Der Bastard von Berg - Edgar Noske - E-Book

Der Bastard von Berg E-Book

Edgar Noske

4,4

Beschreibung

Schloss Burg, im Jahr 1225. Das Leben des siebzehnjährigen Martin wird über Nacht auf den Kopf gestellt: Der Pflegesohn eines leprösen Müllers avanciert zum Knappen des Grafen Engelbert von Berg, des Erzbischofs von Köln und Kaiserlichen Reichsverwesers. Schloss Burg und Köln, höfisches und städtisches Leben - vor Martin tut sich eine Welt auf, die er nur vom Hörensagen kannte. Doch muss er auch erkennen, dass das Leben im Dienste des mächtigsten Mannes nördlich der Alpen eine äußerst gefähr-liche Seite hat. Denn Engelbert von Berg schlägt unbändiger Hass ent-gegen. Da sind die Fürsten, denen er die Macht und Pfründe beschnitten hat. Da ist die Verwandtschaft, deren Erbansprüche er missachtet. Da sind die Bürger Kölns, denen er nicht nur untersagte, einen Rat zu bilden, sondern jetzt auch noch verbietet, Bier zu brauen. Und da ist noch etwas: eine finstere, unheimliche, aus dem Verborgenen operierende Kraft. Sie ist der Drahtzieher einer großangelegten Verschwörung zur Ermordung Engelberts, des Letzten von Berg. Martin ist der Erste, der den teuflischen Plan entdeckt, doch fatalerweise werden seine Warnungen nicht ernst genommen.

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Edgar Noske, Jahrgang 1957, lebte als freier Autor im Rheinland und in der Eifel. Im Emons Verlag erschienen zahlreiche Kriminalromane, darunter die Mittelalter-Trilogie »Der Bastard von Berg«, »Der Fall Hildegard von Bingen« und »Lohengrins Grabgesang« sowie die Kölner Leo-Saalbach-Krimis »Nacht über Nippes«, »Kölsches Roulette« und »Himmel über Köln«. In der Reihe mit Kommissar Lemberg erschienen »Die Eifel ist kälter als der Tod«, »Endstation Eifel« und »Im Dunkel der Eifel«.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig. Bezüge zu und Anspielungen auf Ereignisse des aktuellen Zeitgeschehens sind ebenso gewollt wie unverzichtbar, selbst wenn sie zu Lasten der einen oder anderen historischen Genauigkeit gehen.

© 2015 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-829-8

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Für meinen Großvater Karl

Für meinen Vater Alfred

Für meinen Sohn Norman

Der Dank des Autors gilt neben den üblichen Beteiligten diesmal

im besonderen

Tim Karberg

Birgitt Reitz

»Von Kölne werder bischof sint von schulden frô

ir hant dem rîche wol gedienet, und alsô

daz iuwer lop da enzwischen stîget und scheibet hô.

sî iuwer werdekeit dekeinen boesen zagen swaere,

fürsten meister, daz sî iu als ein unnütze drô.

getriuwer küneges pflegaere, ir sît hôher maere,

keisers êren trôst baz danne ie kanzelaere,

drîer künege und einlif tûsend megde kameraere.

Ihr werter Kölner Bischof seid von Schulden frei,

Habt dem Reiche wohl gedient und darum sei,

Daß Euer Lob hochsteiget alle Zeit.

Und sollte jemand Euren Wert zu schmälern trachten,

So, Fürstenmeister, sollt Ihr darauf nicht achten.

Getreuer Königspfleger, hoher Meister Ihr,

Seid doch des Kaisers Trost, sein Kanzler hier,

Dem auch als Kämmrer anbetrauen

Drei Könige und elftausend Jungfrauen.«

Walther von der Vogelweide über Erzbischof Engelbert im Jahre 1222

»Den ich im Leben pries, des Tod muß ich beklagen:

Drum weh ihm, der den edlen Fürsten hat erschlagen

Von Köln! Oh weh, daß ihn die Erde noch mag tragen!

Ich kann ihm seiner Schuld gemäß noch keine Marter finden.

Ihm wäre zu gelind ein eichner Strang um seinen Kragen.

Ich will ihn auch nicht brennen, vierteln oder schinden,

Noch mit dem Rad zermalen, noch darüberbinden:

Ich hoff, er werde lebend noch den Weg zur Hölle finden.«

Walther von der Vogelweide nach Erzbischof Engelberts Ermordung im Jahre 1225

Hermann Paul, Deutsches Wörterbuch

PROLOG

Als der Morgen graute, liebten sie sich zum zweiten Mal. Anschließend schmiegten sie sich eng aneinander und beobachteten die Sonne, die hellgelb hinter den Zypressen aufstieg.

»Mußt du wirklich gehen?«

»Warum fragst du?« sagte er. »Du weißt es doch.«

»Ich hatte gehofft, du hättest es dir noch einmal überlegt.«

»Es ist nicht meine Entscheidung.« Er bürstete ihre Brauen sanft gegen den Strich. »Ginge es nach mir, ich könnte mir durchaus vorstellen, zu bleiben.«

»Und wenn du dich weigertest?«

»Unmöglich. Das entspräche nicht meiner Art.«

»Du bist ein Pflichtmensch.«

»Wenn du so willst.«

Sie fuhr mit dem Fingernagel seinen Rippenbogen entlang.

»Wann kommst du zurück?« fragte sie.

»Ich weiß es nicht. Es kann sein, daß es diesmal länger dauert.«

»Wie lang ist länger?«

»Ich weiß es wirklich nicht. Laß dich überraschen.«

»Ich werde mich Tag und Nacht nach dir sehnen. Ich liebe dich so sehr.«

TEIL 1– DER VATER

Es war eine bitterkalte, sternklare Januarnacht im Jahre 1225 nach Fleischwerdung des Herrn. Tagsüber hatte es eine Zeitlang geschneit, aber der Schnee lag höchstens fingerhoch. Die Fischer hatten ihre Boote an Land gezogen, stromaufwärts waren Eisschollen gesichtet worden. Zweifellos eine Nacht, die etlichen Unbehausten und streunenden Hunden Kölns das Leben kosten würde.

Unbill, von der im Empfangssaal des erzbischöflichen Palastes am Domhof nichts zu spüren war. Im Kamin, in dem fünf Männer aufrecht stehend Platz gefunden hätten, loderten balkendicke Scheite. Einige Schritte davor, in dem Bereich, in dem die Hitze langsam in behagliche Wärme überging, standen zwei Männer mit dem Rücken zum Feuer.

Der ältere der beiden war hohlwangig, rothaarig und dermaßen pigmentschwach, daß er sogar die Wintersonne mied. Seine Kleidung bestand aus einem reich mit Stickereien verzierten Umhang, mehrfach geschlitzt, damit man einen Blick auf das Untergewand mit juwelenbesetzten Säumen werfen konnte. Auf seinem Kopf saß als Zeichen seiner Bischofswürde eine aufwendig gearbeitete Mitra. Sein Name war Walter von Carlisle, er war Engländer und von seinem König Heinrich dem Dritten in geheimer Mission an den Rhein gesandt worden.

Der andere Mann überragte den Engländer glatt um Haupteslänge, war schlank und gleichzeitig muskulös. Obwohl weitaus schlichter gekleidet – er trug einen hellen, bodenlangen Wollmantel und war barhäuptig–, wirkte er dem Älteren von Herkunft und Stand überlegen. Das verdankte er einem männlich schönen Gesicht mit wahrhaft herrischen Zügen. Ein Gesicht wie geschaffen für die Stellung, die er bekleidete.

Als Engelbert der Zweite war er der Graf von Berg, und als Engelbert der Erste zugleich der amtierende Erzbischof von Köln. Des weiteren war er von Kaiser Friedrich zum Vormund über dessen Sohn Heinrich und zum Reichsverweser ernannt worden. Eine Ämterhäufung, die Engelbert zum mächtigsten Mann nördlich der Alpen machte.

»Sind die Winter in Köln immer so erbarmungslos kalt?« fragte Walter. »Ich will nicht behaupten, daß das Wetter in England besser ist, aber zumindest sind die Winter milder.«

»So mild, daß es ohne Unterlaß regnet«, entgegnete Engelbert. »Und regnet es ausnahmsweise einmal nicht, müßt Ihr Euch durch Nebel dick wie Milchsuppe tasten.«

»Oh, wie ich sehe, seid Ihr im Bilde. Oder hattet Ihr bereits das Vergnügen, unsere Insel zu bereisen, und habt es mich nur nicht wissen lassen?«

»Keineswegs, teurer Walter. Aber je nachdem, welche Botschaft Ihr mir bringt, habe ich vielleicht schon bald die Gelegenheit dazu.«

»In der Tat, Engelbert, in der Tat. Ich denke, ich kann Euch, ohne vorab zuviel zu verraten, bereits jetzt mitteilen, daß Euer Vorschlag bei Hof auf Wohlwollen gestoßen ist.«

»Mit Verlaub, nichts anderes hatte ich erwartet. Wie weit seid Ihr, Stephan?«

Engelberts Frage galt einem kahlköpfigen, untersetzten Mann, der soeben die Tür zum Speisesaal geöffnet hatte. Stephan der Stumme, wie er genannt wurde, war als erzbischöflicher Truchseß verantwortlich für die Verwaltung des Palastes, ebenso oblag ihm die Aufsicht über Küche und Tafel. Da er nicht sprechen konnte, machte er ein Zeichen.

»Kommt, Walter, es ist angerichtet«, sagte Engelbert und geleitete seinen Gast in den Nebenraum. »Nach der langen Reise seid Ihr gewiß hungrig.«

*

Der Speisesaal war nichts anderes als eine spiegelverkehrte Kopie des Empfangssaals. Auch hier hatte man eingeheizt, jedoch war das Feuer bereits heruntergebrannt. Der Boden war mit weißem Marmor ausgelegt, die Wände waren kreidegeschlämmt. Für die Beleuchtung sorgten Fackeln beidseits der Fenster. Ein einladender Raum, in dem eine üppig gedeckte Tafel wartete.

