David Suzuki, Wayne Grady
Der Baum
Eine Lebensgeschichte
Aus dem amerikanischen Englischvon Eva LeipprandZeichnungen von Robert Bateman
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© der Originalausgabe »Tree. A Life Story«: David Suzuki und Wayne Grady, 2004, 2018 (Text); Robert Bateman, 2004 (Umschlag, Illustrationen); Peter Wohlleben, 2018 (Vorwort)Original erstmals veröffentlicht bei: Greystone Books, 343 Railway Street, Suite 201, Vancouver, B.C. V6A 1A4, Canada
© der deutschen Ausgabe: oekom verlag München 2012, 2018Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbH,Waltherstraße 29, 80337 München
Lektorat: Christoph Hirsch, oekom verlagUmschlaggestaltung: www.buero-jorge-schmidt.deLayout, Satz: Ines Swoboda, oekom verlag
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-96238-446-3
VorwortPeter Wohlleben
Einführung
{eins}Geburt
{zwei}Wurzeln schlagen
{drei}Wachstum
{vier}Reife
{fünf}Tod
Danksagung
Literatur
Dieses Buch ist Ellen Adams gewidmet.Als ich sie kennenlernte war sie Doktorandinim Fachbereich Zoologie an der Universität von British Columbia.Sie war intelligent und aufgeweckt und weit über die Zoologie hinaus interessiert.Sie verstarb viel zu früh.In ihrer Großzügigkeit unterstützte sie die David Suzuki Foundationund hat dieses Buch ermöglicht.David Suzuki
Vorwort
David Suzuki und Wayne Grady sind Seelenverwandte. Nicht weil, sondern wie sie über Bäume schreiben. Kann es Lebewesen geben, die sich schwerer erfassen lassen als der Baum, der in diesem Buch die Hauptrolle spielt? Jahrhundertelang verwurzelt auf ein- und demselben Fleck, dazu so langsam wachsend, dass man über Jahre hinweg kaum Veränderungen sieht. Ein Protagonist, der scheinbar die Langeweile in Person ist.
Umso überraschender ist der Zauber, den beide Autoren enthüllen: Vom Samen bis zum ausgewachsenen, reifen Baum dürfen wir das Leben im Zeitraffer mitverfolgen. Diese Komprimierung offenbart, dass dieser Baum, eine Douglasie in den faszinierenden, gemäßigten Regenwäldern des südwestlichen Kanada, gar nicht langweilig ist, sondern lediglich ein anderes Tempo lebt. Für uns schnelllebige Wesen ist es normalerweise nicht zu sehen, wie der Baum sein Wachstum etwa an eine rutschende Böschung anpasst, schon gar nicht, was die Wurzeln unter der Erde treiben.
Zwischendurch bleibt immer Zeit für einen Ausflug in die weitere Botanik. Suzuki und Grady erklären, wie Pflanzen im Allgemeinen funktionieren und was die Wissenschaft zu den vielen Facetten des Themas beiträgt. Das war und ist es, was mich besonders beeindruckt hat: Die Autoren zeigen auf, dass der Blick auf einzelne Aspekte schnell den Blick auf das große Ganze verstellen kann. So sind viele Details erforscht, werden wie ein Puzzle Stück für Stück zusammengesetzt. Doch das fertige Puzzle ergibt kein stimmiges Gesamtbild: Wie etwa sollte man aus einzelnen Atomen und Molekülen heraus eine Seele erklären können? Erst durch das Zusammenspiel aller Komponenten entsteht ein System, welches uns staunen lässt und bis heute nicht ansatzweise verstanden ist.
Evolution ist ein Kampf, den immer der Stärkere gewinnt? Mitnichten, wie die Autoren berührend schildern. Erlen etwa liefern den anderen Baumarten Stickstoff und erhalten dafür ihrerseits eine Stärkung in Form von Zucker. Sie leben nicht so lange wie unsere Hauptdarstellerin, die Douglasie, und scheinen dennoch nicht betrübt: die Natur ist ständig im Wandel; auch im Wald ergeben sich so immer wieder neue Chancen für die nächsten Generationen.
In einer Zeit, da es immer dringender geboten ist, mehr Rücksicht auf unsere Umwelt zu nehmen, ist es an der Zeit, Dinge anders zu begreifen. Was nützt es, täglich unzählige Informationen über den Zustand der Ökosysteme wie Wälder oder Meere zu erhalten, wenn diese aufbereitet werden wie ein Bericht von der Börse? Wer empfindet Mitgefühl mit anderen Arten, wenn diese wie Bioroboter beschrieben werden, und wer erträgt es schon, eine nüchterne Hiobsbotschaft nach der anderen vorgesetzt zu bekommen? So wichtig diese Daten sein mögen, sie sind leider meist an den Verstand und nicht an das Herz adressiert. Einen echten Bewusstseinswandel leitet jedoch nur unser Organ der Liebe ein, und dazu bedarf es Botschaften, die bis hier hinein vordringen. Solche Botschaften benötigen Botschafter, die Fakten mit Gefühlen kombinieren können.
David Suzuki und Wayne Grady gelingt genau dieser Spagat. In emotionaler Sprache schildern sie, was bekannt ist, benennen die Lücken, die ungeklärt sind und schaffen es dennoch, alles so zu verweben, dass wir staunen können, kurz: Dass der Baum seine Seele behält und wir ihn in unser Herz schließen.
