Der Bauernkrieg - Thomas Kaufmann - E-Book

Der Bauernkrieg E-Book

Thomas Kaufmann

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Beschreibung

Der Bauernkrieg bildet neben der Reformation die Schwelle zur Neuzeit. Anders als die Reformatoren aber können seine Protagonisten ihre teilweise modern klingenden Forderungen nicht durchsetzen. Die Erhebung der Bauern wird blutig niedergeschlagen. Der Bauernkrieg wurde immer auch ideologisch interpretiert – schon zeitgenössisch war er, so Thomas Kaufmann, vor allem ein Medienereignis. Durch umfassende Quellenstudien entlarvt Kaufmann ideologische Verzerrungen und präsentiert eine fesselnde Neuinterpretation dieses bedeutenden Ereignisses. Mit Leidenschaft und Expertise öffnet er die Leser in einen völlig neuen Blick auf den Bauernkrieg. Eine Analyse, die nicht nur Vergangenes beleuchtet, sondern auch die Sichtweise auf die Gegenwart und Zukunft neu formt.

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Seitenzahl: 833

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Buchvorderseite

Titelseite

Thomas Kaufmann

Der Bauernkrieg

Ein Medienereignis

Für Antje

Impressum

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.de

Umschlaggestaltung: geviert.comUmschlagmotiv: Prophecy of the German Peasants’ War,popular revolt in the German‐speaking areas of Central Europefrom 1524 to 1525. Woodcut by Erhard Schon on the front coverto Leonhard Rynman’s “Practica On the Great and MiddlingConjunction of the Planets …”. Nurnberg, 1523. Facsimile.Engraving. Colored - © akg-images / Album / Prisma

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern

ISBN Print: 978-3-451-39028-9ISBN E-Book (E-PUB): 978-3-451-83422-6ISBN E-Book (PDF): 978-3-451-83423-3

Inhalt

Abkürzungen, Siglen und Zitierweise
Einleitende Hinweise
Kapitel 1 Lange Schatten ‒ Zur Geschichte der Deutung und Erforschung des Bauernkrieges
Zeitgenössische Deutungen ‒ Luthers Sicht des Bauernkrieges
‚Altgläubige‘ Perspektiven auf den Bauernkrieg
Luther, Müntzer und der Bauernkrieg in der Sicht der Parteigänger Luthers
Deutungen des Bauernkriegs im konfessionellen Zeitalter
Neue Deutungsperspektiven auf den Bauernkrieg in Pietismus und Aufklärung
Bauernkriegshistoriographie als Geschichtspolitik ‒ das 19. Jahrhundert
Forschungstendenzen im 20. Jahrhundert
Kapitel 2 „Bauernkriege“ vor dem Bauernkrieg? ‒ Bewegte Bauernbilder in unruhigen Zeiten
Zeichen der Zeit
Erwartungen für das Jahr 1524
Gesellschaftsentwürfe
Utopien und Projektionen des ländlichen Lebens
Bauernbilder in literarischen Texten
Der „Karsthans“ und seine Avatare
Bauernbilder in der Druckgraphik
Das publizistische Echo der vorreformatorischen bäuerlichen Aufstände
Bilanzierende Überlegungen
Kapitel 3 Die Publizistik des Bauernkrieges ‒ der Bauernkrieg in der Publizistik
Bauernaufstände und Bauernkrieg
Bäuerliche Kommunikationskultur und Bauernkrieg
Die „Zwölf Artikel“ als publizistisches Phänomen
Eine stadtbürgerliche Adaption der „Zwölf Artikel“: das Beispiel Frankfurt/M.
„Handlung und Artikel“ ‒ die sogenannte „Memminger Bundesordnung“, ein Schritt zur Tat
Der Widerspruch der Wittenberger Reformatoren gegen die „Zwölf Artikel“ und die „Memminger Bundesordnung“
Anonyme Agitation im Geist der Revolte: Die Flugschrift „An die Versammlung gemayner Pawerschafft“
Publizistische Deeskalationen ‒ Modelle gewaltfreien Konfliktaustrags
Wider den Wittenberger Bauernschlächter ‒ Eine publizistische Kampagne
Der publizistische Feldzug der Wittenberger gegen ihre Kritiker und die literarische Vernichtung Thomas Müntzers
Die Konsolidierung der lutherischen politischen Ethik infolge des Bauernkriegs
Die Erfindung und Wertung des „Bauernkrieges“ im Lied
Bilanzierende Überlegungen
Kapitel 4 Verarbeitungen des Bauernkriegs ‒ Impressionen und Perspektiven
Das ‚Ereignis‘ Bauernkrieg ‒ eine historische Zäsur?
Der schreckliche, der verborgene Gott ‒ die radikale Theologie von Luthers Schrift „De servo arbitrio“ (Vom unfreien Willen)
Ordnung stiften nach Wittenberger Art
Klandestine Resistenzen ‒ Bauernkriegsveteranen der „radikalen Reformation“
„Von der newen wandlung eynes christlichen Lebens“ ‒ Nachkriegshoffnungen
Neue Bauernbilder in der druckgraphischen Kunst ‒ einige Impressionen
Heldendämmerung ‒ Abschied von sinnstiftenden Narrativen
Dank
Anhang
Anmerkungen
Quellen- und Literaturverzeichnis
Abbildungsnachweis
Register
Über den Autor

Abkürzungen, Siglen und Zitierweise

Im Haupttext und in den Anmerkungen bzw. den bibliographischen Angaben werden Zuschreibungen von Drucken des 16. Jahrhunderts, deren Angaben erschlossen sind, in eckigen Klammern um den Namen des [Druckers], des [Druckorts] oder des [Erscheinungsjahres] gesetzt. „Der [1525] bei [Michael Blum] in [Leipzig] erschienene Druck …“ bedeutet also, dass der Druck nicht firmiert ist, d. h. weder die Jahreszahl noch der Druckername noch der Druckort im zeitgenössischen Druck genannt werden. Die fehlenden Angaben können in der Regel aufgrund typographischer Zuschreibungen zuverlässig ergänzt werden. Zitiert wird im Falle der Originaldrucke in der Regel unter Angabe der VD 16- bzw. GW-Nummer und der jeweiligen Bogen- bzw. Blatt- oder Seitenzählung nach Recto- (r) oder Versoseite (v); um welche Schrift es dabei jeweils geht, ergibt sich aus dem Kontext. Sofern nicht anders angegeben, liegen die entsprechenden Drucke in digitalisierten Exemplaren vor, die mühelos über die Homepage des VD 16 oder des GW aufgerufen werden können. Falls spezifische Exemplare von Interesse waren, wurden diese jeweils mit „Ex.“, dem entsprechenden Fundort und der Signatur zitiert. Sofern kritische Editionen der zitierten Schriften vorliegen, werden diese neben den zeitgenössischen Drucken berücksichtigt. Nicht in dem vorliegenden Abkürzungsverzeichnis verwendete Abkürzungen folgen dem Abkürzungsverzeichnis der Theologischen Realenzyklopädie (TRE), zusammengestellt von Siegfried Schwertner, Berlin/New York 32014. Verweise (s. o., s. u., Anm.) beziehen sich auf das jeweilige Kapitel, in dem sie begegnen; s. Kapitel 1‒4 mit Angabe einer Anm. verweist auf das jeweils genannte Kapitel und die entsprechende Stelle.

Ansonsten bedeuten:

Abb.

Abbildung

Anm.

Anmerkung

a. R.

am Rande (Randglosse in zeitgenössischem Druck oder in der WA)

BDS 1

Martin Bucer, Deutsche Schriften, hg. von Robert Stupperich, Bd. 1, Gütersloh/Paris 1960

Benzing/Claus

Josef Benzing/Helmut Claus, Luther-bibliographie. Verzeichnis der gedruckten Schriften Martin Luthers bis zu dessen Tod, 2 Bde., Baden-Baden 21989/1994

Bg.

Bogen

Bl.

Blatt

cj.

Konjektur

CR

Corpus Reformatorum

dat.

datiert; Datum

DBETh

Deutsche Biographische Enzyklopädie der Theologie und der Kirchen, hg. von Bernd Moeller mit Bruno Jahn, 2 Bde., München 2005

{digit.}

digitalisierte Internetressource

DRTA J.R.

Deutsche Reichstagsakten, Jüngere Reihe

dt.

deutsch

DWb

Deutsches Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm, 32 Bde., Leipzig 1854‒1963; ND München 1984; elektronische Version: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm auf CD-ROM und im Internet (Wörterbuchkreuz; www.dwb.uni-trier.de)

ed. / Ed.

ediert / Edition

Ex./Exe.

Exemplar, Exemplare

fl.

Florene; Goldgulden; entspricht 20 Groschen (gr.)

FWb

Ulrich Goebel/Oskar Reichmann/Anja Lobenstein-Reichmann (Hg.), Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, Bd. 1 ff., Berlin/New York 1989 ff.; digitale Ausgabe: https://fwb-online.de

GW

Gesamtkatalog der Wiegendrucke (www.gesamt-katalogderwiegendrucke.de)

i. S.

im Sinne; entspricht der Bedeutung etc.

KGK

Thomas Kaufmann (Hg.), Andreas Bodenstein von Karlstadt, Kritische Gesamtausgabe, Bd. I ff., Gütersloh 2017 ff.; digitale Version: diglib.hab.de/edoc/ed000216/start.htm; Bd. I ff.

lat./Lat.

lateinisch / Latein

LuStA

Hans-Ulrich Delius (Hg.), Martin Luther, Studienausgabe, Bd. 1‒6, Berlin/Leipzig, 1979‒1999

MBW

Melanchthons Briefwechsel. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe. Im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften hg. von Heinz Scheible, Abt. Regesten, bearb. von Heinz Scheible und Walter Thüringer, Stuttgart ‒ Bad Cannstatt 1977 ff.

MBW.T

Melanchthon Briefwechsel, Abt. Texte, Bd. 1 ff., Stuttgart ‒ Bad Cannstatt 1991 ff.

MEW

Karl Marx ‒ Friedrich Engels, Werke, Bd. 1 ff., Berlin 1962 ff.

Menn.Lex V

Mennonitisches Lexikon, im Auftrag des Mennonitischen Geschichtsvereins hg. von Hans-Jürgen Goertz (www.mennlex.de); Buchausgabe: 3 Bde. Bolanden-Weierhof 2020

MSA

Robert Stupperich (Hg.), Melanchthons Werke in Auswahl, 7 Bde., Gütersloh 1951‒1975, zum Teil in 2. Aufl. 1978‒1983

MSB

Thomas Müntzer, Schriften und Briefe. Kritische Gesamtausgabe, hg. unter Mitarbeit von Paul Kirn von Günther Franz [QFRG 33], Gütersloh 1968

ND

Nach-/ Neudruck

o. Dr.

ohne Druckerangabe

o. J.

ohne Jahresangabe

o. O.

ohne Ortsangabe

Reg.

