BBC Radio 2) «Eine Lektüre wie das Schwimmen in Zuckersirup: Man kommt leicht rein – und unglaublich schwer wieder raus.» (One More Page)
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Seitenzahl: 654
Stephen L. Jones
Der Bann
Thriller
Aus dem Englischen von Axel Merz
Rowohlt E-Book
Für Julie
Und für drei Jungs,
die die Welt schon verändert haben.
Erst als Hannah Wilde das Farmhaus erreichte, kurz nach Mitternacht, stellte sie fest, wie viel Blut ihr Mann bereits verloren hatte.
Sie hatten wenig geredet während der Fahrt nach Llyn Gwyr. Hannah hatte sich auf die Straße konzentriert, die Sicht verschwommen vom Regen und von Tränen. Neben ihr saß Nate zusammengesunken im Beifahrersitz des Discovery, ein verkrümmter Schatten. Sie musterte ihn von der Seite, während sie sich immer weiter von dem entfernten, was sie zurückgelassen hatten, doch es war ihr unmöglich, das volle Ausmaß seiner Verletzungen zu erkennen, solange sie sich auf die Straße konzentrieren musste. Jedes Mal, wenn sie vorschlug anzuhalten, schüttelte Nate nur den Kopf und drängte sie weiterzufahren.
Bring uns zum Farmhaus, Hannah. Ich schaffe das schon. Versprochen.
Kurz vor Mitternacht, nach vier Stunden hinter dem Lenkrad, stellte sie fest, wie die englischen Namen auf den Ortsschildern im Scheinwerferlicht des Discovery ihren walisischen Verwandten wichen: Cyfronydd, Llangadfan, Tal-y-llyn.
Außer ihnen war niemand in dieser Nacht unterwegs. Und obwohl Hannah kaum mehr erkennen konnte als das, was direkt vor ihnen lag, spürte sie, wie das Land wilder wurde und sich ringsum öffnete.
Die Straße war kurvenreich und uneben, als wollte sie das Fahrzeug abschütteln. Eine Zeitlang folgte sie einem wilden Gebirgsbach, erkennbar einzig an dem Funkeln aus Mondlicht, das vom Wasser reflektiert wurde. Als die Straße eine Schleife beschrieb und sich höher schraubte, blieb das Glitzern in der Nacht zurück.
Einen knappen Kilometer vor Llyn Gwyr, in der Nähe eines Hügelkamms, verlangsamte Hannah den Geländewagen, bis er nur noch kroch, und schaltete die Scheinwerfer aus. Sie lenkte das Fahrzeug die letzten Meter zum Kamm hinauf, wo ein Eschenhain stand. Für einen Moment beobachtete sie, wie sich die kahlen Zweige im Wind bewegten.
Sie schaltete die Zündung aus. Bis zu diesem Augenblick hatte das Geräusch des Motors die Stimme des Windes übertönt. Hier oben, auf dem Kamm, sang er um sie herum und schaukelte den Wagen auf seinen Federn.
Mein Gott, was hast du dir nur dabei gedacht? Hast du wirklich geglaubt, dieser Ort wäre sicher?
Auf dem Beifahrersitz rührte sich Nate. Er hob den Kopf und blinzelte aus dem Fenster. «Kannst du irgendetwas erkennen?»
Jenseits der Bäume fiel das Land ab bis hinunter zum Ufer eines mandelförmigen Sees. Obwohl sich der Mond hinter weiteren von Westen heranziehenden Regenwolken versteckt hatte, phosphoreszierte die Wasserfläche. Die schwarzen Umrisse eines kleinen Flusses, der sich aus den Bergen hinabschlängelte, mündeten ganz im Westen in den See.
Das Farmhaus von Llyn Gwyr stand am gegenüberliegenden Seeufer. Ein steiler geschotterter Weg, der den Fluss über eine Steinbrücke überquerte, führte von der Straße zum Haus.
«Ich kann kaum was sehen auf diese Entfernung», antwortete sie. «Jedenfalls nicht in dieser Dunkelheit.»
«In der Türablage müsste ein Fernglas stecken. Kontrollier zuerst die Brücke. Guck, ob sie frei ist.»
Hannah nahm das Fernglas hervor, hob es an die Augen und richtete es auf den Fluss. Sie benötigte einen Moment, um sich zu orientieren, dann fand sie die Brücke. Der verwitterte Steinbogen sah kaum robust genug aus, um das Gewicht ihres Landrover zu tragen.
Keine Hindernisse auf der Brücke selbst – zumindest keine, die sie sehen konnte. Nichts, was darunter lauerte. Keine Hinweise auf einen möglichen Hinterhalt.
«Die Brücke ist sauber.»
«Okay. Jetzt das Haus.»
Sie hörte, wie er sein Gewicht verlagerte und ein schmerzerfülltes Stöhnen zu unterdrücken versuchte. Sofort nahm sie das Fernglas herunter. «Nate? Was ist? Was kann ich tun?»
«Nichts, Han. Mir geht es gut, keine Sorge.» Seine Stimme war belegt und heiser. «Mach weiter», sagte er erschöpft. «Kontrollier das Haus.»
Sie hob das Fernglas wieder an die Augen und richtete es auf das Farmhaus. Die weiß gekalkten Wände schimmerten im Licht eines wolkenverhangenen Mondes. Die charakteristischen Umrisse des durchhängenden Schieferdachs kannte sie bereits von Fotos. «Wonach soll ich suchen?»
«Kontrolliere die Fenster. Sind sie intakt?»
Eine Pause, während sie alle vier sichtbaren Fenster in Augenschein nahm. «Ja. Zumindest die auf dieser Seite.»
«Das ist gut. Was ist mit der Tür? Ist sie offen? Sieht sie aus, als wäre sie aufgebrochen worden?»
«Das ist schwierig zu sagen, aber …» Sie runzelte die Stirn. «Nein. Nein, ich denke, sie ist okay.»
«Das ist gut, Han. Das ist großartig. Hör zu, ich glaube nicht, dass jemand hier ist. Ich glaube nicht, dass irgendjemand hier sein kann. Trotzdem müssen wir vorsichtig sein. Wir lassen die Scheinwerfer aus, bis wir von der Straße sind, und wir fahren ganz langsam. Die Zufahrt beginnt gleich dort vorn. Wenn ich mich richtig erinnere, ist der Weg bis zur Brücke sehr holprig. Danach ist er eben. Wir parken auf der Rückseite des Hauses, damit niemand den Wagen von der Straße aus sehen kann.» Er stockte und presste die Luft zwischen den Zähnen hindurch, während er erneut sein Gewicht verlagerte. «Bist du so weit?»
Hannah blies die Luft aus den Wangen und nickte. «Hältst du das Fernglas für mich?»
Sie hielt es ihm hin. Spürte, wie seine Hand über ihre streifte. Seine Finger waren nass und klebrig. Ihre Kehle zog sich zusammen. «Nate, ist das Blut?»
«Nicht jetzt. Komm, weiter. Wir sind fast in Sicherheit.»
Sie musste es einfach wissen. Trotz seiner beruhigenden Worte und seines Zuspruchs war sie immer noch erschüttert von den Ereignissen des Abends. Sie musste wissen, womit sie es zu tun hatten, bevor sie weitermachten. Einem Impuls folgend, ging ihre Hand zur Deckenleuchte. Sie schaltete sie ein.
Ein Teil der Hoffnung, an die sie sich die ganze Zeit geklammert hatte, starb in diesem Moment, als sie erkannte, wie es wirklich um ihn stand. Sie biss die Zähne zusammen, damit sie nicht klapperten – fest entschlossen, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sein Zustand sie erschreckte.
Er schwamm geradezu in Blut.
Seine Wolljacke war durchnässt. Der Stoff seines Hemdes glänzte und tropfte. Blut hatte sich in einer Lache zwischen seinen Beinen gesammelt und in den Vertiefungen des Sitzes. Es durchnässte seine Jeans.
Als sie den Blick hob und ihm in die Augen sah, konnte sie sich nicht mehr zusammenreißen. Sie schluchzte auf. Er starb. Es bestand kein Zweifel. Es war kaum noch Leben in ihm. Seine Lippen hatten sämtliche Farbe verloren. Seine Wangen, wo er sie nicht mit Blut beschmiert hatte, waren so weiß wie Milch. Trotz der kühlen Luft im Wagen standen Schweißperlen auf seiner Stirn.
Nate versuchte zu lächeln. «Ich denke, die Blutung lässt allmählich nach.»
Ihre Stimme zitterte. Sie hatte Mühe, nicht zu schreien. «Du musst in ein Krankenhaus, Nate. Auf der Stelle!»
Er schüttelte den Kopf. «Nein. Das geht nicht. Ich komme durch. Keine Angst. Ich verspreche es.»
«Nate, wir –»
«Nein! Hannah, hör mir zu.» Er stockte, und sie sah, dass er nach Luft rang. «Wir dürfen keinerlei Risiko eingehen. Du weißt es, ich weiß, dass du es weißt. Was aus mir wird, ist unwichtig. Wir müssen Leah schützen.»
Der Schrei drückte gegen Hannahs Kehle. Beim Klang von Leahs Namen drehte sie sich zu ihrer Tochter um, die auf dem Rücksitz schlief. Der Anblick ihres kleinen Gesichtchens, so glatt und zart und ernst, versetzte sie in Panik und führte gleichzeitig dazu, dass sie sich zusammenriss.
