Der Beschützer - Psychothriller - Inger Frimansson - E-Book

Der Beschützer - Psychothriller E-Book

Inger Frimansson

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Beschreibung

Selbstmord im Flammenmeer? Bei einem Einsatz hat sich ein Feuerwehrmann offenbar das Leben genommen. Zunächst deutet alles auf Freitod hin, ein Kollege ahnt jedoch, dass der Tote nicht allein war. Kurz darauf wird ein weiterer Feuerwehrmann ermordet. Schnell gibt es einen Verdächtigen, doch dann erkennen die ermittelnden Beamten, dass man sie auf die falsche Spur gelockt hat. Ein Rennen gegen die Zeit beginnt!-

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Inger Frimansson

Der Beschützer - Psychothriller

Saga

Der Beschützer - PsychothrillerÜbersetzerin Christel Hildebrandt Coverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 2003, 2020 Inger Frimansson und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726445084

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

1

Der Feuerwehrmann Stefan Almgren war mitten im Traum, als die Sirene losging. Es war ein großer Alarm, Feuer in der Nähe vom Gaswerk.

Er schlug die Augen in dem kalten, weißen Licht auf und fuhr schwerfällig aus dem Bett. Er hatte neunzig Sekunden, um hinunter in die Wagenhalle zu kommen, sich die Schutzkleidung überzustreifen und in den Wagen zu springen.

Die Uhr zeigte 04.17. Was er geträumt hatte, erinnerte er nicht mehr. Er verspürte nur ein unbestimmtes Gefühl des Verlusts. Es war, als wäre er aus einem weichen, wogenden Dunkel herausgerissen worden. Der Alarmton war so schrill, dass es wehtat.

Zum dritten Mal hintereinander war er als Feuerwehrmann mit Atemschutzgerät eingeteilt. So hielten sie es immer, tauschten die Plätze jeweils nach drei Schichten, damit alle gleichermaßen trainiert bei den unterschiedlichen Arbeitsaufgaben waren. Das nächste Mal würde er den Leiterwagen fahren. Das mochte er nicht. Er hatte Probleme, nachts den Weg zu finden.

Es war, als befände sich das Gehirn noch im Dämmerzustand, während der Körper schon tat, was er sollte, die Stange hinunterrutschte, zu der Schutzkleidung lief, in die Hose und die Stiefel sprang und den Helm auf den Kopf drückte. All das geschah mechanisch, jede Bewegung war antrainiert. Der Körper ein starrer, aber zuverlässiger Roboter. Nur das Gehirn lag wie betäubt da. Und er musste sich anstrengen, kannte plötzlich nicht einmal die einfachsten Wege. Nach Kungsgatan, Norrmalmstorg? Wie zum Teufel fuhr man dorthin?

Stefan Almgren, den seine Kollegen nur Almis nannten, kletterte in den Wagen und setzte sich. Er zog die gelbe Feuerwehrmannkapuze über den Kopf und hängte sich das Sauerstoffgerät über, das zum Aufladen hinter dem Sitz hing. Seine Gesichtshaut war noch warm vom Schlaf. Auf der linken Wange war der Abdruck des Lakens zu sehen, das unter ihm zerdrückt gelegen hatte.

Es war um die null Grad kalt, und leiser Schneefall färbte die Dächer der geparkten Autos weiß. Das Funkgerät knisterte, aber er konnte nicht verstehen, was gesagt wurde, kein Mensch außer ihnen war wach, nur sie waren zu dieser frühen Stunde unterwegs. Jompa fuhr, Johnny Karlsson. Neben Almgren saßen auf den hinteren Sitzen noch Anker Hahn und Engen. Mats Engen gähnte, seine Augen waren klein und mürrisch.

»Wenn einem nur mal eine einzige Nacht gegönnt sein könnte«, knurrte er und fummelte am Reißverschluss seiner Schutzjacke herum. »Wenn man einmal schlafen dürfte.«

Er hatte kleine Kinder, Zwillingsjungen, die erst ein paar Jahre alt waren. Sie weckten sich gegenseitig und machten Radau. Und sie waren oft krank.

Jompa drehte sich um:

»Verdammt, du bist doch nicht hier, um zu schlafen!«

Er sagte das ohne Aggressivität, der Ton war unter ihnen einfach so. Die meisten von ihnen arbeiteten bereits seit zehn Jahren zusammen. Sie kannten einander, konnten die Stimmung des anderen schon an der Art zu gehen abschätzen, an der Art, wie er sich über eine Zeitung beugte, wie er sein Essenspaket in den Kühlschrank stellte. Stefan Almgren war seit fünfzehn Jahren Feuerwehrmann. Er machte seinen Job gut, aber er war müde. Ein Monat war vergangen, seit Maria von der Arbeit nach Hause gekommen war und ihm erklärt hatte, dass sie sich scheiden lassen wollte. Sie hatte im Flur gestanden, ihr Haar war kurz und kraus. Es war ein regnerischer Tag gewesen. Sie hatte sich die Jacke ausgezogen und während sie sie an den Haken hängte, war sie damit herausgerückt.

»Stefan. Ich muss mit dir reden. Es ist wichtig.«

Er hatte das Essen fertig gehabt, zwei Koteletts und Reis. Er hatte den ganzen Tag frei gehabt, aber nichts Besonderes gemacht, Fernsehen geguckt, herumgekramt.

»Wollen wir nicht erst essen.«

»Ich habe keinen Hunger, Stefan. Ich ... ich habe einen anderen kennen gelernt.«

Genau in dem Moment löste sich der Aufhänger ihrer Jacke. Das Teil fiel vom Haken, senkrecht zu Boden und blieb dort einige Sekunden lang stehen, bevor es zur Seite kippte und in sich zusammenfiel.

Sie waren seit vier Jahren verheiratet, aber mit Kindern war es nie etwas geworden, das lag an ihm, und das wussten beide. Als er vierzehn gewesen war, hatte er Mumps gehabt. Sie hatte gesagt, dass das keine Bedeutung für sie habe, sie sei sowieso nicht so begeistert von Kindern.

Aber mit der Zeit wurde ihm klar, dass das nicht stimmte.

In dieser Nacht fanden sie zu einer Art neuer Gemeinsamkeit. Ein Schweigen hatte sich im Laufe der Jahre zwischen sie geschlichen, er war sich dessen bewusst gewesen, konnte aber nicht sagen, wie lange es das schon gegeben hatte. Das hatte sicher etwas mit dieser Müdigkeit zu tun, dieser großen Müdigkeit, die dazu führte, dass sie gerade mal den Alltag bewältigten, mehr nicht. Trotzdem begriff er es nicht.

»Was ist los, was stimmt denn nicht?«

Er wiederholte diese Frage immer wieder. Wenn sie herausfinden würden, was nicht stimmte, dann könnte ihnen geholfen werden, den Fehler zu beheben. So dachte er sich das, sie könnten gemeinsam das Problem lösen, so, wie sie es früher gemacht hatten. In der Anfangszeit. Als es die Lust noch gab.

Sie sagte, dass keiner von ihnen schuld daran sei. Und wenn, dann sei sie es, weil sie sich in diesen anderen verliebt hatte und das war ja nicht direkt ein Fehler, das war nichts, was man reparieren konnte. Sie sprachen miteinander in dieser Nacht, wie sie es seit langem nicht mehr getan hatten. Er war gefasst gewesen, brauste nicht auf, hatte stumm dagesessen und zugehört, während sie von ihren Treffen mit dem anderen berichtete. Als ihr klar wurde, dass er nicht daran dachte, sie zu unterbrechen, schilderte sie immer mehr Einzelheiten. Sie sprach zu ihm wie zu einem Beichtvater.

Sie hatte am Tisch gesessen, war bleich gewesen und hatte geweint, aber tief in ihren Augen leuchtete es vor unterdrückter Freude, und er wusste, dass diese Freude nichts mit ihm zu tun hatte.