Peter Wohlleben
Einführung
Dieses Buch beschreibt das Leben eines ganz bestimmten Baumes, einer Douglasie. Es könnte aber auch jeder andere Baum sein – ein australischer Eukalyptusbaum, eine indische Banyanfeige, ein afrikanischer Baobab, ein Mahagonibaum aus Amazonien, eine Zeder vom Libanon oder eine Eiche in England oder Mitteleuropa. Alle Bäume bezeugen das Wunder der Evolution, die Fähigkeit des Lebens, sich unerwarteten Herausforderungen anzupassen und extrem lange Zeiträume zu überdauern.
Sicher und fest in der Erde verwurzelt streben Bäume hinauf in den Himmel. In einer wunderbar üppigen Vielfalt von Form und Funktion halten sie überall auf dem Planeten buchstäblich die Welt zusammen. Zum Wohl aller irdischen Geschöpfe empfangen ihre Blätter die Energie der Sonne und geben unablässig große Mengen Wasserdampf in die Atmosphäre ab. Zweige und Stamm gewähren Säugetieren, Vögeln, Amphibien, Insekten und auch anderen Pflanzen Schutz, Nahrung und Lebensraum. Die Wurzeln sind in der geheimnisvollen Unterwelt von Fels und Erde verankert und halten sie zusammen. Bäume gehören zu den langlebigsten Organismen der Erde. Ihr Leben umfasst Zeitspannen, die weit über Existenz, Erfahrung und Erinnerungsvermögen des Menschen hinausreichen. Bäume sind bemerkenswerte Wesen. Im Drama des Lebens jedoch stehen sie wie Statisten da, immer nur Hintergrund für die ständig wechselnden Ereignisse um sie herum, so vertraut und allgegenwärtig, dass wir sie kaum wahrnehmen.
Ich bin Zoologe – weil ich das so wollte und gelernt habe. Zeit meines Lebens nahmen Tiere meine ganze Aufmerksamkeit und Leidenschaft in Anspruch. Die ersten Tiere, die ich sah, waren meine Eltern, Geschwister und Spielkameraden, und später dann Sport, mein Hund. Meine Eltern waren begeisterte Gärtner; ich selbst dagegen fand Pflanzen nie besonders aufregend. Sie waren nicht lustig, sie bewegten sich nicht und machten auch keine Geräusche. Die Leidenschaft meiner Kindheit war das Angeln. Beim Erforschen von Gräben und Sümpfen waren Salamander und Frösche eine hochgeschätzte Beute und die überwältigende Vielfalt der Insekten, vor allem der Käfer, war Gegenstand nicht nachlassender Faszination. Es war gewiss kein Zufall, dass ich dann als Erwachsener meine Genforscherkarriere auf dem Studium eines Insekts, der Fruchtfliege Drosophila melanogaster, aufbaute.
Warum also sollte einer, der Tiere liebt, ein Buch über Bäume schreiben? Seit dem bahnbrechenden Buch von Rachel Carson Der stumme Frühling ist man weltweit auf die Bedeutung der Umwelt aufmerksam geworden. Man prangerte die Zerstörung der Wälder überall auf der Erde sowie die mangelnde Nachhaltigkeit der industrialisierten Forstwirtschaft an. Wie viele andere Aktivisten wurde ich von der Bewegung zum Schutz der naturbelassenen Wälder in Nord- und Südamerika, Asien und Australien mitgerissen, habe mich dabei aber vor allem mit dem Lebensraum beschäftigt, den diese Wälder für andere Organismen zur Verfügung stellen, mit dem Verlust an Biodiversität und mit der Rolle, die sie bei der globalen Erwärmung spielen. Es war dann ein einzelner Baum in der Nähe meines Inselhäuschens, der mir letztendlich die Augen dafür öffnete, was für ein Wunder ein Baum doch ist.
Von meinem Häuschen schlängelt sich ein Weg hinunter zur Küste und fällt dort, wo das Erdreich aufhört und der Sand beginnt, steil ab. Genau dort, am Rand des Erdreichs, ragt eine prachtvolle Douglasie empor, mehr als 50 Meter hoch und etwa fünf Meter im Umfang. Sie ist vielleicht 400 Jahre alt. Sie begann mit ihrem Leben also etwa zur gleichen Zeit wie Shakespeare mit der Niederschrift von König Lear. Es ist ein merkwürdiger Baum, weil er zunächst horizontal aus der Strandböschung herausragt, sich dann in einem 30-Grad-Winkel aufwärts krümmt, um sich schließlich kerzengerade nach oben zu wenden. Auf dem horizontalen Teil des Stammes kann man wunderbar sitzen, man kann von dort aus auch hochklettern, und da, wo er ansteigt, haben wir um den Stamm Seile für Schaukeln und Hängematten gebunden.