Er hatte recht – sie hatten keine andere Wahl. Doch wie sollte sie Nate in die Augen sehen und seine Worte ohne zu protestieren hinnehmen? Wie konnte sie sich zur Komplizin eines derartigen Opfers machen? Sie drohte innerlich zu zerreißen. Es gab nur zwei Menschen auf der Welt, die sie so liebte. Einen dem anderen vorzuziehen war undenkbar. Genauso wie die Alternative.
Nate nahm behutsam die Hand aus der Jacke und starrte auf seine blutigen Finger. «Das kann man überleben, Hannah. Glaub mir. Ich weiß, ich habe eine Menge Blut verloren. Mir ist klar, wie schlimm es aussieht, aber ich habe schon früher Verletzungen wie diese gesehen, und ich kann es schaffen, ich schwöre es dir. Solange wir nur bald ins Haus kommen.»
Hannah blinzelte die Tränen weg. Sie glaubte ihm nicht. Er war blass wie ein Geist. Doch sie schluckte endlich den Schrei hinunter und drehte den Zündschlüssel um. «Dann halt jetzt still, ja? Wir sind in ein paar Minuten da. Sitzt du bequem?»
«Machst du Witze?»
Sie zwang sich zu einem Lachen. Es klang wie ein Keuchen.
Sie löste die Handbremse, und der Geländewagen rollte langsam an. Sie glitten über den Kamm des Hügels und folgten der Straße auf der anderen Seite nach unten durch einen dichten Wald aus Fichten und Douglasien. Sie entdeckte die Abzweigung zur Linken und bog von der Straße ab.
Sobald sie die Straße hinter sich gelassen hatten, von allen Seiten umgeben von hohen Koniferen, riskierte sie es, hin und wieder das Fernlicht zu benutzen. Der Weg war wenig mehr als ein felsiger Hang. Sie musste langsamer als Schrittgeschwindigkeit fahren, um den größeren Brocken auszuweichen und Nate so wenig durchzuschütteln wie möglich. Nichtsdestotrotz stöhnte er alle paar Meter schmerzerfüllt auf, wenn die Räder über die Steine rutschten und rumpelten. Sie zuckte bei jedem Schmerzenslaut zusammen.
Ganz egal, wie die Chancen stehen – kämpf weiter, bis nichts mehr da ist, wofür du kämpfen kannst.
War das nicht das Lieblingsmotto ihres Vaters? Dieses Gefühl von Hilflosigkeit und diese Angst nutzten jedenfalls niemandem. Sie versuchte sich an das zu erinnern, was sie über Blutverlust wusste. Wenn Nate eine Überlebenschance haben sollte, musste sie unter allen Umständen verhindern, dass er in einen Schock fiel. Sein mühsamer Atem und das Schwitzen waren ernste Symptome einer schweren Hypovolämie.
Sie musste die Blutung stoppen. Sie musste ihn warm halten. Und sie musste ihm irgendwie Flüssigkeit zuführen.
Sie passierten eine Holztafel, schwarze Schrift auf einer verwitterten weiß gekalkten Platte. LLYNGWYR. Eines der vorbereiteten Verstecke ihres Vaters.
Am Fuß des Hangs wurde der Weg besser. Sie folgte dem kurvigen Verlauf, manövrierte den Discovery über die Bogenbrücke und steuerte auf das Farmhaus zu. Die Scheinwerfer strichen über die Hausfront und tauchten alles in ihr helles Licht, mit Ausnahme der Fenster von Llyn Gwyr, deren schwarze Höhlen undurchdringlich blieben.
Der Weg führte auf der anderen Seite um das Haus herum. Sie passierten ein aus Stein errichtetes Stallgebäude und einen leeren Kuhstall. Kies knirschte unter den Reifen des Discovery, als Hannah hinter dem Haus anhielt.
Sie schaltete den Motor ab, dann die Scheinwerfer und zog den Schlüssel aus der Zündung. «Ich schließe das Haus auf. Ich bin gleich zurück und helfe dir beim Aussteigen.»
«Nimm die Taschenlampe mit.»
Sie nickte, griff hinter ihren Sitz und zog die starke Maglite hervor. Als sie sich wieder vorbeugte, küsste sie ihn. Seine Lippen waren klamm und kalt.
«Dass du mir nicht davonläufst», sagte sie.
«Hab eh meine Wanderstiefel vergessen.»
Gut, dass er noch Witze machen konnte. Auch wenn er so leise redete, dass sie ihn kaum hörte.
Hannah legte ihre Hand auf den Türgriff und zögerte. Jetzt, nachdem sie angekommen waren, widerstrebte es ihr, aus dem Discovery auszusteigen; der Wagen war während der letzten fünf Stunden ihre Zuflucht gewesen. Und als wollte er sie weiter entmutigen, wehte der Wind noch heftiger.
Jetzt zählte jede Minute. Sie konnte sich kein Zögern leisten. Hannah öffnete die Wagentür und sprang hinaus auf den Weg.
Der Wind packte sie mit voller Wucht und ließ sie stolpern. Er wehte in Böen wie ein wütender Geist, peitschte ihr das Haar ins Gesicht und drückte frische Tränen aus ihren Augen. Sie schlug die Wagentür zu, zog den Kopf ein, den Reißverschluss der Fleecejacke zu und wandte sich zum Haus.
Obwohl sich ihre Augen noch nicht völlig an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie die Umrisse des Gebäudes vor dem wolkenverhangenen Himmel erkennen, das tiefere Schwarz der Fenster, die Hintertür, das Gewächshaus. Die undeutlichen Schatten der Außengebäude zur Linken. Rasch überwand Hannah die wenigen Meter zwischen dem Wagen und dem Haupthaus, während sie sich fragte, was sie wohl erwartete. Sie wusste, dass das Haus jahrelang leergestanden hatte. Ihr Vater hatte jemanden bezahlt, der regelmäßig nachgesehen hatte, aber sie wusste nicht, in welchen Abständen. Eines der Fenster im Erdgeschoss war eingeschlagen, stellte sie fest. Nicht gut. Doch es war keine Zeit für Vorsicht. Sie musste Nate ins Haus schaffen.
Sie erreichte die Hintertür und spähte durch das Küchenfenster. Nichts außer Dunkelheit dahinter. Sie fand den Schlüssel und schob ihn ins Schloss, als sie hinter sich eine Bewegung spürte.
Sie erstarrte, die Hand auf dem Türknauf, und das Geräusch verstummte. Dann hörte sie es erneut: das Knirschen von losem Kies auf dem Weg hinter ihr.
Wieder verebbte es, übertönt von Wind und Regen.
Sie hatte die Maglite unter den linken Arm geklemmt. Sie hatte nichts, womit sie sich hätte verteidigen können, außer der massiven Lampe aus gedrehtem Aluminium. Das Geräusch hinter ihr konnte unmöglich von Nate stammen. Sie hätte die Wagentür gehört.
Hannah wechselte die Taschenlampe in die rechte Hand und packte sie wie eine Keule. Ihr Zeigefinger schwebte über dem Schalter. In ihren Ohren hörte sie ihr eigenes Blut durch die Arterien rauschen.
Sie verlassen sich auf dich. Nate und Leah. Du bist ihre einzige Chance.
Langsam, ganz langsam drehte sie sich um.
Hinter dem Kiesweg befand sich ein verwilderter Küchengarten. Am Ende des Gartens, hinter einem Lattenzaun, lagen die zur Farm gehörigen Felder. Sie sah das Getreide im Wind schwingen. In der Ferne die Silhouetten von Berggipfeln.
Zwischen ihr und dem Garten, nur ein paar Meter entfernt, stand etwas Großes auf dem Weg. Sie konnte es in der Dunkelheit nicht genau erkennen, doch es war riesig. Viel größer als sie selbst.
Hannah vernahm ein dunkles Grunzen. Ein Schnauben.
Was immer es war, es war näher bei ihr als beim Wagen. Sie duckte sich angespannt und betätigte den Schalter.
Gefangen im blendenden Lichtschein der Taschenlampe, eingetaucht in grelles Licht stand der größte Hirschbock, den Hannah jemals gesehen hatte. Er hatte ein rötlich-braunes Fell, dunkler am Hals, und ein Geweih mit zahlreichen spitzen Enden. Zwei schwarze, feuchte Augen musterten sie, und Hannah war wie gebannt von ihrem Blick.
Die Lampe hatte das Tier erschreckt, so viel war offensichtlich. Sie sah, wie die Muskeln an seiner Flanke zuckten und sich zusammenzogen, doch aus irgendeinem Grund floh der Bock nicht. Stattdessen machte er einen Schritt zur Seite und hob die Nase, um prüfend die Luft einzusaugen. Er stand sekundenlang völlig reglos, dann neigte er den Kopf zur Seite.
Hannah bemerkte, dass sie den Atem angehalten hatte. Das Tier war stark genug, um sie aufzuspießen. Sie sah, wie sich die Muskeln des Bocks spannten, und verkrampfte sich. Das Tier bewegte den Kopf leicht zur Seite, nach rechts, und musterte Hannah mit einem einzelnen glänzenden Auge.
Dann sprang der Bock so unvermittelt los, dass sie fast erschrocken aufgeschrien hätte, und war mit drei langen Sätzen verschwunden. Kies wirbelte durch die Luft.
Hannah starrte in die Dunkelheit, wie hypnotisiert von dem, was sie soeben gesehen hatte. Es war ein Rothirsch gewesen. Sie hatte nicht gewusst, dass es in Snowdonia überhaupt noch Rotwild gab.