Gegen zwei Uhr nachts waren sie beide erschöpft gewesen. Sie hatten sich ins Doppelbett gelegt, vollständig angezogen. Sie hatte seine Hand ergriffen, und sie waren eingeschlafen, er hatte ihr leichtes Atmen gehört. Als der Wecker geklingelt hatte, war sie aufgestanden und hatte das Frühstück gemacht. Wie üblich. Und nachdem er gegessen hatte, fuhr er wie üblich mit dem Auto zur Wache, und es war ein ruhiger Tag mit nur einem einzigen Einsatz, einem Automatenalarm.

Am Abend, als er heimgekommen war, waren alle Fenster dunkel. Sie war gegangen.

Sie näherten sich jetzt dem Gaswerk und fanden bald das betreffende Gebäude. Es war ein Autoverwertungsbetrieb, er lag ein Stück abseits von der Straße, umgeben von einem hohen Zaun mit Stacheldrahtrollen obendrauf. Die Tore standen offen, steckten in schmutzigen, zusammengepressten Schneewehen fest. Hasses Autoverwertung stand auf einem Schild über der Tür.

Jompa bremste ab und hielt an. Alle vier starrten auf den Leiter ihrer Gruppe, der kurz vor ihnen eingetroffen war. Sein Name war Lennart Björk, doch er wurde nur kurz LB genannt. Er war schon seit vielen Jahren dabei, ein ruhiger, gewissenhafter Mann, der nur selten etwas dem Zufall überließ. Er hielt über Funk mit ihnen Kontakt.

»Der Kerl, der den Alarm gab, hat gesagt, dass es hier rauchte. Er ist nur zufällig vorbeigekommen, hat von seinem Handy aus angerufen.«

»Wer war das?«, fragte Engen.

»Keine Ahnung!«

Jetzt konnten sie keinen Rauch entdecken. Das ganze Gebäude lag wie ein düsterer Klotz in der Dunkelheit. Die Fensterrahmen und die großen Eisentüren waren blau angestrichen. Ein Teil der Fenster war vergittert. Rechts davon stapelten sich die ausgeschlachteten Autoskelette in mehreren Etagen, zusammengepresst, türlos und ihrer Würde beraubt. Eine kleinere Tür, gerade so groß, dass ein Mensch hindurchpasste, war wie ein Puzzleteilchen in eine Eisentür eingesetzt.

LB drückte die Klinke runter. Es war nicht abgeschlossen. Dort drinnen gab es offensichtlich noch eine Tür, und jetzt konnten sie Rauchschwaden zwischen den Ritzen durchsickern sehen.

»Okay, Jungs, macht euch bereit.«

Sie zogen sich die Gesichtsmasken über und spannten alle Riemen und Gurte fest. Der Sauerstoff war kühl, schlürfend atmeten sie ihn ein. Sie kontrollierten sich gegenseitig, war das System dicht, sah alles korrekt aus? Dann entrollten sie einige Meter Wasserschlauch mit der Düsenspitze und gingen los.

Stefan Almgren war in dieser Nacht die Nummer zwei. Vor sich sah er Engens Rücken, das blinkende rote Signal seiner Sauerstoffflaschen. Im Eingang standen jede Menge Möbel, alles durcheinander, als wäre die Firma dabei umzuziehen. Engen fand einen Lichtschalter und versuchte ihn einzuschalten. Aber er funktionierte nicht.

Anfangs war der Rauch noch dünn, glitt dahin, als wollte er nur mit ihnen spielen, und tat ganz harmlos. Stefan Almgren hatte ein unangenehmes Gefühl. Aber genau genommen war es immer unangenehm, in ein brennendes Gebäude zu gehen. Was würden sie finden? Würde es schwierig werden? Aber hier, hier war etwas merkwürdig, er konnte nur nicht sagen, was.

Sie befanden sich in einem sehr kleinen Raum, einem Vorraum oder Flur. Eine einzige Tür führte weiter zu den anderen Zimmern. Und dort befand sich der Brandherd.

Sie öffneten die Tür und gingen in die Hocke. Der Rauch kam ihnen entgegen, er kam mit großer Kraft und ließ sie einen Augenblick schwanken. Dann hörten sie ein Geräusch. Es klang wie ein Mensch, ein dumpfer, jammernder Ruf von jemandem, der sich dort drinnen befand. Von jemandem, der in Gefahr war.

Stefan Almgren hörte Engens Stimme, durch die Gesichtsmaske gedämpft.

»Hast du das gehört, Almis?«

»Ja ... Es scheint jemand da drinnen zu sein.«

»Wir müssen weiter reingehen.«

»Ja.«

Engen übernahm den Funkkontakt, rief Anker, der draußen wartete. Anker Hahn, Tuborg genannt, war jetzt ihre Rückendeckung, er sollte sie leiten und lenken, sie herausschleusen für den Fall, dass sie die Orientierung verloren.

»Wir haben hier drinnen etwas gehört, das wie ein Mensch klingt.«

»Wie ist die Lage?«

»Im Augenblick können wir nichts sehen, dazu ist zu viel Rauch da.«

»Könnt ihr weiter vordringen?«

»Okay. Wir versuchen es, mit der rechten Hand an der Wand.«

»Verstanden.«

Stefan Almgren zog mehr Schlauch herein. Langsam krochen sie voran, suchten sich mit den Händen ihren Weg. Jetzt wurde es heiß, der Schweiß brach ihm aus. Er spürte das so vertraute Schwindelgefühl, das jedes Mal nach einer Weile einsetzte, und dann die Müdigkeit, die das Herz schneller pumpen ließ. Normalerweise dauerte es länger, mehr als zwanzig Minuten, bis man diesen Zustand erreichte. Er dachte, dass er das wohl Engen erzählen musste. Er wurde langsam müde, er dachte, dass sie doch erst fünf Minuten oder so hier drinnen waren. Er sah das kleine rote Blinklicht irgendwo vor sich, den Rücken seines Kollegen, es flimmerte und flackerte.

Er hatte überlegt, ob er eine Woche Urlaub nehmen sollte. Irgendwohin abhauen, auf die Kanarischen Inseln oder nach Tunesien. Bald war Weihnachten, in nicht einmal einem Monat. Er sah sich selbst im Fernsehsessel, allein mit Donald Duck. Jedes Mal, wenn sich der Gedanke ihm aufdrängte, wurde er ganz steif und verkrampft im Nacken. Dann konnte er sich nur mit Mühe bewegen, kaum richtig atmen. Er konnte sich denken, dass es nicht einfach sein würde, so kurzfristig noch einen Platz für eine Charterreise zu kriegen. Die Leute waren ganz verrückt nach Sonne nach dem langen verregneten Sommer, sie wollten um jeden Preis einfach nur weg. Und er hatte sich noch nicht einmal nach freien Plätzen erkundigt.

Er kroch mit der Stirn dem Boden zugewandt, packte den Schlauch fester, versuchte, ihn weiter hereinzuziehen. Das ging nicht. Der Schlauch musste sich irgendwo verhakt haben. Er drehte sich halb um, stieß aber mit dem Kopf gegen etwas Hartes, als wäre ein Wand oder eine Tür hinter ihm aufgedrückt worden, obwohl es doch vorher so etwas hier nicht gegeben hatte.

»Was zum Teufel ...?«, rief er und erwartete, Engens oder Tuborgs Stimme zu hören, was ist, Almis, ist alles okay? Aber er hörte sie nicht, spürte nur die Hitze, sie schien zugenommen zu haben, und er drehte sich noch einmal um, wollte dann mit dem Schlauch weiterkriechen. Er griff nach ihm, legte sich der Länge nach auf den Bauch und streckte die Arme, so weit es ging, aus.

Da war wieder das Geräusch, das Geräusch eines Menschen in Not. Er zwang seinen Kopf nach oben, leuchtete mit seiner Taschenlampe, sah einen Helm und Reflektoren.