Douglasie in der Nähe meines Häuschens
Dieser Baum hat unsere Aktivitäten geduldig ertragen, hat Schatten gespendet, Eichhörnchen und Backenhörnchen ernährt sowie Adlern und Raben Unterschlupf gewährt und doch verharrte er immer an der Peripherie unseres Bewusstseins. Eines Tages ließ ich meinen Blick ganz gemächlich über den deformierten Stamm des Baumes schweifen; da wurde mir auf einmal klar, dass vor Hunderten von Jahren, als er gerade anfing zu wachsen – also etwa zu der Zeit, als Isaac Newton in England einen Apfel beim Herunterfallen von einem Baum beobachtete – dass also damals das Stück Land, auf dem der Baum ursprünglich keimte, zum Strand hin abgesunken sein musste; damit wurde der Baum in schrägem Winkel über den Sand gekippt. Der junge Stamm musste seine Wuchsrichtung ändern, wollte er weiterhin zum Licht hinaufsteigen. Jahre später hat dann wohl ein weiterer Erdrutsch den Stamm noch tiefer abgesenkt, bis in die Horizontale, und die Aufwärtskrümmung musste dies erneut kompensieren, um in die Senkrechte zu kommen. Dieser Baum war tatsächlich ein stummer Zeuge der Geschichte.
Das Leben eines jeden Baumes ist gefährdet. Ein Baum kann sich nicht bewegen; trotzdem muss er zunächst den Pollen so weit wie möglich aus seinem Territorium hinausbefördern, dann aber wieder die Samen im eigenen Einflussbereich verteilen. Um dies zu bewerkstelligen, hat er erstaunliche Mechanismen entwickelt, von der Methode, Tiere als Verteiler zu instrumentalisieren, bis zu dem Trick, an den harten Schalen eines Samens Propeller, Fallschirme und Katapulte anzubringen. Jeder, der schon einmal den Pollennebel über einem immergrünen Wald gesehen hat, die hauchdünnen Schleier aus Pappelkätzchen an einem stillen Bachufer oder auch die Berge von Eicheln in einem Eichenmastjahr, der kennt die aufwendige Verschwendung, die Bäume betreiben, um das Überleben einiger weniger Exemplare sicherzustellen. Wo auch immer ein Samen landet, sein Schicksal ist damit besiegelt. Für die meisten bedeutet das, Insekten, Vögeln oder Säugetieren als Beute ausgeliefert zu sein, auf Felsen zu vertrocknen oder im Wasser unterzugehen. Selbst wenn ein Samen auf dem Erdreich landet, ist seine Zukunft noch lange nicht gesichert. Dieser winzige Tropfen Protoplasma enthält das gesamte Erbe seines Erzeugers, ein Vorratspaket, das den Samen durch seine ersten tastenden Lebensregungen begleiten soll, dazu eine genetische Blaupause; diese bringt der wachsenden Pflanze bei, dass sie die Wurzeln nach unten und den Stamm nach oben zu schicken hat, und erklärt ihr auch, wie sie die Energie, das Wasser und die Substanzen, die sie zum Leben braucht, gewinnen kann. Ihr Leben ist programmiert; und doch muss sie flexibel genug sein, um mit Unerwartetem umzugehen, mit Stürmen, Dürre, Feuer und Räubern.
Sobald seine erste Wurzel das Erdreich durchdringt, ist der Samen an genau diesen Ort auf dem Planeten gebunden. Hier muss er sich alles Notwendige beschaffen, um zu überleben und über Jahrhunderte zu gedeihen. Aus Luft und Erde muss er sich all die nötigen Bausteine holen für die Herstellung der Moleküle und Strukturen, die ihn befähigen, sich zehn, zwanzig oder auch Hunderte von Metern über den Boden zu erheben, zig Tonnen zu wiegen und den zerstörerischen Kräften von Feuer und Wind zu widerstehen. Mit all seinem Einfallsreichtum und technologischen Wissen könnte der Mensch niemals etwas Vergleichbares erfinden wie die in jeden Baum eingebaute Stärke und Widerstandsfähigkeit. Allein mit Sonnenlicht, Kohlendioxid, Wasser, Stickstoff und einigen wenigen Spurenelementen stellt ein Baum das gesamte Spektrum an komplexen Molekülen her, welche die Bausteine seiner physischen Struktur und die Komponenten seines Stoffwechsels bilden. Damit diese Aufgabe gelingt, haben die Bäume Pilze als Helfer rekrutiert, welche die Wurzeln und Wurzelhaare des Baumes wie filigrane Spinnweben umhüllen und dabei der Erde Spurenelemente und Wasser entziehen. Als Gegenleistung erhalten sie dann vom Baum Zucker, den er in seinen Blättern erzeugt.
Das Protoplasma eines Baumes ist vollgepackt mit Energievorräten und Substanzen, die andere Organismen unwiderstehlich anziehen. Bäume können weder davonlaufen noch sich verstecken oder gar angreifende Räuber erschlagen, aber hilflose Opfer sind sie deswegen noch lange nicht. Ihre Rinde funktioniert wie eine Rüstung und sie stellen eine Vielzahl von wirksamen chemischen Verbindungen her, die als Gift oder Abschreckung gegenüber Eindringlingen dienen. Wenn sie von Insekten angegriffen werden, können Bäume flüchtige Verbindungen produzieren, die nicht nur die Insekten abwehren, sondern auch die Bäume in der Nachbarschaft auf die Gefahr aufmerksam machen und sie anregen, den Abwehrstoff ebenfalls zu erzeugen. Die Bäume bieten den Pilzen in ihren Zellen Unterkunft und Verpflegung; dafür produziert der Gast Substanzen gegen bakterielle Infektionen. Sind Krankheit oder Schädlinge dann doch einmal zu stark, kann ein Baum den betroffenen Bereich abschotten und auf diese Weise einzelne Glieder oder andere Teile seines Körpers opfern, um den Rest zu retten. Drunten in der Erde können sich die Wurzeln der Bäume einer Gemeinschaft intensiv durchdringen oder sogar vereinigen. So können die Bäume kommunizieren, Stoffe austauschen und sich gegenseitig zur Seite stehen. Kein Baum ist eine Insel; er ist Bürger einer Gemeinde. Indem er kooperiert, teilt und sich für ein gemeinsames Ziel einsetzt, gewinnt er den gleichen Vorteil wie jedes andere Lebewesen, das an einem voll funktionsfähigen Ökosystem teilhat.