Sie tat den Gedanken ab und konzentrierte sich stattdessen wieder auf Nate. Sie wandte sich zum Farmhaus, öffnete die Tür und betrat die Küche. Ein schneller Schwenk mit der Taschenlampe zeigte einen großen Raum mit einem unebenen, mit großen Steinplatten gefliesten Boden. Einen Kamin. Ein Sofa und zwei Sessel. Küchenschränke mit Glasfronten über staubigen Arbeitsflächen. Zwei Anrichten – eine gefüllt mit Geschirr, während die andere von Taschenbüchern geradezu überquoll, dazu Angelrollen, Kerzen, Päckchen mit Saatgut, Streichhölzer, ein Erste-Hilfe-Kasten. Am Fenster ein runder Tisch. Eine Tür, die in einen unbeleuchteten Hausflur führte.
Hannah entdeckte einen Lichtschalter an der Wand neben der Tür und legte ihn um. Nichts. Sie erinnerte sich, dass Nate ihr einmal erzählt hatte, dass das Haus zu abgelegen war, um ans öffentliche Stromnetz angeschlossen zu sein. Irgendwo in einem der Außengebäude gab es mit Sicherheit einen Generator. Er musste warten, und mit ihm die elektrische Beleuchtung.
Sie nahm eine Schachtel Streichhölzer, kniete neben dem Kamin nieder und legte die Maglite neben sich auf den Boden. Jemand hatte Späne und Holz auf dem Rost aufgeschichtet und alles vorbereitet, und so dauerte es keine Minute, bis ein Feuer im Kamin brannte. Sie nahm zwei Kerzen von der Anrichte und zündete sie an. Eine stellte sie auf den Tisch, die andere auf die Arbeitsfläche. Später würde sie weitere Kerzen anzünden, doch zuerst musste sie ihren Mann ins Haus schaffen.
Draußen war der Wind noch stärker geworden. Gefrorene Luft wehte von den Bergen herunter und brachte eisige Kälte mit sich. Hannah zog den Kopf ein und eilte geduckt zur Beifahrerseite des Discovery. Sie riss die Tür auf.
Nate saß zusammengesunken, die Haut weiß wie ein Bettlaken. Er hatte das Bewusstsein verloren.
«Hey!» Sie schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht, und es gelang ihr, ihn zu wecken. Er richtete sich in seinem Sitz auf, und sie erkannte, dass er versuchte, klar zu sehen, doch er konnte seinen Blick nicht fokussieren. «Ich habe dich, Nate, okay? Versuch nicht zu reden. Es ist nur ein kurzer Weg. Ich hab Feuer gemacht. Du musst mir nur ein bisschen für die nächsten paar Schritte helfen. Ich fürchte, es wird ein wenig wehtun.»
Hannah wappnete sich innerlich, während Nate es irgendwie fertigbrachte, sich nach vorn zu lehnen und sich aus dem Wagen in ihre Arme fallen zu lassen. Es kostete sie all ihre Kraft, ihn festzuhalten, und all ihre Nerven, um seinen Schrei zu ignorieren. «Gut. Gut so, Nate. Das ist der schwierige Teil. Nur noch ein paar Schritte, okay?» Hannah warf einen Blick auf den Rücksitz und ihre schlafende Tochter.
Neun Jahre alt. Wie konnte das passieren mit uns?
«Leah, Liebes – ich komme gleich zurück und hole dich.» Sie versetzte der Beifahrertür einen Tritt und schloss das kleine Mädchen im Wagen ein, wo es sicher war vor dem Sturm.
Dann führte sie Nate, den Arm über ihre Schulter gelegt, ins Haus und in die Küche, wo das Feuer den Raum bereits ein wenig erwärmt hatte.
«Sofa», stöhnte er undeutlich.
«Genau dorthin wollen wir.» Behutsam ließ sie ihn auf das Sofa sinken und schob ihm ein Kissen unter den Kopf. Dann legte sie seine Beine hoch. «Ich muss die Wunden ansehen.»
Nates Hände fielen von den Seiten. Sie öffnete seine Jacke und riss das Hemd auf, und Knöpfe sprangen durch die Luft. Sein Oberkörper glänzte nass und rot vor Blut.
Sofort sah sie die beiden Stichwunden, jede zweieinhalb Zentimeter lang. Eine saß unmittelbar unter der untersten Rippe. Sie konnte nicht feststellen, ob seine Lunge durchbohrt war, konnte sich nicht aus dem Biologieunterricht erinnern, wie tief die Lunge im Brustkorb reichte. Die zweite Wunde saß noch tiefer, in seinem Unterleib.
Hannah holte den Erste-Hilfe-Kasten – eine grüne Plastikschachtel – vom Schrank. Sie löste den Verschluss, klappte den Deckel auf und kramte durch den Inhalt. Sie fand Reinigungstücher und begann unverzüglich damit, die Wunden zu säubern. Innerhalb Sekunden sickerte neues Blut aus den Einstichen. Wenigstens floss es nicht mehr in Strömen – auf der anderen Seite hatte er bereits eine Menge Blut verloren. Sie fand einen Beutel mit Wundverschlusspflastern und tat ihr Bestes, um die Wunden zu verkleben. Anschließend legte sie polsterndes Vlies darauf und bandagierte seinen Rumpf fest, indem sie die Binden unter seinem Rücken hindurchzog.
Es würde ihn nicht retten, so viel wusste sie. Nur professionelle medizinische Versorgung war noch dazu imstande. Wenn überhaupt.
Mit einer Decke von einem der Sessel deckte sie ihn zu. «Nate, du musst wach bleiben, okay? Wir müssen Flüssigkeit in dich hineinbringen.»
Er nickte. «Ich liebe dich», flüsterte er.
Er liegt im Sterben.
Hannah wandte sich von ihm ab und wischte sich die Augen. Sie war außerstande zu antworten. Am Spülbecken fand sie ein Glas und füllte es mit Wasser. In einem der Schränke stand ein Paket Zucker. Sie schüttete etwas davon in das Glas und rührte mit einem Löffel, bis er sich gelöst hatte. «Hier, trink das.» Sie hielt ihm das Glas an die Lippen und hob seinen Kopf, während er den Inhalt schlürfte.
Er trank zwei ganze Gläser, bevor er anzeigte, dass er genug hatte. Dann atmete er zitternd ein. «Han … im Flur. Schrank.» Seine Stimme war so leise, dass sie ihn kaum hören konnte. «Ausrüstung … für den See.»
«Was für eine Ausrüstung, Nate? Wovon redest du?»
«Tauchgerät.»
Hannah runzelte die Stirn, dann wurde ihr klar, was er meinte. Sie eilte nach draußen in den dunklen Flur. Im Lichtschein der Maglite fand sie den Schrank unter der Treppe. Im Innern stand, zwischen Mänteln, Overalls, Hüten und anderen Kleidungsstücken, eine Pressluftflasche mit Druckregler und Lungenautomat. Sie richtete den Lichtstrahl auf den weißen Metallzylinder. Stellenweise war Farbe abgeplatzt. Auf der Seite stand in schwarzer Druckschrift NITROX – sauerstoffangereichert. Auf einem handgeschriebenen Aufkleber darüber: MOD 28M – 36% O2.
Sie klopfte mit dem Knöchel gegen die Flasche, kippte sie leicht zur Seite. Voll.
Die angereicherte Luft würde Nate beim Atmen helfen und seinen Kreislauf mit mehr Sauerstoff versorgen. Vielleicht gewannen sie dadurch etwas Zeit. Mit neuer Hoffnung erfüllt, zog sie die schwere Flasche hinter sich her in die Küche, befestigte den Automaten und drückte ihn in Nates Mund. «Okay, du gewinnst sicher keinen Schönheitspreis damit, aber atme einfach, hörst du? Schön langsam und gleichmäßig.»
Er war zu schwach zum Antworten, doch er hielt den Augenkontakt mit ihr aufrecht. Hannah spürte tausend Dinge, die in diesem Blick zwischen ihnen hin und her gingen. Sie nahm seine Hand. Drückte sie.
Die einzigen Geräusche in der Küche waren das Knistern der Scheite im Kamin und das mechanische Saugen des Lungenautomaten. Draußen heulte der Wind und schleuderte prasselnd Regentropfen gegen die Scheiben.
Hannah erhob sich, atmete tief durch und wollte nach draußen gehen, um Leah zu holen, als etwas Schweres gegen die Vordertür des Farmhauses krachte.
Charles Meredith stellte sich an jenem Julimorgen während der Fahrt von seinem Haus in Woodstock zur Bibliothek des Balliol College genau zwei Fragen. Die erste lautete: Würde die junge Frau den vierten Morgen in Folge dort sein? Und die zweite: Falls nicht, wie viel machte es ihm aus?
Während er die erste Frage nicht beantworten konnte, bevor er den Campus erreicht hatte, legte die Tatsache, dass er sich an diesem Samstagmorgen im Verkehr der Sommertouristen überhaupt damit beschäftigte, die Vermutung nahe, dass es ihm eine ziemliche Menge ausmachen würde.
Die junge Frau war sowohl starrköpfig als auch temperamentvoll – Eigenschaften, die Charles mit ihr teilte, wie er einräumen musste. Unausweichlich war es zum Zusammenprall gekommen. Zusätzlich zu ihrer Starrköpfigkeit und ihrem Temperament war die junge Frau ein Rätsel, ein Puzzle, das seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.