Es gab gekochten Salm, gefüllte und am Spieß gebratene Tauben mit Blaukraut, knusprige Hammelkeulen in Rotweintunke und einen glasierten Schweinskopf, alles angerichtet auf silbernen Platten. Daneben standen Körbe mit Brot und Krüge voll Bier und Wein.

An Eßwerkzeugen lagen Messer und – eine wahre Neuheit– zweizinkige Gabeln bereit. Unfallträchtige Geräte, mit denen sich der Bischof von Mainz – ein Mann lebhafter Gesten– bei seinem letzten Besuch beinahe ein Auge ausgestochen hätte. Seitdem war der Truchseß angehalten, die Gäste vor dem ersten Bissen in der richtigen Handhabung zu unterweisen.

Anders, als man aufgrund seines schmächtigen Äußeren vermutet hätte, aß Walter von Carlisle mit großem Appetit. Es dauerte nicht lange, und das Leinentuch, das er sich zum Schutz seines Umhangs umgebunden hatte, legte farbiges Zeugnis der Speisenfolge ab. Dazu trank er becherweise Bier und Wein.

Engelbert hingegen hatte auf ein Tuch verzichtet, und trotzdem waren seine Kleider sauber geblieben. Allerdings hatte er als Befürworter eines enthaltsamen Lebenswandels nur sparsam gespeist. Ein wenig Fisch, einen Kanten Brot, und getrunken hatte er nur Wasser. Jetzt lehnte er sich bequem zurück, nahm eine der zahlreichen Katzen des Palastes auf den Schoß und kraulte das Tier zwischen den Ohren.

»Falls Ihr zwischen zwei Bissen Zeit findet, Walter, sagt mir doch, wie weit die Pläne Eures Königs bezüglich der Vermählung seiner Schwester mit dem Staufer gediehen sind.«

Walter spülte mit einem großen Schluck hinunter, was er im Mund hatte, wischte sich die Lippen ab und rülpste. »Ich nehme an, Eure Frage zielt auf die zu erwartende Mitgift.«

»Ich muß immer wieder feststellen, Ihr seid ein Mann, der nicht unnötig nach der Tür sucht, wenn er durchs Fenster eintreten kann.«

Ein Vergleich, der Walter gefiel. Er wieherte auf und zeigte, daß ihm bestenfalls die Hälfte seiner Zähne geblieben war. Genauso schnell wurde er wieder ernst.

»Bevor ich Euch Einzelheiten nenne, verehrter Engelbert, solltet Ihr mir – nur um allen Mißverständnissen vorzubeugen– eine Frage beantworten: Mir wurde zugetragen, Ihr hättet Ende letzten Jahres mit einer Abgesandtschaft der Franzosen verhandelt.«

»Ich vermag darin keine Frage zu erkennen.«

»Dann will ich es so sagen: Habt Ihr oder habt Ihr nicht?«

Stille legte sich über die Tafel wie ein wattiertes Tuch. Eine ganze Weile war nur das Knistern des Feuers und das Schnurren der Katze zu hören.

»Allerdings habe ich«, sagte Engelbert schließlich. »Auf ausdrücklichen Wunsch des Kaisers. Er bat mich, seinen Sohn, unseren geliebten, aber noch sehr jungen und unerfahrenen König Heinrich, als Berater nach Toul an die Mosel zu begleiten. Dort standen Verhandlungen mit dem französischen König über eine möglichst enge politische Verbindung zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich an. Diesem Wunsch habe ich selbstredend entsprochen.«

Walter griff nach seinem Becher, trank aber nicht, sondern betrachtete nur, wie sich die Fackeln in dem blankpolierten Metall spiegelten. Dann hob er plötzlich den Blick und sah Engelbert unverwandt in die Augen.

»Ich hatte gehofft, dieses Gerücht würde nicht der Wahrheit entsprechen.«

Engelberts Brauen fuhren hoch. »Ihr erstaunt mich. Denkt Ihr ernsthaft, ich hätte unsere Pläne hintertrieben?«

»Versetzt Euch an meine Stelle. Wie würdet Ihr eine solche Botschaft aufnehmen?«

Wieder ließ Engelberts Antwort auf sich warten, kam dann aber sehr sonor. »Ich hätte vor allem mehr Vertrauen.«

»Seid doch nicht gleich beleidigt. Ihr müßt doch zugeben, daß es einen befremdlichen Eindruck macht, wenn Ihr unmittelbar nach unserer letzten Zusammenkunft mit unseren Gegnern in Verhandlung tretet.«

»Ihr enttäuscht mich, Walter, mehr noch als der Wein des letzten Jahres. Weniger wegen Eures Mißtrauens, als vielmehr wegen Eures mangelnden politischen Gespürs. Was stellt Ihr Euch vor? Hätte ich etwa des Kaisers Bitte abschlägig bescheiden sollen? Hätte ich zulassen sollen, daß ein anderer Berater statt meiner den jungen König begleitet? Nur dadurch, daß ich an den Verhandlungen teilnahm, konnte ich sie in unserem Sinn beeinflussen. Eine Weigerung hätte das Gegenteil bewirkt.«

Walter räusperte sich. »Nun ja, wie Ihr mir das darlegt, klingt das natürlich schlüssig. Dürfte ich denn fragen, zu welchem Ergebnis… äh… Ihr versteht schon.«

»Die Verhandlungen sind selbstverständlich gescheitert«, sagte Engelbert kalt. »Auf meinen Rat hin hat der König ihnen eine eindeutige Absage erteilt. Stellt Euch das zufrieden?«

Das Licht war fahl, aber trotzdem war unverkennbar, daß Walter von Carlisle kräftig errötete. Da ihm auf die Schnelle keine passende Antwort einfiel, leerte er erst einmal seinen Becher. Als der keinen Tropfen mehr enthielt, kam ihm der Truchseß zu Hilfe. Stephan stellte sich neben Engelbert und machte einige schnelle Gesten.

»Ein Bote?« fragte Engelbert.

Stephan nickte.

»Und es ist wirklich wichtig?«

Stephan nickte erneut.

»Walter, Ihr müßt mich einen Augenblick entschuldigen«, sagte Engelbert und erhob sich. »Diener, schenk unserem Gast nach.«

*

Der Mann, der im Empfangssaal wartete, war weniger klein denn krumm. Da er nicht alt war, mußte es eine Krankheit sein, die sein Rückgrat gebeugt hatte. Nur mit Mühe schaffte er es, seinen Kopf so weit zu heben, daß er zu Engelbert aufschauen konnte.

»Du bist Hans, das Faktotum des Klosters Dünnwald?«

»Ja-jawohl, Exzellenz«, stammelte der Bucklige. »Wer krumm ist wie ich, hat keine Schwierigkeiten, Unkraut zu jäten oder Unrat aufzuklauben oder–«

»Berichte, was man dir aufgetragen hat. Meine Zeit ist kostbar.«

Der Mann wand verlegen seine Hände. »Die Äbtissin schickt mich, Exzellenz. Ich soll Eure Exzellenz untertänigst bitten, so schnell wie möglich ins Kloster zu kommen. Die Äbtissin meint, die Zeit dränge.«

»Hat sie dir auch einen Grund genannt?«

»Jawohl, Exzellenz. Die Äbtissin läßt Euch ausrichten, Schwester Maria werde diese Nacht wohl nicht überstehen.«

Engelbert straffte sich. »Hat Schwester Maria selbst nach mir verlangt?«

»Oh, Exzellenz, das weiß ich nicht. Die Äbtissin meinte jedoch–«

»Schon gut, Hans. Warte in der Eingangshalle.«

Der Bucklige entfernte sich, und Engelbert winkte Stephan heran, der im Halbdunkel neben der Tür gewartet hatte.

»Hol meinen Pelz, laß mein bestes Pferd satteln und veranlasse, daß ein Gefolge aufsitzt. Vier Mann genügen.«

Stephan deutete fragend in Richtung Speisesaal.

»Kümmer dich um ihn«, sagte Engelbert. »Gib ihm zu trinken und was er sonst noch will.«

Als Stephan gegangen war, murmelte Engelbert: »Sag ihm, ich werde als Beichtvater gebraucht.«

Dabei starrte er geistesabwesend in das zur Glut gewordene Feuer.

Viele hundert Meilen weiter südlich, in der heiligen Stadt am Tiber, hatte den ganzen Tag eisiger Regen geherrscht, der von einem böigen Nordostwind durch die Straßen gepeitscht wurde. Bei den leichten Umhängen, die man hier im Süden trug, war man rasch naß bis auf die Haut, und der Körper begann auszukühlen. Beste Voraussetzungen, um sich eine elende Erkältung zuzuziehen.

Das war auch der Grund, warum Faustus di Lambrusco, ein ebenso kurzbeiniger wie übergewichtiger Mönch des Klosters San Benedetto, an diesem Abend noch an seinem Pult im Archiv des Lateranpalastes saß und arbeitete.

Bereits morgens, auf dem Weg in die Stadt – die Abtei lag eine knappe Fußstunde außerhalb der Mauern Roms an der Via Latina–, hatte ihn das Wetter gründlich gebeutelt. Im Lateran hatte er sich sofort abgetrocknet und die Kutte gewechselt, und wie es schien, hatte er noch mal Glück gehabt. Aber einen zweiten Fußmarsch durch das Unwetter würde er nicht unbeschadet überstehen, das wußte er aus Erfahrung.

Daher hatte er beschlossen, von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, im Lateran zu übernachten. Dies wurde nur in Ausnahmefällen gestattet, zum Beispiel, wenn eine dringende Übersetzung Mehrarbeit erforderte. Diese stand nicht an, aber da seine Oberen des Aramäischen nicht mächtig waren, konnten sie ihm auch nicht das Gegenteil beweisen.

Um die nötige Zeit zu schinden, hatte Faustus die Übersetzung eines weiteren Briefes des Evangelisten Lukas an seinen Auftraggeber Theophilos in Angriff genommen. Kein sonderlich anspruchsvoller Text, Lukas schilderte in geschwätziger Form seine Erlebnisse anläßlich einer Reise nach Capharnaum in Galilea.