Im Lauf der Zeit wird dann jedoch selbst der zäheste Baum unweigerlich durchlöchert, durchbohrt, infiziert und geschwächt. Der Tod eines Baumes kündigt sich nicht durch Herzstillstand oder durch das Erlöschen der Hirnströme an, auch nicht durch den letzten Atemzug. Ein sterbender Baum funktioniert immer noch, wenn auch eingeschränkt und sporadisch; durch verstopfte, schadhafte Gefäße versuchen Wurzeln weiterhin Nahrung und Wasser nach oben zu transportieren; hier und da arbeitet noch die Photosynthese. Schließlich aber wird der Baum ein toter Stumpf, der gleichwohl noch eine Unzahl anderer Arten am Leben erhält. Wenn er dann am Ende fällt, wird er im Verrotten noch jahrhundertelang wechselnden Lebensformen Nahrung vorhalten und Unterstützung gewähren.
Im Lauf unserer Geschichte haben wir immer wieder über unsere Beziehung zum Rest des Lebens auf der Erde nachgedacht. Früher waren sich viele Völker der Tatsache bewusst, dass uns nicht nur mit den Tieren, sondern mit allem, was an Grünem lebt und wächst, Verwandtschaft und gegenseitige Abhängigkeit verbindet. Sie malten sich aus, wie das Universum entstanden war, wann und warum auf einmal der Mensch auftauchte und wie überhaupt alles so gekommen war. Die Geschichten, die man in diesen Kulturen erzählte, enthielten all die Beobachtungen, Einsichten und Vermutungen, aus denen das Weltbild eines jeden Volkes besteht.
Die Wissenschaft vertritt eine vollkommen andere und sehr einflussreiche Sicht auf die Welt. Indem wir uns auf ein Teilstück der Natur konzentrieren, indem wir alles, was damit zu tun hat, erfassen und ein bestimmtes Fragment messen und beschreiben, gewinnen wir tiefe Einsichten – aber eben nur in jenen Teilaspekt. Im Forschungsverlauf verlieren Wissenschaftler oftmals den Kontext aus den Augen, in dem jenes Teil, in dem jener Prozess sich bewegt. Sie nehmen die Rhythmen, Kreisläufe und Muster nicht mehr wahr, durch die das Fragment überhaupt erst interessant wurde. Die Erkenntnisse der Wissenschaft befinden sich ständig im Fluss, wobei sie sich immerfort erweitern, verändern oder sogar durch neue Beobachtungen ersetzt werden. In diesem Buch haben wir versucht, wieder die staunende Haltung eines Laien einzunehmen, und haben diese dann mit wissenschaftlich gewonnener Information ergänzt. Das Detailwissen wird im Lauf der Zeit wachsen und sich wandeln, die Phänomene jedoch werden ihren wunderbaren Glanz für immer behalten.
Die Geschichte eines einzelnen Baumes verbindet uns mit vergangenen Zeiten und allen Regionen der Erde. Davon erzählt dieses Buch. Es erzählt aber zugleich die Geschichte aller Bäume und allen Lebens, überall hier auf unserer Erde.
{EINS}
Geburt
Bäume sind Zeitmaschinen.
John Fowles, Der Baum
Ein Blitz zuckt über den Himmel und schlägt auf dem höchsten Punkt des bewaldeten Höhenrückens ein. Das Feuer entzündet sich aber nicht oben in den Wipfeln, wo die Bäume jung und stark sind, sondern etwas weiter unten, wo Baumstümpfe und abgebrochene Äste sich im Lauf der Jahre zu einem trockenen und leicht entzündbaren Haufen Kleinholz angesammelt haben. Tagelang schwelt ein einzelner aufrecht stehender Stumpf vor sich hin, glühende Holzstücke fallen auf den Felsboden darunter. Das verkohlte Holz breitet sich auf der herumliegenden Streu aus und entzündet ein Bodenfeuer, das auf seinem Weg kleine Zweige und heruntergefallene Zapfen in Brand setzt. Die Flammen züngeln hoch und lecken an den tiefsitzenden abgestorbenen Ästen der im vollen Saft stehenden Bäume. Wie auf einer Leiter eilt das Feuer über die ineinander verflochtenen Äste nach oben bis in den harzreichen mittleren Bereich und wütet dort mit derartiger Heftigkeit, dass es allen Sauerstoff aus der umgebenden Luft verbraucht und eine Temperatur weit über dem Flammpunkt von frischem Holz erreicht. Wie wenn man in einer Feuerkammer plötzlich eine Klappe öffnet, wird ein von günstigem Wind zugeführter Schwall frischen Sauerstoffs nach oben geschleudert und augenblicklich, wie durch teuflische Magie, scheinen alle Feuer der Welt zu explodieren und sich auszubreiten, hinauf ins Kronendach des Waldes. Was als Bodenfeuer begann, ist ein Kronenfeuer geworden, und damit ein Feuer, das sich begierig ausbreitet.