»Engen?«, rief er.

Der andere kam näher, kam direkt auf ihn zu, immer näher.

Stefan Almgren kam auf die Knie und der Schweiß tropfte von den Brustwarzen.

»Engen, was ist denn verdammt noch mal los?«

Da sah er das Gesicht eines anderen, er sah ihm direkt in die Augen, und es war nicht Engen, er sah das im selben Moment, in dem die Atemmaske ihm vom Gesicht gerissen wurde und der Rauch in Mund und Nase drang. Er schnappte nach Luft, fing jedoch sogleich an zu husten und bekam einen Stoß, dass er seitlängs auf die Steinplatten fiel. Während der andere seine Füße packte und ihn über den Boden zog, versuchte er nach etwas zu greifen, um dagegen anzugehen, aber das ging nicht. Er fand nichts, und der Rauch machte ihn schwindlig und willenlos. Der Mann, der nicht Engen war, beugte sich über sein Gesicht. Stefan Almgren, genannt Almis, jammerte leise und hustete. Dann öffnete er seine Augen, und für eine Sekunde sah er, wer der andere war. Sein Körper zuckte in träger Verwunderung. Aber er bekam keine Angst. Er warf den Kopf zur Seite und bewegte die Lippen, als wollte er etwas sagen.

Anschließend glitt er ins Dunkel hinein.

2

Franki mochte keine Kirchen. Sie hatten etwas Strenges an sich, etwas Hartes, Abstoßendes. Außerdem war da etwas mit dem Geruch, ein gedämpfter, mit Kalk gesättigter Geruch ohne jede Andeutung von Gefühlen. Sobald er unter diese Kuppeln trat, fühlte er sich klein, als würden sie sich über ihn senken und ihn einfangen. Wie bei einer Mausefalle, kam ihm in den Sinn, eine Mausefalle.

Seiner Mutter sagte er davon nichts.

»Ich kann nicht«, sagte er. »Ich habe keine Zeit.«

Sie hatte Karten für ein Konzert bekommen. Mozarts Requiem. Sie hatte sie von einer Kundin geschenkt bekommen, und es waren gute Plätze, in der Storkyrkan, ganz vorn. Sie bat ihn, doch mit ihr hinzugehen, es sei so erbärmlich, allein zu gehen.

»Wieso erbärmlich?«

»Ach, du verstehst schon, was ich meine.«

Doch ja, er verstand es.

Schließlich versprach er doch mitzukommen.

Das war im Dezember gewesen. Draußen in den Vororten hatte grauer, schmutziger Schnee gelegen. Als er zur U-Bahn ging, wäre er fast an einer vereisten Stelle ausgerutscht, der Schmerz schoss ihm hoch bis ins Rückgrat.

Mutter wartete vor dem Kiosk auf ihn. Sie trug einen dunkelbraunen Pelz und einen Hut mit einem kleinen Schmuck daran. Sie sah sonderbar fremd aus. Aus der Handtasche zog sie das Geld. Sie gingen zur Sperre.

»Zweimal bis Gamla stan«, sagte sie, und ihre Stimme war ruhig und kräftig. Sein Gefühl der Unlust verging.

Der Zug stand mit geschlossenen Türen am Bahnsteig. Sie gingen zu einem der mittleren Wagen. Franki drückte auf den Türöffner, und die Türen glitten auseinander. Mutter setzte sich ans Fenster. Er selbst blieb eine Weile stehen, tat so, als schaute er sich den Anschlag mit dem Streckennetz an. Als der Zug anfuhr, machte er ein paar unsichere Schritte und sank auf dem fleckigen Sitz ihr gegenüber nieder. Jemand hatte etwas mit einem schwarzen, dicken Filzschreiber darauf geschmiert.

Sie betrachtete ihn. Ihre Augenlider waren grün, der Mund gerade und rot.

»Letzte Woche bin ich mit dem neuen Zug gefahren«, sagte sie mit langsamer, fast eifriger Stimme. »Am Mittwoch war das. Ich wollte in die Stadt. Bist du schon mal mit dem neuen Zug gefahren, Franki, ja?«

Er schüttelte den Kopf.

»Aber ich. Das war richtig schön. Es war am Mittwoch, als ich mich mit Mimi getroffen habe. Da bin ich mit einem gefahren. Wie leise der ist. Und so sauber und schön. Und an jeder Haltestelle rufen sie den Namen durch Lautsprecher aus, so deutlich, dass es alle verstehen können. Und vorher kommt immer eine kleine Melodie, das ist einfach schön.«

»Haben sie euch auch noch was zu trinken angeboten?«, bemerkte er trocken.

»Nein. Aber es war so eine Art Zugbegleiter dabei.«

»Ach. Und was hat der gemacht?«

»Nichts. Stand nur so da. Für die Sicherheit. Falls was passiert, nehme ich an.«

»War er hübsch? Bist du scharf auf ihn gewesen?«

»Aber Franki!«

Er schwieg und starrte aus dem Fenster. Sie kamen gerade an Johannelund vorbei, der einzigen Haltestelle mit dem Bahnsteig auf der anderen Seite.

Mutter erzählte weiter.

»Du solltest auch mal mit einem fahren, Franki, dann wirst du schon sehen.«

»Ja, ja, das werde ich sicher irgendwann mal tun.«

Sie beugte sich vor, legte einen Finger auf sein Knie. Sie roch gut, ein Frauenduft nach Puder und fetten Cremes.

»Es ist lieb von dir, dass du mitkommst.«

Und dann sagte sie noch einmal:

»Es ist irgendwie so ein erbärmliches Gefühl, wenn man allein kommt.«

Er hob seine Hand, legte sie auf den pelzgekleideten Arm. Machte Scherze.

»Obwohl – sehr erbärmlich siehst du nun nicht gerade aus. Das kann man kaum behaupten. Und wenn jetzt so ein militanter Vegetarier kommt und dich mit roter Farbe bespritzt. Was machst du dann?«

»Ach, das ist doch nur Imitation.«

»Was für eine Imitation?«

»Imitierter Pelz. Kunstpelz. Sie hatten ihn im Sonderangebot in einem kleinen Laden in der Drottninggatan. Im letzten Frühling, die wollten wohl ihr Lager räumen. Ich habe ihn für fünfhundertneunundneunzig Kronen gekriegt.«

»Ach so.«

»Wovon sollte ich mir denn einen richtigen leisten können? Spinnst du, Junge, der kostet doch mindestens zwanzigtausend.«

»Auf jeden Fall sieht man das nicht, der sieht ganz echt aus.«

Sie lächelte ihn an, auf ihren Wangen zeigten sich unzählige kleine, weiche Fältchen.

Aber plötzlich wurde er ganz unruhig.

»Geh nur nicht zu nahe an etwas Brennbares. An Kerzen oder so. Wie der aussieht ... Der wird in null Komma nichts in Flammen aufgehen.«

Wieder lachte sie.

»Du bist wirklich süß, Franki!«

Er bekam den Namen Franki, nach Frank Sinatra. Der war das Idol seiner Mutter. Er war noch irgendwie anders getauft worden, aber niemand benutzte den Namen, nicht einmal, als er noch ein Kind war und daheim auf dem Hof in Hässelby spielte. Franki hieß er. Franki ohne ›e‹ am Ende, ins Schwedische übertragen, damit es passte. Das Idol seiner Mutter, ihr Leben lang.

Er war hoch gewachsen und ein kräftiger Mann, der dick wirken würde, wenn er nicht so viel Zeit mit Bodybuilding verbrächte. Fast alles war groß an ihm, die Ohrläppchen, die Lippen und die gekrümmte Falte zwischen den Augenbrauen. Das Haar trug er kurz, aber nicht rasiert, er war sich seiner Würde wohl bewusst und wollte nicht mit Skinheads oder anderem Gesindel verwechselt werden. Mit dem Abschaum der Gesellschaft.