Ihr plötzliches Auftauchen, die Art und Weise, wie sie in sein Leben geplatzt war wie Donnergrollen in einem unruhigen Himmel, hätte kaum zu einem unpassenderen Zeitpunkt kommen können. In weniger als sechs Wochen sollte er in Princeton einen Vortrag halten – vor den renommiertesten Wissenschaftlern der Akademie und zugleich den leidenschaftlichsten Gelehrten der Mittelalterlichen Geschichte. Nicht nur, dass sein Vortrag noch nicht fertig war, er hatte gerade eine so ernste Schwachstelle in einer seiner grundlegenden Hypothesen gefunden, dass sie das gesamte Gebilde krachend zum Einsturz zu bringen drohte.
Am Mittwochmorgen war er auf dem Campus eingetroffen, und die sechswöchige Deadline hatte ihm im Nacken gesessen wie der Minotaurus dem Theseus. Mit einer Umhängetasche voller Forschungsberichte, handschriftlich festgehaltener Gedanken und Bücher hatte er die Bibliothek der Balliol durchquert, um zu seinem Tisch nahe der Holzstatue von St. Catherine zu gelangen. Es war derselbe Tisch, den er immer benutzte, wenn er in der Bibliothek arbeitete. Von diesem Tisch aus, umgeben von gedruckten Werken, konnte er durch die hohen Bogenfenster auf den vorderen Hof hinaussehen, das Porträt von George Abbot betrachten, dem früheren Erzbischof von Canterbury und einem der siebenundvierzig Übersetzer, die für die King-James-Bibel verantwortlich zeichneten.
Neuerdings hatte Charles zu seinem Missbehagen herausgefunden, dass der Tisch nicht nur der einzige war, den er gerne benutzte – es war außerdem der einzige, an dem er überhaupt arbeiten konnte. Wann immer er versuchte, an einem anderen Tisch in der weitläufigen Bibliothek zu arbeiten, stellte er fest, dass seine Konzentration versiegte und seine Laune schlecht wurde. Zuerst sagte er sich, dass er einfach Trost zog aus der Nähe der Statue der heiligen Catherine und dem gütigen Blick des Erzbischofs. Doch das war, wie er sich jetzt eingestand, Selbstbetrug gewesen.
Genau wie die präzise geordneten Hemden in seinem Schrank zu Hause, das sorgfältig arrangierte Besteck in seiner Küchenschublade, die akribisch in seiner Speisekammer gestapelten Konservendosen oder die Sammlung ordentlich flach gedrückter Milchflaschendeckel auf der Fensterbank stellte der Tisch in der Bibliothek ein weiteres Symptom dar, ein Warnzeichen, einen Hinweis auf das unablässige Vordringen der Zwänge, die ihn mehr und mehr verfolgten. Charles hatte verlegen reagiert, als er herausgefunden hatte, dass seine Kollegen ebenso wie seine Studenten seine Fixierung längst bemerkt hatten und mit nachsichtiger Milde reagierten – wann immer er die Bibliothek besuchte, gleich, zu welcher Tageszeit, der Tisch war frei und wartete auf ihn.
Bis zu dem Mittwochmorgen jedenfalls, als er die illegitime Besetzerin vorgefunden hatte.
Sie war jung. Wenigstens zehn Jahre jünger als er selbst. Als er eintraf, hockte sie in einem Berg aus Nachschlagewerken und Fachbüchern wie ein Geier in den achtlos verstreuten Überresten von Aas. Es würde, dachte er da noch, vermutlich eine Ewigkeit dauern, bis sie alles zusammengesammelt und zu einem anderen Tisch getragen hätte. Seit er das Haus verlassen hatte, waren ihm ein Dutzend neuer Ideen und Ängste durch den Kopf gegangen, die er schnellstmöglich zu Papier bringen musste, bevor sie sich wieder verflüchtigen konnten. Charles spürte, wie sein rechtes Augenlid zu zucken begann.
Betont umständlich öffnete er seine Umhängetasche und entnahm geräuschvoll Dokumente und Stifte. Die junge Frau hob den Blick, sah ihn blinzelnd an und wandte sich wieder ihrem Buch zu. Er stand verlegen mitten in der Bibliothek und hielt unbeholfen ein Bündel Unterlagen und eine baumelnde Tasche an die Brust gedrückt, während er sich umsah. Nur wenige andere Gelehrte nutzten um diese frühe Stunde die Bibliothek. Keine Frauen. Das Balliol College hatte überhaupt erst vor ein paar Jahren die erste weibliche Kraft eingestellt – die ersten Studentinnen würden nicht vor dem nächsten Herbstsemester eintreffen. Was nur bedeuten konnte, dass sie zu Besuch war, ein Gast und kein Mitglied des Lehrkörpers.
Charles sah, wie sich Pendlehurst, der Bibliothekar, schweigend durch die langen Reihen von Büchern arbeitete, während sich sein Mund unablässig lautlos bewegte. Der Bibliothekar bemerkte Charles, sah die junge Frau an Charles’ Tisch und entschied sich, lieber außer Sicht zu verschwinden.
Charles spürte, wie sich sein Kiefer verkrampfte. Er räusperte sich. Starrte die Frau an.
Die junge Frau hatte ein langes Gesicht, beinahe pferdeartig. Schokoladenbraune Augen. Kastanienbraunes Haar, zurückgebunden zu einem Pferdeschwanz. Wieder sah sie zu ihm auf. Hielt seinem Blick stand, hob herausfordernd eine Augenbraue. Als er nicht reagierte – es war schwierig, da seine Augenbrauen bereits erhoben waren –, wandte sie sich wieder ihrer Beschäftigung zu, indem sie einen Stift zur Hand nahm und etwas auf ihren Notizblock schrieb. Charles betrachtete den Einband des ihm am nächsten liegenden Buches auf ihrem Tisch.
Gesta Hungarorum.
«Miss?»
Sie blickte auf. «Ja?»
«Es tut mir leid, aber Sie sitzen auf meinem Platz. Können Sie sich vielleicht woanders hinsetzen?»
Sie lehnte sich zurück und musterte ihn mit verwirrter Miene. «Es tut Ihnen leid?», fragte sie schließlich mit französischem Akzent.
«Nein, es tut mir natürlich nicht leid.» Charles zögerte stirnrunzelnd. «Es tut mir nicht leid. Ich meine, ich … Hören Sie, das ist mein Platz.»
«Das ist Ihr Platz?»
«Richtig. Mein Stuhl, an meinem Tisch.»
«Ihr Stuhl an Ihrem Tisch.»
Er spürte, wie sich seine Finger um seine Unterlagen verkrampften. Versuchte sich zu beruhigen. «Hören Sie, es ist kein Problem, okay?» Er deutete in die Bibliothek. «Es gibt reichlich andere freie Tische.»
Sie folgte seiner Handbewegung. «Ja. Die Bibliothek ist recht leer.»
Er erwartete, dass sie noch etwas sagte oder anfing, ihre Sachen zu packen, doch zu seinem Schrecken stellte er fest, dass sie nichts dergleichen vorhatte. Ihre Augen musterten ihn stattdessen ununterbrochen.
Er lächelte. Nein, er öffnete den Mund und bleckte die Zähne. «Ich komme jeden Tag hierher. Und ich arbeite immer an diesem Tisch.»
«Ein hübscher Tisch.»
«Ja.»
«Wenn ich jeden Tag herkommen würde, würde ich auch gerne hier sitzen.»
«Wenn Sie jeden Tag herkämen, würden Sie rasch feststellen, dass man mich jeden Tag an diesem Tisch vorfindet.»
Jetzt erwiderte sie sein Lächeln. «Außer heute.»
Charles saugte die Luft ein. Hielt den Atem an. Atmete wieder aus. Versuchte das Muskelzucken in seiner Wange zu ignorieren. «Dem ist ganz offensichtlich so. Nun, ich möchte Sie nicht länger aufhalten, und ich würde wirklich gerne mit meiner Arbeit beginnen. Wenn Sie also bitte …» Er beendete den Satz nicht.
«Wenn ich also bitte was?»
Er wedelte mit einer Handbewegung in Richtung der vielen anderen Tische. «Einfach …»
«Einfach was?»
«Hören Sie, ich nehme an, Sie sind keine Studentin an diesem College. Sie wissen demzufolge wahrscheinlich nicht, mit wem Sie es zu tun haben, aber …»
«Ich habe das Gefühl, ich werde es gleich erfahren.»
«Nun, ich bin Professor Charles Meredith, und ich –»
«Und ich bin Nicole Dubois.»
«Das ist … das ist sehr nett. Erfreut, Ihre Bekanntschaft …», Charles stockte, verstummte, schüttelte den Kopf. «Herrgott noch mal – würden Sie vielleicht endlich von meinem Platz verschwinden?»
«Ich denke …» Sie zögerte, tippte sich mit dem Stift gegen die Zähne und sah Charles an. «Ich denke nicht, nein.»
Die Bibliothek öffnete während des Sommersemesters an Wochentagen um neun Uhr. Am nächsten Morgen beabsichtigte Charles dort zu sein, sobald die Türen aufgeschlossen wurden. Nachdem er den Campus am Tag zuvor verlassen hatte, war er so verärgert gewesen – so fixiert auf die Tatsache, dass sie ihm nicht nachgegeben hatte trotz seiner vollkommen höflichen und einfachen Bitte –, dass er sich den ganzen Nachmittag nicht mehr hatte konzentrieren können. Mit dem Ergebnis, dass er mit seiner Arbeit einen weiteren Tag hinterherhinkte.