Offenbar handelte es sich um eine Art Rechenschaftsbericht, denn gleich im ersten Absatz bedankte sich Lukas für die Unterstützung der Reise. Danach ließ er sich zeilenlang über die schreckliche Dürre aus, die herrschte, um sich gleich darauf über jähe Wolkenbrüche zu beklagen, denen eine Mückenplage folgte. Der Mann wußte auch nicht, was er wollte.

Faustus warf einen Blick über die Schulter in den hinteren Teil des Saals. Dort lagerten nicht nur die kostbarsten Schriften des Archivs, die zumeist nach Art des Orients in mit Leder bespannten Brettern gebunden waren, sowie die wertvollsten Exemplare der Heiligen Schrift mit ihren goldverzierten und mit Edelsteinen besetzten hölzernen Einbänden. Dort hinten wurden auch die hebräischen und aramäischen Schriftrollen aufbewahrt.

Auf Holzgestellen drängten sich mindestens fünfzig der irdenen, vasenförmigen Gefäße, die mit einem Deckel verschlossen waren, ungesichtetes Beutegut des Kreuzzuges 1189 bis 1192. Faustus’ Brust entrang sich ein Seufzer: Hoffentlich war das übrige Material spannender.

Faustus war ein typischer Oblatus, ein Mönch, der nicht freiwillig ins Kloster eingetreten war, sondern den seine Familie dort untergebracht hatte, weil sie sonst nichts mit ihm anzufangen wußte. Denn außer, daß er eine Begabung für Sprachen hatte, war er zu nichts zu gebrauchen. Entsprechend lax waren seine Einstellung und sein Umgang mit den Vorschriften.

Es herrschten zwar allenthalben rauhe Sitten, aber selbst unter den Liederlichsten nahm Faustus noch eine Spitzenstellung ein. So sorgte er sich im Augenblick einzig um seine Gesundheit, weil er für den nächsten Tag mit Freunden zu einem Zechgelage verabredet war.

Auch was er jetzt tat, um sich ein wenig Zerstreuung zu verschaffen, entsprach beileibe nicht dem Kodex. Er raffte seine Kutte und begann, an seinen Genitalien herumzuspielen. Dabei war er bereits zweimal erwischt worden und hatte vor Antonius Calabresis, den Leiter des päpstlichen Archivs, treten müssen. Die Strafen waren vergleichsweise milde ausgefallen – beide Male hundert Vaterunser–, aber Calabresis hatte gedroht, bei einem erneuten Vergehen dem Abt von San Benedetto darüber zu berichten. Und was das hieße, war klar: Eine Woche weder Ausgang noch Tischwein, dafür Latrinendienst. Wenn er nur an den Gestank der Kloake dachte, wurde Faustus übel.

Andererseits bedeutete die Gefahr des Erwischtwerdens aber auch eine nicht unerhebliche Steigerung seiner Lust. So fiel er denn auf seiner Sitzbank in einen eindeutigen Rhythmus, während er die nächste Zeile des Textes in Angriff nahm.

Er hatte es bereits bis zum Kavalierströpfchen gebracht, als er plötzlich wie vom Donner gerührt innehielt. Was schrieb Lukas da? Wen hatte er besucht? Faustus las die Stelle erneut.

Der Evangelist mußte sich irren. Oder er war betrunken gewesen, als er die Zeilen schrieb. Oder er log seinem Gönner einfach etwas vor, um sich wichtig zu tun und so mehr Geld oder einen Anschlußauftrag herauszuschlagen.

Natürlich, nur so konnte es sein, denn was Lukas da niedergeschrieben hatte, war schlicht unmöglich. Es stand in völligem Widerspruch zum allgemein gültigen Wissen und zur gängigen Lehrmeinung. Mehr noch: das war Gotteslästerung und damit strafbar.

Punkt. Aus. Ende.

Aber auch wenn es unmöglich war, es stand da. Eindeutig. Sooft Faustus die Stelle auch las, es blieb dabei. Zudem war Lukas dafür bekannt, derjenige der Evangelisten zu sein, der am gründlichsten geforscht hatte. Und seine bisherigen Angaben hatten immer allen Nachprüfungen standgehalten. Warum sollte er sich gerade hier geirrt haben?

Faustus wurde es abwechselnd siedendheiß und eiskalt, und in seinem Kopf begann sich alles zu drehen, als habe er ein Fäßchen Wein allein geleert. Denn was war, wenn wirklich stimmte, was da stand? Wenn Lukas sich weder geirrt hatte noch betrunken gewesen war noch gelogen hatte? Wenn es einfach die Wahrheit und nichts als die Wahrheit war, was er geschrieben hatte?

Dann hielt Faustus zweifellos ein Schreiben in der Hand, dessen Inhalt die christliche Kirche in ihren Grundfesten erschüttern konnte. Wenn nicht Schlimmeres. Als er sich dessen bewußt wurde, ließ er die Schriftrolle fallen, als stünde sie plötzlich in Flammen.

Von welcher Seite er die Sache auch betrachtete, er würde nicht umhinkönnen, es seinem Vorgesetzten zu sagen. Oder sollte er ihn übergehen und sich sofort an den Kardinal wenden? Bedeutsam genug war es schließlich, was er entdeckt hatte.

Und auf einmal setzte sich ein verschlagenes Grinsen in Faustus’ Gesicht fest. Wenn er es richtig anstellte, müßte bei der Sache eigentlich eine fette Belohnung herausspringen.

Das zügige Vorankommen verdankte die Gruppe ihren Pferden. Es war faszinierend, mit welcher Sicherheit die Tiere ihren Tritt auf den knochenhart gefrorenen und mit vereisten Pfützen bedeckten Wegen fanden. Und das in weitgehender Finsternis, denn inzwischen hatten von Nordosten aufziehende schwere Wolken den Sternenhimmel bedeckt. Das einzige Licht kam nunmehr von den beiden an der Spitze reitenden Fackelträgern. Trotzdem vergingen keine zwei Stunden, bis die Einfriedungsmauern des Klosters Dünnwald vor Engelbert und seinen Begleitern auftauchten.

Der Klöppel der Torglocke hatte kaum angeschlagen, als die Äbtissin persönlich die Pforte öffnete. Sie war eine ausgezehrte, zahnlose Frau mit trostlosen Augen, die die Fünfzig längst überschritten hatte. Beim Anblick des Erzbischofs kniete sie nieder, ergriff seine Hand und küßte seinen Ring.

»Der Herr möge Euch segnen, Exzellenz.«

»Erhebt Euch, Schwester in Christi.« Engelbert half ihr auf. »Ich hoffe, ich komme noch zur rechten Zeit.«

»Der Gnade des Herrn sei Dank, Exzellenz. Schwester Maria wurde noch nicht abberufen. Bitte folgt mir.«

Dünnwald, eine Gründung des Prämonstratenserordens und ein Tochterkloster von Steinfeld in der Eifel, war klein, keine zwanzig Nonnen lebten hier. Außerdem war die Gemeinschaft arm. So sehr sich die Schwestern auch abrackerten, um ausreichende Erträge zu erwirtschaften, die Versorgungslage war stets angespannt. Entsprechend jämmerlich war das Leben.

Während das Gefolge zurückblieb, folgte Engelbert der vorauseilenden Oberin eine Reihe verwinkelter, feuchtkalter Gänge entlang, die nur notdürftig von Talglichtern beleuchtet wurden. Zweifellos ging sie einen Umweg, damit die Schwestern ihn nicht zu Gesicht bekamen.

Sie passierten einige massive Türen, die die Äbtissin aufschließen mußte und hinter ihnen wieder zusperrte. Dann überquerten sie einen kleinen Hof und traten durch eine weitere unverschlossene Tür, um endlich in der Krankenstube zu stehen.

Der Raum war so armselig und kalt wie das ganze Kloster. Als Bodenbelag diente festgestampfter Lehm mit Kieselsteinen, beides aus dem Mutzbach, der unmittelbar hinter dem Kloster vorbeifloß. Die Wände bestanden aus Bruchsteinsockeln und aus kalkverputztem Fachwerk, das stellenweise löchrig war. Durch die Löcher pfiff der Wind. Wer in dem Raum gesund werden wollte, brauchte einen starken Glauben.

Drei strohgepolsterte Pritschen standen mit nur wenig Abstand zueinander an der Wand. Die beiden ersten waren frei, auf der dritten lag Maria. An ihrer Seite saß eine Ordensschwester, die sich auf ein Zeichen der Äbtissin lautlos und mit gesenktem Kopf entfernte.

Erst jetzt konnte Engelbert Maria richtig sehen. Er erschrak, wie schmal sie geworden war. Schrecklich mager und sehr blaß, fast weiß. Wie lange war es her, daß sie sich zuletzt gesehen hatten? Engelbert mußte nachrechnen. Tatsächlich, siebzehn Jahre waren vergangen.

Auch ein Laie sah, wie nahe sie dem Tod war. Über den eingefallenen Wangen wirkten ihre Augen unnatürlich groß, die Lippen waren strichdünn und blau verfärbt. Ihr Atem ging stoßweise, sie warf den Kopf hin und her und knetete ihre über der Decke gefalteten Hände, die aussahen, als spanne sich die Haut nur über Knochen. Obwohl die Temperatur nur wenig über dem Gefrierpunkt lag, perlte Schweiß auf ihrem Gesicht.

Die Oberin nahm ein Tuch, beugte sich hinab und trocknete die Stirn der Kranken. Dazu murmelte sie einige lateinische Verse. Maria wurde ruhiger.

Dann sagte die Oberin laut: »Seine Exzellenz, der Erzbischof, ist gekommen, Maria.«

Langsam wandte Maria den Kopf in Engelberts Richtung. Einen Augenblick schien sie verunsichert, dann aber lächelte sie.

»Laßt uns allein.« Engelbert setzte sich und ergriff Marias Linke. Die Hand war kalt.