Register

RGG4

Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, 4., völlig neu bearb. Aufl., Bd. 1‒8, Tübingen 1998‒2005; Register Tübingen 2007

s. v.

sub voce

ThMA

Thomas-Müntzer-Ausgabe. Kritische Gesamtausgabe, hg. im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 2, Leipzig 2010; Bd. 3, Leipzig 2004; Bd. 1, Leipzig 2017

USTC

Universal Short Title Catalogue (http://www.ustc.ac.uk)

VD 16

Bayerische Staatsbibliothek [München] ‒ Herzog August Bibliothek [Wolfenbüttel] (Hg.), Verzeichnis der im deutschen Sprachgebiet erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts, Bd. 1‒25, Stuttgart 1983‒2000 (http://www.vd16.de)

VD 17

Das Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts (www.vd17.de)

VD 18

Das Verzeichnis Deutscher Drucke des 18. Jahrhunderts (http://www.vd18.de)

VL2

Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2., völlig neu bearb. Auflage, hg. von Kurt Ruh u. a., 11 Bde., Berlin/New York 1978‒2004

VL 16

Wilhelm Kühlmann/Jan-Dirk Müller/Michael Schilling/Johann Anselm Steiger/Friedrich Vollhardt (Hg.) ‒ J. Klaus Kipf (Red.), Frühe Neuzeit in Deutschland 1520‒1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon, Bd. 1‒6, Berlin, Boston 2011‒2017.

VLHum

Franz Josef Wortbrock (Hg.), Deutscher Humanismus 1480‒1520. Verfasserlexikon, 2 Bde., Berlin/Boston 2008‒2013

WA/WABr/WATr

Kritische Gesamtausgabe der Werke Martin Luthers: Abt. Schriften, 73 Bände, Weimar 1883‒2009; Abt. Briefwechsel, 18 Bände, Weimar 1930‒1985; Abt. Tischreden, 6 Bände, Weimar 1912‒1921

Z

Huldrych Zwingli, Sämtliche Werke, hg. von Emil Egli, Joachim Staedtke, Fritz Büsser u. a., Berlin, Zürich 1905 ff. (CR 88 bis 101)

Z.

Zeile

ZV

Supplement zum Grundwerk (VD 16) mit kompletten Titelaufnahmen im elektronischen Zusatzverzeichnis

Einleitende Hinweise

Der Bauernkrieg des Jahres 1525 gehört zu den zentralen Themen der deutschen und europäischen Geschichte der Frühen Neuzeit. Das Interesse an ihm unterlag erheblichen Veränderungen und schwankenden Wertungen. Infolge des eruptiven und gewaltsamen Umbruchs der politischen und gesellschaftlichen Ordnung durch die Französische Revolution kamen neue Sichtweisen auf den Bauernkrieg auf, die ihn zur historischen Referenz für veränderungswillige politische Bewegungen werden ließen. Bis ins späte 18. Jahrhundert hinein hatte jede Erhebung per se als böse und illegitim gegolten, ja als Angriff auf die gottgewollte Ordnung.

Ein altständisch hierarchisches Gesellschaftsmodell dominierte weithin, das ‒ etwa in Form der Lehre von den drei Ständen ‒ den Bauern als niedrigstem gesellschaftlichen Stand (status oeconomicus) die Aufgabe zuschrieb, die höheren Stände, Adel (status politicus) und Klerus (status ecclesiasticus), im Sein zu halten, zu versorgen, ihre Subsistenzgrundlagen zu sichern und ihnen zu dienen, zu Willen und gehorsam zu sein. Nach dem kanonischen Recht war es den Laien im Ganzen erlaubt, „zu heiraten, die Erde zu bearbeiten, einander zu richten, Prozesse zu führen, Opfergaben auf die Altäre zu legen und den Zehnten zu zahlen“; verheißen war ihnen, mittels der priesterlichen Helfer „zum Heil [zu] kommen, sofern sie die Laster mittels des Tuns des Guten mieden.“1 Dem geistlichen und dem politischen Stand aber eignete eine supranaturale Legitimation ‒ sei es durch die Heiligkeit eines edlen Geblüts, einen Inaugurationsritus (Salbung; Krönung) oder die sakramentale Priesterweihe. Die Bauern aber, die ca. 90 Prozent der zeitgenössischen Gesellschaft ausmachten, galten als die menschlichen Naturwesen schlechthin ‒ grob, ungeschlacht, primitiv und sündig, den Tieren, mit denen sie lebten und umgingen, nahe verwandt.

Gesellschaftsentwürfe dieser Art stammten von Vertretern der oberen Stände; als Subjekte eines eigenen politischen Willens oder als Inhaber von Rechten kamen die niedersten Laien, die Bauern, in ihnen nicht vor. Höheren geistigen Bedürfnissen und Leistungen abhold, konnten die Landmänner und -frauen des Heils nur teilhaftig werden, wenn Kleriker für sie beteten und ihnen die Sakramente spendeten oder auch weltliche Herren Kirchen stifteten, die sie besuchen konnten. Ob der „gemeine Mann“ bei exzeptionellen religiösen Events mit zahlreicher, vielleicht gar massenhafter Beteiligung ‒ etwa Prozessionen, Wallfahrten, Ablasskampagnen oder Heiltums-, also Reliquienschauen, auch Judenpogromen ‒ als Handlungssubjekt ‚fassbar‘ wird, ist allerdings fraglich; eine eigene Stimme hat er in den einschlägigen Quellen nicht. An sich sind „Massen“ ein Phänomen der Neuzeit; manches spricht aber dafür, dass wachsendes Heilsverlangen, Höllenangst, Unbehagen gegen einzelne Repräsentanten der Kirche, das aufstrebende Städtewesen, grassierende Verunsicherungen ‒ die durch Teuerungen, Hungerkrisen, Epidemien, neuartige, unbekannte Krankheiten wie die Syphilis oder durch Naturkatastrophen und Wunderzeichen aller Art angefacht wurden ‒ dazu beitrugen, dass um 1500 immer wieder einmal größere Menschen- und auch Bauerngruppen zusammenkamen als je zuvor.

Der erstmals in einem Lieddruck von 15252 und dann auch in der aus der Mitte des Jahrhunderts stammenden Chronik Peter Harers, eines pfälzischen Hofschreibers,3 verwendete Begriff des „Bauernkrieges“, unter den die Aufstände der Jahre 1524/25 üblicherweise subsumiert werden, führt eine heute zumeist unerkannt bleibende pejorative bzw. ironische Wertungstendenz mit sich. Denn Bauern gebührte es nicht, Kriege zu führen; dies war eine Angelegenheit der weltlichen und geistlichen Herren, des Adels, der Fürsten, des Kaisers, der Fürstbischöfe oder -äbte, der reichsstädtischen Magistrate, der höheren Stände. Deshalb flankierte Harer den Begriff „Bauernkrieg“ auch mit Worten wie „Entpörung“, „Aufrur“ oder „Widersetzung der Undertanen gegen iren Oberkeiten“. Das Verhalten der Bauern bezeichnete er mit wertenden Adjektiven wie „verblendt“; sie hätten „onchristliche, unerbare, freventliche, mutwillige, aydbruchige Taten“4 begangen. Wie eine „pestilenzisch Vergiftung“ seien die einzelnen Aufstände von der Donau, dem Bodensee und dem Allgäu aus gen Norden „ye eins aus dem andern […] gefloßen“5 und hätten so weite Teile des Reichs überflutet.

Mit dieser wertenden Sicht auf die aufständischen Bauern ging eine weitere Asymmetrie einher: Die von ihnen ausgehende Gewalt wurde schon in den zeitgenössischen Quellen als unverhältnismäßig viel grausamer dargestellt als die der Herren, aus deren Archiven die meisten Überlieferungen stammten. Da das Leben eines Bauern nicht viel galt, war den Schreibern in adligen Diensten auch das Niedermetzeln Hunderter, ja Tausender kaum mehr als eine lakonische Feststellung wert.6 Insofern sind die etwa 100 000 Opfer des Bauernkrieges7 ‒ eine für das 16. Jahrhundert sehr hohe Zahl! ‒ von der Siegerhistoriographie ihrer Mörder so behandelt worden, dass sie schuldig waren und ihre Tötung ‚zu Recht‘ erfolgte; sie diente ja der Wiederherstellung von ‚Recht‘ und ‚Ordnung‘.

Die Frage, worum es den Bauern eigentlich gegangen sei, ist mit dem Hinweis auf die angebliche Niedertracht, Brutalität und Bosheit ihres Tuns natürlich nicht beantwortet. Schon Harers Vergleich der Aufstände mit der sich ausbreitenden Pest und noch Leopold von Rankes berühmtes Wort vom Bauernkrieg als dem „größten Naturereignis des deutschen Staates“8 signalisieren eher Verlegenheit oder Verständnisblockaden, als dass sie Klarheit über die Motive und Absichten der Bauern schüfen. Ging es ihnen um die Überwindung forcierter sozialer Not, die durch immer bedrückendere Abgaben entstanden war? Wie stand es in welchen Gegenden tatsächlich um den materiellen Besitzstand der Aufständischen? Wie verhielten sich ihre Forderungen nach Freiheit und nach Gerechtigkeit zueinander? Handelten sie im Horizont weitgespannter politischer Reformvorstellungen oder dominierte der dumpfe Affekt der Vergeltung für erlittenes Leid? Wie stehen die in bäuerlichen Beschwerde- und Forderungskatalogen begegnenden Konzepte des „alten“ und des „göttlichen Rechtes“ zueinander? War der Bauernkrieg in einigen seiner Erscheinungen vorwärts-, in anderen rückwärtsgewandt, also eine teils reaktionäre, teils revolutionäre Bewegung? Lassen sich einheitliche politische Ziele für alle Aufstandsgebiete identifizieren? Ist es möglich, diese und weitere Fragen für „den“ Bauernkrieg im Ganzen zu beantworten, oder wird man doch über kleinteilige Annäherungen, die jeweils nur für bestimmte Regionen, Landschaften oder Territorien plausibel sind und der hochgradigen Diversität der rechtlichen, politischen und sozialen Verhältnisse der ländlichen Bevölkerung Rechnung tragen, nicht hinauskommen?