Wegen des starken Verkehrs erreichte er die Bibliothek erst zehn Minuten nach dem Öffnen. Gereizt stürmte er durch die Tür, marschierte an Pendlehurst vorbei und stand unvermittelt vor der jungen Frau, die auf seinem Platz saß, ihre Bücher in einem so unordentlichen Haufen über seinen Tisch verstreut, dass sie ihn anzubetteln schienen, er möge sie abstauben, alphabetisch sortieren und ordentlich aufstapeln.
«Sie!»
Sie blickte auf und lächelte, doch die Spur von Eis in ihrer Miene blieb ihm nicht verborgen. Ihr Haar, bemerkte er, war an diesem Morgen zu Zöpfen geflochten. «Guten Morgen.»
«Was tun Sie hier?», schnappte er.
Die junge Frau – Nicole, dachte er, ihr Name ist Nicole – deutete mit der offenen Hand auf das Durcheinander von Büchern. «Das Gleiche wie gestern, sehen Sie? Lesen. Schreiben.»
«Ich habe heute eine Menge Arbeit zu erledigen.»
«Dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg.»
Augenblicklich spürte er, wie seine Wangen heiß wurden. Sie besaß eine instinktive Begabung dafür, die richtigen Sätze zu finden, um ihn auf die möglichst unschuldigste Weise zu verspotten und gleichzeitig wütend zu machen. «Sie stören mich bei meiner Arbeit! Sie gefährden einen ohnehin bereits kritischen Zeitplan! Ich weiß nicht, woran Sie arbeiten, Miss, aber warum machen Sie das nicht an einem anderen Tisch?»
Sie öffnete ihren Mund, sah seinen Gesichtsausdruck und zögerte. Dann: «Na los doch. Sagen Sie’s.»
«Was?»
«Bitte. Sagen Sie es.»
«Was soll ich sagen?»
«Fragen Sie mich, ob ich weiß, mit wem ich es zu tun habe.»
«Hören Sie, ich habe bereits …»
«Na los. Fragen Sie mich.» Sie kramte in ihren Notizen. «Ich hab es mir aufgeschrieben, irgendwo hier.»
«Das … das ist unerhört!»
«Unerhört! Ein gutes Wort, Charles. Un-er-hört.» Nicole ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen, jede einzelne Silbe. «Wie hübsch es klingt.» Sie deutete auf den Rest des Saals. «Die Bibliothek ist fast leer. Aber Sie müssen ausgerechnet hier sitzen. Und Sie nennen mein Verhalten unerhört. Finden Sie das nicht ironisch?»
«Lassen Sie mich jetzt auf meinen Platz?»
«Okay, ich stelle die Frage für Sie.» Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse und sah ihn an. «Nicole, wissen Sie überhaupt, mit wem Sie reden?» Ihr Gesichtsausdruck entspannte sich. «Ja», sagte sie. «Mit einem eigenartigen Mann, der meint, ihm gehöre die Bibliothek des Balliol College, nur weil er einen Doktortitel hat.»
«Nein, meint er nicht.»
«Mit dem ebenso arroganten wie zwanghaften Professor Charles Meredith.»
«Wie können Sie es wagen!»
Sie hob die Augenbrauen. Charles starrte sie an. Es hatte ihm die Sprache verschlagen. Dann, mit einem plötzlichen Gefühl von Ohnmacht, so unglaublich lähmend, dass er ihrem Blick nicht länger standzuhalten vermochte, drehte er sich zum nächsten Tisch um und warf seine Papiere darauf. Er setzte sich. Suchte nach einem seiner Dokumente. Breitete es vor sich aus. Fand einen Stift, schraubte die Kappe ab, beugte sich vor. Spürte seine Ohren brennen und seine Hände zittern, während er sich zu konzentrieren versuchte. Stellte fest, dass seine Augen über Sätze und Absätze huschten, ohne irgendetwas zu begreifen.
Vom nächsten Tisch hörte er ein Schnauben und hob den Blick. Funkelte die junge Frau an. Sie schüttelte den Kopf und machte keinen Hehl aus ihrer Belustigung. Er spürte, wie seine Halsschlagader zu pochen begann, erhob sich ungestüm, sammelte seine Siebensachen ein, stopfte sie in die Tasche und marschierte zum Ausgang.
«À bientôt!», rief sie ihm hinterher.
Draußen vor dem Gebäude ging er einige Male auf und ab, bis er sich wieder einigermaßen im Griff hatte. Nur noch siebenunddreißig Tage bis zum Vortrag in Princeton. Dem Minotaurus wuchsen bereits Hörner und Hauer. Charles konnte sich keinen einzigen weiteren verlorenen Tag erlauben.
Nachdem er die Fäuste mehrfach geballt und wieder geöffnet und die an ihm vorbeieilenden Studenten mit bösen Blicken bedacht hatte, kehrte Charles in das Gebäude zurück. Er ging zu dem an einem Schreibtisch sitzenden Pendlehurst und legte dem Mann den Arm auf die Schulter. «Hören Sie, ich brauche einen Schlüssel. Ich muss morgen früher anfangen. Viel früher.»
Am nächsten Morgen sperrte Charles die Tür zur Bibliothek um acht Uhr auf, lange bevor die anderen Gelehrten eintrafen. Sein Tisch war wunderbar frei. Mit einem Blick zum friedvollen Holzgesicht von St. Catherine und einem stillen Nicken zum alten Abott setze er sich an seinen Tisch und öffnete seine Tasche. Er nahm seine Bücher hervor und schichtete sie zu einem ordentlichen Stapel, das größte unten, das kleinste zuoberst, jeder Band präzise zentriert auf dem darunterliegenden wie eine kleine Pyramide. Er legte einen Notizblock vor sich, eine Handspanne von der nächsten Schreibtischecke entfernt und in gleichem Abstand von den jeweiligen Rändern. Dann zog er drei Kugelschreiber und einen Bleistift hervor und legte sie nebeneinander über den Block. Die jeweilige Beschriftung seiner Schreibgeräte zeigte in einem präzisen Fünfundvierzig-Grad-Winkel in seine Richtung.
Zufrieden mit dem Arrangement der Werkzeuge, ließ Charles den Blick durch die Bibliothek schweifen, während er überlegte, wo er anfangen sollte. Die Entscheidung erwies sich als schwierig. Ganz gleich, wie sehr er sich auf den Princeton-Vortrag konzentrierte, er stellte fest, dass seine Gedanken immer wieder um die genauen Worte des Satzes kreisten, den er sagen würde, wenn die Frau um neun Uhr zur Öffnungszeit kam und ihr Territorium beanspruchte.
Nichts Zickiges – dazu würde er sich nicht herablassen. Er brauchte etwas Subtiles. Etwas Elegantes. Etwas, das seine Überlegenheit unterstrich, während es zugleich zeigte, dass er selbst als Sieger noch liebenswürdig war.
Der genaue Inhalt dieses Satzes änderte sich im Verlauf der nächsten Stunde mehrmals, während er daran herumpolierte und schliff und feilte und das eine oder andere verborgene Sujet hinzufügte oder wieder strich.
Um zehn Uhr war sie immer noch nicht da.
Um elf sagte er sich, dass sie nicht kommen würde.
Um Viertel nach elf stellte er bestürzt fest, dass er über den ganzen Morgen hinweg noch keinerlei produktive Arbeit geleistet und fast drei Stunden damit zugebracht hatte, an einem ebenso sinnlosen wie selbstgefälligen Satz zu basteln, um selbigen einer jungen Frau ins Gesicht zu schleudern, der er in seinem Leben erst zweimal begegnet war.
Gegen Mittag hatte er sich selbst in einen derartigen Malstrom aus Wut manövriert, dass er von seinem Tisch aufsprang und seine Unterlagen in die Tasche schaufelte. Er beschloss, den Campus für den Tag komplett zu verlassen, stapfte aus der Bibliothek und überquerte die Straße zu der Stelle, wo sein Wagen parkte.
Der Jaguar E-Type – ein silbernes Schmuckstück der Serie 3 – stand noch genau dort, wo er ihn abgestellt hatte, vor einer Ziegelsteinmauer. Allerdings hatte ein dunkelgrüner Hillman direkt vor ihm geparkt, und zwar so dicht, dass sein Fahrzeug zwischen Wand und Hillman feststeckte.
Stirnrunzelnd näherte sich Charles. Beugte sich auf der Fahrerseite des Hillman nach unten und spähte durch das Seitenfenster ins Innere. Da war niemand. Nichts auf den schwarzen Vinylsitzen, das einen Hinweis auf den Besitzer geliefert hätte. Charles legte eine Hand auf die Motorhaube. Sie war warm, doch das konnte auch an der Mittagssonne liegen, die mit voller Wucht herunterschien. Der Wagen konnte genauso gut seit einer Stunde hier parken wie seit einer Minute. Charles sah sich suchend um und bemerkte eine Ulme, die ein wenig abseits der Straße auf dem Rasen stand und Schatten spendete. Am Stamm der Ulme lehnte niemand anderes als Nicole Dubois.
Seufzend ging Charles zu ihr. «Lassen Sie mich raten», sagte er und deutete auf den Hillman. «Dieser Wagen dort gehört Ihnen?»
Nicole blickte zu ihm hoch und blinzelte wegen der grellen Sonne in seinem Rücken. Ihr Gesicht blieb passiv, ihr Tonfall neutral. «Charles. Ich muss schon sagen, was Sie heute Morgen getan haben, war sehr enttäuschend.»
«Was?»