Die Äbtissin neigte sich zu Engelbert. »Soll ich nicht lieber…«

»Geht.«

Als die Tür ins Schloß fiel, blickten sie einander eine Weile nur an. Jeder versuchte in den Augen des anderen zu lesen, aber siebzehn Jahre waren eine lange Zeit.

»Wie geht es dir, Maria?«

Maria lächelte wieder. »Hat man Euch nicht gesagt, daß ich im Sterben liege, Exzellenz? Schon bald werde ich dieses irdische Jammertal verlassen. Ich befinde mich am Ende meines Lebenswegs.«

»Laß doch die Förmlichkeiten, Maria. Wir sind allein. Besteht denn keine Hoffnung auf Genesung?«

Sie schüttelte den Kopf. »Aber sei deswegen nicht betrübt. Ich bin frei von jeder Furcht.« Leise setzte sie hinzu: »Jetzt, wo du da bist.«

»Ich werde dir die Sakramente erteilen.«

»Später. Zunächst mußt du mich anhören. Ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen.«

»Maria, die Sakramente–«

»Engelbert!« fuhr sie auf, und ihre Finger krallten sich in seine Hand. »Verzeih, aber ich bin in Sorge, die mir verbleibende Zeit könnte nicht reichen. Ich habe sie überhaupt nur überstanden, weil ich wußte, du würdest kommen.«

Wie zum Beweis ihres Zustands erlitt sie einen Hustenanfall. Ihr Körper wand sich wie bei einer Kolik, und blutiger Schaum trat über ihre Lippen. Engelbert wischte ihr Mund und Kinn ab. Als sie schließlich wieder sprechen konnte, klang sie noch matter und müder als zuvor.

»Gib mir zu trinken, bitte. Dort auf dem Tisch, der Krug.«

Engelbert schenkte ein und hielt ihr den Becher an den Mund. Ein Großteil der Flüssigkeit lief ihre bebenden Lippen herab. Danach lag sie still und ruhte mit geschlossenen Lidern.

Plötzlich sagte sie, ohne die Augen zu öffnen: »Erinnerst du dich an das Turnier zu Neuss, wo wir uns zum ersten Mal begegneten? Es war im Jahre des Herrn 1207, gegen Ende des Sommers. Die Blätter begannen sich bereits zu verfärben.«

»Vage.« Engelbert räusperte sich. »Es ist ewig her.«

»Im darauffolgenden Jahr haben wir uns in Köln wiedergesehen.«

»Richtig«, sagte Engelbert und räusperte sich erneut. »Wie jung wir damals waren.«

»Zumindest ich«, sagte sie und schlug die Augen auf. »Du warst immerhin schon zweiundzwanzig und ein gestandener Mann, ich war gerade fünfzehn. Der Raubritter und das Mädchen. Mein Gott, schon bei unserer ersten Begegnung in Neuss hatte ich mich heillos in dich verliebt. Den ganzen Winter lang konnte ich nichts anderes denken, als dich baldmöglichst wiederzutreffen. Als wir uns dann im Frühjahr erneut begegnet sind, war es endgültig um mich geschehen. Hättest du von mir verlangt, dich ans Ende der Welt zu begleiten, ich wäre dir ohne Zögern gefolgt.«

»Solch ein Ansinnen habe ich nie an dich gerichtet, Maria.«

»Natürlich nicht. Ich will damit sagen, daß alles, was in jenem Jahr geschah, mein Wille war. Was ich tat, tat ich gern. Du sollst nicht denken, ich hätte mich von dir in irgendeiner Weise gezwungen gefühlt. Verstehst du, was ich damit ausdrücken will?«

»Ich denke, ja. Du hast aus Liebe gehandelt.«

»Fühltest du nicht ebenso?«

Was auch immer in Engelberts Hals saß, war ausgesprochen hartnäckig. Diesmal räusperte er sich mit einer Gründlichkeit, daß fast der Putz von der Wand brach. »Zweifellos habe ich dich begehrt, Maria. Sonst… äh… hätte ich gewiß nicht… äh…«

»So ein schöner Mann, und so unbeholfen in diesen Dingen«, sagte Maria und klang auf einmal wie das junge Mädchen von damals. »Du hast dich nicht verändert.«

»Ich bin zur Keuschheit verpflichtet, Maria.«

»Das warst du damals auch schon.«

»Mit dem Unterschied, daß ich exkommuniziert war, als wir uns kennenlernten. Ich war im besten Mannesalter und tat mich noch schwer, die fleischliche Begierde im Zaum zu halten. Die nötige Beherrschung habe ich erst mit den Jahren erlernt.«

»Wie schön, daß du damals so unbeherrscht warst. Mir würden liebe Erinnerungen fehlen.«

»Maria, ich bitte dich! Das ist nun wirklich nicht der passende Gesprächsstoff. Bald wirst du dem Herrn von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Jetzt ist es an der Zeit, zu bereuen und Buße zu tun. Ich weiß gar nicht, warum du davon angefangen hast.«

Marias Züge wurden auf einmal ganz weich, ihre Augen erstrahlten in einem eigenartigen Glanz, der nicht vom Fieber herrührte. Für einen Augenblick war es, als sei ihre einstige Schönheit zurückgekehrt. Aber das war nur eine Illusion, wie das ewige Leben.

»Ahnst du das wirklich nicht?«

Engelberts Blick zeigte nur Unverständnis. Das einzige, was ihm dazu einfiel, war unvorstellbar. Maria schien ihm anzusehen, was er dachte, und zwinkerte ihm aufmunternd zu.

»Soll das etwa heißen…?« fragte der Erzbischof und machte dazu ein Gesicht, als sei ihm ein Ziegel auf den Kopf gefallen.

Maria nickte und umfaßte seine Hand mit ihren beiden. Dann zog sie sie an ihre Lippen, küßte sie und bettete sie auf ihrer Brust.

»Ich habe ihn Martin genannt, nach meinem verstorbenen Bruder. Ihm deinen Namen zu geben, wagte ich nicht. Aber er ist dir sehr ähnlich. Weniger vom Äußeren, aber ihr gleicht euch im Wesen.«

Engelbert schüttelte fassungslos den Kopf. »Ich glaube es nicht. Warum erfahre ich das erst jetzt? Warum hast du mir nie etwas davon gesagt? Wo ist er? Was tut er?«

Maria wollte antworten, aber ein erneuter Anfall machte es ihr unmöglich. Ihr zarter Körper erbebte, und sie rang panisch nach Luft. Engelbert half ihr, sich aufzusetzen. Wieder spie sie blutigen Schleim. Als der Anfall vorüber war, sank sie schweißgebadet zurück. Engelbert trocknete ihre Stirn. Diesmal dauerte es sehr viel länger, bis sie wieder in der Lage war, zu sprechen.

»Wir hätten nie zusammen sein können.« Maria sprach so leise, daß Engelbert sein Ohr nahe an ihren Mund bringen mußte, um sie zu verstehen. »Wir hätten nie wie eine richtige Familie sein können. Diese Hoffnung gab es für uns nicht. Als ich schwanger wurde, hattest du dein Leben bereits dem Herrn geweiht. Davon durfte ich dich nicht abhalten.«

Die wenigen Sätze hatten sie derart ermattet, daß sie ausruhen mußte. Dabei ging ihr Atem so flach, daß ihre Brust sich kaum noch hob. Lange würde ihre Kraft nicht mehr reichen.

»Weiß er– weiß Martin, wer sein Vater ist?« hakte Engelbert behutsam nach.

Maria verneinte mit einer Kopfbewegung. »Er hat es nie erfahren.« Ihre Stimme war nurmehr ein Hauch.

»Wo ist er?«

»Ich gab ihn in Pflege, als er zwei Jahre alt war und ich in den Orden eintrat. Er lebt bei–«

Marias Körper bäumte sich in einem weiteren schweren Anfall. Sie war zu kraftlos, um zu husten, und keuchte und würgte zum Gotterbarmen. Diesmal verschaffte es ihr auch keine Erleichterung, daß Engelbert sie aufrecht setzte.

Da sie drohte, gleich wieder umzukippen, hielt er sie an den Schultern gepackt. Und so waren es seine Hände, mit denen er zuerst spürte, daß sie starb. Es war, als schmelze sie unter seinem Griff. Ihr Leben zerrann zwischen seinen Fingern.

»Maria!«

Er zog sie in seine Arme und umschlang sie, aber so fest er sie auch an sich drückte, er konnte sie nicht halten. Es blieb ihm nur die Hülle ihres Leibes, von der Seele verlassen.

Nach langer Zeit legte er sie zurück, schloß ihre Augen und erteilte ihr die letzte Ölung. Dann erst rief er die Äbtissin herein. Sie erkundigte sich, ob Maria, bevor sie entschlafen war, die Sterbesakramente erhalten hatte.

»Ja«, log er, ohne mit der Wimper zu zucken. »Im Sterben bat sie mich, mich ihres Sohnes anzunehmen. Sein Name soll Martin sein. Wißt Ihr, wo ich ihn finden kann?«

Der Äbtissin war anzusehen, daß sie noch einiges mehr wußte. Aber sie sagte Engelbert nur, wo Martin sich aufhielt und wie er zu ihm gelange.

Letzteres war überflüssig. Engelbert kannte den Weg.

Sta!« Der donnernde Ruf aus dem Dunkel hinter der Säule kam so plötzlich und unerwartet, daß Faustus beinahe der Herztod ereilt hätte.

Er kam heftig ins Stolpern und verlor die Schriftrolle, die er mit sich trug. Kaum hatte er sie aufgehoben, sah er sich einem baumlangen Angehörigen der päpstlichen Garde gegenüber.