Von zentraler Bedeutung ist natürlich die Frage nach dem Verhältnis des Bauernkriegs zu dem mit dem Begriff der „Reformation“ bezeichneten Syndrom kirchlicher, gesellschaftlicher, kultureller und politischer Veränderungen. Diese Frage ist seit dem 16. Jahrhundert bis in die neuere Forschung hinein kontrovers behandelt worden. Dies ist gewiss auch deshalb so, weil der Bauernkrieg auch vor dem Hintergrund einzelner Aufstandsbewegungen des späteren 15. und des frühen 16. Jahrhunderts interpretiert werden muss, insbesondere des „Bundschuhs“ und des „Armen Konrad“. Allerdings erweist sich dabei, was für die Interpretation der Reformation vor dem Hintergrund des späten Mittelalters generell gilt: So wichtig und erhellend diese ‚Vorgeschichte‘ auch ist, so wenig kann das, was dann geschah, aus ihr abgeleitet oder als bloße Konsequenz derselben gedeutet werden.9 Der Bauernkrieg ist ein spezifisches Ereignis; und er ist zugleich Teil der Reformation als eines epochalen Phänomens. Keiner der Bauernaufstände vor 1524/25 hat eine vergleichbare Zahl an Menschen mobilisiert und an Opfern gehabt, hat ähnlich massive Abwehrreaktionen provoziert und eine so große geographische Ausweitung erreicht. Insbesondere Buchdruck und Publizistik verbinden Reformation und Bauernkrieg ‒ oder anders formuliert: Reformation und Bauernkrieg entstammen gleichermaßen der Druckerpresse.10 Gleichwohl sind die reformationsgeschichtlichen Prozesse nur vor dem Hintergrund des 15. Jahrhunderts verständlich. Deshalb verdient die Frage Aufmerksamkeit, welche Bedeutung religiösen Motiven, antiklerikalen oder antikatholischen Mentalitäten, aber auch apokalyptischen Stimmungen und astrologischen Deutungsmustern in der Wahrnehmung der Bauern, ggf. auch im Umfeld ihrer mentalen Welt, zukam.11 Aus diesem Grund wird das „Bild“ des Bauern in der Publizistik vor dem Bauernkrieg ausführlich behandelt (Kapitel 2).

Der Bauernkrieg ist ein außerordentlich komplexes historisches Thema, in dem sich gesellschaftsgeschichtliche, ökonomische, politische, militärische, soziale, rechtliche, kirchen-, religions-, kommunikations-, kultur- und mentalitätshistorische Gesichtspunkte mit regionalen und globalen Perspektiven verbinden. Dieses Buch folgt, wie der Titel unschwer erkennen lässt, einem mediengeschichtlichen Zugang zum Thema. Die Darstellung selbst wird zu erweisen versuchen, dass der Einsatz des Printmediums die spezifische Differenz des Bauernkriegs gegenüber allen früheren Bauernaufständen begründete und ausmachte. Der Titel „Der Bauernkrieg ‒ ein Medienereignis“ enthält die zentrale These. Sie lautet: Den Bauernkrieg gab es, weil er medial initiiert und inszeniert wurde. Der Bauernkrieg als überregionales Ereignis, das das Heilige Römische Reich deutscher Nation in erheblichen Teilen berührte, entstand infolge und aufgrund des Buchdrucks. Insofern war der Bauernkrieg, so scheint mir, das erste medial induzierte, angetriebene und flankierte militärische und politische Großereignis der europäischen Geschichte. In der Perspektive dieser These liegt es, dass zeitgenössisch gedrucktes Material, vor allem Texte und Holzschnitte, im Zentrum steht. Darin unterscheidet sich diese Darstellung des Bauernkrieges grundlegend von einer seit dem 16. Jahrhundert üblichen Behandlung des Themas, die Region für Region, Bauernhaufen für Bauernhaufen, viele Scharmützel, zahllose Plünderungen und manche Schlachten nacheinander abhandelt und den Bauernkrieg im Ganzen als Summe seiner regionalen Teilaufstände versteht.

Das vorliegende Buch hingegen sieht in dem Bauernkrieg ‚mehr‘ und ‚anderes‘ als die Summe der Teilaufstände, die innerhalb des gedrängten Zeitrahmens weniger Wochen (März‒Mai 1525) ihren Höhepunkt erreichten und dann brutal niedergeschlagen wurden. ‚Mein‘ Bauernkrieg begann früher und endete später; er wurde mit verbalen, visuellen und typographischen Waffen geführt und operierte mit Bildern und Erwartungen des Bauern, die als kulturelle Ressource verfügbar waren. Die ipsissima vox rusticorum, die ureigene Stimme der Bauern, wird in diesem Buch nur sehr selten vernehmbar. Vornehmlich sind jene zu hören, die zu ihnen, für oder über sie sprachen, sich als Interpreten ihrer Anliegen präsentierten und mit dem Anspruch, Sprachrohre der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung zu sein, Forderungen, Lebenslehren und Ordnungsvisionen entwarfen.

In publizistischer Perspektive ergibt sich, dass die Übergänge zwischen Stadt und Land, zwischen bäuerlichen und städtischen Aufständischen fließend zu gestalten sind. Ohne die Beteiligung Schreib- und Lesekundiger, einzelner Rechtsexperten, die Verbindungen zu Druckern, Pressen und Buchführern sind zentrale Sachverhalte des Bauernkrieges, insbesondere die Interaktionen zwischen unterschiedlichen Aufstandsgebieten, kaum zu verstehen. Auch im Verhältnis zum niederen Adel, insbesondere der Ritterschaft, existierten vielerorts temporäre Koalitionen und ideologische Verbindungen, die sich vor allem aus der gemeinsamen Opposition gegen die fürstliche Territorialstaatlichkeit, Teile des Klerus und das prosperierende Handelsbürgertum speisten. Ist der Bauernkrieg von 1525 als ‚Revolution des gemeinen Mannes‘ recht verstanden?

Aus den skizzierten Überlegungen ergibt sich die Disposition des Buches. Das Interesse am Bauernkrieg ist von der komplexen Geschichte seiner Deutung, die in der Konkurrenz zweier deutscher Staaten ihren erinnerungskulturellen Höhepunkt erreichte, nicht zu trennen. Deshalb sind die bereits im 16. Jahrhundert einsetzenden Differenzen und Widersprüche in der Deutung des Bauernkrieges zu konturieren (Kapitel 1). Am Schluss des Buches wird dieser Faden wieder aufgenommen.

Sodann geht es um die Bilder von Bauern in Literatur, Kunst, gedruckten Medien aller Art, die sich seit der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Metalllettern um 1450 herausbildeten und ein gewisses Maß an Popularität erlangten (Kapitel 2). Dieses Kapitel lässt den kulturellen Wahrnehmungshorizont derer erkennen, die sich mit den Bauern als ‚Fremden in der Nachbarschaft‘ befassten. Aus diesen Wahrnehmungen ergaben sich auch bestimmte Erwartungen, wie sich Bauern verhalten und Konflikte austragen würden. Es zeigt sich, dass lange vor 1525 in den Köpfen mancher Publizisten ein Bauernkrieg tobte.

In einem nächsten Schritt wird die Bauernkriegspublizistik in ihrer Breite analysiert (Kapitel 3). Dabei erwies sich die Bibliographie von Helmut Claus12 als wichtiges Instrument. Die ca. 250 Drucke, die den Kern der Bauernkriegspublizistik bilden, weisen eine Vielzahl an Formen und Gattungen auf (Artikelkataloge mit Forderungen; Verträge; Predigten; Mandate; Traktate; Dialoge; Lieder etc.) und erschienen in weiter geographischer Streuung. Allerdings bestätigt sich auch hier, was für die reformationszeitliche Publizistik im Ganzen gilt: Der Norden des Alten Reichs spielt praktisch keine Rolle; der Bauernkrieg als Medienereignis tobt im Südwesten und in Mitteldeutschland.

Das Initialereignis des Bauernkrieges bildeten die berühmten Zwölf Artikel und die sogenannte Memminger Bundesordnung; ohne die rasante typographische Verbreitung dieser Texte und die Reaktionen auf sie wäre der Bauernkrieg ausgeblieben. Innerhalb der Bauernkriegspublizistik kam der Auseinandersetzung darüber, wer dafür verantwortlich sei und was geschehen war, eine zentrale Rolle zu. Vonseiten der Anhänger der alten Kirche war der Schuldige rasch und eindeutig zu identifizieren: der Erzketzer Martin Luther. Luther und seine getreuen Anhänger hingegen stilisierten Thomas Müntzer, den Pfarrer Allstedts und später Mühlhausens, zum Hauptverantwortlichen und begründeten damit eine vielleicht analogielose historische Überhöhung seiner Person.13 Im Modus dämonisierender Verwerfung und heroisierender Verherrlichung wirkt sie bis heute nach.

Auch im Kontext der Bauerkriegspublizistik wurden Vorstellungen alternativer Gesellschaftsentwürfe formuliert, in denen die Bauern tragende Säulen der Gesellschaft bildeten und an allen Gütern des Lebens teilhaben konnten. In der durchaus üppigen Liedpublizistik zum Bauernkrieg dominierte hingegen die kritische Warnung an die Bauern, die bestehende Ordnung bedingungslos anzuerkennen und niemals wieder gegen sie zu opponieren.

Das Schlusskapitel fragt nach den mittelbaren Folgen und Reflexen des Bauernkrieges im Spiegel typographischer Quellen des Rechts, der Theologie, der bildenden Kunst und der sich formierenden täuferischen bzw. radikalen Reformation (Kapitel 4). Im Kern geht es darum, ob dem Bauernkrieg produktive historische Wirkungen jenseits der unmittelbaren politischen und rechtlichen Repressionen, Arrangements und vertraglichen Aushandlungsprozesse zuzuerkennen sind.

Kapitel 1Lange Schatten ‒ Zur Geschichte der Deutung und Erforschung des Bauernkrieges

Seit fünf Jahrhunderten wird der Bauernkrieg sehr unterschiedlich gedeutet. Einige der frühen, aber auch spätere Deutungen, etwa die Wilhelm Zimmermanns oder Friedrich Engels’, entfalteten eine große wirkungsgeschichtliche Dynamik. Allerdings ist sowohl in Bezug auf Martin Luthers Urteile über den Bauernkrieg als auch in Hinblick auf die seines sinistren altgläubigen Kontrahenten Johannes Cochläus von einer noch ungemein größeren Wirkung auszugehen: Lutherische Deutungskontinuitäten ziehen sich zumindest bis zu Leopold von Ranke, katholische von Cochläus bis zu Johannes Janssen ‒ und sind darüber hinaus in, mit und unter anderen liberalen oder sozialistischen Deutungen vital geblieben. Sich ihrer bewusst zu werden, bedeutet auch, tief verwurzelte konfessionskulturelle Wahrnehmungsmuster des Bauernkrieges zu identifizieren und gegebenenfalls zu neutralisieren.