Sie stiegen in Gamla stan aus und gingen durch den unterirdischen Gang. Ein Mann mit einer Pudelmütze saß in der Hocke und zupfte an einem Saiteninstrument. Am Aufgang stand ein Typ mit einem Packen Zeitschriften.

»Situation Stockholm! Unterstützt uns! Kauft die Zeitschrift der Obdachlosen!«

Das war unangenehm, Franki wusste nie, in welche Richtung er gucken sollte. Die Leute bettelten und drängten sich auf. Sie erzeugten jedes Mal Schuldgefühle bei ihm.

»Ich bin arbeitslos«, fauchte er manchmal. »Ich habe selbst kaum Geld fürs Essen.«

Dann starrten sie ihn jedes Mal an, als wären sie es nicht gewohnt, angesprochen zu werden. Schließlich zuckten sie mit den Schultern und gingen ein paar Schritte weiter.

Mutter hakte sich bei ihm ein, und sie suchten sich ihren Weg durch die schmalen Gassen zum Stortorget. Er spürte, wie er fror. Ganz intensiv bereute er in diesem Augenblick, mit ihr gegangen zu sein.

Der Geruch war der gleiche, genau wie er ihn in Erinnerung hatte. Ein Mann im schwarzen Anzug kontrollierte ihre Eintrittskarten. Er machte eine Geste zum Mittelgang hin. Sie fanden ihre Plätze, zwei Stühle mit gepolsterten Sitzen, nebeneinander, fast ganz vorn. Mutter setzte sich auf den inneren.

»Du mit deinen langen Stelzen«, flüsterte sie. »Du brauchst ja Platz, um dich auszustrecken.«

Ein hohes Stativ mit einem Mikrofon stand im Gang, dicht neben ihnen. Er musterte es. Die Füße des Stativs waren mit rotweißem Klebeband an den Boden geklebt. Er dachte an Absperrungen. Dann stellte er fest, dass etwas auf dem Band stand: »baggage« und die Worte »American Airlines«. Er wunderte sich noch über diese Beschriftung, als die Musik plötzlich dröhnend sein Ohr erreichte. Betörend und ganz nah.

Wann war er das letzte Mal in der Kirche gewesen? Doch, ja. Bei Vaters Beerdigung. Er erinnerte sich nicht mehr an das Datum, nicht an das Jahr. Aber es hatte die Nacht zuvor geschneit, und die Sohlen seiner Schuhe waren rutschig wie auf Seife gewesen. Er war nicht mehr sicher gewesen, wann er da sein sollte. Als er zur Kirche kam, wurde gerade der Sarg aus dem Auto geholt. Aus einem silbernen Wagen. Er hatte gedacht, er müsste schwarz sein.

Der Sarg stand auf einem dünnen, klapprigen Metallgerüst. Franki trat hinzu und stellte sich vor.

»Wir sind uns ja schon begegnet«, sagte einer der Männer, und da fiel ihm das Beerdigungsinstitut ein.

Der Sarg war braun, hatte kleine Füße. Unter dem Deckel lag sein Vater.

»Wir müssen das nur noch ein bisschen in Ordnung bringen«, sagte der Mann vom Bestattungsinstitut. »Das dauert eine Weile. Aber noch ist es ja nicht so weit. Erst in ein paar Stunden.«

Franki musste reingehen, um sich ein wenig aufzuwärmen. Außerdem musste er dringend pinkeln. Der Mann vom Bestattungsinstitut versperrte ihm den Eingang.

»Wollen Sie mit reinkommen?«, fragte er und seine Augenbrauen waren dunkel und hochgezogen. »Während wir alles vorbereiten, meine ich.«

»Nein, nein«, wehrte er schnell ab.

Er war hinter die Kirche gegangen und hatte dort gepinkelt. Als er den Reißverschluss seiner Hose hochzog, hörte er ein Kichern. Zwei quietschbunte Kindermützen tauchten hinter einem Stein auf. Er starrte gegen die Kirchenmauer, dachte sich, dass es zu glatt war, um hinterherzulaufen.

Eine kräftige, durchdringende Frauenstimme durchschnitt den Raum. Franki hob den Kopf. Die Mutter wandte sich ihm zu, zeigte mit einem langen, rot lackierten Fingernagel auf den Programmzettel. Er las einen Namen. Sah seine Mutter an. Sie spitzte die Lippen, formte lautlos den Namen.

»Waltraut Engen!«

Die singende Frau sah noch jung aus, ihr Hals war dünn und gepudert. Eine Kette mit einer hellblauen Perle hing darum. Franki musste an einen Wassertropfen denken.

Dann erkannte er sie plötzlich wieder. Die kleine Waltraut. Sie war die Schwester von einem der Jungs. Sie war die Schwester von Engen, von Mats Engen.

Sie hatten daheim bei Mats am Küchentisch gesessen und Eishockey gespielt. Sie hatten weiche Brotscheiben gegessen, die sie zunächst mit Margarine bestrichen und dann mit Zucker und Vogelfutter bestreut hatten. Etwas bewegte sich im Flur, Mats’ Vater stand plötzlich in der Tür. Es knirschte unter seinen Schuhen, er hob einen Fuß und starrte sie an.

»Was macht ihr denn da?«

»Nichts, wir machen es uns nur gemütlich.«

»Habt ihr das Futter der Vögel genommen?«

Mats wurde ganz rot im Gesicht.

»Wir wollten das mal probieren ...«

»Und – schmeckt es gut?«

»Oh ja?«

»Dann passt nur auf, dass euch keine Federn am Hintern wachsen!«

Mats saß da und hielt den Torwartschläger in der Hand, war aber nicht richtig bei der Sache. Franki schoss den Puck.

»Tor!«, sagte er leise.

Mats’ Vater sagte:

»Ich habe Mama abgeholt. Du kannst jetzt kommen und deine kleine Schwester angucken.«

»Du«, sagte er. Nicht »ihr«. Franki stand dennoch auf. Sie gingen ins Wohnzimmer, die Gardinen waren vorgezogen, kein Licht angeknipst. Mats schaltete die Deckenlampe ein. Da sahen sie seine Mama halb auf dem Sofa liegen, in Mantel und Kopftuch. Sie war verändert, er wusste aber nicht genau, wieso. Auf dem Teppich stand ein hellblauer Babysitz. Mats’ Papa öffnete ihn, kniete sich mit seiner guten Hose hin. Ein leises Piepsen ertönte aus dem Sitz. Franki dachte an die Katzenjungen in der Scheune von Riddersvik.

Mats’ Papa hob die neugeborene Schwester hoch. Sie war ganz rot im Gesicht, ihre kurzen Arme ruderten.

»Sie hat wohl Hunger«, erklang es matt vom Sofa.

Mats’ Papa stand auf, hielt Mats das Kind hin.

»Das ist deine Schwester«, sagte er. »Das hier ist Waltraut.«

Was für ein hässlicher Name! Ja, was für ein hässlicher Name.

Es dauerte eine Weile, bevor er sie wiedersah. Es wurde ihnen gesagt, sie sollten lieber draußen spielen, Mats’ Mama sei müde, und es ginge ihr nicht gut. Manchmal weinte die Schwester, dass es bis auf den Hof hinaus zu hören war.

Mit der Zeit wurde sie ein hässliches, nerviges Kleinkind, das überall mit dabei sein wollte. Voller roter Flecken im Gesicht. Sie schlichen sich von ihr fort, sperrten sie zu den Schuhen in die Garderobe ein. Sie petzte natürlich, und ihr schmales Gesicht strahlte, wenn ihre Mutter die Jungs ausschimpfte.

Wann hatte er sie das letzte Mal gesehen? Als sie konfirmiert wurde? Franki konnte sich nicht mehr erinnern. Als erwachsene Frau jedenfalls nicht.