Das Kronenfeuer schreitet voran, indem es Kundschafter ausschickt, die nach frischer Nahrung Ausschau halten. Zuerst beginnt es, hin und her zu wogen, als ob es nicht recht wüsste, was es als Nächstes verzehren solle. Dann verdrehen sich die züngelnden Spitzen zu kleinen Flammenlöckchen, zu Spiralen, Wirbeln und Minitornados, die sich rasch zu einem riesigen wütenden Strudel vereinigen, einer rotierenden Walze aus Feuer und Rauch. Die mit Temperaturen von rund 1.000 °C brennenden Gase werden von oben bis auf den Grund hinuntergesaugt, wo sie brennende Zweige, manchmal auch ganze Äste aufnehmen, die von benachbarten Aufwinden nach oben befördert werden. Die Walze wirkt jetzt wie eine Kanone, die Zweige und Äste Hunderte von Metern in denjenigen Teil des Waldes feuert, der vom Brand bislang verschont geblieben ist. Lodernde Geschosse erfüllen die Luft. Sie haben den Auftrag, eine Vorhut zu bilden, um kleinere Brandherde zu legen, die sich dann vereinen, bevor sie sich beim Hauptfeuer zurückmelden.
Sobald die Temperatur im Bereich zwischen dem Hauptfeuer und seinen vereinigten Ablegern den Flammpunkt von Holz überschritten und der Wind dafür gesorgt hat, dass genügend frischer Sauerstoff zugeführt wird, verschwindet die Grenze zwischen den einzelnen Brandherden innerhalb von Sekundenbruchteilen. Von nun an steht seiner Ausweitung nichts mehr im Wege. Ein Feuer, das zunächst nur langsam vorankam, breitet sich plötzlich über 100 Quadratkilometer aus. Es setzt sich nicht mehr nur in eine Richtung fort, sondern überallhin; aus dem Feuer ist ein Flächenbrand geworden. Der gesamte Wald ist ein einziges Chaos aus Rauch, Flammen und sengender Hitze; Tiere und Vögel kreischen und tappen durchs Dunkel, Felsbrocken lösen sich, es braust der Wind, das Ende alles Lebendigen scheint gekommen.
Wenn in dem Gebiet das brennbare Material bis aufs letzte Stöckchen verzehrt ist, wenn der Boden von jeglicher Vegetation entkleidet und so ausgeglüht ist, dass er keine organischen Nährstoffe mehr enthält, wenn sich sogar das Wasser aus dem Bachbett in Dunst aufgelöst hat, wenn die Felsen geborsten und Rauch und Feinstaub aus dem Brand hochgewirbelt worden sind bis ans äußerste Ende der Erdatmosphäre, dann wandert der Feuermoloch weiter, wohin auch immer ihn Wind und geografische Gegebenheiten führen, immer auf der Spur neuer Kundschafter, um weiteres Gelände zu verzehren. Was zurückbleibt, ist Stille. Das Zischen und Brausen hat ein Ende, es gibt keine Vögel mehr, keine Reptilien oder Insekten, keinen Wind in den Weiden, kein Kratzen oder Schaben von Zweig an Zweig. Keine Bewegung. Keine Farbe außer kohlschwarz und aschgrau. Es wäre durchaus verständlich, wenn jemand beim Anblick einer derart trostlosen Szenerie auf den Gedanken käme, Feuer sei eine Geißel der Menschheit, direkt aus jener Unterwelt entsandt, die Dante – der zu dem Zeitpunkt, als unser Feuer ausbrach, auf der anderen Erdhalbkugel gerade über seiner Arbeit saß – das Inferno nannte. Der Regen kommt vom Himmel; das Feuer aber aus der Hölle.
Doch wer so denkt, liegt falsch. Die Westküste von Nordamerika, wo sich dieser Waldbrand ereignete, hat regelmäßig solche Großfeuer erlebt. Die richtig großen Brände, die Jahrhundertbrände, rasten alle zwei- oder dreihundert Jahre durch die nördlichen Wälder. Kleinere Bodenfeuer flammten bis zu zweimal in drei Jahrzehnten auf. Die großen Bäume, die ausgewachsenen Douglasien, die Sitka-Fichten, die Riesenmammutbäume, leben länger als 1.000 Jahre. Das heißt also, dass nicht einmal die größten Feuer sie vernichten. In Wirklichkeit brauchen große Bäume große Feuer für die Entwicklung und Vollendung ihrer Lebenszyklen.
