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Ab wann wird Notwehr zu Mord? Als Beth und ihr Mann Ulf Urlaub in einer Hütte in den schwedischen Wäldern machen, werden sie von einem fremden Mann in ihrem Schuppen überrascht. Aus Angst erschlägt Beth den Mann mit einer Axt, da zwei Strafgefangene gerade aus dem Gefängnis ausgebrochen sind. Doch dann hört das Ehepaar, dass die entlaufenen Sträflinge schon wieder in Polizeigewahrsam sind... Wen hat Beth also mit der Axt getötet? Und können sie den Mord vertuschen? -
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Seitenzahl: 464
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Inger Frimansson
Saga
Die Katze, die nicht sterben wollte - Schweden-Krimi ÜbersetzerPaul Berf Coverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 2004, 2020 Inger Frimansson und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726445039
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk
– a part of Egmont www.egmont.com
Sie war eine gewöhnliche graue Katze, eine Hauskatze eben. Sie reckte ihr Maul in die Höhe und miaute, wie sie es schon oft, viele Tage lang getan hatte.
Aber die menschlichen Geräusche waren verstummt und das Haus war verschlossen.
Fauchend drehte sie sich zu ihren Jungen um, die inzwischen groß geworden waren. Es war Herbst und die Zitzen des Muttertiers waren eingeschrumpft und gaben keine Milch mehr.
Die Katze grub in der Erde, kratzte, scharrte, bekam ein Stück faserigen Stoffs zwischen die Zähne und nahm einen stechenden, schleimigen Geschmack wahr.
Zum zweiten Mal in ihrem Leben hatte sie Angst.
Eine Frau kam zu der Stelle, an der die Spuren von Krallen und Pfoten zu erkennen waren, und sah aus einem Loch in der Erde etwas herausragen.
Vor Entsetzen wurde ihr eiskalt und sie wimmerte und schnappte nach Luft.
Es war ein Stück von einem Menschenarm und an dem Arm saß eine Uhr. Sie wollte die Uhr nicht sehen, konnte aber die Augen nicht davor verschließen. Sie war dreckverschmiert und verdreht, dennoch erkannte die Frau das braune Lederarmband. Sie hatte ihm geholfen es zu flicken, es auf ihr Zimmer mitgenommen und sich mit der Nadel die Finger zerstochen.
Sie hatte angefangen ihn zu vermissen.
Sie legte den Kopf in den Nacken und schrie in den bleichen, frostigen Himmel hinauf.
Die Straße war von einer Staubschicht bedeckt, von einem feinen Puder aus zermahlenem Schotter. Das gefiel ihm nicht, denn der Staub drang ihm in alle Poren und in die Nasenlöcher, setzte sich im Nasenschleim fest und trocknete ihn aus. Normalerweise wich er den Straßen aus, aber an zwei, drei Stellen war das nicht möglich, dort musste er eine Weile dem Straßenverlauf folgen. In den Straßengräben wuchsen Walderdbeeren, rotes Fruchtfleisch bedeckt von einer Schicht aus grauen Giften. In seinen Augen war es ein Verrat, von ihnen zu essen, man konnte krank davon werden, eine Geschwulst konnte sich in einem festsetzen, wild wuchern und einen umbringen.
Das war von der Natur so nicht gewollt. Die Natur hatte die Früchte der Erde zum Nutzen der Menschen erschaffen.
In der Ferne Motorengeräusche, ein dumpfes und wütendes Grollen, das lauter wurde. Er musste einen Schritt zurücktreten und blieb im Straßengraben stehen. Die Pflanzen schmiegten sich an seine Knöchel. Ein PKW, vermutlich ein japanisches Modell, er kannte sich mit den neuen Automarken nicht mehr so gut aus. Seit er mit den Autokennzeichen fertig war, hatte er jedes Interesse an Autos verloren. Er hatte mit 001 begonnen und sie in chronologischer Ordnung abgehakt, bis er schließlich 999 erreicht hatte. Damals war er in die umliegenden Ortschaften gegangen, hatte sich auf Parkplätzen herumgetrieben oder in die Nähe einer Autobahnauffahrt gesetzt und dort stundenlang mit seinem Block und den Stiften gehockt. Blaue Farbe für gerade Nummern, rote für ungerade. Fünf Jahre hatte es gedauert.
Danach war er im Wald geblieben.
Er blieb einen Moment stehen, schaute in beide Richtungen, lauschte und wartete den perfekten Augenblick ab, in dem der Abstand zu dem Wagen, der gerade vorbeigefahren war, und dem, der als Nächster kommen würde, exakt gleich lang war. Ganz genau konnte er ihn natürlich nicht bestimmen. Es war nur ein Gefühl, so als würden zwei Waagschalen regungslos auf gleicher Höhe verharren, Perfektion und Einklang. Einen Moment lang hielt er den Atem an und überquerte anschließend die Teerdecke mit acht langen Schritten.