Er betrachtete sie blinzelnd, sie stand mit halb geschlossenen Augen da. Wie konnte sie nur so hoch singen, wo sie doch so dünn, platt und ohne jegliche Form war. Sängerinnen, die stellte er sich dick und mit Brüsten wie eingezwängte Würste vor.

Waltraut Engens Hände waren schmal und geballt. Er sah im Gegenlicht ihr Kinn, er sah einige abstehende Haarsträhnen. Als der Chor sang, machte sie eine halbe Drehung und trippelte zu ihrem Stuhl. Mutter deutete auf sie.

»Hast du sie wieder erkannt?«, flüsterte sie.

Er nickte mit zusammengekniffenem Mund.

»Wir hätten vielleicht eine Blume mitnehmen sollen!«

Die Leute um sie herum warfen ihnen böse Blicke zu. Franki wünschte sich, dass seine Mutter aufhöre zu flüstern, dass sie sich einfach wieder zurücklehnte und die Augen schlösse. Aber sie beugte sich stattdessen nach links vor, um Waltraut sehen zu können. Die junge Frau saß mit dem Gesangbuch auf dem Schoß da. Sie hielt den Kopf gebeugt, schweigend und in sich verschlossen. Er überlegte, dass sie sich sicher auf ihren nächsten Einsatz vorbereitete.

Er hob den Blick und betrachtete die großen vergoldeten Kronen, die über ihnen hingen, gehalten von fliegenden Engeln. Wie lange schwebten die schon so da? Wie viele Jahre oder Jahrhunderte mit ausgestreckten, stützenden Armen. Er ließ seinen Blick dort oben ruhen, um nicht von der Sängerin verunsichert zu werden, ihre Nähe beunruhigte ihn auf eine vage, bohrende Art.

Sie hatten sich über ihren Namen gewundert und zunächst Probleme gehabt, ihn auszusprechen. Aber mit der Zeit hatten sie sich daran gewöhnt. Sie war nie der Typ von Kind gewesen, der Spitznamen an sich zieht, nein, es blieb bei Waltraut – ohne jede Abkürzung. Mats’ Vater war Opernfan. Er hatte ein ganzes Zimmer nur für die Musik, an den Wänden Samttapete, darin Röhrenverstärker, einen Sessel, dessen Rücken man verstellen konnte. Dort schloss er sich abends ein, blieb stundenlang da drinnen. Aber manchmal öffnete er die Tür und lud ein einzutreten. Niemand wagte Nein zu sagen.

»Wollt ihr ein wenig mithören, Jungs?«, fragte er und zog sie über die Türschwelle.

Die Lautsprecher standen in den Ecken. Sie waren groß wie Kindersärge. Er strich über das glatte braune Holzgehäuse.

»Wollt ihr was hören, Jungs? Wollt ihr wirklich schöne Musik hören?«

Mit wirklich schöner Musik meinte er Wagner. Den Ritt der Walküren und Rienzi. Sie mussten dort stehen und zuhören. Seine Tochter sollte eines Tages in der Oper singen. Das war so vorherbestimmt, und es stellte sich heraus, dass Waltraut tatsächlich eine ganz reine und gute Stimme hatte. Sie kam in die Musikklasse, danach sahen sie sie kaum noch.

Es war vorherbestimmt. So war es.

Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, dass sie von ihrem Stuhl aufstand und ins Licht trat. Direkt vor ihm stand sie, der Mund glänzte, sah irgendwie klebrig aus. Franki sah, wie sie atmete, Anlauf nahm und die Luft einsog. Sekunden bevor sie anfing zu singen, richtete sie ihren Blick direkt auf ihn. Sie erkannte ihn wieder. Ihm schien, als lache sie.

3

Zuerst bekam er den Wagen nicht an, das war ihm noch nie passiert. Die Kraft verließ ihn, die Reservekraft, die ihn den ganzen Morgen über aufrechtgehalten hatte. Er beugte sich über das Armaturenbrett, blieb so eine Weile sitzen. Das Lenkrad drückte ihm gegen den Brustkorb, aber er kümmerte sich nicht darum. Er beugte sich noch weiter vor, als wollte er den harten Kunststoff an seinem Körper spüren, als hielte ihn diese Berührung in der Gegenwart fest.

Sein Handy klingelte. Es lag neben ihm auf dem Sitz, er hob es hoch und murmelte seinen Namen.

»Ja, Engen. Mats Engen.«

Es war Camilla, seine Frau. Sie wunderte sich, warum er nicht kam, sie hatte einen Termin beim Zahnarzt, ob er das vergessen hätte.

Er wollte nichts am Telefon sagen. Er wollte sie ansehen, wenn er es erzählte, sie nahe bei sich haben, sie sollte ihn in ihre Arme nehmen, und sie sollte weich und groß sein und nach Safran duften.

»Ich bin schon unterwegs«, sagte er mit belegter Stimme. »Das blöde Auto hat nur verrückt gespielt, es ist nicht angesprungen.«

»Was?« Sie klang mürrisch. »Wieso das denn? Was ist denn mit dem nun wieder los?«

»Ich weiß es nicht, Camilla. Ich hoffe, nur eine Lappalie. Aber ich beeile mich, ich kriege das schon hin.«

»Ja, das hoffe ich doch, denn den Zahnarzt muss ich so oder so bezahlen. Es ist zu spät, noch abzusagen.«

»Du hörst doch! Ich komme.«

Er schaltete das Handy ab und öffnete die Autotür. Es war ein Citroën, Jahrgang 1990, der war in all den Jahren, die sie ihn schon hatten, immer wie ein Uhrwerk gelaufen. Nur ein bisschen Rost um die Türen, das war bei französischen Autos nun mal so. Er hatte den Rost weggeschmirgelt und die entsprechenden Stellen ausgebessert.

Er stand in seiner Jeans und seinem Anorak da, zupfte an seinen blonden Bartstoppeln. Sein Pony war fransig. Am Haaransatz an der Stirn gab es unzählige kleine Wirbel, die seine Frisur immer zerzaust aussehen ließen, wie sehr er sich auch mit dem Kamm bemühte.

»Stimmt was nicht?« Einer der so genannten Springer kam auf den Hof, Mats hatte vergessen, wie er hieß. Er kam von einer anderen Feuerwehrwache, war als Verstärkung gerufen worden, weil es heute so knapp mit Leuten war. Springer wurden sie immer genannt.

»Ich krieg die Karre nicht zum Laufen.«

»Ist die Batterie vielleicht leer?«

»Glaube ich nicht.«

»Soll ich mal versuchen? Ich habe den Gleichen.«

»Bitte.«

Mats gab ihm den Schlüssel. Da war ein Geräusch in seinem Schädel, ein leises, rinnendes Geräusch. Wie von Wasser. Er sah, wie der andere in den Wagen stieg, und da fiel ihm auch dessen Name ein, Andersson irgendwas – Andreas? Und er kam von der Wache auf Kungsholmen.

Das Auto startete, sobald der Schlüssel im Zündschloss gedreht wurde. Andersson grinste.

»Bitte schön! Alles klar!«

Mats zuckte mit den Schultern.

»Danke. Weiß der Teufel, woran es lag. Vielleicht an der Feuchtigkeit? Aber solche Zicken hat er noch nie gemacht.«

Andersson stieg wieder aus. Er schaute über den Hof hin.

»Du ... das mit Almis ist einfach zu schrecklich«, sagte er steif.