Als Folge der globalen Erwärmung hat die Häufigkeit von Kronenfeuern an der nordamerikanischen Westküste dramatisch zugenommen. Im Gegensatz zu den kleinen Bodenfeuern, die den Waldboden alle paar Jahre »reinigen«, treten diese Großfeuer mittlerweile hunderte Male pro Jahr auf – mit steigender Tendenz: wurden 2011 noch 646 Feuer gezählt, waren es 2013 schon 1851 und 2016, in einem außergewöhnlich feuchtem Jahr, immerhin noch 1051. Auch die Intensität dieser Feuer ist aufgrund wärmerer und trockenerer Sommer angestiegen. Selbst in einem Jahr wie 2011, mit relativ wenig Feuern, betrug die Fläche, die von diesen zerstört wurde, das Dreifache des Durchschnittswerts, nämlich 330 000 Hektar. Vor allem, wenn man bedenkt, dass fast die Hälfte der Feuer vom Menschen verursacht werden, die meisten davon werden absichtlich gelegt, dann ist klar, dass wir diesen Planeten massiv umgestalten.
Die großen Feuer kommen weder vom Himmel noch aus der Hölle; sie sind Teil der natürlichen Prozesse, die das Leben der Pflanzen und Tiere bestimmen. Feuer ist Energie, die in dem riesigen Kernfusionskessel entstand, den wir unsere Sonne nennen. Sonnenenergie strömte auf die Erde herab, wurde dann von den Blättern aufgefangen und in stabile Moleküle überführt, welche in regelmäßigen Abständen – wenn auch durch Zufall – wieder entzündet und in Feuer umgewandelt werden. Unser Jahrhundertfeuer gehört ebenso zum Leben des Waldes wie der Regen, wie das Summen der Insekten oder das Fiepen der nordischen Flughörnchen und der Roten Baumwühlmäuse.
Küstenkiefern, Riesenmammutbäume und andere Koniferen der westlichen Hemisphäre sind Spätblüher beziehungsweise öffnen ihre Zapfen spät. Anstatt wie die Apfel- oder Ahornbäume ihre Samen fallen zu lassen, sobald sie reif sind, halten sie diese zurück und geben sie erst als Reaktion auf einen Auslöser, einen Impuls aus der Umgebung frei. Küstenkiefern halten ihre Zapfen manchmal 50 Jahre lang geschlossen und warten auf ein Feuer, um die Zapfen zu öffnen und die darin enthaltenen Samen zu entlassen. Auch Mammutbäume halten ihre Zapfen jahrzehntelang fest geschlossen und geben die Samen erst dann frei, wenn die Zapfen auf 50 bis 60 °Celsius erhitzt werden – Temperaturen, die nur durch ein Feuer erreicht werden. Das Gewebe von Pflanzen (und Tieren) beginnt bei 50 ° zu degenerieren. Diese Baumriesen geben ihre Samen also bei Temperaturen frei, die auch ihr Tod sein könnten. Es wird vermutet, dass die untersten Äste einiger Koniferen einzig und allein aus dem Grund absterben und am Baum verbleiben, um als Brennmaterial zu dienen, um es dem Bodenfeuer zu ermöglichen, die Krone zu erreichen, um schließlich die Zapfen zu erhitzen und die Samen zu befreien.
Widerstandsfähigkeit gegen starke Hitze ist eine wertvolle Eigenschaft in Gegenden mit einem Klima, welches Feuer begünstigt – einem Klima mit relativ geringem Jahresniederschlag, langen trockenen Hitzeperioden und starken Winden. Ein solches Klima herrscht zum Beispiel in weiten Teilen Australiens.
So leicht entflammbar wie der für das Land charakteristische Eukalyptus (in Australien gum tree genannt) ist sonst kaum ein Baum auf der Erde. Er produziert große Mengen trockener Blätter und sogar ein entzündliches Gas, mit dessen Hilfe es möglich ist, Flammen über eine Entfernung von 100 Metern zu katapultieren. Eukalyptusbäume können unvorstellbare Temperaturen ertragen und manche Arten brauchen offenbar sogar Feuer zum Überleben. Selbst in vergleichsweise feuchten Klimaregionen kann Widerstandsfähigkeit gegen Feuer ein Aktivposten sein. In Hawaii zum Beispiel kann es vorkommen, dass der endemische Baum Metrosideros macropus aus der Gattung der Eisenhölzer unter einem Haufen glühender Vulkanasche buchstäblich lebendig begraben wird und trotzdem noch austreibt. Unter seinem heißen Aschehaufen produziert er sogar neue Wurzeln.
Für die Reproduktion brauchen die Douglasien (Pseudotsuga menziesii) das Feuer nicht, wohl aber für das Überleben. Ihre Sämlinge können keinen Schatten ertragen. Die Bäume sind darauf angewiesen, dass das Feuer den Boden rund um niedrigwachsende Arten wie die Westamerikanische Hemlocktanne und den Riesen-Lebensbaum frei hält; wenn die Samen dann herunterfallen, ist das Terrain, auf dem sie sich ansiedeln, nicht von anderen Pflanzen besetzt und deshalb auch nicht beschattet. Obendrein enthält die Asche wertvolle Nährstoffe für das Gedeihen der Sämlinge. Ohne Feuer würden sich die Douglasienwälder letztlich in Wälder aus Hemlocktannen und Riesen-Lebensbäumen verwandeln. Ausgereifte Douglasien können solche »reinigenden« Feuer überdauern, weil sie eine dicke, nicht brennbare Borke entwickelt haben – bei ausgewachsenen Bäumen kann diese eine Stärke von bis zu 30 Zentimetern erreichen –, die die innenliegende lebende Kambiumschicht schützt.