Zeitgenössische Deutungen ‒ Luthers Sicht des Bauernkrieges

Luthers komplexes publizistisches Wirken im Bauernkrieg wird in einem späteren Zusammenhang ausführlich behandelt (s. Kapitel 3). Hier soll es zunächst primär um die Deutungsperspektiven gehen, in die er die bäuerlichen Aufstände rückte. Von seiner frühesten einschlägigen Publikation, der Schrift Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauerschaft in Schwaben1, an, blieb seine Sicht im Wesentlichen unverändert. Entgegen der bisherigen Forschung, die die Entstehung dieser Schrift zumeist in den Zusammenhang einer vom 16.4. bis zum 6.5.1525 durchgeführten Reise durch Thüringen und die Grafschaft Mansfeld2 datierte ‒ und die Drucklegung entsprechend auf Ende April oder die Zeit nach der Rückkehr ansetzte ‒, ist allerdings davon auszugehen, dass Luther das Manuskript der Ermahnung zum Zeitpunkt seiner Abreise aus Wittenberg bereits abgeschlossen hatte.3 Die Offizin Josef Klugs stellte den nicht firmierten Druck4 dann umgehend her, sodass er in der letzten Aprilwoche vorgelegen haben wird. Der rasch erfolgte zweite Druck der Ermahnung in derselben Offizin basierte auf einem den Erstdruck im Wesentlichen imitierenden, freilich an einigen Stellen korrigierenden vollständigen Neusatz der fünf Quartbögen.5 Dieser Befund ist wahrscheinlich so zu deuten, dass Luther den Erstdruck der Ermahnung auf einer Station seiner Reise erhalten und korrigiert hat. Rasch nach seiner Rückkehr nach Wittenberg wird dann die dritte Ausgabe der Ermahnung zum Frieden6 erschienen sein. Diese war allerdings um einen Textzusatz am Schluss erweitert: Widder die stürmenden bawren.7 Dieser Textzusatz gilt als Luthers ‚zweite‘ Bauernkriegsschrift. In ihrem ursprünglichen publizistischen Kontext aber ersetzte sie die Ermahnung zum Frieden nicht, sondern aktualisierte und interpretierte die dort favorisierte friedliche Vertragsoption im Angesicht der nun in Thüringen eingetretenen Kampfhandlungen. Erst durch die Separation dieses Textzusatzes und seine Veröffentlichung als eigene Flugschrift, die, in durchaus feindseliger Absicht, durch die Dresdener Presse des notorischen Luthergegners Hieronymus Emser initialisiert wurde,8 erschien der Wittenberger Theologe als gegenüber den Bauern extrem wankelmütiger Autor, dem die Tötung Tausender Aufständischer zur Last gelegt werden konnte.

Luther gab auch den Weingartner Vertrag9, der zwischen dem Schwäbischen Bund und den Aufständischen am Bodensee und im Allgäu ausgehandelt worden war, mit Vorrede und Nachwort heraus. Dies geschah vermutlich nach oder etwa zeitgleich mit der dritten, um Widder die stürmenden bawren erweiterten Ausgabe der Ermahnung zum Frieden ‒ wahrscheinlich in der zweiten Maiwoche, also noch vor der Schlacht von Frankenhausen (15.5.1525).10 Das Modell einer friedlichen Vertragslösung hielt Luther durchgängig, auch „ynn unsern landen“11, also in Mitteldeutschland, für das angemessene. In seiner Druckausgabe des Weingartner Vertrags betonte er erneut, dass es „der teuffel“ sei, der „durch seyne rottengeyster und mördische propheten“12 das „arme eynfeltige volck zu solchem verderben yhrer seelen und villeicht auch verlust leybs und guts verfuret“13 habe. Luthers maßgebliche und ständig wiederholte Perspektive auf den Bauernkrieg war, dass er durch das Wirken der Abtrünnigen aus dem eigenen Lager entzündet worden sei.

In gewisser Weise setzte Luther mit den ‚Bauernkriegsschriften‘ seine seit dem Sommer 1524 forcierte Publizistik gegen die ‚falschen Propheten‘ fort. Er wandte also auf die Bauern jene Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster an, die er insbesondere in Bezug auf Karlstadt und Müntzer ausgebildet hatte. Verführt durch seine ehemaligen Weggefährten und Anhänger brächten nun auch die Bauern ‚sein Evangelium‘ in Misskredit. Die entscheidende Phase in der publizistischen Auseinandersetzung mit der unliebsamen Konkurrenz hatte im Juli 1524 begonnen, als der Wittenberger Reformator die sächsischen Fürsten in einem gedruckten Sendbrief vor dem „auffrurischen geyst“ warnte.14 Der Satan, so Luthers wort- und geschichtstheologische Basisthese, trete dem Wort Gottes „mit der faust und freveler gewallt“15 entgegen und bediene sich dabei falscher Propheten. Der „geyst zu Alstett“16, Thomas Müntzer, wolle es „nicht ym wort lassen bleyben“17, beschränke sich also nicht auf ‚Irrlehre‘, sondern „gedenke, sich mit der faust dreyn zu begeben, und wölle sich mit gewallt setzen widder die oberkeyt und stracks daher eyne leibliche auffruhr anrichten.“18

Obwohl sich Andreas Bodenstein, genannt Karlstadt, und dessen Orlamünder Gemeinde Ende Juli 1524 in einer in Wittenberg gedruckten Flugschrift von Müntzers und den Allstedter Bundes- und Gewaltfantasien zur Durchsetzung und Ausbreitung reformatorischer Entwicklungen distanziert hatten,19 rückte Luther seinen ehemaligen Kollegen wiederholt, auch öffentlich, in größte Nähe zu dem ‚Allstedter Geist‘. Bei einem Streitgespräch in Jena (22.8.1524) hatte ihn Karlstadt deshalb zur Rede gestellt.20 In seiner maßgeblichen Auseinandersetzung mit den ‚Schwarmgeistern‘, Spiritualisten und ‚Nonkonformisten‘ aus den eigenen Reihen, der um die Jahreswende 1524/25 in zwei Teilen erschienenen Schrift Wider die himmlischenPropheten, hatte Luther dann seine Anwürfe erneuert. Veranlasst war dieser literarische Vernichtungsschlag durch eine Reihe von Flugschriften des aus Sachsen ausgewiesenen Karlstadt, die v. a. vom Abendmahl handelten; sie bildeten den Auftakt des innerreformatorischen Abendmahlsstreites.21 Abermals warf Luther Karlstadt vor, „das er sich mit den hymlischen propheten schlept, aus wilchen kommen ist der Allstetisch geyst, wie man weys, von denen lernt er, zu denen hellt er sich“22. Auch Karlstadts mit seinem Selbstverständnis als ‚neuer Laie‘ verbundene vestimentäre Konversion23 zu bäuerlicher Kleidung fand der ehemalige Bettelmönch Luther lächerlich und anstößig. Als angemessenen Ausdruck einer ‚Abtötung des Fleisches‘ konnte er sie nicht akzeptieren: „Denn sie [sc. die ‚himmlischen Propheten‘] nehmen nicht an, was yhnen Gott zu fugt, sondern was sie selbs erwelen, tragen grawe röcke, wollen bawren gleich seyn und des narn wercks viel.“24 In Luthers Darstellung erschien also neben Müntzer auch Karlstadt als gefährlicher Verschwörer, der hinter dem Rücken der Obrigkeiten agiere, den ‚gemeinen Mann‘ aufwiegle und diesem, auch wenn er selbst Gewalt ablehne, am Ende erliegen werde.25

Luthers Publizistik zum Bauernkrieg setzte nur wenige Wochen nach diesen literarischen Attacken gegen die ‚Schwärmer‘ ein. In der Ermahnung zum Frieden, die an die schwäbische Bauernschaft gerichtet war und sich mit deren Zwölf Artikeln auseinandersetzte, ging Luther noch davon aus, dass die seit drei Jahren ‒ also 1521/2226 ‒ auftretenden „mordpropheten“ den Bauern „so feind“27 seien wie ihm. Allerdings besäßen sie unter dem gewaltbereiten „pöfel“28 Anhänger. Noch hielt er die von ihm adressierten Bauern nur für gefährdet und appellierte an sie: „gleubt nicht allerley geistern und predigern, Nach dem der leidige Satan itzt viel wilder rotten geyster und mordgeyster under dem namen des Euangeli hat erweckt“29. Doch Luther brachte bereits die Sorge zum Ausdruck, dass „etliche mordpropheten unter euch komen [seien], die durch euch gerne wollten herren ynn der wellt werden“30. Insbesondere die bäuerliche Forderung nach „freiheyt“31 sei gefährlich! Darin, dass sich die schwäbischen Bauern in ihren Artikeln auf ‚christliches‘ oder ‚göttliches Recht‘ beriefen, erkannte der Reformator schließlich, dass sie bereits von „falschen“ oder „tollen propheten“32 verführt seien. Luthers Ermahnung zum Frieden war also durch ein eigentümlich ambivalentes Changieren zwischen Verständnis und Annäherung, Verstörung und Abgrenzung, werbendem Appell und definitivem Urteil gekennzeichnet. Dies entsprach einer offenen und unklaren Situation, in der der Wittenberger Theologe noch von keinen Gewalttaten wusste und mit der Möglichkeit rechnete, dass die Konflikte mit jenen friedlichen Mitteln einer vertraglichen Übereinkunft gelöst werden könnten, für die er selber warb.

Die Kampfschrift Wider die stürmenden bawren, die im Angesicht des inzwischen auch in Thüringen ausgebrochenen Bauernaufstandes abgefasst wurde, legte offen, wer für die dramatische Entwicklung verantwortlich war: „der ertzteuffel, der zu Mölhusen [Mühlhausen] regirt und nichts denn raub, mord, blutvergissen anricht“33, also Thomas Müntzer. Dadurch, dass nun offenkundig geworden sei, dass sich die Bauern von diesem Teufel hatten verführen lassen, schien der gegenüber der Ermahnung zum Frieden dramatisch verschärfte Ton gerechtfertigt zu sein.34 Dabei bezog sich Luther pauschal auf alle Bauern; eine geographische Spezifikation nahm er nicht vor. Als Aufrührer, die raubten und plünderten, seien die Bauern „zwyffeltig“ des Todes „an leib und seele“35 schuldig. Faktisch rückte Thomas Müntzer damit in den Rang der Schlüsselfigur nicht nur des Thüringer Aufstands, sondern des gesamten Bauernkriegs im Reich.

In einer kurz nach der Schlacht von Frankenhausen, zwischen dem 17. und dem 22.5.36 publizierten Flugschrift37 dokumentierte Luther anhand dreier ihm zugespielter Briefe Müntzers und eines Schreibens des Frankenhausener Bauernhaufens an die Mansfelder Grafen, dass der ‚mörderische und blutgierige‘38 Prophet für den Tod der ca. 500039 gefallenen Bauern verantwortlich sei. Denn im Vertrauen auf einen Lügengeist habe er eine vertragliche Vereinbarung zwischen den Bauern und ihren „oberherrn“40 verhindert. Den übrigen Bauern sollte das in Frankenhausen ergangene Gottesurteil zur Warnung gereichen.

In einem Sendbrief von dem harten Büchlein41, mit dem Luther seine Bauernkriegspublizistik verteidigte und beendete, traten die Herausforderungen, vor denen er nun stand, unübersehbar hervor. Weil er zu schonungsloser Härte gegenüber den Aufständischen aufgerufen hatte, war er von verschiedenen Seiten für das Blutvergießen und die unmäßige Siegerjustiz der Fürstenkoalition im Nachgang der Schlacht von Frankenhausen verantwortlich gemacht worden.42 Luthers entscheidendes Deutungsmuster des Bauernkriegs43 änderte sich dadurch allerdings nicht: Die unbelehrbaren Bauern44 waren von „falschen rotten geyster[n]“45 verführt worden; hinter diesen stand der das Evangelium bekämpfende Teufel, inkarniert in Thomas Müntzer.