»Ja.«

»Was ist passiert, hat er Panik gekriegt?«

»Keine Ahnung. Scheint ja ganz so.«

»Es ist einfach schrecklich! Zu schrecklich.«

»Ich muss jetzt los. Nach Hause. Meine Frau muss zum Zahnarzt.«

»Okay. Bis bald.«

Es war halb elf. Der morgendliche Berufsverkehr war schon lange vorbei. Es schneite immer noch, aber nicht mehr so stark, nur kleine müde, dünne Flocken, die schmolzen, sobald sie auf den Boden trafen. Mats fuhr an Alvik vorbei, hier gab es einige Baustellen, eine neue Schnellbahnlinie sollte direkt nach Globen gehen. Im Berg links konnte er die Tunnelöffnung erkennen, gleich neben der neuen Tennishalle. Die alte brannte an dem Tag ab, als er dreißig wurde. Das war jetzt gut fünf Jahre her. Arbeiter hatten damals bei Renovierungsarbeiten fünf alte Ölkessel vom Dachboden heruntergeholt. Als sie die Rohre am Morgen im Dach abschnitten, sprang ein Schweißfunken in die Isolierung. Dort lag er dann ein paar Stunden und glühte vor sich hin, bis er richtig Feuer fing. Gegen fünf Uhr nachmittags war das gesamte Gebäude bis auf die Grundmauern niedergebrannt.

Das war ein Freitag gewesen, wie er sich noch erinnerte. Er hatte daheim auf dem Balkon gestanden und ein Glas Champagner getrunken. Die ersten Geburtstagsgäste waren bereits eingetroffen. Sie hatten alle auf den dicken schwarzen Rauch gestarrt und gedacht, dass ein Flugzeug bei Bromma abgestürzt sein müsste. Dann hatten sie das Radio eingeschaltet und erfahren, was passiert war.

Mats hatte fast den ganzen Weg nach Hause grünes Licht und brauchte auch an den Kreisverkehren kaum zu warten. Beim Altersheim bog er nach links ab und folgte dem Sandviksvägen, bis er zu dem Reihenhaus kam, in dem er wohnte. Die Gegend wurde »Liebeskraut« genannt, weil die Straßennamen im Viertel alle nach unterschiedlichen Gewächsen benannt worden waren. Hässelby war bekannt für seine alten Gartenkolonien, aber jetzt gab es davon nicht mehr viele. Jeder grüne Fleck war mittlerweile mit Reihenhäusern oder Villen bebaut.

Camilla und Mats hatten ihr Haus schon vor einigen Jahren gefunden, als die Jungs noch gar nicht geplant gewesen waren. Es war teuer, eigentlich zu teuer für ihre Verhältnisse, und wie merkwürdig das auch klingen mochte, dadurch, dass Camilla aufhörte zu arbeiten, hatte sie einiges gewonnen. Sie hatte eine Boutique im Einkaufszentrum Akermyntan gehabt. Aber die lief nicht, obwohl sie eine Menge Geld in Anzeigen investierte und selbst herumlief und Reklamezettel verteilte, sobald sie Zeit dazu hatte. Sie hielt eine ganze Weile aus, bis sie sich geschlagen gab und endlich den Laden dichtmachte. Jetzt war sie zu Hause mit den Zwillingen.

Mats fuhr den Wagen nicht erst in die Garage, sie brauchte ihn ja gleich. Sie stand am Küchenfenster und hielt nach ihm Ausschau.

Sie hatte sich zurechtgemacht, das Haar hatte sie hochgesteckt, trug das hübsche hellgraue Kostüm. Er hob die Hand und winkte ihr zu. Sie machte eine unzufriedene Geste.

Die Jungs sprangen ihm entgegen, sobald er die Tür öffnete. Er ging in die Hocke, drückte sie so heftig an sich, dass ihre Köpfe gegeneinander schlugen. Sie holten tief Luft und begannen gleichzeitig zu schreien, schrill und anklagend.

»Du musst ein bisschen vorsichtiger sein!«, sagte Camilla. Sie sah gehetzt aus. Sie nahm ihren Mantel, hielt dann aber inne und starrte ihn an.

»Mats ... was ist los?«

»Nichts.«

»Da ist doch was, ich sehe, dass du was hast.«

»Fahr zum Zahnarzt! Wir reden später drüber.«

»Ist es was Schlimmes? Hat es was mit uns beiden zu tun?«

»Nein, damit hat es gar nichts zu tun.«

Sie sank ein wenig zusammen, schob den Mantelärmel hoch, warf einen hastigen Blick auf die Armbanduhr.

»Oh je! Ich muss mich beeilen.«

Er nahm die Jungs mit sich in die Küche. Setzte sie auf ihre Kinderstühle, pustete ihnen ins Haar. Das war dünn und flaumig, sie hörten auf zu weinen und betrachteten ihn mit aufgerissenen Augen.

»Tuchen!« Simon hob einen weichen, dicken Finger und zeigte auffordernd zur Anrichte, auf der auf einem Teller ein Napfkuchen stand. Erst jetzt bemerkte Mats, dass es nach frisch gebackenem Kuchen roch. Er holte ein Messer heraus.

»Ja, ja. Ihr kriegt jeder euren Tuchen!«

Er schnitt zwei dicke Scheiben ab und legte sie vor die beiden, ohne Teller. Sie fingen sofort an zu essen. Er goss sich ein Glas Wasser ein, aber als er es zum Mund führen wollte, glitt es ihm aus der Hand und fiel ins Spülbecken. Es ging nicht kaputt, das bemerkte er mit einer gewissen Erleichterung. Die Zwillinge starrten ihn an.

»Oi!«, rief Lukas. »Papa Las fallen!«

»Ja«, sagte Mats. »Papa hat das Glas fallen lassen.«

Dann begannen seine Arme zu zitternd, und ein heftiger, plötzlich einsetzender Schwindel zwang ihn in die Knie.

»Almis«, durchfuhr es ihn. »Verdammter Scheiß-Almis.«

Nein! Er musste warten. Er schaffte das jetzt nicht. Jetzt nicht, später. Wenn Camilla nach Hause kam. Erst dann.

Das Telefon klingelte. Er zwang sich aufzustehen. Nahm den Hörer ab. Es war eine Journalistin vom Aftonbladet. Er hörte ihren Namen, vergaß ihn aber sofort wieder.

»Ich möchte Ihnen zuerst mein Beileid aussprechen«, sagte sie.

»Ja und?«

»Was für ein Gefühl ist das?«

»Was für ein Gefühl das ist?«

»Ja ... Ich meine ... Sie waren ja sozusagen ... mit ihm da in dem brennenden Inferno. Ich meine, mit Stefan Almgren. Ihrem Kollegen. Sie waren doch bei ihm, als er starb.«

»Was für ein Gefühl das ist! Ja, was glauben Sie denn?«

Sie senkte ihre Stimme, fuhr vorsichtiger fort.

»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie störe und dumme Fragen stelle.«

Er gab keine Antwort.

»Aber Sie müssen wissen, dass es auch für mich nicht so leicht ist. Ich versuche ja auch nur, meine Arbeit zu tun. Genau wie Sie. Deshalb könnten Sie doch so nett sein und mir antworten, nicht wahr? Was ist da drinnen passiert, als es gebrannt hat?«

Mats warf den Hörer hin. Er bereute es sofort, nahm ihn wieder hoch, und sie war noch da.

»Fahr zur Hölle!«, rief er.

Und dann legte er wieder auf.

Die Jungs saßen noch in der Küche. Sie klatschten mit schmierigen Händen auf den Tisch. Die Kuchenkrümel lagen unter ihren Stühlen auf dem Boden. Er hob sie heraus, erst Lukas, dann Simon, schnupperte an ihrem verschwitzten Haar, ein süßlicher Geruch, nach Kind. Jetzt wollten sie spielen, mit ihm. Nicht still sitzen und kuscheln, kein Märchen hören oder auf dem Schoß sitzen. Sie liefen ins Kinderzimmer, er blieb stehen. Er musste noch sauber machen, den Tisch abwischen, er stand in der Tür, und der Küchenschrank schwankte.

»Almis«, murmelte er, »du verdammter Idiot.«

Stefan Almgren war ziemlich am Boden gewesen. Deprimiert. Das war in mehrerlei Hinsicht zu merken gewesen. Einmal wurde er beim Körpertraining ohnmächtig, sank einfach zusammen und fiel zu Boden.