«Es war unelegant, würdelos, wenig gentlemanlike. Anstatt sich an die Regeln zu halten, haben Sie Ihre Stellung ausgenutzt, um sich zu holen, was Sie wollten. Ich bin alles andere als beeindruckt.»
Er öffnete den Mund, um zu protestieren, und stellte voller Bestürzung fest, dass er trotz seiner morgendlichen Generalprobe für das nächste Aufeinandertreffen außerstande war, eine geistreiche Antwort zu liefern. Er fühlte sich von ihr aufgefordert, sein Verhalten der letzten paar Tage zu verteidigen, und stellte fest, dass er es nicht konnte. Und jetzt, außerhalb der tristen Umgebung der Bibliothek, ärgerte er sich umso mehr darüber, wie irrational – wie unhöflich er gewesen war. Und alles wegen eines Tisches.
Sie wartete immer noch auf seine Antwort. Sein Blick schweifte ab, und er bemerkte das Buch, in dem sie gelesen hatte, eine abgegriffene Übersetzung von Gesta Hunnorum et Hungarorum von Simon von Kezá. «Ihnen ist klar, dass dieses Werk größtenteils erfunden ist?», fragte er.
«Natürlich. Und Ihnen ist sicher klar, dass es einer der ältesten erhaltenen Texte ist.»
«Wonach suchen Sie? Vielleicht kann ich Ihnen helfen?»
«Wenn ich einen Tisch suche, Charles, lasse ich es Sie wissen.»
Er nickte. «Okay. Ich habe es verdient.»
«Allerdings.»
«Hören Sie, vielleicht darf ich Sie zu einer Tasse Tee einladen? Um mich zu entschuldigen.» Er blinzelte erschrocken. Woher um alles in der Welt waren die Worte gekommen? «Ich meine, vielleicht möchten Sie ja über einen bestimmten Aspekt der ungarischen Geschichte diskutieren …»
Sie klappte das Buch zu und richtete sich auf, und er stellte überrascht fest, dass sie fast gleich groß waren. «Nein, Charles. Ich möchte nicht darüber diskutieren.»
Er hob beschwichtigend die Hände. «Kein Problem.»
Sie kramte in ihrer Tasche und zog einen Schlüsselbund hervor. «Ich muss los.»
«Ja. Sicher.» Er trat zurück, sodass sie an ihm vorbei konnte, und seine Unbeholfenheit schmerzte ihn beinahe körperlich.
Sie schloss den Hillman auf und warf ihre Tasche auf den Beifahrersitz. Drehte den Zündschlüssel und setzte ihn zurück auf die Straße. Dann kurbelte sie das Fenster herunter. «Keine Sorge, Charles. Morgen sehen Sie mich zum letzten Mal.» Sie legte den Gang ein und fuhr davon.
Am Samstagvormittag auf dem Weg durch den sommerlichen Verkehr zum Campus fragte er sich zum wiederholten Mal, ob sie tatsächlich ein letztes Mal auftauchen würde. Abgesehen von ihrem Namen wusste er immer noch überhaupt nichts von ihr oder warum es ihm so wichtig war, dass sie Oxford mit einem besseren Eindruck von ihm verließ. Er wusste nur, dass es ein Desaster wäre, vor ihr in der Bibliothek zu sein und sich an den elenden Tisch zu setzen, weswegen er sich bis nach zehn Uhr Zeit ließ, bevor er auch nur in die Nähe des Bibliotheksgebäudes ging.
In der Bibliothek war es ruhig, lediglich ein paar vereinzelte Leser an weitverstreuten Tischen. Er durchquerte die Reihen von Regalen und fand sich unter den Blicken von St. Catherine und dem alten Abbot wieder.
Sein Tisch war leer.
Charles stand für einen langen Augenblick davor, vollkommen unvorbereitet angesichts der Enttäuschung, die sich in ihm ausbreitete. Er zog den Stuhl heran und setzte sich hin, um nachzudenken.
Er kannte ihren Namen. Und er wusste, dass sie Französin war. Es war wenig mehr als nichts. Er saß eine geschlagene halbe Stunde da und wartete, während sich seine Stimmung nach und nach verfinsterte. Schließlich blieb ihm nichts anderes übrig, als zu akzeptieren, dass sie nicht mehr kommen würde. Er erhob sich zum Gehen. Als er den Schalter am Eingang passierte, hob Pendlehurst den Blick. «Diese junge Französin hat Ihnen was dagelassen!», rief er.
Charles spürte, wie sich seine Stimmung augenblicklich hob. «Sie war hier?»
«Sie war schon ganz früh da. Hat eine Weile an Ihrem Tisch gesessen, dann hat sie mir diesen Zettel für Sie gegeben und ist gegangen.»
Er fluchte innerlich, als ihm bewusst wurde, dass er sie um eine halbe Stunde verpasst hatte. Pendlehurst reichte ihm einen gefalteten Zettel, der aus einem Notizbuch herausgerissen worden war. Hastig faltete er ihn auseinander.
Ki korán kel, aranyat lel
Es war Ungarisch. Doch er konnte es nicht übersetzen.
«Hat sie etwas gesagt?»
«Nur, dass sie nicht länger warten könne und gehen müsse.»
«Hat sie gesagt, wohin sie geht?»
«Ich hab sie nicht gefragt.»
«Verdammt.»
«Ist alles in Ordnung?», fragte Pendlehurst.
«Kennen Sie jemanden, der Ungarisch spricht?»
«Ich denke, am besten wenden Sie sich an Beckett.»
«Kann ich das Telefon benutzen?»
Charles brauchte zehn Minuten, um Beckett aufzuspüren. Eine weitere Minute später hatte er seine Übersetzung.
Der, der früh aufsteht, findet Gold
Die ungarische Variante eines bekannten Sprichworts: Der frühe Vogel fängt den Wurm. Zum ersten Mal an diesem Morgen musste Charles lächeln, und dann kam ihm eine Idee. Er suchte Pendlehurst. «Sie muss sich mit der Universität in Verbindung gesetzt haben wegen einer Genehmigung, die Bibliothek zu benutzen.»
«Selbstverständlich.»
«Also müssten Sie Unterlagen darüber haben.»
«Ich glaube schon. Professor, sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist?»
«Es ist unbedingt erforderlich, dass ich mit ihr in Kontakt trete, bevor sie Oxford verlässt. Können Sie bitte ihre Unterlagen für mich heraussuchen?»
Der Bibliothekar bedachte Charles mit einem eigenartigen Blick und bedeutete ihm, zu ihm hinter den Schalter zu kommen. Er öffnete einen Karteikasten und blätterte die Karten durch. «Ah, hier haben wir sie. Dr. Amélie Préfontaine.»
Charles schüttelte den Kopf. «Nein. Sie heißt Nicole.»
«Die große junge Frau? Mit dem französischen Akzent?»
«Ja.»
«Mit der großen Stofftasche?»
«Ja, das ist sie.»
«Hier steht, sie heißt Dr. Préfontaine.»
Charles merkte, dass er die Stirn in Falten gelegt hatte und dass Pendlehurst allmählich alarmiert dreinsah.
«Wenn an der Geschichte etwas nicht stimmt, Professor, dann sollten Sie mir das sagen. Sie hat einige sehr wertvolle Manuskripte in den Fingern gehabt, während sie hier war.»
«Nein, nein, alles ist bestens», sagte Charles hastig. «Ich muss sie falsch verstanden haben. Ich danke Ihnen, Pendlehurst.»
Auf der Karteikarte war eine Adresse in Oxford vermerkt, zusammen mit einer örtlichen Telefonnummer. Charles überquerte die Straße und betrat eine Telefonzelle. Im Innern war es brütend heiß. Er lockerte seine Krawatte. Nachdem er den Hörer abgenommen hatte, steckte er eine Münze in den Schlitz und wählte die Nummer. Es läutete fünfzehn Mal, bevor jemand abnahm. In der Leitung war statisches Rauschen zu hören.
«Oui?» Eine weibliche Stimme, doch nicht die von Nicole alias Amélie. Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang sehr viel älter.
«Hallo?» Er lauschte dem elektrischen Knistern und Knacksen und dem Atem der Frau am anderen Ende.
«Wer ist denn dort bitte?», erkundigte sich die akzentbeladene Stimme schließlich.
«Mein Name ist Charles Meredith. Professor Charles Meredith. Ich unterrichte am Balliol College. Ich würde gerne mit Dr. Amélie Préfontaine sprechen.»
Eine Pause. Dann: «Je suis desolée. Hier gibt es keine Amélie.»
«Warten Sie. Was ist mit … Nicole Dubois?»
Diesmal hörte er ein scharfes Einatmen, gefolgt von schnellem Französisch im Hintergrund, zu leise, um etwas zu verstehen. Die Frau am anderen Ende der Leitung hatte die Sprechmuschel abgedeckt. Die gedämpften Geräusche einer Unterhaltung dauerten an. Charles hörte in beiden Stimmen Alarm, doch die Worte blieben unverständlich. Dann war die Leitung plötzlich wieder klar.
«Jakab!» Sie spuckte ihm den Namen förmlich entgegen.
«Nein, hier ist Charles –»
«Démon! Allez au diable!» Die Verbindung brach ab.
Charles zuckte vom Hörer zurück, geschockt vom Gift in der Stimme der Frau. Er starrte den Hörer mehrere Sekunden lang an, bevor er ihn auf die Gabel zurücklegte. Trotz der Hitze in der Telefonzelle hatte er plötzlich eine Gänsehaut auf den Unterarmen. Er öffnete die Tür und trat hinaus in die frische Luft. Dann, ohne zu verstehen, warum, und ohne zu ahnen, dass seine nächsten Aktionen durch jeden einzelnen Tag der ihm verbleibenden Jahre widerhallen würden, sprintete Charles Meredith zu seinem Wagen.