‚Altgläubige‘ Perspektiven auf den Bauernkrieg

Bald nachdem Luthers Bauernkriegsschriften bekannt geworden waren, meldeten sich Stimmen seiner Gegner aus der Papstkirche. Die im Zusammenhang damit entstandenen Druckschriften46 zogen sich ca. zwei Jahre hin bzw. wirkten auch noch Jahrzehnte später nach.47 Die ‚Altgläubigen‘ hatten offenbar ein lebhaftes Interesse daran, die Empörung über Luthers brutale Äußerungen in Wider die stürmenden bawren wachzuhalten. Der katholischen Seite galt Luther als der eigentliche Ursprung des Aufruhrs; der Bauernkrieg erschien als genuine Konsequenz der Lehre des Wittenberger Lügenpropheten. Gerade die von Luther bestrittene Verbindung ‚seiner‘ Reformation mit dem Bauernkrieg betonten seine Gegner also mit dem größten Nachdruck. Damit ging einher, dass man seitens der altgläubigen Kontroverstheologen den genuinen Schuldzusammenhang zwischen Luther und den ‚Rottengeistern‘, v. a. Müntzer, herausstellte,48 dessen Bedeutung für das Gesamtgeschehen des Bauernkriegs aber deutlich reduzierte bzw. seinen Einfluss im Wesentlichen auf Thüringen einschränkte.49

Zwar leugne Luther seine Verantwortung für den Aufruhr und damit für den Tod von ca. 100 000 Bauern50, doch der mit erheblichem Aufwand betriebene Nachweis, dass der Wittenberger Erzketzer alles daran gesetzt habe, das bestehende gesellschaftliche Ordnungsgefüge zu zerstören, werde, so waren sich die Kontroverstheologen gewiss, seine Wirkung auf den Leser nicht verfehlen. Auch das Urteil des kaiserlichen Mandats von Worms, das den aufrührerischen Charakter von Luthers Schriften betont hatte, zog man heran.51 Weil Luther in der Schrift An den christlichen Adel die seit der Zeit der alten Kirche etablierte Unterscheidung der Christenheit in die beiden Stände „der pristerschafft unnd der leyhenschafft“52, des Klerus und der Laien, als ‚menschliches Fündlein‘ beargwöhnte und relativierte, habe er, so waren seine katholischen Gegner gewiss, zur Erschütterung aller gesellschaftlichen Ordnung beigetragen.53 Allein Luthers Angriffe auf die Geistlichkeit, wie sie sich auch darin aussprächen, dass er den Laien das Recht der freien Pfarrerwahl einräume54, hätten die in den Aufständen der Bauern eskalierende Gewalt ermöglicht. Auch ältere Äußerungen, in denen Luther physische Gewalt gegen Kleriker propagiert hatte, publiziert vor seiner Vermahnung … sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung von 152255, hielten ihm die altgläubigen Kontroverstheologen nun öffentlich vor.56 Luthers Polemik gegen die Ordensleute habe zu Übergriffen auf Klöster, zu denen es im Bauernkrieg landauf, landab gekommen sei, angestachelt.57 Luther habe sodann entscheidend dazu beigetragen, weltliche Obrigkeiten, die sich dem Papst oder anderen hohen Klerikern unterordneten, zu schmähen. Dadurch habe er deren Autorität erschüttert und Aufruhr begünstigt.58 Indem Luther die tyrannische Wüterei der Herren brandmarkte,59 habe er die Bauern zum Krieg gegen sie verführt. Wer propagiere, dass das Wort Gottes Aufruhr, Hader und Zank hervorbringe, wie Luther es immer wieder getan habe, leiste der Auflösung aller Ordnung Vorschub.60 Dass die weltliche Obrigkeit eine von Gott eingesetzte Ordnung repräsentiere, hätte Luther früher und unmissverständlicher lehren sollen, hielten seine Gegner ihm vor. Dann wäre unendliches Leid und Elend verhindert worden!61

Die Propaganda der altgläubigen Kontroverstheologen versuchte dem „gemeine[n] man“62 vor Augen zu führen, „wye Luther das gut volck lang vorher mit worten zu auffrur, stifft und kloster sturmen geraytzt habe“63. Seine Kampfschrift Wider die stürmenden bawren erschien vor diesem Hintergrund als ein Verrat am Volk ‒ ein Motiv, das besonders Cochläus ausschlachtete: „Nun, so die armen und unseligen bawrn die schantz verloren haben, kerste dich umb tzo den fursten“64, schleuderte er dem Feind in Wittenberg entgegen. Luther, der Fürstenknecht und Bauernschinder ‒ das war ein zentrales Motiv der altgläubigen Propaganda, die unmittelbar nach dem Bauernkrieg verbreitet wurde. In seinem politischen Agieren sollte der Wittenberger als treuloser Opportunist offenbart werden,65 der die Bauern ans Messer geliefert habe.66 Dass Luther an dem „jamer und blut vergiessen“ der Bauern seine „hertzliche freud“67 gehabt habe, entnahm Cochläus dem Umstand, dass er gerade in der bedrückenden Zeit des Bauernkrieges geheiratet hatte.68 In dem Motiv des bikephalen Luther mit zwei Zungen, das der Mainzer Guardian Johannes Findling aufbrachte69 und das Cochläus später in Bezug auf die ‚Widersprüchlichkeit‘ des Wittenberger Reformators in der Frage der Türkenkriege aufnahm70 und schließlich zum berühmten ‚siebenköpfigen Luther‘ steigerte71 (Abb. 1), wurde der vermeintliche Gegensatz, der zwischen der Ermahnung zum Frieden und Wider die stürmenden bawren klaffte, zwischen dem Appell, Frieden zu halten, und der Aufforderung, den ausgebrochenen Krieg mit aller Härte zu beenden, prägnant auf den Punkt gebracht und ins Bild gesetzt.72 Der Nachdruck der zweiten Bauernkriegsschrift durch altgläubige Pressen diente dem Ziel, das Negativimage Luthers zu verbreiten und festzuschreiben.

Abb. 1) Johannes Cochläus, Septiceps Lutherus, vbi[que] sibi, suis scriptis, contrari[us], in Visitationem Saxonicam, Leipzig, Valentin Schumann, 1529; VD 16 C 4386, Titelblattr. Auf dem massigen Leib einer monastischen Figur, die bis zur Hüfte dargestellt ist und das Bild ausfüllt, sitzen sieben kleine Köpfe. Die Figur ist durch ein Brustschild als „Martinus Lutherus septiceps“ (der siebenköpfige Doktor Martinus Luther) benannt. Jeder einzelne der Köpfe ist durch eine Inschrift gekennzeichnet: „Doctor“ (mit Doktorhut), „Martinus“ (eine vollbärtige monastische Figur), „Lutherus“ (ein Turban tragender Orientale), „Ecclesiastes“ (der Prediger mit Barett), „Suermerus“ (ein mit surrenden Bienen umflogener Schwärmer), „Visitator“ (in Anspielung auf die seit 1528 mit Luthers Beteiligung durchgeführten kursächsischen Visitationen), „Barrabas“ (wilder Räuber mit dornenbestickter Schlagwaffe, unter Anspielung auf den in der Passionsgeschichte erwähnten Inhaftierten, den Pontius Pilatus auf Drängen des Volkes statt Jesus freiließ, Mt 27,15‒26). Mit dieser genialen und folgenreichen Bildinnovation thematisiert der entschieden beste ‚Lutherkenner‘ des altgläubigen Lagers die ‚Widersprüchlichkeit‘ Luthers bzw. der von ihm ausgehenden reformatorischen Entwicklungen. Neben dem Theologen, Prediger und Kirchenmann steht der einen religiös motivierten Krieg gegen die Osmanen abwehrende frühe Luther; neben dem das Kirchenwesen umgestaltenden Visitator der Lehrer derer, die er selbst als „Schwärmer“ von sich stieß und die doch seine Anhänger gewesen waren. Mit der Barrabas-Gestalt rekurriert Cochläus auf gewaltaffine Bemerkungen des jungen Luther, die auch in der Bauernkriegspublizistik eine nicht unwichtige Rolle spielten; zum siebenköpfigen Drachen s. Apk 12,3.

Eine vereinzelte andere Stimme aus dem ‚altgläubigen‘ Lager wird allerdings in einer nur wenige Wochen nach der Schlacht von Frankenhausen erschienenen anonymen Flugschrift greifbar.73 Ihr Verfasser verzichtete darauf, das Wirken des „auffrurische[n]/ vorfurische[n] und ketzerische[n] pfaffe[n]“74 Thomas Müntzer in einen direkten Zusammenhang mit Luther zu stellen. Auch eine über Thüringen hinausgehende Wirkung schrieb er ihm nicht zu. Dass sich der ‚falsche Prophet‘ schauderhafter Handlungen wie des Bildersturms, der Desakralisierung des Sakraments und der Zerstörung von Klöstern schuldig gemacht hatte,75 wurde nicht direkt auf die Wittenberger Lehre zurückgeführt. Diese anonyme Schrift bezeugt, dass auch unter den Anhängern der ‚alten Kirche‘ differenzierter über die Verantwortung für die Bauernaufstände geurteilt werden konnte, als es im Lichte der quasi ‚offiziellen‘ Voten der oben zitierten Kontroverstheologen erscheinen mochte.

Luther, Müntzer und der Bauernkrieg in der Sicht der Parteigänger Luthers

Unter Luthers Parteigängern, die sich zu den Bauernaufständen und seiner Publizistik äußerten,76 dominierten die vom ‚Meister‘ übernommenen Deutungsmotive. Die Sicht auf den Bauernkrieg in Deutschland sollten sie nachhaltig prägen. In Bezug auf Luthers ‚zweite‘ Schrift stellte der infolge des Krieges aus Würzburg vertriebene evangelische Prediger Johannes Poliander in einem an den Mansfeldischen Kanzler Kaspar Müller gerichteten Urteil über das harte Büchlein fest, dass er durchaus Verständnis dafür habe, „das etliche auß guthertziger mainung solch büchlein zu hefftig sein achten“.77 Allerdings müsse man sich die Lage vor Augen führen, in die hinein Luther gesprochen habe. Die „empörung“ sei damals „fast an allen ortten“78 gewesen. Eine große „forcht und flucht“ sei „in die oberkait kummen“79. In dieser Situation, in der ganz Deutschland vor einem Flächenbrand gestanden habe, sei es darum gegangen, die bedrohte Ordnung mit allen denkbaren Mitteln durch die legitimen Inhaber weltlicher Herrschaft wiederherstellen zu lassen. Luthers Furor sei auch dadurch verursacht gewesen, dass er darin, dass sich die Bauern auf das Evangelium beriefen, einen fatalen Missbrauch sähe, für den letztlich der Teufel verantwortlich sei.80