Zwischen den Kiefernstämmen war es drückend heiß. Die Hitze fraß sich in seine Haut, presste Feuchtigkeit unter seinen Haaren hervor, seine Stirn glänzte und pochte. Plötzlich sah er seine Mutter vor sich und roch den Kartoffelgeruch in ihrer nassen, erdigen Schürze, sah sein Gesicht zwischen den Streifen vergraben und ihre Hand, die sich schwer um seinen Hinterkopf wölbte.
Nein, lass das, denk nicht.
Er musste die Katze und ihre Jungen suchen. Er hatte ihnen ein Nest in der Kommodenschublade eingerichtet, ohne dass es etwas genützt hätte. Am nächsten Morgen waren sie dennoch verschwunden. Drei Kätzchen lagen noch in den Lumpen, lebten aber nicht mehr. Die beiden anderen waren mit ihr verschwunden. Die Katze hatte sie im Maul davongetragen.
Die kleinen Kätzchen wuchsen schnell. Als sie noch kleiner waren, war alles einfacher gewesen. Er konnte noch wesentlich mehr bestimmen und sie mussten viel schlafen und gesäugt werden.
Mittlerweile machten sie kleine lustige Sprünge auf allen vieren. Es machte ihm Spaß ihnen zuzusehen und sie mit einer ausgerollten Kordel spielen zu lassen. Ihre Krallen waren warm und durchsichtig. Wenn er sie fest hielt, bissen sie ihn mit ihren rosa Gaumen in die Hand und hinterließen Milch und Haare.
Das eine hatte den gleichen hellen, grau getigerten Pelz wie die Katze, das andere war zerzaust und größer, aber dennoch etwas scheuer. Er hatte ihnen Namen gegeben, sie aber schon wieder vergessen. Ihm hatten sie es zu verdanken, dass sie auf der Welt waren. Aber die Katze hatte keine Ruhe, nahm ihre Jungen und verschwand. Tag für Tag musste er nach ihnen suchen, was ihn stresste und deprimierte.
Die Katze hatte er eines Abends vor vier Jahren bekommen. Damals arbeitete er für Holger, half ihm im Wald. Den ganzen Tag hatten sie mit ihren Motorsägen gearbeitet und das knatternde Geräusch hallte noch in seinem Kopf.
Es war der letzte Tag. Die Haut in seinen Handtellern war rissig und wund. Die Stiche der Kriebelmücken juckten überall. Holger parkte den Traktor und zog das Kuvert mit dem Geld aus der Tasche.
»Da wäre noch eine Sache«, sagte er und seine Augen verengten sich zu Schlitzen.
Der Mann hatte etwas geahnt. Ein Schauer lief ihm über den Rücken und er musste plötzlich aufstoßen. Aber er stellte keine Fragen, sondern wartete nur.
Holger ging in den Schuppen und kehrte kurz darauf mit einer Schrotflinte zurück. Er rief zum Haus hinauf. Kaarina trat auf die Eingangstreppe hinaus, als hätte sie dort Wache gestanden. Im Arm hielt sie einen Schuhkarton, den sie mit äußerster Vorsicht trug, und ihr Gesicht war verschmiert und nass.
»Du kannst wieder reingehen!«, sagte Holger.
Daraufhin setzte sie den Karton auf der Erde ab, drehte sich um und lief hinein. Sie war korpulent und schwerfällig. Ihre plötzliche Schnelligkeit und die geschwollenen, geäderten Beine passten in seinen Augen nicht zusammen.
Holger reichte ihm die Waffe.
»Du weißt doch, wie man damit umgeht, oder? Du bist doch schon mit auf die Jagd gegangen.«
Er nickte. Es zog in seinen Hoden.
»Ich gehe jetzt rein!«, sagte Holger. »Du kannst sie hier abstellen. Lass einfach alles liegen, wenn du fertig bist. Lass den ganzen Mist liegen, ich kümmere mich darum, wenn du fertig bist.«
Ja. Das war jetzt vier Sommer her. Er hakte die Tage in seinem Kalender ab, malte sie mit dem Anilinstift aus. Die weißen Felder mit den Zahlen. Nummer acht im Juni.
Am Tag Nummer acht im Juni hob er den Deckel des Schuhkartons einen Spalt breit und hörte ein schwaches Maunzen. Nein, er wollte nicht mehr, wollte sie nicht sehen, nicht hören, den Karton sofort wieder schließen, aber eines der Tiere entwischte über den Rand.