»Bist du von Sinnen, mich so zu erschrecken?« fauchte Faustus. »Ich hätte mir den Hals brechen können.«

»Spuck nicht so große Töne, Freundchen. Allerdings ist die Unversehrtheit deines Genicks wirklich in Gefahr, wenn du mir nicht auf der Stelle sagst, was du hier zu suchen hast.«

»Was geht dich das an, Postensteher? Ich bin in wichtiger Mission unterwegs. Laß mich gefälligst passieren.«

Mit einer Bewegung, die schneller war als das Auge, zog der Gardist sein Kurzschwert und setzte Faustus die Klinge an die Gurgel. »Dich kenn ich doch. Du bist eine dieser Kellerasseln aus der Bibliothek. Heißt du nicht Ferkulus oder so ähnlich?«

»Faustus«, fiepste der Mönch. »Verdammt, was soll das? Willst du mich abstechen?«

»Jetzt flucht die Assel auch noch. Hat dich dein Abt nicht gelehrt, daß du in der Hölle schmoren wirst wie die Schweinerippen am Spieß, wenn du das nicht unterläßt? Und jetzt sag mir endlich, was du in diesem Teil des Palastes zu suchen hast.«

»Ich muß Seine Eminenz, Kardinal Hugolinus, sprechen. Und zwar sofort.«

»Den Kardinal, soso. Wirst du denn von Seiner Eminenz erwartet?«

»Das nicht. Aber ich habe ihm eine Mitteilung von geradezu unerhörter Wichtigkeit zu machen.«

»Daraus wird nur leider nichts, Freundchen. Hier geht’s für dich nicht weiter. Sieh zu, daß du wieder in deinen Keller kommst. Wenn du den Kardinal sprechen willst, halte dich gefälligst an die vorgeschriebenen Sprechzeiten.«

Faustus streckte dem Gardisten die Schriftrolle entgegen. »Hier– lies. Und wenn du danach noch immer glaubst, die Angelegenheit dränge nicht, dann gehe ich wieder. Aber dann trägst du die Verantwortung, wenn es aufgrund der Verzögerung zu einer Katastrophe kommt.«

Faustus’ Taktik ging auf. Natürlich war der Gardist des Aramäischen nicht mächtig, sofern er überhaupt lesen konnte. Die Rolle verkehrt herum haltend starrte er auf die ihm unbekannten Schriftzeichen und wurde zunehmend unsicherer.

»Nun, wie lautet deine Entscheidung?« fragte Faustus und wippte ungeduldig mit dem Fuß.

»Das ist eine Sprache, die ich nicht verstehe. Was steht da geschrieben?«

Mit einem Gesicht, als gelte es die größte Verschwörung seit der zur Ermordung Caesars zu verhindern, flüsterte Faustus: »Aufgrund dieses Schreibens kann der Kardinal den derzeit gefährlichsten Ketzer weit und breit entlarven. Nur– Eile ist geboten.«

Das Wort Ketzer verfehlte seine unheilvolle Wirkung nicht. Womöglich durch Übereifer die Ergreifung eines Feindes der Kirche verhindert zu haben, noch dazu eines brandgefährlichen, dieses Risiko wollte der Gardist nun doch nicht auf sich nehmen. Er reichte Faustus die Schriftrolle zurück.

»Ich hoffe für dich, daß stimmt, was du behauptest. Solltest du gelogen haben, wirst du den Ratten im Kerker Gesellschaft leisten. Geh weiter und melde dich beim Wächter im Sekretariat des Kardinals. Der wird wissen, was zu tun ist.«

Mit triumphierend vorgerecktem Kinn setzte Faustus seinen Weg fort. Er war gerade zehn Schritte weit gekommen, als ihm ein erneutes »Sta!« durch Mark und Bein fuhr. Genervt drehte er sich um.

»Was ist denn nun noch?«

Grinsend deutete der Gardist auf Faustus’ Unterleib. »Bevor du Seiner Eminenz gegenübertrittst, solltest du vielleicht deine Kutte runterlassen. Es sei denn, du willst, daß er beim Anblick deines jämmerlichen Gehänges einen Lachkrampf bekommt.«

Während Faustus mit vor Scham glühendem Kopf seine Kleidung ordnete, schwor er einen Meineid nach dem anderen: Er würde nie wieder die Unwahrheit sagen, er würde nie wieder Alkohol trinken, er würde nie wieder im Dienst seine Kutte hochraffen, er…

*

Zur selben Zeit lag Hugolinus Graf von Segni, Kardinalbischof von Ostia und engster und einflußreichster Berater von Papst Honorius dem Dritten, bäuchlings auf seinem Lieblingsplatz, einem mit unzähligen Teppichen und Kissen gepolsterten Podium, und suchte Entspannung nach einem anstrengenden Tag.

An seiner Seite hockten seine beiden Leibdiener, Orientalen mit olivfarbener Haut. Der eine spielte Flöte, eine getragene, schläfrig machende Melodie, während der andere des Kardinals Genick und Schultern mit geschickten Fingern massierte. Von wohligen Schauern durchrieselt war Hugolinus kurz vor dem Einnicken, als sein Kammerdiener den Saal betrat, am Rande des Podiums niederkniete und seinem Herrn etwas ins Ohr flüsterte.

»Schick ihn weg«, brummte Hugolinus, ohne die Augen zu öffnen.

»Der Bursche tritt ziemlich keck auf«, sagte der Diener. »Das könnte bedeuten, daß er tatsächlich etwas Wichtiges zu berichten hat.«

»Wer entscheidet hier, was wichtig ist?«

»Natürlich Ihr. Aber Ihr müßt zugeben, meine Ahnungen trügen selten.«

»Leider«, seufzte Hugolinus. »Sag diesem– wie heißt er noch?«

»Faustus.«

»Sag diesem Faustus, sollte sich, was er zu sagen hat, als Nichtigkeit erweisen, werde ich prüfen, ob er über Wasser laufen kann. Mit einem Mühlstein um den Hals. Wenn er trotzdem auf einem Empfang besteht, laßt ihn herein.«

»Eure Entscheidung zeichnet sich wie immer durch größtmögliche Weisheit aus.«

»Hinaus, Schleimer!«

*

Faustus kannte den Kardinal vom Sehen. Einmal hatte er einer Messe Seiner Eminenz in Santa Maria Maggiore beigewohnt, ein anderes Mal hatte er ihn anläßlich einer Prozession auf der Via Flaminia gesehen. Daher wußte er auch, daß Hugolinus großgewachsen und hager war, furchteinflößend stechende, schwarze Augen und eine wahrhaft caesarische Nase hatte. Und er kannte diese eigentümlich schnarrende Stimme, die einem – besonders wenn Hugolinus laut wurde– wie ein Messer in die Eingeweide fuhr.

Eigentlich keine angenehme Begegnung, die Faustus bevorstand, aber da er wußte, was ihn erwartete, war er ziemlich gelassen. Und die alberne Drohung mit dem Mühlstein hatte er ohnehin nicht ganz ernst genommen.

So betrat er den Saal recht schwungvoll– und von einem Augenblick zum anderen war seine Selbstsicherheit weg, als hätte ein Taschendieb sie ihm auf der Schwelle gestohlen. Auf einmal hatte er weiche Knie, einen rumorenden Darm und kalten Schweiß auf der Stirn.

Es war eben doch etwas anderes, ob man den zweitmächtigsten Mann der Kirche aus der Entfernung und geborgen im Gedränge einer Menschenmenge sah oder ob man ihm von Antlitz zu Antlitz gegenüberstand. Dazu kam die geradezu verschwenderische Pracht des Raumes, die Faustus einen Schock versetzte.

Marmor, Ebenholz, Elfenbein, Gold, Silber und Juwelen, wohin das Auge blickte. Selbst der Käfig der Ringeltauben war aus purem Gold und trug an seiner Spitze einen Rubin. Dazu diese Düfte. Überall standen Schälchen mit Kräutern und Räucherwerk und verströmten betörende Gerüche. So in etwa stellte sich Faustus das Paradies vor, abgesehen von den beiden Leibdienern; er würde weibliches Personal bevorzugen.

Auf ein Fingerschnipsen des Kardinals trollten sich die Diener und verschwanden hinter einem purpurnen Vorhang. Er selbst stand auf, verließ das Podium und kam auf Faustus zu. Der warf sich zu Boden und sagte die üblichen Floskeln zum Zeichen seiner Unterwürfigkeit auf. Hugolinus blieb jedoch nicht stehen, sondern ging an ihm vorbei und nahm etliche Schritte entfernt auf einem hochlehnigen Stuhl in der Nähe des Fensters Platz.

Faustus fluchte leise, denn er war eindeutig zu früh und am falschen Platz in die Horizontale gegangen. Aber er traute sich auch nicht, unaufgefordert wieder aufzustehen, womöglich würde ihm das als Ungehorsam ausgelegt. Also kroch er dem Kardinal hinterher, begleitet vom Gekicher der durch den Vorhang spähenden Diener.

»Spielst du Hund, oder was machst du da?« fragte Hugolinus scharf.

»O nein, Eminenz.«

»Dann steh gefälligst auf.«

»Sofort, Eminenz.«

Während sich Faustus hochrappelte, schnarrte Hugolinus: »Man sagte mir, du hättest im Rahmen deiner Übersetzungen eine wichtige Entdeckung gemacht.«

»So ist es, Eminenz«, schnaufte Faustus. »Wichtig und– höchst brisant.«

Hugolinus hob die linke Braue. »Hältst du dich für fähig, das zu beurteilen?«

»In dem Fall… ich glaube, ja, Eminenz.«

»Ist das der Grund, weshalb du dich entschlossen hast, deinen Oberen zu übergehen, den gewohnten Weg zu mißachten und dich umgehend an mich zu wenden?«

»Jawohl, Eminenz. So ist es.«

»Obwohl dir bekannt sein müßte, daß ich späte Störungen hasse wie das Fegefeuer?«

»Ich bitte um untertänigste Vergebung, Eminenz, aber–«

»Hat man dir wenigstens gesagt, was dich erwartet, solltest du dich als Wichtigtuer erweisen?«

Faustus schluckte, daß das Auskeilen seines Adamsapfels durch sämtliche Fettschichten seines Doppelkinns zu erkennen war. »Sehr wohl, Eminenz. Recht deutlich.«

Hugolinus streckte die Hand aus. »Dann reich mir die Schriftrolle.«

Das wollte Faustus auch, zog sie im letzten Augenblick aber wieder zurück. »Verzeiht, Eminenz. Das Schreiben ist auf Aramäisch abgefaßt. Wenn Ihr erlaubt, werde ich Euch…«

Die weiteren Worte blieben Faustus im Halse stecken. Er spürte, wie ihn unter Hugolinus’ Blick eine Art Lähmung überfiel.