Nach der von Melanchthon kompilierten Histori Thome Muntzers bediente sich der Teufel des Allstedter bzw. Mühlhäuser Predigers, um das von Luther „etlich jar“ „reyn und clar“81 gepredigte Evangelium zu attackieren. Da „der Teuffel die leut so geblendet“82 habe und hinter den Umtrieben der verführten Bauern stehe, gehe es um nicht weniger als um das gottgewollte Ordnungsgefüge der Welt bzw. der Gesellschaft. Insofern habe Luther lediglich versucht, den „aygen frevel, gewalt“, wie sie im Aufruhr hervorgetreten sei, „mit dem ordentlichen [zu] dempffen“.83 Das von der weltlichen Obrigkeit geführte Schwert sei ein Friedensinstrument84; die weltlichen Herrschaftsträger seien „verordnete diener Gottes“85. Abgaben seien durch göttliches Recht legitimiert.86

Die Dämonisierung Müntzers87 und der Bauern basierte auf einem dualistischen Geschichtsnarrativ apokalyptischen Charakters, nach dem die göttliche Ordnung permanent, besonders aber seit dem ‚Aufgang des Evangeliums‘, durch den Teufel bedroht war. Da es der Böse auf die wahre Lehre des Evangeliums abgesehen hatte, musste man nachweisen, dass es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Müntzers Theologie und den gewalttätigen Vorgängen des Bauernkriegs gab. Dabei kam den Träumen und Offenbarungen, also den von dem ‚Schwärmer‘ bemühten Autorisierungsinstanzen, neben der Bibel eine entscheidende Rolle zu.88 Allerdings schätzten die Parteigänger Luthers den Einfluss Müntzers im Ganzen geringer ein als dieser selbst. Die Histori Thome Muntzers etwa wusste, dass dessen Reise in die südwestdeutschen Aufstandsgebiete (Herbst 1524‒Jan. 1525) weitgehend erfolglos geblieben war.89 Weil Müntzer gegen die reformatorische Rechtfertigungslehre das Leiden zum Erlösungsweg stilisiert hatte,90 habe er die Bauern der Vernichtung ausgeliefert. Dass sich die Aufständischen in Frankenhausen auf ein Vermittlungsangebot der Fürsten einlassen wollten, Müntzer sie aber aufgrund besonderer Offenbarungserkenntnisse manipuliert habe, zeige seine teuflische Besessenheit.91 Die Bauern hätten darin „unchristlich“ gehandelt, dass „sie mitt dem namen des evangelii sich decken“92; dazu habe sie der Teufel „[ge]reytz“, damit das „evangelium geschmehet und gelestert werd“93. Müntzer habe aber nicht bei dem ‚gemeinen Mann‘ an sich, sondern besonders bei dem „groben pöffel“94 Erfolg gehabt. Denjenigen Bauern, die ihre Sünde nicht erkennen würden und darauf beharrten, dass ihr „fürnemen christlich, evangelisch und Gott gefellig“95 sei, drohe die ewige Verdammnis. Aus der Sicht der Parteigänger Luthers ging es im Kern darum, die Berufung der Bauern auf das reformatorische Evangelium dadurch zu delegitimieren, dass man ihnen einen ‚fleischlichen‘ Missbrauch der geistlichen Freiheit vorwarf.96 In der literarischen Figur eines frommen evangelischen Bauern, der im Dialogus mit einem ‚Schwärmer‘ den theologischen Weg Luthers beschritt und sogar seinen Opponenten überzeugte, versuchte Luthers Schüler Johann Agricola dem infolge seiner Bauernkriegspublizistik eingetretenen Imageverlust des Wittenberger Reformators entgegenzuwirken.97

Rekapituliert man die soeben skizzierten zeitgenössischen Deutungen des Bauernkrieges, die sich von denen in den radikalreformatorischen Milieus (s. u. Kapitel 4) signifikant unterschieden, so war ihnen der innere Zusammenhang zwischen den Aufständen und der reformatorischen Bewegung selbstverständlich. Gegenläufig freilich fiel die Wertung aus: Luther und die Seinen sahen in den revolutionären Vorgängen die Folge einer teuflischen Depravation der wahren, in Wittenberg entwickelten Lehre des Evangeliums, ihre katholischen Gegner hingegen machten vor allem Luthers publizistische Attacken auf die Kirche und die höheren Stände für den bäuerlichen Aufruhr verantwortlich. Der durch Luther zum Erzketzer aufgebauschte Müntzer98 wurde zu einer Schlüsselfigur des Bauernkrieges; dies entsprach seiner einseitigen theologischen Perspektive auf den Aufruhr als Folge einer ‚schwärmerischen‘, nicht durch die Bindung an das Schriftwort ‚zivilisierten‘ Häresie. Den Bauernkrieg von den politischen, ökonomischen und rechtlichen Existenzbedingungen des bäuerlichen Standes in der Vielfalt seiner Erscheinungen her zu verstehen und in einen Horizont früherer Aufstände zu rücken, lag den theologisch geprägten Autoren beider konfessionellen Lager völlig fern.

Deutungen des Bauernkriegs im konfessionellen Zeitalter

Unter den im Folgenden knapp vorgestellten, durchaus repräsentativen und einflussreichen lutherischen Autoren des 16. und 17. Jahrhunderts, die mit Deutungen des Bauernkrieges hervortraten, folgten nicht wenige der Sicht Luthers und machten Müntzer und seinen prophetischen ‚Lügengeist‘ zum maßgeblichen Initiator des gesamten Aufstandsgeschehens im Reich. Andere schlossen sich eher der Histori Thome Muntzers an und betonten, dass der Einfluss des Allstedter Predigers nicht über Thüringen hinausgegangen sei. In Bezug auf Luthers Publizistik stellte ein einflussreicher Autor wie sein erster Biograph Johannes Mathesius heraus, dass der Wittenberger Reformator eine vertragliche Konfliktlösung favorisiert habe und umsichtige evangelische Obrigkeiten Gewaltexzesse verhindert hätten.99 Die Erinnerung an den Bauernkrieg wurde bei ihm und anderen zur Lektion des Untertanengehorsams; sie sollte dem „Zeugnis und ewigen Gedächtnis“ dienen, „daß Niemand über sich hauen, Aufruhr anrichten und sich unter die Aufrührer mengen solle.“100

Durch die breite Rezeption der Histori Thome Muntzers in Johannes Sleidans im gesamten europäischen Raum höchst einflussreich gewordenen Reformationsgeschichte101 wurde die Sicht perpetuiert, dass der Aufstand, zumal in Thüringen und Franken, wegen der Agitation eines sich vom Papst und Luther gleichermaßen lösenden falschen Predigers ausgebrochen sei. In Übereinstimmung mit der Absicht Luthers und Melanchthons, Müntzers Agitation deutlich von der Lehre der Wittenberger Schule abzugrenzen, rückte Sleidan den Bauernkrieg weitgehend von der reformatorischen Entwicklung ab. Auch die ‚papistische‘ Geschichtssicht, die den inneren Zusammenhang zwischen Luthers Reformation und dem Bauernkrieg behauptete, wurde von dem wichtigsten Historiographen der deutschen Reformation scharf zurückgewiesen. Dass sich die Bauern und ihre Lügenpropheten auf das Evangelium berufen hätten, sei ein schlimmer Missbrauch gewesen.102 Luthers Bauernkriegspublizistik war für den mit Unterstützung deutscher Landesfürsten schreibenden Historiker Sleidan nichts anderes als ein angemessener Beitrag, die bedrohte Ordnung wiederherzustellen.103 Mit seinem bahnbrechenden Werk wurde eine faktisch an der Wittenberger Publizistik zum Bauernkrieg orientierte Sicht prägend. Müntzer, der Aufstand in Thüringen und Luthers Kampf bildeten nun quasi das eigentliche Zentrum der für lange Zeit dominierenden Geschichtsdarstellung des Bauernkrieges.

Die erste monographische Darstellung des Bauernkrieges stammte von Petrus Gnodalius aus dem Jahr 1570;104 sie basierte im Wesentlichen auf der damals noch ungedruckten Chronik Peter Harers105 und der Kompilation anderen, überwiegend gedruckt vorliegenden Materials. Gnodalius formulierte seine Sicht auf den Bauernkrieg als bekennender Lutheraner. Gegenüber den bisherigen Deutungen setzte er aber einige neue Akzente. So stellte er die analogielose Geschwindigkeit der Erhebung heraus und reflektierte über ihre Ursachen. Gegen die katholischen Autoren, die alle Schuld bei Luther sahen, hob er nicht nur dessen Verurteilung bäuerlicher Gewalt hervor, sondern wies auch auf ländliche Aufstände von 1490 (Kempten) und 1502 (Speyer) und städtische Revolten der Jahre 1509 (Erfurt) und 1512 (Speyer, Köln und Worms) hin. Gnodalius kontextualisierte den Bauernkrieg also innerhalb sozialer Erhebungen und spezifischer politisch-rechtlicher Motivlagen: „Was zu solcher rebellion [sc. 1525] ursach gegeben/ weisen nicht allein die Artickell der verbündtnuß auß/ sondern auch ihre Losung/ welche gewesen/ das einer von dem anderen gefragt: Was ist nun für ein wesen? Der ander geantwortet: Wir mögen vor den Pfaffen nicht genesen.“106 Repressionen seitens des Klerus seien ein wesentliches Aufstandsmotiv gewesen. „[U]nleidtliche beschwerung des armen Volcks“ war nach Gnodalius demnach „vil mehr ein ursach der Bäwrischen aufrur dan die lehr Lutheri“.107 Auch wenn der Teufel und die Verführung der Bauern durch Lügenpropheten als Motive des Aufruhrs in der Darstellung des Gnodalius nicht ganz verschwunden sind,108 so ist ihre Bedeutung doch deutlich reduziert. In Bezug auf das Bild Müntzers wirkte allerdings die breit aufgenommene Histori Thome Muntzers nach.109 Der deutschen Ausgabe der Bauernkriegsdarstellung des Gnodalius waren Texte Luthers, Johannes Brenz’ und Eberlin von Günzburgs angefügt, die die Gehorsamspflicht der Untertanen gegenüber den Obrigkeiten einschärften.110 Insofern diente der große Bauernkrieg ein knappes halbes Jahrhundert später als Exempel dafür, dass ein Untertan zum Gehorsam verpflichtet sei.