Phoenix Avenue, die Adresse auf der Karteikarte, war lediglich fünf Autominuten entfernt, quer durch die Stadt. Vielleicht ein paar Minuten länger im samstäglichen Verkehr mit all seinen Touristen. Doch nicht, wenn er aggressiv genug fuhr. Er war erfüllt von der Überzeugung, dass seine Chance, sie jemals wiederzusehen, sich in Luft auflösen würde, wenn er nicht augenblicklich handelte.
Sein Wagen parkte in der Nähe des gleichen Baums wie am Tag zuvor. Diesmal war es ein Triumph Stag. Nach seiner Schande am Vortag hatte er den Jaguar zu Hause gelassen, weil er sich unbehaglich fühlte angesichts des Ausmaßes an Luxus, den er verkörperte. Jetzt hätte er den Jaguar gut brauchen können. Egal. Der Stag war ebenfalls ein starkes Fahrzeug.
Charles glitt hinter das Lenkrad und zog heftig die Tür zu. Er setzte auf die Straße zurück und beschleunigte in Richtung St. Giles und am Ashmolean-Museum vorbei in die Beaumont Street.
Du bist verrückt, sagte er sich, als er durch die Innenstadt raste. Du bist dieser Frau dreimal begegnet. Das Einzige, was du über sie zu wissen glaubtest, hat sich als eine Lüge herausgestellt, und das Telefonat eben war nicht nur bizarr, es war geradezu beängstigend.
Er erreichte eine Kreuzung und bremste hart hinter einem Austin Cambridge, der vor einer roten Ampel wartete. Zur Linken lag die Phoenix Avenue, eine lange, von Bäumen gesäumte Allee mit viktorianischen Reihenhäusern aus rotem Backstein. Während er darauf wartete, dass die Ampel endlich grün wurde, erblickte er am Bordstein einen grünen Hillman Hunter, hundert Meter von der Kreuzung entfernt. Der Wagen stand vor einem heruntergekommenen dreistöckigen Haus mit unkrautüberwuchertem Vorgarten. Nicole Dubois eilte die Vordertreppe zum Bürgersteig hinunter. Sie führte eine ältere Frau mit einem weißen Umhängetuch über den Schultern. Die Gesichter der beiden Frauen waren von Angst gezeichnet. Nicole half der älteren Frau auf den Beifahrersitz und schloss die Tür.
An der Kreuzung zeigte die Ampel immer noch Rot, Verkehr kam von beiden Seiten. Nicole ging zum Kofferraum des Hillman. Sie warf zwei große Taschen hinein, rannte zur Fahrertür und stieg ein.
Charles stellte durch den Rückspiegel des Austins vor ihm Blickkontakt mit dem Fahrer her, drängte ihn loszufahren. Doch er konnte nirgendwohin.
Eine blaue Qualmwolke quoll aus dem Auspuff des Hillman. Nicole lenkte den Wagen in die Straße und entfernte sich die Phoenix Avenue hinauf.
Frustriert hämmerte Charles mit der Faust auf die Hupe. Der Fahrer des Austin runzelte die Stirn.
«Komm schon. Komm schon!»
Der Hillman folgte dem Verlauf der Phoenix Avenue und verschwand hinter einer langgezogenen Kurve. Vor Charles verebbte der Strom von Fahrzeugen. Die Ampel wechselte von Rot auf Gelb, dann zu Grün. Als der Austin sich nicht sogleich in Bewegung setzte, hämmerte Charles erneut auf die Hupe. Der Fahrer starrte ihn durch den Rückspiegel finster an.
Charles’ Geduld war am Ende. Er kurbelte am Lenkrad und trat auf das Gaspedal. Er rauschte an dem Wagen vor ihm vorbei, kurbelte erneut am Lenkrad und jagte mit durchgetretenem Gaspedal und protestierend quietschenden Reifen quer vor dem Austin her in die Phoenix Avenue.
Er folgte dem Verlauf der Allee zweihundert Meter, bevor sie in eine Querstraße einmündete. Zwei Wagen vor ihm bogen nach links und rechts ab, dann war Charles an der Reihe.
Er hämmerte mit den Händen auf das Lenkrad. Welche Richtung sollte er nehmen? Links ging es nach Norden und gegen den Uhrzeigersinn um die Stadt herum.
Rechts ging es zur London Road und auf den Motorway. Ihm blieb keine Zeit, um weiter über seine Optionen nachzudenken. Die zweite Möglichkeit schien logischer, also lenkte er den Stag nach rechts und spürte, wie der Drei-Liter-Achtzylinder seine Kraft entfaltete, während er durch die Gänge hochschaltete.
Wenige Minuten später wichen die Häuser rechts und links weiten Wiesen und Feldern. Er überholte einen trödelnden Talbot Sunbeam, und dann war die Straße vor ihm frei und breit. Charles sah, wie die Tachonadel über die achtzig Meilen kroch, und staunte über sich selbst angesichts seiner neuentdeckten Tollkühnheit. Doch Nicole – oder Amélie oder wie auch immer sie wirklich heißen mochte – war auf der Flucht, und die einzige Möglichkeit, sie einzuholen, bestand darin, ein Risiko einzugehen.
In der Ferne tauchte ein grüner Wagen auf.
Beflügelt trat Charles das Gas noch tiefer durch. Rasch verringerte er die Entfernung zwischen sich und dem Hillman und musste heftig bremsen, als er zu ihm aufgeschlossen hatte. Er wusste, dass sie seine Hupe bei dieser Geschwindigkeit nicht hören konnte, also betätigte er stattdessen das Fernlicht. Der Abstand zwischen beiden Fahrzeugen war zu groß, als dass sie ihn im Rückspiegel hätte identifizieren können. Er wedelte mit dem Stag nach links und rechts und benutzte mehrmals die Lichthupe, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
Die alte Frau auf dem Beifahrersitz drehte sich mühsam um und starrte auf das Fahrzeug hinter ihnen. Und dann, anstatt langsamer zu werden, beschleunigte der Hillman. Beide Fahrzeuge näherten sich rasch einem großen Sattelschlepper. Der Hillman scherte auf die Gegenfahrbahn aus, überholte den Laster und kehrte schleudernd gerade rechtzeitig auf seine Fahrbahn zurück, um einer Kollision mit einem entgegenkommenden Fahrzeug auszuweichen.
«Gütiger Gott!», ächzte Charles erschrocken.
Was sollte das werden?
Der Laster fuhr einen Schlenker und schaukelte gefährlich. Der Fahrer hupte wütend.
Charles hing dicht hinter dem Laster fest und musste warten, bis drei weitere entgegenkommende Fahrzeuge vorbei waren, bevor er selbst zum Überholen ansetzen konnte. Er benötigte eine volle Minute, um den Vorsprung des Hillman wieder aufzuholen.
Sie hatte offensichtlich nicht vor, auf seine Signale hin anzuhalten, doch der Stag war deutlich schneller. Charles überzeugte sich, dass die Gegenfahrbahn frei war, scherte aus und beschleunigte. Sie hatte damit gerechnet und scherte ebenfalls aus. Er bremste gerade noch rechtzeitig, um dem Hillman nicht ins Heck zu fahren.
Fluchend und zitternd ordnete sich Charles hinter dem Hillman ein.
Vielleicht dachte sie, er könnte das gleiche Manöver auf der anderen Seite versuchen, denn sie scherte aus, um ihn zu blockieren. Diesmal war ihr Manöver zu aggressiv, und der Wagen kam mit den Rädern auf den grasbewachsenen Randstreifen. Bremslichter flammten auf, und plötzlich brach das Heck des Hillman aus. Charles wich aus, um einen Aufprall zu vermeiden, und der Hillman hüpfte und tanzte von der Straße auf das angrenzende Feld. Er fetzte durch einen Brombeerstrauch und prallte gegen eine Böschung. Die Vorderreifen sprangen hoch, und der ganze Wagen hob ab und segelte über eine Hecke hinweg. Er schien eine Ewigkeit in der Luft zu hängen. Dann senkte sich die Frontpartie nach unten und krachte auf die sonnenverbrannte Erde des Felds.
Beim ersten Aufprall sprangen die Vorderräder ab. Glas splitterte. Metallteile von der Karosserie rissen ab und flogen davon. Der Hillman hüpfte dampfend und qualmend, und als er zum zweiten Mal aufprallte, schleuderte er nach rechts und kippte in schockierendem Tempo zur Seite um.
Hannah stand in der Küche von Llyn Gwyr und hielt immer noch Nates Hand, als draußen etwas gegen die Vordertür des Farmhauses hämmerte. Ihr Magen zog sich zusammen, und sie krümmte sich, als hätte sie einen körperlichen Schlag erlitten. Panik stieg in ihr auf, ein spürbarer Druck in ihrer Brust. Für einige lange Sekunden war sie zu verängstigt, um zu denken oder sich zu rühren. Ihre Augen zuckten zu dem dunklen Hausflur. Kehrten zum Gesicht ihres Ehemannes zurück.
Eine einzige, nicht ausgesprochene Frage. Wer?
Drei Atemzüge lang herrschte Stille. Dann klopfte es erneut, fordernd und herrisch. Vier Mal, und jeder einzelne Ton ließ sie zusammenzucken.
Leah.