Feuer ist launisch. Innerhalb von wenigen Tagen kann es über Tausende von Hektar Waldbestand fegen, ganz offensichtlich gewillt, alles auf seinem Weg zu zerstören, und dann doch etwas übrig lassen – hier einen Schössling, dort einen ausgereiften Baum, anderswo einen ganzen Bestand. Nach unserem Waldbrand würde man bei einem ersten flüchtigen Blick über das schwarze, ausgebrannte Tal vielleicht nicht viel mehr als verkohlte, über graue Aschehaufen geneigte Baumspitzen wahrnehmen. Bei näherem Hinsehen jedoch würde sich, vor allem nach einem Regen, hier und da ein wenig Grün zeigen, Sonnenlicht, das sich in herabfließendem Baumharz spiegelt, und – einer geschützten Oase gleich – ein verschontes Stückchen Wald auf der windabgewandten Seite eines Hügelrückens.
Obwohl die Zapfen der Douglasien also zum Aufbrechen keine hohen Temperaturen brauchen, muss ihr natürlicher Feuchtigkeitsgehalt doch auf weniger als 50 Prozent eingetrocknet sein. Innerhalb weniger Tage nach dem Flächenbrand spreizen Hunderte von Zapfen, wie sie an einer einzigen standhaften, 70 Meter hohen Douglasie hängen, langsam ihre Schuppen auf und entlassen ihren Vorrat geflügelter Samen in den Wind, der nun ungehindert wehen kann. Kreiselnd tanzen die Samen hinunter auf die Erde. 95 Prozent davon werden nie auskeimen, weil sie auf Felsen, in Wasser oder auf unfruchtbaren Boden fallen. Von den anderen werden wiederum 95 Prozent das erste Jahr nicht überleben, sei es aus Mangel an Nährstoffen, wegen zu starker Beschattung oder weil die unternehmungslustigen Hirschmäuse und Douglashörnchen zu viel Appetit haben. Die verschwenderische Natur sorgt jedoch dafür, dass einige wenige Samen – und das ist ausreichend – auf feuchtem, mineralhaltigem Grund landen, der sie zum Keimen anregt. Die meisten werden nie bis zum Stadium der Reife kommen. Sie können allen möglichen Gefahren zum Opfer fallen – einem Waldbrand, solange ihre Borke noch nicht stark genug ist, einem äsenden Schwarzwedelhirsch, einem Wapiti, der sein Geweih zu kräftig an ihnen reibt, Insekten, Pilzbefall, Dürre, einem Erd-rutsch, einem mörderischen Frost oder auch der Konkurrenz anderer Bäume. Einer von ihnen aber wird sich an einem hellen, hoch gelegenen, gut entwässerten Ort ansiedeln. Ihm wird reichlich Sonnenlicht zur Verfügung stehen und eine stetig feuchte Brise, die am Ende des Tales vom Pazifischen Ozean heraufsteigt, dort, wo frisch das neue Grün glänzt. Der Samen wird Wurzeln in die Erde schicken, einen Stamm ausbilden, Zweige austreiben, Nadeln ausbilden und seinen Reifeprozess für weitere 500 Jahre fortsetzen. Das wird dann unser Baum sein.
Am Anfang
Feuer ist ein wohlbekannter und wichtiger Bestandteil von Waldökosystemen. Brände verwandeln Materie und Energie aus den Lebensformen des Waldes in ihre Grundkomponenten zurück, die dann ihrerseits wieder von neuen Lebensformen verwertet werden können. Das Feuer, der Samen und das anschließende Wachstum unseres Baumes, dies alles sind Stadien eines Prozesses, der schon unendlich lange vor der Entstehung tierischen Lebens auf der Erde begann. Vor 13,8 Milliarden Jahren, als die gesamte existierende Materie in einer einzigen Singularität verdichtet war, in einem Punkt, nicht größer als der Punkt am Ende dieses Satzes, da entzündete der Glutofen des Urknalls das Feuer in unserer Erde. Dieser Punkt explodierte mit unvorstellbarer Kraft, Temperatur und Geschwindigkeit und flog in alle Richtungen ins All hinaus. Die Ausdehnung hält bis heute an. Im Lauf der folgenden neun Milliarden Jahre gab es in den Wirbeln des abkühlenden Gases ausreichend Materie, um die Gase durch die Wirkung der Schwerkraft zu immer dichteren Klumpen zusammenzuballen. Plötzlich – in kosmischem Zeitmaßstab gesehen – wurde der Himmel durch das fast zeitgleiche Zünden von Milliarden nuklearer Glutöfen erleuchtet; das war die Geburt der Sterne. Einer von ihnen war unser Stern, die Sonne, entstanden aus einer Gas- und Staubwolke, die mehr als 99,8 Prozent der gesamten Materie in unserem Sonnensystem umfasste.