Der entschieden lutherische Theologe Cyriakus Spangenberg111 widmete sich in verschiedenen literarischen Zusammenhängen der Deutung des Bauernkrieges: Zum einen verteidigte er den Wittenberger Reformator gegen römisch-katholische Autoren, die die bekannten Vorwürfe erneuerten und Luther zur Ursache allen Aufruhrs machten.112 Zum anderen traktierte er das Thema in seinen durchaus wirkungsreichen großen chronistischen Werken.113 Seine hier gebotene Darstellung basierte im Wesentlichen auf Gnodalius, Sleidan, Melanchthon und Luther.114 Auch Spangenberg identifizierte die „ungeduldt der untreglichen beschwerungen/ damit sie uberladen werden“115 als maßgebliche Ursache der Bauernaufstände. Deutlich klingen bei ihm obrigkeitskritischere Töne116 an. Neben dem „Adel“ hätten vor allem die „Geistlichen Prelaten/ und andere Grosse Herrn“ die „armen unterthanen ohne auffhören beschweret und ausgesogen“. Dadurch, dass sie ihnen „das Euangelion geweret/ und zu irem ewigen verderben warhafftige reine lere unn Religion nicht gegönnet“ hätten, trugen sie entscheidend zum Ausbruch des Bauernkrieges bei. Im Ganzen zielte der führende Mansfeldische Geistliche darauf ab, einen Luthers Ermahnung zum Frieden intentional entsprechenden ‚Ausgleich‘ in der Verantwortung beider Seiten zu finden:

„Ob nun wol die Bawren unn unterthanen daran gar nicht recht gethan/ das sie sich darumb mit gewapneter Hand jrer gebürlichen Oberkeit widersetzet […] darumb sie Gott auch billich gestraffet/ So sind doch dieselbigen Fürsten/ Herrn/ und Prelaten/ so uber vermügen und billigkeit darzumal ire arme unterthanen beschweret/ und darzu an der Seelen futter/ und warer erkentnis Gottes durch unchristliche verbot gehindert/ alles des Mords/ schadens und unchristlichen wesens/ so aus der Bawren auffrhur erfolget/ nicht wenigers als die auffrhürischen Bawren selbst schuldig.“117

Dass Müntzer die christliche Freiheit „auff eine eusserliche und leibliche freyheit zog“118 und damit die Bauern verführte, hielt Spangenberg als Wertungsstereotyp fest.

Im Kontext der florierenden lutherischen Jubiläumskultur des 17. Jahrhunderts119 wurden freilich auch die anderen, dämonologischen Traditionsspuren der Luther’schen Deutung des Bauernkrieges weiter tradiert und popularisiert. Im Jahre 1625 etwa veröffentlichte der Eislebener Pfarrer Martin Rinckart unter dem Titel Monetarius seditiosus … Der Müntzerische Bawren=Krieg120 ein Schauspiel, das Teil eines groß angelegten, aber nicht vollständig realisierten Projektes war: der Geschichte der Reformation und des Lebens Luthers in einem siebenteiligen Drama. Wie der Titel bereits erkennen ließ, stellte sich der Bauernkrieg für Rinckart vor allem als ein Werk Müntzers dar; es zielte auf die Zerstörung des ‚evangelischen Reformationswerks‘ Luthers ab. Müntzers giftige Zunge habe „alle Orden und Stände der H. Christlichen Kirchen/ und unzehlich viel 1000. frommer Hertzen verwirret“, „Herren und Unterthanen/ gleich als mit einem Schwerdt von einander getrennet“121, „viel tausent Bawren […] in solche Unruhe gesetzet/ daß sie nirgend sicher bleiben“122 konnten und schließlich „in die hundert tausent, ja (wie ich [Rinckart] an einem ort funden) insgesamt/ wol biß in dreymal hundert tausend/ wie tolle hunde umbkommen und erschlagen“123 lassen.

Dem Theaterstück, das auch „ein richtiges und lustiges Compendium Historicum“124 sein sollte, war ein Quellenverzeichnis und jedem Akt waren einschlägige Referenzen beigefügt. Vor allem Luthers, Melanchthons, Sleidans und Mathesius’ Perspektiven wurden von Rinckart fortgeschrieben. Der Bauernkrieg war demnach im Kern nichts anderes als ein strategisches Mittel des Teufels, um die von dem göttlichen Werkzeug Luther heraufgeführte Reformation zu zerstören. Neben Müntzer schenkte Rinckart besonders dem vom Teufel besessenen ‚Bilderstürmer‘ Karlstadt125 breite Aufmerksamkeit.126

Das gewiss bedeutendste und weit über seine Entstehungszeit hinaus wirkungskräftigste reformationsgeschichtliche Werk des konfessionellen Zeitalters war Veit Ludwig von Seckendorffs Commentarius de Lutheranismo von 1688.127 In Auseinandersetzung mit der Histoire du Lutheranisme des Jesuiten Louis Maimbourg128, die die antiprotestantische Religionspolitik des französischen Königs Ludwig XIV. legitimierte, hatte Seckendorff eine bahnbrechende, archivalisch breit fundierte Arbeit vorgelegt, die für eineinhalb Jahrhunderte, bis zu Leopold von Rankes Deutscher Geschichte im Zeitalter der Reformation, maßgeblich bleiben sollte. Maimbourgs Sicht des Bauernkriegs129 orientierte sich vor allem an Cochläus und Sleidan. Luthers Parole vom Evangelium als Botschaft der Freiheit hätten sich die durch „Predicants fanatiques“130 aufgehetzten Bauern in fataler Weise zu eigen gemacht.

Dass auch Seckendorff dem Spiritualisten Müntzer eine entscheidende Bedeutung beim Aufruhr zuschrieb, war zwar durchaus traditionell, besaß aber wohl bereits eine gewisse Pointe gegen bestimmte Erscheinungen des zeitgenössischen Pietismus. Seckendorffs Darstellung erfolgte in konsequent apologetischer Perspektive; sie diente der Widerlegung jener „Widersacher“ wie Maimbourg, die den Bauernkrieg „für eine Frucht der Lehre und Reformation Lutheri“ hielten.131 Als maßgebliche Ursache der Bauernaufstände identifizierte er, breiter ansetzend als Gnodalius, zunehmende Angriffe auf die „alte Deutsche Freyheit des gemeinen Mannes, durch viele Frohn=Dienste, Geld=Straffen und Auflagen“, die diesem seitens der „Herren“ auferlegt worden seien. Auch die „Clerisey, welche mit allerhand Schein grosse Güter und Herrschaften an sich gezogen, mit Zehenden, vielfältigen Anlagen und Wucher“, habe den „gemeinen Mann“ „auf das hefftigste beschwehret“132 und eben damit den Aufstand provoziert. Der durchaus innovative, weite Blick auf die vorreformatorischen Bauernerhebungen in den Niederlanden (1491/92; Käsen-Brodter, Käsebrüder), Kempten (1491), dem Bistum Speyer (1502; Bundschuh), Württemberg (1514; Armer Konrad), Kärnten (1515) und in der Wendischen Mark (1517) sollte nach Seckendorff offenbaren, wie unredlich die katholische Seite verfuhr, wenn sie diese Unruhen ganz verschwieg und den Eindruck erweckte, „vor Luthero seye alles in erwünschter Ruhe gestanden, von ihme aber erst das Lärmen des Bauern=Auffstandes erwecket oder Anlaß dazu gegeben worden.“133 Den Aufstand in Schwaben brachte Seckendorff mit Müntzers Reise in den Süden in Zusammenhang, auch wenn dieser „vorgegeben“ habe, die Bauern hätten „ihn nicht hören wollen“.134 Auf diese Weise verband der wichtigste Reformationshistoriker der Frühen Neuzeit seine differenziertere Sicht auf die Ursachen des Bauernkriegs mit dem traditionellen lutherischen Narrativ von dem agitatorischen Verführer Müntzer,135 der in Thüringen nicht nur die Bauern, sondern auch städtische Bevölkerungsgruppen und Bergknappen aufgewiegelt habe.136

Die katholische Sicht auf den Bauernkrieg blieb aufs Ganze gesehen im Banne des Lutherbildes des Johannes Cochläus.137 Es dominierte eine häresiologische Perspektive: Zum ‚Unwesen‘ einer jeden Ketzerei gehöre es, dass sie immer neue Aberrationen und Spaltungen hervortreibe. Der Ausgangspunkt dieser Entwicklungen, aus denen bald die ‚Schwärmer‘, ‚Wiedertäufer‘ und sonstigen protestantischen ‚Fanatiker‘, aber auch der Bauernkrieg hervorgegangen sei, sei der Erzketzer Luther selbst gewesen. Sein subjektivistischer Aufstand gegen das Autoritätsgefüge der zeitgenössischen Kirche und Gesellschaft, der in seinem Anspruch wurzelte, die Bibel besser zu verstehen als die Auslegungsgemeinschaft der Kirche, bildete den Keim alles Fanatismus und den Auslöser aller möglichen revolutionären Entwicklungen, die sich schließlich über ganz Europa ausbreiteten. An Versuchen, die Reformation auch an ältere häretische Traditionen ‒ die Waldenser, die wiklifitische, die hussitische oder die taboritische Bewegung ‒ zurückzubinden, fehlte es gleichfalls nicht. Auch in der Invention pikanter biographischer Details in den Viten der Ketzer, die auf deren moralische Disqualifizierung hinausliefen, erwies sich die katholische Häresiologie als gewohnt kreativ. Im Insistieren auf einer genuinen Verbindung von Reformation und bäuerlicher Revolution, wie sie beispielsweise noch Johannes Janssen in seiner epochalen Geschichte des deutschen Volkes herausstellte,138 lieferte die katholische Historiographie eine Motivaggregation, die ‒ ungeachtet der antiklerikal-atheistischen Grundtendenz ‒ auch in der marxistischen Deutungstradition des Bauernkriegs fortlebte.

Neue Deutungsperspektiven auf den Bauernkrieg in Pietismus und Aufklärung

Einen markanten historiographischen Wendepunkt in der Sicht auf den Bauernkrieg stellte die Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie des Pietisten Gottfried Arnold dar.139 Er brach mit dem Lutherbild der Orthodoxie, das vornehmlich an dem wahren Lehrer und Kirchenvater orientiert war. Arnold interessierte sich ungleich mehr für den ‚jungen‘, Verfolgungen ausgesetzten und selbst zum Ketzer gewordenen Luther. Der seinerseits verketzernde, fanatisch rechtgläubige ‚alte‘ Luther, der ein den Konstantinismus fortsetzendes, mit Zwangsordnungen behaftetes evangelisches Staatskirchentum befördert hatte, stieß ihn ab.140

Seiner Darstellung des Bauernkriegs stellte Arnold eine ausführliche Übersicht über die Aufstände des späten 15. und des frühen 16. Jahrhunderts voran.141 Eine maßgebliche Wurzel des Aufruhrs habe in der Ausbeutung des Volks gelegen: „Weil aber dem armen volck weder von denen Herrschafften noch von den Pfaffen erleichterung geschahe, und man sie immer tyrannischer tractirte, so erfolgete alsobald darauff im jahr 1524 die greuliche unruhe davon durch gantz Teutschland, wobey so unzehliche menschen umkamen.“142 Der ‚junge‘ Luther habe erkannt, dass der „obrigkeit die meiste schuld an dieser unruh“143 zukomme. Durch „schatzungen“, die „erstlich [d. i. unlängst, eben erst] meistens erdacht und eingeführt“144 worden seien, habe sich die soziale Not der Bauern unmittelbar vor dem Krieg dramatisch verschärft. Insofern sei der Aufruhr eine Frucht, die „so wol Obrigkeit als Clerisey vor ihre tyranney, faulheit, hochmuth und üppigkeit erndteten.“145 Mit dem Spiritualisten Sebastian Franck stellte Arnold fest: „Darumb ist alle schuld und haupt=ursachen die unleidliche druckung und tyranney oder böß gottloß leben.“146