Ihre Tochter schlief immer noch auf der Rückbank des Discovery.
Allein. Unbewacht.
Hannah spürte, wie sich ihre Kopfhaut zusammenzog und kribbelte.
Wie war es möglich, dass man sie so schnell gefunden hatte? Nicht einmal ihr Vater wusste, wo sie waren. Viele Stunden zuvor hatte Hannah ihm versprechen müssen, ihm nicht zu verraten, welchen der Schlupfwinkel sie aufsuchen würde. Damit er sie nicht verraten konnte, sie nicht noch mehr in Gefahr bringen.
Niemand konnte ihnen hierher gefolgt sein, das war unmöglich. Sie hätte es bemerkt. Hätte die Scheinwerfer gesehen. Es wäre Selbstmord gewesen, die gewundenen Bergstraßen ohne Licht zu befahren. Es sei denn natürlich, ihre Verfolger hatten andere Möglichkeiten.
Sie musste nachdenken. Handeln.
Es war unsinnig, so zu tun, als wäre niemand zu Hause. Wer auch immer draußen auf der Veranda stand, musste das flackernde Kerzenlicht sehen, das aus der Küche in den Flur fiel. Und sie wusste, wer auch immer dieser Störenfried war, er – es war ein Er, dessen war sie sicher – würde sich nicht damit zufrieden geben, dass sie nicht öffnete.
Es mochte ungeheuerlich klingen, doch Leah war im Auto, im Schutz der Dunkelheit hinter dem Haus, im Augenblick wahrscheinlich sicherer als hier. Hätte sie doch nur die Wagentüren verriegelt.
Hannah löste ihre Hand aus Nates Griff. Sie ging zur Tür des unbeleuchteten Flurs. Betrat den Flur. Hielt sich dicht an der Wand, während sie auf Zehenballen weiterschlich. Die ganze Zeit über schnürte ihr die Angst die Brust zu und zwang sie zu flachen, schnellen Atemzügen.
Tief in die Schatten geduckt, bewegte sie sich vorsichtig über die nackten Holzdielen. Vorbei an der Treppe zum ersten Stock. Zum Ende des Flurs.
Die Luft hier draußen war kühl nach der Wärme der Küche. Die Dielenbretter unter ihren Füßen bewegten sich, drohten zu knarren. Vor ihr lag die Tür. Massive Eiche, bis auf eine bauchige Scheibe. Zu beiden Seiten ließen bleiverglaste Halbfenster Mondlicht herein, das sich als heller Fleck auf den Dielen abzeichnete.
Hannah schob sich näher, bis sie durch das nächste Fenster hinaus auf die Veranda sehen konnte.
Niemand draußen.
Sie reckte den Kopf. Hielt den Atem an. Rührte sich nicht. Jetzt konnte sie den gesamten Platz vor dem Haus einsehen. Keine Spur von dem Eindringling, doch etwas anderes. Etwas wenigstens genauso Erschreckendes.
Ein alter Landrover Defender parkte draußen auf dem Kies ein paar Meter von der Tür entfernt. Sie konnte das Ticken des Motors beim Abkühlen hören, so nah stand der Wagen.
Panik umklammerte ihre Eingeweide, durchbohrte ihre Haut, verdrehte ihr den Magen. Wer auch immer der Fahrer des Defenders war – wenn er nicht mehr draußen auf der Veranda von Llyn Gwyr stand, umrundete er wahrscheinlich das Haus.
Ging zur Rückseite.
Zu ihrem Discovery.
Und Leah.
Ein Stöhnen kam über ihre Lippen. Sie gab ihre Deckung auf. Jegliche Vorsicht war vergessen, als sie durch den Flur zurück in die Küche rannte.
«Han!»
Auf dem Sofa hatte Nate das Mundstück der Pressluftflasche herausgenommen. Sein Gesicht war so blass, das es beinahe durchscheinend wirkte. Eine Totenmaske. Als sie an ihm vorbeirannte, streckte er die Hand aus und packte sie am Handgelenk. Sein Griff hatte kaum noch Kraft. Er zog sie zu sich, und seine Stimme war kaum mehr als ein Hauchen an ihrer Wange. «Vorratskammer … linkes Regal.»
Seine Augen rollten von der Anstrengung des Sprechens. «Schrotflinte. Geladen, als ich letztes Mal nachgesehen habe.»
«Leah ist draußen», hörte sich Hannah schluchzen. Es war ein jämmerlicher Laut. Sie stand im Begriff, ihren Mann zu verlieren. Und vielleicht ihre Tochter obendrein.
«Geh.»
Sie ging zur Tür der Vorratskammer. Spürte eine Bewegung, blickte zum Küchenfenster und sah etwas hinter dem Glas.
Das Kerzenlicht hatte die Fenster in flackernde Spiegel verwandelt, die alles reflektierten bis auf das, was unmittelbar hinter ihnen lag. Durch das Fenster neben der Tür starrte ein großer Hund zu ihr herein, die Vorderpfoten auf dem Fenstersims. Hannah erstarrte, als sie wie gebannt in die rostfarbenen Augen des Tiers blickte. Obwohl das Flackern des Kerzenlichts alles verzerrte, sah sie eine muskulöse Brust und darüber ein kurzes, dichtes Fell.
Sie rührte sich nicht, bis ein zweites Gesicht im Fenster auftauchte. Diesmal ächzte sie erschrocken und wich einen Schritt zurück. Ein Mann.
Er war steinalt. Mindestens achtzig. Hoch aufgerichtet trotz seines Alters. Tiefe Linien und Falten liefen über sein Gesicht. Er war hager, kaum Fett und auch kein Fleisch an den Knochen. Ein Flaum weißer Haare, kurz geschoren, bedeckte den Schädel, und auf den hohlen Wangen zeigte sich ein dünner Stoppelbart. Doch es waren seine Augen, die sie am meisten erschreckten. Sie leuchteten hell und grün und wach und funkelten im Licht des Kerzenscheins. Als er sie erblickte, hielt er wie versteinert inne, und beide starrten sich sekundenlang reglos an.
Der Hund scharrte mit einer Pfote über das Glas und neigte den Kopf zur Seite. Er bellte einmal und begann zu winseln. Das hohe Geräusch klang merkwürdig misstönend über dem Lärm des Windes. Ohne die Augen von Hannah abzuwenden, hob der Fremde eine Hand und kraulte das Tier hinter den Ohren. Es verstummte augenblicklich.
Hannah wich einen Schritt in Nates Richtung zurück, dankbar, dass die hohe Rückenlehne des Sofas seine Gestalt verbarg. Als spürte er Hannahs Gedanken, richtete der Hund den Blick zu der Stelle, wo Nate lag.
Der alte Mann hob die Hand. «Ich wollte Sie nicht erschrecken!», rief er. Seine Stimme klang kräftig, trocken wie Stroh, und sein Akzent war eigenartig, walisisch mit etwas anderem vermischt, das sie nicht identifizieren konnte.
Konnte es sein, dass er es war?
Falls ja, wusste sie nicht, wie er sie so schnell hatte finden können. Hatte er nur geraten und Glück gehabt?
«Was wollen Sie?» Hannah war selbst überrascht vom stählernen Klang ihrer Stimme. Sie zwang sich, nicht nach unten zu Nate zu blicken. Er konnte ohnehin nichts tun – sie war auf sich allein gestellt.
«Ich hab Ihre Scheinwerfer von meinem Haus aus gesehen. Wollte mich nur vergewissern, dass alles in Ordnung ist, mehr nicht.» Der alte Mann bewegte sich zur Tür. Als er das Fenster passierte, riskierte Hannah einen Blick nach unten. Nate hatte wieder das Bewusstsein verloren. Der Lungenautomat lag nutzlos auf seiner Brust.
Sie riss ihren Blick los. «Warum sollte irgendetwas nicht in Ordnung sein?»
«War lange niemand mehr hier in Llyn Gwyr. Manchmal, wenn ein Haus lange Zeit leersteht, macht es sich jemand gemütlich, obwohl er kein Recht dazu hat. Verdammt ungünstige Tageszeit, um hier aufzutauchen und Ärger zu machen, wenn Sie mich fragen.»
«Tue ich aber nicht.»
Er starrte sie weiter unentwegt an. Seine Gedanken waren nicht zu erkennen in den tiefen Falten seines Gesichts. «In Ihrem Wagen liegt ein kleines Mädchen und schläft. Ihre Tochter?»
Hannah spürte, wie ein Schrei in ihre Kehle stieg, doch sie unterdrückte ihn mühsam. Nate wurde mit jeder Minute schwächer; das Leben strömte mit jedem Moment, den sie zögerte, mehr aus ihm heraus. Leah lag allein und verlassen im Discovery, abgeschnitten von ihrer Mutter durch diesen seltsamen Fremden und seine Kreatur. Hannahs Kehle schmerzte vor gepresster Verzweiflung. «Ja. Meine Tochter.»
«Bringen Sie Ärger?», fragte er. Falls er tatsächlich Jakab war, dann war dieser eigenartige Wortwechsel nichts, womit sie gerechnet hätte.
«Nein. Wir bringen keinen Ärger.»
Er nickte. «Vielleicht nicht. Vielleicht aber doch. Vielleicht bringen Sie welchen und wissen es nur nicht. Im ersten Moment dachte ich, Sie wären Diebe oder sonst jemand, der nichts Gutes im Schilde führt. Aber jetzt hab ich Sie gesehen. Außerdem gibt es sowieso nicht viel von Wert hier im Haus.»