Sie fragten ihn, ob er krank sei. Er sagte, er sei nur ein wenig aus dem Gleichgewicht. Nicht krank, er könne schon arbeiten und so. Nur etwas durcheinander. Und traurig. Aber er wollte nicht drüber reden. Doch nach einer Weile verstanden sie. Maria.

Sie kannten sie, genau wie sie die Frauen und Kinder all ihrer Kollegen kannten. Sie hatten sie gern gehabt. Eine kleine dunkle Frau mit braunen Augen und einer schönen Figur. Etwas scheu. Etwas nachdenklich.

Du findest schon eine Neue, hatten sie ihn zu trösten versucht. Almis, die Welt ist voller Weiber. Und er lachte, bekam aber so einen abweisenden Blick, und er veränderte sich, wurde schweigsamer.

Das Telefon klingelte. Mats nahm den Hörer und brüllte hinein.

Es war seine Mutter.

»Gute Güte, Gott sei Dank, dass du zu Hause bist. Wir haben es im Radio gehört, Papa und ich. Das über den Brand. Da ist doch jemand gestorben ... Und da haben wir schon Angst gehabt ...«

»Ich war es nicht«, sagte er kurz.

»Nein. Das ist mir auch klar, Mats. Aber es war doch einer von deiner Wache?« »Es war ein Kollege.«

»Einer deiner Kollegen? Von deiner Wache?«

»Ja.«

»Wer denn?«

»Stefan. Stefan Almgren.«

»Der kleine Stefan? Mit dem du immer gespielt hast?«

»Ja.«

»Oh, wie schrecklich, Mats. Wie fürchterlich.«

»Ja.«

»Wie ist es passiert?«

»Er hat den Rauch eingeatmet.«

»Aber habt ihr nicht solche Atem ...?«

»Doch. Aber er hat seine Atemmaske abgenommen.«

»Was? Warum, warum hat er sie abgenommen?«

»Ich weiß es auch nicht.«

»Nein, natürlich nicht.«

Er hörte, wie sie mit seinem Vater sprach. Er stand mit dem Hörer am Ohr da und schaute ins Zimmer der Jungs. Sie saßen mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden. Sie spielten mit Legosteinen. Das Fenster glänzte vom Schneeregen.

»Ich bin etwas müde, Mutter«, sagte er. »Ich muss mich erst mal eine Weile hinlegen. Wenn du entschuldigst.«

Camilla hatte es bei ihrer Zahnärztin gehört. Die wusste, dass sie mit einem Feuerwehrmann verheiratet war. Deshalb hatte sie geradeheraus gefragt.

»Ich nehme an, dass es nicht Ihr Mann war, der umgekommen ist. Sonst würden Sie wohl kaum hier auf dem Stuhl liegen.«

»Umgekommen!« Camilla war hochgefahren und die Serviette, die über ihrer Brust ausgebreitet gelegen hatte, war zu Boden gefallen.

»Ja, sie haben es im Radio gesagt, schon vor einer Weile. Ein Brand draußen bei Hjorthagen. Ein Feuerwehrmann ist dabei zu Tode gekommen.«

Sie weinte, als sie nach Hause kam.

»Wer war es, Mats, wer war es?«

Plötzlich konnte er Almis’ Namen nicht aussprechen.

Sie sagte, er solle jetzt schlafen, sie hielt ihn im Arm, und die Haut auf ihren Armen war so unfassbar weich.

»Du hast die ganze Nacht gearbeitet, Mats. Und so schreckliche Sachen mitgemacht.«

Jetzt war sie die Starke, führte ihn zu den ungemachten Betten und ließ ihn hineinkriechen.

»Willst du was zu trinken haben?«, flüsterte sie, und ihr Blick war scheu und bittend.

Er schüttelte den Kopf.

»Doch«, bestand sie drauf. »Ich koche dir eine Tasse Tee.«

Er hörte sie in der Küche rumoren. Er lag auf der Matratze und hörte, wie sie zu Gange war. Seine Finger berührten etwas Dünnes. Ihr Nachthemd. Er zog es heran und zerknüllte es zu einem Ball, der fast ganz in seine hart zusammengepresste Faust passte.

4

Waltraut hatte sich zwei Engel gekauft. Sie waren weiß, gehäkelt, mit Goldflügeln und langen, schlottrigen Beinen. Mehrere Tage hatte sie hin und her überlegt. Sie waren teuer, und eigentlich meinte sie, es wäre Unsinn, Engel für mehr als einen Tausender zu kaufen.

Aber warum nicht, redete sie sich schließlich selbst ein. Warum nicht ab und zu ein bisschen verrückt sein? Warum musste eigentlich immer alles so verdammt genau bedacht sein?

Jetzt versuchte sie, die beiden Engel an der Decke über ihrem Bett zu befestigen. Sie hatte einen Stuhl aufs Bett gestellt, aber als sie darauf kletterte, schwankte er hin und her, als würde er jeden Moment umkippen. Sie ging auf die Knie. Wagte nicht, wieder aufzustehen.

»Scheiße!«, flüsterte sie. »Das schaffe ich nicht.«

Natürlich konnte sie jemanden um Hilfe bitten. Ihren Vater beispielsweise. Er würde sofort herbeigeeilt kommen, selbst wenn er mit vierzig Grad Fieber im Bett läge. Er würde das mit den Engeln zwar garantiert nicht verstehen, es aber akzeptieren, ohne eine Frage zu stellen. Ganz im Gegensatz zu ihrer Mutter.

Das Telefon klingelte. Waltraut kletterte vom Stuhl herunter und ging ran. Wie sie gedacht hatte. Ihr Vater.

»Ich habe gerade an dich gedacht«, sagte sie. »Wenn man an den Teufel denkt ...«

»Na, so was. Und worum ging es?«

»Ach, nichts Besonderes. Nur so.«

»Aha. Nun, wie geht es dir? Hast du ausgeschlafen?«

»Ja.«

»Ist es gestern gut gelaufen?«

»Ja.«

»Es tut mir Leid, dass wir nicht kommen konnten, das war wirklich schade.«

»Aber ihr habt mich ja schon oft gehört.«

Er hustete.

»Du weißt, wie gern ich dich höre.«

»Doch, ja, das weiß ich. Ist es ein wenig besser mit deiner Erkältung?«

»Kaum. Ich glaube, ich habe sogar ein bisschen Fieber.«

»Armer kleiner Papa, soll ich nach Hause kommen und dich pflegen?«

»Damit du dich noch ansteckst? Kommt gar nicht in Frage.«

»Und wie geht es Mama?«

Vater senkte die Stimme.

»Es geht besser mit ihrer Erkältung. Aber ... sie ist etwas durcheinander. Du weißt, so geht es ihr immer, wenn etwas passiert ist. Da war doch so ein Feuer, und da ist es für einen Kameraden deines Bruders böse ausgegangen.«

»Was sagst du da?«

»Ja. Einer der Feuerwehrleute ist umgekommen. Ich kenne keine Details.«

Waltraut bekam einen ganz trockenen Mund.

»Stimmt das? Und Mats? Ist mit ihm alles in Ordnung?«

»Ja, natürlich. Mats ist nichts passiert.«

Sie hatte die Zeitung nicht gelesen. Hatte Angst gehabt, dass etwas über das Konzert darin stehen könnte. Es war besser, wenn andere das zuerst lasen und es dann vorsichtig zu ihr durchsickern ließen. Aber derartige Konzerte wurden nicht jedes Mal besprochen.

Einmal hatte ein Musikkritiker Waltraut Engens Vibrato mit einem Kaninchen verglichen, das verzweifelt versucht, dem Fuchs zu entkommen. Zuerst hatte sie über die Formulierung gelacht, ein Kaninchen, das ... Aber später war es ihr immer wieder in den Sinn gekommen, jedes Mal deutlicher und brutaler, bis die Botschaft ihr klar und deutlich vor Augen stand. Ein Totalverriss.