Daneben richtete Arnold aber auch kritische Worte an die Bauernschaften, denn sie hätten kein „recht gehabt, ihnen selber durch raub und mord zu helffen.“147 Übereinstimmend mit Luther kritisierte Arnold scharf, dass die Bauern „den nahmen Gottes“ für ihren Kampf „mißbraucheten, und das evangelium überall vorschützten.“148 In Thüringen habe Müntzer angefangen, das Volk wegen der Beschwerungen gegen die „Obern […] auffzureitzen“149. Auch wenn die von Müntzer verfolgte Gewaltoption, die er später bereut habe,150 abzulehnen und die Anrufung des Heiligen Geistes zu kriegerischen Zwecken verfehlt gewesen sei,151 fand Arnold scharfe Worte gegen die grausame Siegerjustiz der Fürsten.152 Auch gewisse Sympathien für Müntzers Kritik an Luther, der „alles gar zu weit auf die freyheit des fleysches“ und „auch nicht weiter auf den Geist und Gott“ „geführet“153 habe, sind unübersehbar. Gegenüber der an Luther orientierten Sicht auf den Bauernkrieg und Müntzer, die bisher dominiert hatte, stellte Arnolds Darstellung eine Zäsur dar. Der Widerspruch, den er fand, bestätigt dies.154

In den Werken zweier Göttinger Kirchenhistoriker der Neueren Kirchengeschichte, Johann Lorenz von Mosheims (1741)155 und Gottlieb Plancks Geschichte … der protestantischen Kirche (1791/92)156, wurde ein für die gemäßigte protestantische Aufklärung charakteristisches Bild des Bauernkrieges gezeichnet: Der Teufel hat als Anstifter von Devianz, Fanatismus und Aufruhr ausgedient. Sympathien für die ‚Ketzer‘ sind den aufgeklärten Repräsentanten des kirchlichen Christentums fremd, doch der Hinweis auf das unaufgeklärte, leichtgläubige Volk reicht aus, um den von Agitatoren wie Müntzer, der für die künftige Herrschaft Christi geworben habe, geschürten Flächenbrand des Bauernkrieges zu erklären.157 Der Bauernkrieg erscheint als ein Sturm unsinniger Leute, die Gesetze, Obrigkeiten, ja die staatliche Ordnung als Ganzes mit Mord, Raub und Plünderungen aus den Angeln zu heben versuchten.158 Dass die maßgebliche Ursache des Bauernkrieges im harten Schicksal der von vielen ihrer Herren tyrannisierten Bauern zu sehen sei, war für Mosheim selbstverständlich. Zunächst sei es, auch nach Ausweis der bäuerlichen Artikel, um ganz weltliche Dinge gegangen; Müntzer aber habe aus der Angelegenheit einen Religionskrieg gemacht.159 Mangelnde Aufgeklärtheit habe zu einem irregeleiteten (perverse)160 Verständnis von Luthers christlicher Freiheit geführt. Eine Auseinandersetzung mit den katholischen Deutungen des Bauernkriegs hatte sich für Mosheim erübrigt.

Eine Generation nach Mosheim stellte Planck grundlegende, in ihrer Art sehr bemerkenswerte Reflexionen über den „[m]it unglaublicher Geschwindigkeit“161 eingetretenen Bauernkrieg an. Er sei eine „in ihrer Art einzige, und in der Geschichte ganz beyspiellose Erscheinung“, denn „niemahls“ vorher sei es „vorgekommen“, dass sich „der Geist des Aufruhrs“ „zu gleicher Zeit mehrerer, durch Gesetze, Gebräuche, und Regierungsformen verschiedener, nur durch ihre gemeinschaftliche Sprache, aber sonst durch kein äusseres Band vereinigter Menschen in einem solchen Grad bemächtigt hätte.“162 Aus seinem rasanten Verlauf und seiner großen Ausbreitung folgerte Planck, dass es eine gemeinsame „Ursache […] in der Geschichte dieses Zeitraums“ geben müsse, die auf die „verschiedene[n] Menschen“, die sich am Aufstand beteiligten, „mit gleicher Macht würkte“163. Diese Ursache fand Planck in dem gemeinhin ‚Reformation‘ genannten Ereigniszusammenhang:

„Gar zu sichtbar fällt es auf, daß die Empörung würklich gewissermaßen durch die vorhergegangenen Reformationsbewegungen vorbereitet und veranlaßt, daß wenigstens der Geist des Volkes vorzüglich durch dies so gleichförmig fähig gemacht wurde, von dem Schwindel angesteckt zu werden, der sonst gewiß nicht so viel Köpfe auf einmahl ergriffen und umgedreht haben würde.“164

Damit hatte Planck die Reformation als jene Triebkraft identifiziert, ohne die der Bauernkrieg unvorstellbar gewesen wäre ‒ ohne freilich, wie bei katholischen Autoren üblich, im Krieg selbst die Verwirklichung aufrührerischer Motive Luthers zu sehen. Denn Planck ließ auch keinen Zweifel daran, „daß die Urheber der Reformation nicht nur diese Würkung [sc. den Bauernkrieg] niemahls abzweckten, sondern sie auch unmöglich verhindern konnten.“165 Der Bauernkrieg wurde also möglich, weil „von dem Feuer, das die Religionsstreitigkeit in Deutschland entzündet hatte […], Funken in die Köpfe des Pöbels“ übergesprungen seien. Unter den Bedingungen des Zeitalters konnte sich „[w]ahre Aufklärung […] noch unmöglich unter die Menge“166 ausbreiten. Stattdessen wiesen die Bauern jeden Zwang, alles, was sie beschwerte, als mit der christlichen Freiheit und dem Worte Gottes unvereinbar aus. Auch die Verbindung mit aufrührerischen Kräften in den Städten sei kaum verwunderlich gewesen.

„Denn überall war der durch den Religionshandel erhitzte, an einigen Stellen durch schwärmerische Betrüger noch mehr aufgereizte Pöbel mehr als nur vorbereitet, das Feuer anzufangen. Daher und daher allein kam es, daß die Empörung so beyspiellos allgemein wurde, und in so kurzer Zeit allgemein wurde, denn keine andere Ursache könnte so ausgebreitete Würkungen gehabt haben.“167

Als universales Erklärungsmodell des Gesamtphänomens Bauernkrieg kamen die Belastungen und Bedrückungen nach Planck nicht in Betracht, denn manche Aufrührer standen „unter gelinden Herrschaften“168 und die soziale und rechtliche Lage der Bauern habe sich in den einzelnen Territorien und Regionen durchaus sehr unterschiedlich dargestellt. Nach Plancks wegweisendem Ansatz hat der innere Zusammenhang von Bauernkrieg und Reformation, unbeschadet der Intentionen etwa der sog. Reformatoren169, als fundamental und unveräußerlich zu gelten.

Ein weiterer Göttinger, der damals als Kustos der Universitätsbibliothek tätige Georg Sartorius, legte 1795 die erste umfassende Monographie zum Bauernkrieg vor.170 Ihre besondere Bedeutung ist darin zu sehen, dass er den Aufstand der Jahre 1524/25 im Horizont der eigenen Zeiterfahrung der Französischen Revolution interpretierte. Zwar habe die „elende“, ja „ärmliche Empörung“171 zu Beginn des 16. Jahrhunderts keinerlei nennenswerte Wirkungen gezeitigt und sei wegen der einseitigen Quellenüberlieferung der „Sieger“172 in ihrer Komplexität schwer rekonstruierbar, müsse aber als Revolution gewürdigt werden. Dabei ging es Sartorius, der während der Französischen Revolution in Paris gewesen war,173 wohl auch darum, sich von auf ihm lastenden Verdächtigungen zu befreien. Er erkannte, dass es im Bauernkrieg auch um „eine gänzliche Veränderung der Deutschen Reichsverfassung“174 gegangen sei. Die Ähnlichkeit von „vormahls und jetzt“175 ergebe als geeignete politische Konsequenz für die Gegenwart, „Mäßigung und Billigkeit denen zu empfehlen, die im Besitz von Vorrechten und Vortheilen“176 seien. Weder in der Unterdrückung der Bauern durch Adel und Klerus noch im gewalttätigen Aufstand des Volkes, weder in „wütendem Fanatismus“ noch in „niedrigem Egoismus“177, ja in „Parteygeist“178 aller Art, sei ein geeigneter Weg zu sehen. Dieser bestehe vielmehr in einer Absage an die Extreme. Die eigentlichen Ursachen des Bauernkriegs sah Sartorius nicht im Wirken Luthers und der Reformation:

„Nicht Luther, oder die Prädicanten, waren also Schuld an der bürgerlichen Rebellion in Deutschland im 16ten Jahrhundert. Die mannichfaltigen Gebrechen in der bürgerlichen und kirchlichen Ordnung und das Widerstreben diese zu mildern, brachte jene unglückselige Gährung hervor […].“179

Luther fehlte ein „Plan“180; die maßgeblichen religiösen Impulse in der Bauernschaft entstammten nicht seiner Lehre, sondern der Bibel.181 Dennoch haben Bauernkrieg und Reformation die Dominanz der kirchlichen Dogmen erschüttert und damit zuletzt Vernunft und Aufklärung einen Weg gebahnt.182 Insofern lautete Sartorius’ am Bauernkrieg gewonnene politische Botschaft an seine Zeitgenossen: Zur Umformung der Gesellschaft im Geist der Aufklärung bedarf es keiner Revolution!

Bauernkriegshistoriographie als Geschichtspolitik ‒ das 19. Jahrhundert

Der von Sartorius in Auseinandersetzung mit den Erfahrungen der Französischen Revolution inaugurierten Tendenz, gegenwartsbezogene politische Positionierungsdebatten im Modus von Deutungen des Bauernkriegs abzuhandeln, gehörte die Zukunft. Die wohl einflussreichsten Interpretationen des Bauernkriegs überhaupt, diejenigen Wilhelm Zimmermanns und Friedrich Engels’, setzen diese Tradition fort. Der evangelische Theologe, Pfarrer und Historiker Wilhelm Zimmermann (1807‒1878)183 hatte 1841‒1843 eine bahnbrechende Gesamtdarstellung des „großen Bauernkrieges“ vorgelegt, die sich von der gesamten vorangehenden Deutungsgeschichte dadurch unterschied, dass sie erstmals von Sympathie für die Aufständischen ‒ und von substanzieller Kenntnis der archivalischen Überlieferung, insbesondere der Akten des Schwäbischen Bundes184 ‒ getragen war. Zimmermann stellte die Ereignisse der Jahre 1524/25 in der Perspektive einer revolutionären Freiheitsgeschichte dar. Dass „Karlstadt, Münzer und nicht wenige andere“ die seitens der christlichen Religion „längst“ anerkannte „Gleichheit vor Gott“ „jetzt ausdehnten und fortführten zur demokratischen natürlichen Gleichheit vor den Menschen“185, sah Zimmermann als berechtigte Umsetzung eines elementaren christlichen Impulses an. Das Bild Luthers, das der schwäbische Pfarrer zeichnete, fiel entsprechend negativ aus: Die „freie Prüfung“ der „religiösen