»Für was hältst du dich eigentlich, elender Wurm?« fragte Hugolinus mit einer Stimme, die so warm war wie eine Dezembernacht auf dem Aventin. »Denkst du etwa, du aufgeblasenes kleines fettes Nichts von einem Mönch, du wärest der einzige, der des Aramäischen mächtig ist?«

Faustus wollte etwas erwidern, aber er brachte nur dieses Geräusch zustande, das ein Ziegenbock macht, wenn ihm die Kehle durchgeschnitten wird. Dann tapste er einen Schritt vorwärts und legte die Schriftrolle in die Hand des Kardinals.

Der entrollte sie und überflog den Text mit dem schnellen Blick des geübten Lesers. Dabei war seiner Miene nicht anzusehen, ob ihn der Inhalt interessierte oder langweilte. Das blieb selbst so, als er zu der Stelle kam, die bei Faustus die Sturmglocken hatte läuten lassen.

Je länger des Kardinals Gleichmut währte, desto mehr geriet Faustus in Panik. Nicht zum ersten Mal, seit er die Räume Seiner Eminenz betreten hatte, verfluchte er sich selbst, daß er die Sache nicht einfach auf sich hatte beruhen lassen. Auf Anerkennung und eine Belohnung war er aus gewesen, inzwischen wäre er schon froh, wenn er sein Leben nicht verwirkt hatte. Langsam aber unaufhaltsam gaben seine Knie nach, als zöge bereits der Mühlstein an seinem Hals.

»Wer außer dir weiß von diesem Brief?«

Die Frage kam so überraschend, daß Faustus zusammenfuhr und erst einmal Speichel sammeln mußte. »Nie-niemand, Eminenz.«

»Wirklich niemand?«

»Ehrlich, Eminenz. Das schwöre ich bei allem, was mir heilig ist.«

»Das dürfte in deinem Fall nicht allzu viel sein«, sagte Hugolinus kühl. »Aber gut, ich will dir glauben. Ist das der erste Brief des Lukas, den du übersetzt hast?«

»Das ist bereits der dritte.«

»Waren alle an den gleichen Empfänger gerichtet?«

»Ja, ohne Ausnahme.«

»Wurde diese Person, um die es hier geht, bereits in einem der anderen Briefe erwähnt?«

»Nein. Nein, sonst wäre ich früher zu Euch gekommen.«

»Bist du dir sicher?«

»Ja, vollauf.«

»Wie viele Briefe des Lukas befinden sich noch im Archiv?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht keiner, vielleicht mehrere. Da stehen noch viele ungeöffnete Gefäße.«

»Überprüfe sie. Alle. Ich will wissen, ob dieser Name noch ein weiteres Mal erwähnt wird.«

»Das wird aber einige Zeit in Anspruch nehmen.«

»Niemand drängt dich, Faustus. Aber ich denke, bis morgen abend solltest du in der Lage sein, mir einen Bericht zu liefern.«

»Schon morgen? Wie stellt Ihr Euch das vor, Eminenz? Ich–«

»Ich weiß, ich kann mich auf dich verlassen«, sagte Hugolinus, stand auf und führte Faustus zur Tür. »Ach so, wir sollten besser einen Geheimnamen für diese Sache vereinbaren. Hast du einen Vorschlag?«

»Geheimname? Ich weiß nicht. Wie wäre es mit Samuel?«

»Schwachkopf! Doch nicht den richtigen Namen. Nein, nein, da muß etwas anderes her.– Ich hab’s. Das Geheimwort lautet: Bastard.« Hugolinus ließ es über die Zunge perlen. »B-a-s-t-a-r-d. Das ist doch hervorragend. Oder findest du nicht?«

»Natürlich, Eminenz. Bastard. Gewiß, Eminenz. Hervorragend.«

»Und vergiß nicht: Du berichtest nur mir und bewahrst völliges Stillschweigen gegenüber jedermann. Denk immer daran: Die Feinde der Kirche lauern überall.«

»Jawohl, Eminenz. Natürlich. Keine Frage. Nur Euch. Sonst Stillschweigen.«

Katzbuckelnd schob Faustus sich rückwärts durch die Tür. Als sie zufiel, stand der Kammerdiener bereits an Hugolinus’ Seite.

»Gib dies dem Sekretär und sag ihm, er soll sie in den Geheimschrank schließen«, sagte der Kardinal und drückte dem Diener die Schriftrolle in die Hand. »Und dann laß Adrian kommen. Ich habe einen Auftrag für ihn.«

Dichter Nebel lag über der Aue, in der der Eifgenbach in die Dhünn mündet. Das Hufgeklapper der Pferde war zu hören, lange bevor Tiere und Reiter zu erkennen waren. Erst als sie sich bis auf zwanzig Schritte genähert hatten, lösten sich ihre Konturen aus dem Dunst.

Sie waren nur noch zu dritt. Zwar hatte die Gruppe geschlossen im Gasthaus zur Walkmühle in Dünnwald übernachtet, aber morgens hatte Engelbert zwei Mann des Gefolges mit Botschaften nach Köln und Burg gesandt. So ritten in seiner Begleitung nur noch Gumpert von Eller und Thietmar von Hummelsheim, die zu seinen ältesten und treuesten Weggefährten zählten.

Gumpert war ein schmächtiger Mann mit wachen Augen und fein geschnittenem Gesicht, der oftmals für einen des Lesens Kundigen oder sonstigen Schöngeist – ein Weichei eben– gehalten wurde. Ein Irrtum, den mancher Gegner schon bitter bereut hatte.

Bei Thietmar hingegen stimmten Aussehen und Amt voll überein. Er war vierschrötig und kantig und hatte ein Gesicht, dessen Züge vor lauter Narben kaum auszumachen waren.

Das Kloster Altenberg hatten die drei ohne anzuhalten passiert, obwohl Engelbert kurz mit dem Gedanken gespielt hatte, in der Martinskapelle für Marias Seelenheil zu beten. Aber sein ihr gegebenes Versprechen einzulösen, erschien ihm dann doch dringlicher, und so wandten sie sich nunmehr nach Norden und ritten das Eifgental hinauf, der Erzbischof vorneweg.

Hier war die Flußniederung schmaler, und der Wald reichte bis knapp an die Ufer. Der Nebel, der in diesem Tal der Heit genannt wurde, wurde immer undurchdringlicher. Sie hatten knapp eine Meile zurückgelegt, als Gumpert zu Engelbert aufschloß.

»Ich hatte Euch bereits früher an meiner Seite erwartet«, sagte der Erzbischof. »Es sind nur noch wenige hundert Schritte bis zur ehemaligen Eifgenburg.«

»Mich graust es noch heute, wenn ich daran denke«, entgegnete Gumpert und schauderte. »Ich bin gewiß kein Feigling, aber was zuviel ist, ist zuviel.«

»Was ist mit Thietmar? Er wirkt sehr ruhig.«

»Der hat es gut, er glaubt nicht an Geister. Die Ungläubigen sind immer die Furchtlosesten.«

»Trug der Geist tatsächlich seinen Kopf unter dem Arm?«

Gumpert schluckte. »Die Gestalt war über und über weiß, wie mit Mehl bestäubt. Haut, Haare und Kleidung. Nur die Augen leuchteten feuerrot. Als er mich ansprach und aufforderte einzutreten, bewegten sich die Lippen seines abgeschlagenen Kopfes.«

»Aber Ihr habt seiner Aufforderung nicht Folge geleistet?«

»Den Teufel hab ich getan.«

»Und dann sprengte ein schwarzer Ritter aus der Burg?«

»Kein schwarzer, sondern ein blutrot gekleideter auf einem pechschwarzen Pferd. Er trug Harnisch und Helm, aber kein Schwert. Genauer gesagt war er gar nicht bewaffnet, aber er stank nach Schwefel, und die Art, wie er auf mich zuritt, war so furchtbar, daß ich kehrtmachte und davonjagte.«

»Und er verfolgte Euch?«

»Ich weiß es nicht. Mag sein. Ich habe mich nicht mehr umgesehen.«

»Sagt, Gumpert, wie viele Krüge Wein hattet Ihr an jenem Abend eigentlich intus?«

»Oh, ich verstehe, Ihr glaubt mir nicht. Aber der Herr ist mein Zeuge. Der Geist stand an der Stelle, wo sich einst das Burgtor befand. Dort hat er schon meinem Vater und meinem Großvater aufgelauert. Heute läßt sich die Stelle kaum noch wiederfinden, so zerfallen ist alles.«

Wie zur Bestätigung seiner Worte tauchten linker Hand zwischen den Buchenstämmen die Reste des Ringwalls auf, der die Flucht- und Schutzburg einst umgeben hatte. Von der Burg selbst war so gut wie nichts übriggeblieben. Was an Steinen und Balken noch brauchbar gewesen war, hatten die Mönche weggeschleppt und zum Bau des Altenberger Klosters verwandt.

»Wurden Eure Vorfahren denn ebenfalls von dem rot gewandeten Ritter verfolgt?«

Gumpert nickte. »Mein Großvater stürzte während der Hatz, und sein Pferd brach sich den Hals. Er konnte sich nur mit Mühe ins Kloster retten.«

»Dann handelt es sich sozusagen um einen Familiengeist«, sagte Engelbert. »Eine Geisterbegegnung, die vererbt wird. Habt Ihr Eurem Sohn das Wesen auch schon vorgestellt?«

»Macht Euch nur lustig über mich. Aber auch Euch wäre – mit Verlaub gesagt– der Arsch auf Grundeis gegangen, hättet Ihr erlebt, was ich erlebt habe.«

Plötzlich flog in der Nähe laut krächzend ein Schwarm Krähen auf. Gumpert zuckte zusammen, und selbst Engelbert konnte nicht leugnen, daß der Ort ein gewisses Unbehagen auslöste. Ohne daß sie sich abgesprochen hätten, trieb jeder sein Pferd an.