Aus der Verdichtung der restlichen 0,2 Prozent der gasförmigen Materie, die nicht in der Sonne gebunden war, entstanden die Planeten. Vor etwa 4,5 Milliarden Jahren fügte sich die Erde dann allmählich zu einem kompakten Ganzen; durch die Schwerkraft wurde sie zusammengepresst und ihr Inneres so stark aufgeheizt, bis es schmolz. Die Atmosphäre des Planeten enthielt keinen Sauerstoff, dafür aber Treibhausgase wie Kohlendioxid und Wasserdampf. Diese Atmosphäre bildete eine isolierende Decke, die die Wärme der Erde einfing und die Oberflächentemperatur auf einem Niveau stabilisierte, das Leben ermöglichte. Die Bühne war bereitet, das Licht eingeschaltet, das große Drama des Lebens konnte beginnen.
Nach dem Feuer
Es folgten die Eröffnungsszenen: Die Oberfläche der Erde kühlte ab und bildete riesige Platten aus fester Kruste, die auf dem Magma schwammen wie gigantische Eisschollen auf einem Meer flüssigen Feuers. Wo sie zusammenstießen, schoben sie sich himmelwärts, um Bergketten zu schaffen. Wo sie auseinander brachen, rauschten die Meere herein und füllten die Zwischenräume. Im Laufe dieser Zeit – wir sprechen von mehr als einer halben Milliarde Jahren – etablierte sich aus Verdunstung, Kondensation und Niederschlag der Wasserkreislauf auf dem öden Land. Reißenden Sturzbächen gleich, grub das Wasser Schluchten, löste Mineralien aus den Felsen und spülte sie in die Meere, wo sie sich über die Jahrtausende anreicherten und sich den Elementen zugesellten, die bereits im Wasser vorhanden waren. Die Ozeane verwandelten sich in eine reichhaltige Lösung aus Kohlenstoff, Stickstoff, Phosphor, Schwefel, Wasserstoff und Natrium. Das Land überzog sich mit einer dünnen Schicht aus Sand, Kies, Vulkanasche, Ton und Lehm.
Etwa in der Mitte des ersten Aktes taten sich die Bausteine in den Ozeanen zusammen und bildeten lebende Organismen. Wie sie das genau bewerkstelligten, ist eine der am heftigsten diskutierten Fragen der modernen Biologie. Weitgehend einig ist man sich jedoch, dass dies irgendwann vor etwa 3,8 oder 3,9 Milliarden Jahren geschah, und zwar im Wasser, durch einen Prozess, der Energie benötigte. Als Quelle für diese Energie kommt alles Mögliche in Betracht: ultraviolette Strahlung aus der ozonfreien Atmosphäre, Blitze, Meteoritenschwärme (folgt man bestimmten Hypothesen, brachten diese auch ein paar essenzielle chemische Elemente mit, die auf der Erde noch fehlten) oder auch hydrothermale Quellen auf dem Grund der Ozeane, wo das Magma aus Spalten zwischen den tektonischen Platten hervorquoll, das Wasser überhitzte und auf diese Weise Bestandteile wie Methan und Ammoniak lieferte.
Schließlich wuchsen einige Atome und Moleküle zu größeren Aggregaten zusammen, zu Makromolekülen von Lipiden, Kohlehydraten, Proteinen und Nukleinsäuren. Irgendwie geschah es dann, dass komplexe Moleküle von Lipidmembranen umschlossen wurden, die innen von außen trennten. Das waren Protozellen, der Anfang des Lebens. An einem bestimmten Punkt hatte tote Materie sich in der nötigen Komplexität organisiert, um zum Leben zu erwachen. Wir haben das Ende des ersten Aktes erreicht.
Heute unterscheidet sich das, was lebt, von dem, was nicht lebt, durch eine Reihe von Eigenschaften. Keine davon ist ausschließlich auf lebende Organismen beschränkt; in ihrer Summe aber treten sie nur bei Lebewesen auf: hochgeordnete Strukturen, die Fähigkeit zu Reproduktion, Wachstum und Entwicklung, Nutzung von Energie, Reaktion auf die Umwelt, Homöostase (Aufrechterhaltung einer inneren Umwelt durch Selbstregulierung) sowie evolutionäre Anpassung. Wir wissen nicht, wie viele potenzielle Lebensformen nur einmal kurz im Dasein aufflackerten, um gleich wieder dem Druck anderer potenzieller Lebensformen oder ungünstiger Umweltbedingungen zu erliegen oder auch aus einem Mangel an Ressourcen oder Einfallsreichtum im Prozess der Anpassung unterzugehen und wieder im Pool der ungeformten Materie zu verschwinden. Angesichts des reichhaltigen molekularen Substrats in den urzeitlichen Meeren hat es möglicherweise die ganze Zeit spontane Aggregationen gegeben. Wenn dem so war, dann muss der Wettbewerb erbarmungslos gewesen sein. Im Fall des Scheiterns gab es keine Gnade. Nur ein einziges Experiment hat sich als erfolgreich erwiesen. Als irgendwann eine Lebensform auftauchte, die allen anderen überlegen war, die sich reproduzieren und dergestalt mutieren konnte, dass sie einen Wettbewerbsvorteil gewann, wurde diese einzelne Protozelle eines Bakteriums zur Stammmutter allen weiteren Lebens auf der Erde und damit das letzte Beispiel auf dem Planeten für die spontane Entstehung von Leben aus lebloser Materie. Danach war das, was Leben gezeugt hat, immer nur Leben, in ununterbrochener Folge bis zur Gegenwart.