Sie hatte geglaubt, sie könnte sich über eine höhnische Besprechung hinwegsetzen. Dass ihr das nicht gelang, bedeutete eine doppelte Niederlage.

Vater hatte das ganz empört aufgenommen. Er war schon immer ihr größter Bewunderer und ein wahrhaft begeisterter Zuhörer gewesen. Als er sah, wie sie litt, wie sie dabei war, ihr Selbstvertrauen zu verlieren, rief er den Rezensenten an und bat ihn um eine Erklärung.

Er hieß Greger Brück. Nie würde sie diesen Namen vergessen. Vater erzählte ihr nicht, wie das Gespräch ablief. Das Einzige, was er sagte, war, dass dieser Brück anscheinend nicht recht gescheit war und dass man sich deshalb nicht um seine Meinung kümmern müsse.

Mein lieber Papa, dachte sie. Sie holte die Zeitung, sie lag auf dem Küchentisch, schlug den Stockholmteil auf. Nein. Kein Wort stand darin über eine Feuersbrunst. Merkwürdig.

Ihr Bruder hatte schon seit seiner Kindheit Feuerwehrmann werden wollen. Es gab eine ganze Gruppe von Jungen auf ihrem Hof, sie liefen mit Sprühflaschen herum und spritzten die Leute mit Wasser nass. Sie erinnerte sich, dass sie das damals albern fand. Aber mehrere von ihnen blieben bei ihrem Kindheitstraum und verwirklichten ihn. Was Waltraut später verwunderte.

Sie selbst hatte nie wirklich eine Wahl gehabt. Sie sollte Sängerin werden, das hatte ihr Vater entschieden. Und warum nicht? Das war anscheinend das, wozu sie am besten geeignet war. Normalerweise gefiel es ihr auch, sich schön zu machen, die Hauptperson zu sein, im Rampenlicht zu stehen und Blumen entgegenzunehmen.

Alles war ihr im Leben leicht gefallen. In der Schule hatte sie zu den Besten gehört und wenn die Adolf-Fredrik-Klasse in Kirchen oder in der Berwaldhalle auftrat, zum Beispiel bei den jährlichen Weihnachtskonzerten, da war es ganz selbstverständlich, dass Waltraut die Solistin war.

Jetzt war sie achtundzwanzig und wohnte noch in Hässelby. Durch eine Anzeige hatte sie eine 2-Zimmer-Wohnung gefunden mit einer Schwindel erregenden Aussicht über die Mälaren. Hier konnte sie ihre Koloraturen üben, ohne jemanden zu stören. Hier konnte sie sich frei fühlen.

Vater hätte es sicher am liebsten gesehen, wenn sie zu Hause geblieben wäre. Die Eltern wohnten nur eine Viertelstunde Fußweg entfernt. Sie konnte sie ohne viel Aufhebens besuchen, und Vater guckte ein paarmal in der Woche bei ihr hinein. Sie ahnte, dass er das tat, um auch mal herauszukommen. Offensichtlich gingen sich ihre Eltern ein wenig auf die Nerven, jetzt, wo beide pensioniert waren.

Ihr Bruder Mats wohnte auch in Hässelby, aber in dem Einfamilienhausviertel. Dorthin ging Vater fast nie. Mats hatte zwei kleine Jungen, und ihr Vater war nicht besonders kinderlieb. Das Einzige, wofür er sich wirklich interessierte, war die Musik.

Sie erinnerte sich noch, wie sie Abitur machte. Es war das erste Mal, als ihr klar wurde, dass ihr Bruder sich manchmal zurückgesetzt fühlte. Sie hatten das vorher nie mit Worten benannt, nicht einmal bei ihren seltenen Streits. Sie lief auf den Schulhof in das dort wogende Meer aus Menschen, Blumen und Spruchtafeln. Sie fand ihre Eltern nicht, aber plötzlich packte sie jemand am Arm. Mats. Er umarmte sie und küsste sie fest aufs Ohr.

»Jetzt wird Vater sauer sein, dass er nicht der Erste war«, zischte er ihr zu, und zu ihrem Entsetzen sah sie Verbitterung in seinen Augen und etwas, das aussah wie Verachtung. Während der folgenden Feierei und Ausgelassenheit vergaß sie seine Worte, aber am Abend waren sie wieder da. Sie dachte, dass sie mit ihm reden müsste, doch da war er bereits abgefahren.

Und später versickerte das irgendwie im Sande.

Waltraut kletterte noch einmal auf den Stuhl, aber als sie sich aufrichten wollte, wackelte er und kippte um. Sie konnte gerade noch herunterspringen. Sie fiel auf den dicken Knüpfteppich. Der Stuhl fiel auf sie und schlug hart auf ihren Knöchel.

Sie schrie vor Schmerz auf.

Da klingelte es an der Tür.

Papa?, dachte sie überrascht. Sie trug eine dünne weiße Hose, die sie im indischen Laden gekauft hatte, und eine weite Bluse. Wie betäubt saß sie da und rieb sich das Bein durch den Hosenstoff. Das tat richtig weh.

Da klingelte es wieder.

Waltraut stand auf und hinkte in den Flur. Jemand stand da draußen. Jemand lief herum. Die Schritte klangen anders, das waren nicht die von Vater, das war eine dünnere, jüngere Person, das hörte sie an der Art, wie sie sich bewegte. Als sie sich klar machte, dass man so etwas tatsächlich durch eine geschlossene Tür hören konnte, ergriff sie ein Gefühl der Neugier. Sie musste wissen, ob sie Recht hatte, sofort musste sie das wissen. Also drückte sie die Klinke herunter und öffnete.

Ein Mann stand dort draußen. Zuerst erkannte sie ihn nicht wieder. Er war groß und kräftig, trug eine Kordjacke mit irgend so einem Teddyfutter am Kragen. Sein Gesicht glänzte im Lampenschein. In der Hand hielt er einen eingewickelten Blumenstrauß.

»Ja?«, sagte sie fragend.

»Hallo Waltraut.«

»Entschuldigung ... aber ...?«

»Du siehst aus, als hättest du keine Ahnung, wer ich bin. Und dabei habe ich dich mal auf meinem Arm getragen und zu deiner Mutter gebracht.«

»Wie bitte?«

»Als du noch kleiner warst und von der Schaukel gefallen bist. Du hast wie ein abgestochenes Schwein geschrien. Du konntest schon damals reichlich heulen ... Erinnerst du dich nicht mehr? Wir haben doch im gleichen Block gewohnt.«

Da fiel es ihr ein.

»Franki!«

»Ich habe dich gestern gehört. In der Kirche. Mit meiner Mutter. Du hast mich doch direkt angeguckt. Deshalb habe ich gedacht, du hättest mich wieder erkannt.«

»Oh ... entschuldige. Aber du musst wissen, wenn man so dasteht und singt, dann sieht man gar nichts, man ist vollkommen in die Musik versunken, man denkt nur daran, man horcht in sich selbst hinein, und dann hat man noch dieses starke Licht in den Augen ... es passiert mir oft, dass die Leute, die kommen und mich hören, meinen, ich wäre arrogant. Aber das stimmt nicht, das darfst du nicht glauben!«

»Okay.«

Er lachte und schien sich etwas zu entspannen. Da erkannte sie in ihm den Jungen Franki, wie sie ihn in der Erinnerung hatte, seine Art, kerzengerade zu gehen, sein Mund, der immer rau und gerötet war.

»Wir meinten, meine Mutter und ich, dass wir gestern eigentlich Blumen dabei hätten haben sollen. Aber das ist uns erst zu spät eingefallen. Deshalb kriegst du sie heute.«

»Wie lieb von dir, Franki. Du bist immer so gut zu mir gewesen. Die anderen waren so dumm, erinnerst du dich noch, wie Mats und Stefan mich in die Garderobe eingesperrt haben? Erinnerst du dich dran?«