Der erste, der die nächste Flußbiegung erreichte, war Thietmar.

*

Der Weg zog sich am Hang entlang, so daß sie sich der Rausmühle, der ältesten Mühle im Tal, von oben näherten. Schon aus der Entfernung war zu erkennen, in welch schlechtem Zustand sie sich befand.

Das Gebälk schimmerte durch das strohgedeckte Dach, der Lehmverputz war allenthalben rissig, und stellenweise lag sogar das darunterliegende Geflecht bloß. Die Fensteröffnungen waren ladenlos und wirkten so lebendig wie ausgestochene Augen. Außerdem sah das Bauwerk gefährlich instabil aus. Der erstbeste Frühjahrssturm würde es zusammenklappen lassen.

Engelbert wies seine Begleiter an, im Schutz der Bäume zu warten, schließlich sollte niemand durch das Auftauchen von gleich drei Rittern erschreckt werden. Während Gumpert und Thietmar es sich auf einem umgestürzten Baum bequem machten und die Brotbeutel öffneten, ritt er selbst hinunter ins Tal und umrundete die Mühle.

Die hölzerne Rinne, über die der Zulauf zum Rad erfolgte, war so morsch, daß sie zusammengebrochen war. Das Rad selbst war moosbewachsen, hatte einen Schlag und hing schief auf der Welle. Es war, wie es Engelbert zugetragen worden war: Hier wurde schon länger kein Getreide mehr gemahlen.

Erst auf den zweiten Blick entdeckte er Spuren menschlicher Anwesenheit. So sahen die neben dem Eingang gestapelten Brennholzscheite frisch gehackt aus. Auch lagen auf Maß gekürzte Strohbündel bereit, um das Dach zu flicken. Engelbert stieg aus dem Sattel und trat näher. Die Scharniere der Tür waren erst kürzlich gefettet worden.

In dem Augenblick schnaubte sein Pferd, und wie zur Entgegnung ertönte Schweinequieken aus einem Koben neben dem Lagerschuppen. Engelbert lauschte. Deutlich war jetzt auch das Gegacker von Hühnern zu vernehmen, obwohl er keinen Verschlag oder Käfig sah.

Zweifellos, die Mühle war bewohnt. Und hier wurde gewirtschaftet, wenn auch nicht mehr im ursprünglichen Sinn.

Auf sein Klopfen hin rührte sich nichts. Er rief den Müller und danach Martin, und als auch das unbeantwortet blieb, zog er am Griff und stellte fest, daß die Tür nur angelehnt war. Mit eingezogenem Kopf stieg er über die Schwelle.

Im Inneren war es dunkel wie in einer Bärenhöhle. Engelbert tastete sich die Wand entlang bis ans erste Fenster und schlug das steifgefrorene Schaffell zurück, das sowohl als Sicht- als auch als Wetterschutz diente. Das einfallende Tageslicht beleuchtete eine Einrichtung, die in ihrer Ärmlichkeit der einer Bauernkate in nichts nachstand.

Neben dem Grubenrad, das früher die Kraft der Mühlradwelle auf die lotrecht stehende Mahlachse übertragen hatte, und der Kiste, die einmal als Kornspeicher gedient hatte, drängten sich ein Tisch, ein Schemel und eine Pritsche. Ihrer Rohheit nach zu urteilen waren die Stücke von einem wenig begabten Handwerker gezimmert worden. Stroh und Decke auf der Pritsche waren noch warm. Lange konnte es nicht her sein, daß die Schlafstatt benutzt worden war.

In der Ecke hinter der Kornkiste, der einzige Platz, an der der Boden aus Bruchsteinen und nicht aus festgestampftem Lehm bestand, befand sich die Feuerstelle. Dort baumelte an einem Dreibein ein eiserner Kessel. In der Asche darunter glommen noch einzelne Späne. Engelbert sah in den Topf. Hirsebrei, ein Arme-Leute-Essen.

Unmittelbar neben der Tür führte eine Leiter ins Obergeschoß. Sie schien solide gefertigt, trotzdem prüfte Engelbert, ob sie sein Gewicht trug. Oben war es heller, durch die zahlreichen Löcher im Dach fiel Licht. Über eine Stiege kam man zum Fülltrichter, unter dem Trichter lagen die Mühlsteine.

Etwas abseits standen ein Kübel voll gefrorenem Lehm und ein Weidenkorb, in dem primitives Werkzeug lag. Das war alles. Engelbert stieg wieder herunter, nahm auf dem Schemel Platz und setzte den Helm ab. Er würde warten.

Kaum saß er untätig herum, kehrten die trübsinnigen Gedanken zurück, die ihn quälten, seit er von der Äbtissin erfahren hatte, wo Martin lebte. Ihm als Grafen von Berg war die Rausmühle bekannt, wenngleich er noch nie hier gewesen war. Genauso wohlbekannt wie die Klagen der Bauern aus dem Umland, der Müller sei ein unehrlicher Bursche. Außerdem ging das Gerücht um, in der Mühle spuke es. Aber Engelbert hatte noch von keiner Mühle gehört, von der das nicht behauptet wurde.

Was ihm eher Sorgen bereitete, waren die Berichte seines gräflichen Hausmeisters, denen zufolge der Müller an Aussatz litt. Das war auch der Grund, warum der Mühlenbetrieb vor knapp zwei Jahren eingestellt worden war. Die Mahlrechte hatte nun ein gewisser Markus inne, der weiter unten im Tal seine Mühle betrieb.

Engelbert stellte sich die bange Frage, ob Martin ebenfalls erkrankt war. Wenn man so auf Tuchfühlung lebte und arbeitete, konnte das kaum ausbleiben. Da stand er nun kurz vor der ersten Begegnung mit seinem Sohn, und wenn es der Wille des Herrn war, würde er ihn nur als Aussätzigen kennenlernen. Mit Kopfschütteln versuchte Engelbert die Bilder von abfaulenden Gliedmaßen zu verscheuchen, die ihm plötzlich in den Sinn kamen.

Plötzlich knarrte die Tür in seinem Rücken, und ein Windstoß blähte den Mantel um seine Beine. Engelbert wollte sich umdrehen, gefaßt auf jeden nur erdenklichen Anblick, den sein Sohn bieten mochte. Doch dazu hatte er keine Gelegenheit.

Das Holz traf ihn hart oberhalb des rechten Ohrs. Nicht so hart, daß es ihm den Schädel zerschmetterte, jedoch heftig genug, um ihn kopfüber in den tiefsten Brunnenschacht fallen zu lassen, der je von Menschenhand gegraben worden war.

Dunkelheit umfing ihn, aber ehe er auf dem Grund aufschlagen konnte, wurde ihm die Gnade einer tiefen Ohnmacht zuteil.

Das war der Augenblick, in dem Engelbert vom Schemel kippte.

Der kleine rundliche Mann, der an diesem Morgen die päpstliche Privatkapelle Sancta Sanctorum mit schlurfendem Schritt und dem Blick eines bestraften Hundes verließ, war kein geringerer als Seine Heiligkeit höchstpersönlich, Papst Honorius der Dritte.

Wieder einmal war die Frühmesse eine einzige Enttäuschung gewesen. Statt ihm die nötige spirituelle Kraft und Stärke für den Tag zu geben, hatte sie ihn zutiefst deprimiert. Daß er zunehmend an Zerstreutheit und allgemeinem körperlichen Verfall litt, damit hatte sich Honorius angesichts seines Alters von vierundsiebzig Jahren abgefunden. Was ihn jedoch beunruhigte und quälte, war, daß im gleichen Maße, wie seine Kräfte schwanden, auch sein Glaube nachließ.

Die Ursache dafür sah er in seinem nunmehr seit Jahren vergeblichen Beten, Bitten und Flehen, der Herr möge ihm die Verwirklichung seines einzigen Lebenstraumes ermöglichen: die Durchführung des bereits von seinem Vorgänger, Innocenz dem Dritten, angekündigten Kreuzzuges.

Aber je inbrünstiger Honorius betete, desto mehr hatte er das Gefühl, daß seine flehenden Worte das Ohr des Herrn nicht erreichten. Fast kam es ihm vor, als bete er in einer dem Allmächtigen unverständlichen Sprache.

Zum anderen litt er an sich selbst, an seiner eigenen Schwäche. Mit einem tiefen Seufzer mußte Honorius daran denken, was er alles hätte erreichen können, würde er nur über einen Bruchteil der Wesenszüge seines Vorgängers verfügen.

Der war ein Kirchenmann gewesen, wie man ihn sich nur hatte wünschen können. Von bestechender Intelligenz, unstillbarem Ehrgeiz und geradezu furchteinflößender Willenskraft. Mit seinen Visionen und seiner Gestaltungskraft hatte Innocenz der Kirche zu großer Macht verholfen.

Eine Macht, die Honorius nicht bewahren konnte, die ihm zwischen den Fingern zerrann. Er war eben nur ein Verwalter des Heiligen Stuhls, mehr nicht. Gebildet, sanftmütig, beliebt und so gefürchtet wie ein Schmetterling.

Als Honorius um die nächste Ecke bog, merkte er, daß er sich verlaufen hatte. Er war so in Gedanken gewesen, daß er statt in seine Gemächer in Richtung Thronsaal spaziert war, also genau in die entgegengesetzte Richtung. Von hier aus noch vor dem Essen zurückzulaufen, war ihm zu anstrengend, und eine Sänfte war um diese Zeit auch nicht zu bekommen. Selbst die eigens für ihn angefertigte gläserne Papasänfte wurde neuerdings ständig von einem dieser fußkranken Wichtigtuer aus der Verwaltung benutzt, der sich damit kreuz und quer durch den Lateran tragen ließ.

So kletterte Honorius mit verdrießlicher Miene auf seinen Thron, ein mit Schnitzereien und Juwelen überladenes Monstrum, das vor allem eins war: unbequem.

*

»Eure Heiligkeit, schlaft Ihr?«

Honorius schreckte hoch. Er war tatsächlich eingenickt. Für einen Augenblick war er verwirrt und mußte blinzeln, weil ihm die tiefstehende Wintersonne ins Gesicht schien.

»Hugolinus, seid Ihr es?«

»Ja, Eure Heiligkeit, ich bin es«, sagte der Kardinal und trat zwischen Sonne und Papst.

»Ich habe schon hundertmal gesagt, der Thron steht an der falschen Stelle«, nörgelte Honorius in seinem üblichen wehleidigen Tonfall. »Er gehört auf die andere Seite des Saals. Oder das Fenster müßte zugemauert werden.«

»Wollt Ihr, daß ich mich darum kümmere?«

»Ach, was soll’s! Jetzt ärgere ich mich schon so lange darüber, da kann’s auch so bleiben. Was führt Euch her? Gibt’s Neuigkeiten bezüglich unseres Kreuzzuges?«

»Leider nein, Eure Heiligkeit. Ich kam zufällig vorbei, sah Euch hier sitzen und dachte, ich erkundige mich nach Eurem Wohlbefinden. Was macht Euer Fuß?«

Hugolinus’ Frage betraf den Gichtanfall, den der Papst in der vergangenen Woche erlitten hatte. Für mehrere Tage hatte Seine Heiligkeit mit einem dick geschwollenen, feuerroten rechten Fuß das Bett hüten und fürchterliche Schmerzen erdulden müssen. Einzig kalte Umschläge hatten Linderung gebracht.

»Danke, schon besser. Ich kann wieder auftreten, auch wenn’s manchmal noch zwackt.«

»Ich habe mit Bedauern vernommen, daß der Medicus, den ich Euch empfahl, nicht zu Eurer Zufriedenheit war.«

»Ein Quacksalber!« rief Honorius und wedelte mit den Händen, als werde er von einem Schwarm Stechfliegen angegriffen. »Ein Scharlatan! Ich habe ihn umgehend entlassen.«

»Mir erschien er immer sehr fähig. Wie kam es, daß er Euer Mißfallen erregte?«

»Pah, von wegen fähig! Behauptet der Wicht doch glatt, mein Harn sei zu sauer. Selten ist mir eine nichtssagendere und unmaßgeblichere Aussage zu Ohren gekommen. Schließlich scheide ich den Harn aus, da ist es ja wohl völlig gleichgültig, ob er nun süß oder sauer ist.«

»Nun ja…«

»Außerdem empfahl er mir, meinen Stuhl einer eingehenden Betrachtung zu unterziehen. Täglich sollte ich Beschaffenheit, Farbe und Geruch prüfen und ihm davon berichten. Da habe ich ihm klar gemacht, daß der Mensch seinen Kot nicht grundlos hinterrücks ausscheide. Denn wäre es im Sinne des Herrn, daß wir unsere Exkremente begutachten, hätte er uns zweifelsfrei mit einem zweiten Paar Augen am Hinterteil versehen.«

»So kann man es natürlich auch sehen«, murmelte Hugolinus. »Sei’s drum, Hauptsache, Ihr seid wieder wohlauf. Seid Ihr denn so weit bei Kräften, um bei Bedarf eine Reise anzutreten?«

Honorius wurde kreidebleich, und seine Kinnlade klappte herunter. »Droht wieder ein Aufstand? Muß ich weg aus Rom?«

»Keine Angst, so weit ist es noch nicht. Allerdings kann ich nicht leugnen, daß Euer alter Gegenspieler, Senator Parentius, viel Zeit darauf verwendet, die Bürger Roms gegen Euch aufzuwiegeln. Mit welchem letztendlichen Erfolg, muß abgewartet werden. Noch ist die Mehrheit Euch zugeneigt.«

Mit jedem Wort war der Papst mehr in sich zusammengesackt, bis er auf dem riesigen Thron wie ein kleines Kind wirkte, das sich in die Welt der Erwachsenen verirrt hat.

»Wenn ich wirklich die Stadt verlassen muß, will ich aber nicht wieder nach Rieti. Der dortige Palast ist feucht, die Aussicht öde und das Essen eine Zumutung.«

»Wie wäre es mit Tivoli?«

»Das klingt schon besser. Ist Euch die dortige Küche bekannt?«

»Man hört nur Gutes. Übrigens, Eure Heiligkeit, ich hörte zufällig, man werde Euch heute mittag Fasan reichen.«

»Fasan?« Der zusammengefallene Honorius nahm wieder Form an. »Das ist ja wunderbar. Vielleicht sogar mit getrockneten Pflaumen und Mandeln?«

»Wer weiß, wer weiß.« Hugolinus wiegte den Kopf. »Jedenfalls lassen die Düfte, die der Küche entsteigen, auf feinste Genüsse hoffen.«

»Haltet ein mit Eurer Rede, mir läuft schon das Wasser im Mund zusammen. Ach, dann nimmt der Tag ja doch noch eine Wende zum Guten.«

»Eure Freude ist meine Freude, Eure Heiligkeit. Da wäre nur noch eine Kleinigkeit.«

»Ja?«

»Ich brauche eine Vollmacht Eurer Heiligkeit, die mir erlaubt, in Eurem Namen Befragungen durchführen zu lassen.«

»Zu welchem Zweck?«

»Nichts von Bedeutung. Es geht lediglich um die Ergreifung eines Ketzers.«

»Oh! Etwa aus einer der namhaften Familien?«

»Noch ist über seine Abstammung nichts bekannt. Ich möchte nur auf jeden erdenklichen Fall vorbereitet sein.«

»Natürlich, natürlich«, sagte Honorius und stieg vom Thron, wozu ein kleiner Hüpfer notwendig war. »Bringt mir die Vollmacht nach dem Essen, dann werde ich sie unterzeichnen und siegeln.«

»Das wird nicht nötig sein, Eure Heiligkeit, ich habe alles Notwendige hier. Ihr könnt das Schreiben gleich unterzeichnen.«

»Typisch Hugolinus. Wie immer bestens vorbereitet.«

»Wozu soll ich Euch wegen einer derartigen Kleinigkeit ein zweites Mal belästigen? Ihr habt gewiß Wichtigeres zu tun.«

»Fürwahr.«

An einem der Tische überflog Honorius das Schreiben. Es war eine jener Vollmachten, wie er sie für den Kardinal schon dutzendfach unterzeichnet hatte. Der Inhalt war recht allgemein gehalten, verlieh jedoch enorme Befugnisse. Wenn Hugolinus gewollt hätte, hätte er damit den Petersdom verkaufen können.

Seine Heiligkeit setzte sein Zeichen unter den Text, Hugolinus tropfte Wachs auf das Pergament, in das wiederum der Papst seinen Ring drückte.

»Hoffentlich ist er gut abgehangen«, sagte Honorius nach Beendigung der kleinen Zeremonie.

»Wie? Oh, der Fasan. Natürlich. Der neue Koch versteht sein Handwerk. Soll ich Euch in den Speisesaal begleiten?«

»Nein, laßt es gut sein. Jagt lieber Euren Ketzer.«

»Ganz wie Eure Heiligkeit wünschen.«

Als Honorius davonschritt, blickte er etwas heiterer drein als nach der Messe. Zwar noch immer wie ein zur Ordnung gerufener Vierbeiner, aber auch wie einer, dem eingefallen ist, wo ein riesiger Knochen vergraben liegt.

*

Beim Betreten seines Arbeitszimmers hielt Hugolinus inne, denn sein Sekretär hatte nicht erwähnt, einen Besucher vorgelassen zu haben. Die Überraschung währte allerdings nur kurz, denn der Mann, der sich auf der gepolsterten Liege ausgestreckt hatte und schlief, war ihm bestens bekannt.

Wie stets war der Mann prächtig gekleidet. Heute trug er eine tiefblau gefärbte Kutte über einem weinroten, in Falten gepreßten Obergewand mit Hängeärmeln. Seine unteren Extremitäten steckten in langen grünen Strümpfen und Lederschuhen, die an ihrer Spitze mit goldenen Nägelchen verziert waren. Das geölte schwarze Haar wurde mit Hilfe eines goldenen Stirnbandes zurückgehalten. Alle Stücke waren auf das Sorgfältigste gearbeitet, nirgendwo gab es eine schiefsitzende Naht oder einen unsauberen Saum.

Im Kontrast zu der extravaganten Aufmachung stand das Gesicht des Mannes. Es war von einer Durchschnittlichkeit, die je nach Standpunkt beängstigen oder faszinieren konnte. Selbst Menschen, die ihn gut kannten, war es nahezu unmöglich, sein Äußeres zu beschreiben. Es gab einfach keine Merkmale, schon gar keine markanten. Jede einzelne Partie und damit das gesamte Gesicht war derart unauffällig, daß man bereits vergessen hatte, wie der Mann aussah, während er einem noch gegenüberstand.

Die einzige Ausnahme bildeten seine Augen. Braun und eigentlich sanftmütig, vermochten sie von einer Sekunde zur nächsten eine Härte auszustrahlen, als seien die Pupillen kristallisiert. Dann zeigten sie die eisige Skrupellosigkeit, zu der der Mann fähig war. Eine Eigenschaft, die der Kardinal neben vielen anderen an ihm schätzte, die ihn aber auch – obwohl er das niemals zugegeben hätte– gelegentlich frösteln ließ.

Hugolinus trat an die Liege, und im gleichen Augenblick hob der Mann die Lider. Seine Augen strahlten freundlich und warmherzig wie beim Anblick eines alten Freundes. Seine Worte aber jagten dem Kardinal einen Schauer über den Rücken.

»Ihr habt mich rufen lassen, Eminenz, und hier bin ich«, sagte Adrian und lächelte. »Wen darf ich diesmal für Euch töten?«

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