Er hatte Angst, dass Holger es gesehen haben könnte, aber am Fenster rührte sich nichts, stattdessen hörte man gebrochene und gedämpfte Schreie. Er hörte auch Holger und das Poltern eines Stuhls, der umgeworfen wurde.
Das Kätzchen saß mit weit gespreizten Pfoten auf der Erde, das kleine platte Gesicht ihm regungslos zugewandt. Dann machte das Kätzchen einen Satz, schoss unter sein Hosenbein und bohrte die Krallen wie Heftzwecken in seine Wade. Breitbeinig und stumm stand er da. Aus dem Haus drang erneut ein Schrei der Frau.
Dann richtete er den Lauf der Flinte auf den Karton und drückte ab.
Er verließ den Hof zusammen mit dem Kätzchen, das sich an sein Bein klammerte. Es wuchs wie eine Rebe aus seiner Wade, er hatte einmal ein Bild einer solchen Rebe gesehen, von Trauben, die in einem Gewächshaus am Ufer des Vätterns gezogen wurden. Erst als er im Schutz der Bäume angelangt war, wagte er es, sich zu bücken und das Hosenbein hochzuziehen.
Es war ein hellgraues Kätzchen, verängstigt und warm. Das war sie. Das war die Katze. Und sie machte sein Zuhause zu ihrem.
Als sie immer schwerer und plumper wurde, begriff er, dass sie trächtig war. Eines Morgens war es dann so weit.
Er baute einen Verschlag aus Latten und Kaninchendraht, den er sich bei Holger besorgt hatte, und setzte die Jungen und die Katze in den Käfig. Die Katze buckelte und sträubte ihr Fell, als wäre es elektrisch. Als er den Finger hineinsteckte um sie zu streicheln, schlug sie die Zähne hinein und biss zu. Bestürzt schrie er auf.
Als er im Haus war, um nach einem Pflaster zu suchen, nutzte die Katze seine Abwesenheit, um den Verschlag umzukippen und Reißaus zu nehmen. Die kleinen Kätzchen ließ sie zurück. Er saß auf der Treppe und das Blut lief ihm den Finger herab. Er dachte an seine Mutter. Sie hätte jetzt seine Hand genommen und zum Mund geführt, zwischen die Lücke in den Kiefern hätte sie seine Fingerspitze geschoben und an ihr gesogen, das Übel weggesaugt.
Sie hatte ihn immer in einem kleinen Bollerwagen gezogen. Er konnte sich zwar nicht mehr daran erinnern, aber sie hatte es ihm erzählt und ihm den Wagen gezeigt. Er war grün lackiert und aus Latten gezimmert. Eine Erinnerung huschte vorbei, rundes Holz in der Kuhle des Handtellers.
»Du hast erst spät angefangen zu laufen«, jetzt war ihre Stimme wieder ganz nah, »aber ich konnte dich ja nicht die ganze Zeit schleppen. Deshalb habe ich diesen Bollerwagen gekauft. Von Lappen-Karlsson.«
Ja.
Der Bollerwagen.
Und das holpernde Rollen der Räder über Sand und Wurzeln.
»Außerdem wusste ich so immer, wo du warst, denn du bist nicht rausgeklettert, du hast in ihm gesessen und warst mein kleines Klößchen. Du mit deinen fröhlichen roten Backen.«
Er hatte das Bild vor Augen, blonde Locken, eine Krone aus Gold auf seinem Kopf.
Lappen-Karlsson gehörte damals der Kaufmannsladen unten im Dorf. Er hatte eine gewölbte Stirn und einen hohen Haaransatz. Voller Experimente und Ideen war sein Kopf, man sah es ihm regelrecht an. Seinen Spitznamen hatte er bekommen, als er einmal auf die Idee verfallen war, in einen Stofffetzen gewickelte Rindenstückchen als Heilmittel gegen Zahnschmerzen zu verkaufen. Man sollte den Stofflappen in Schnaps tauchen und gegen den schmerzenden Zahn pressen. Die Rindenstückchen habe er aus Afrika importiert, berichtete er. Sie würden von Akazien stammen und Gummi arabicum enthalten. Dieser Substanz sage man nach, sie könne Schmerzen lindern.
»Halli, hallo, mein Junge, soll ich dich heute in den Arm nehmen?«, fragte er stets und streckte seine langen, knochigen Arme aus. Und wenn er keine Antwort bekam: »Und wie geht es deiner Mutter? Du kannst ihr ausrichten, dass ich heute Abend vielleicht kurz bei euch vorbeischaue. Natürlich nur, wenn sie Zeit für mich hat.«
»Du musst nett zu Lappen-Karlsson sein und ihn mögen«, ermahnte ihn seine Mutter. »Wir haben ihm viel zu verdanken.«
Wenn es an der Tür klopfte, musste er immer in die Kammer. Seine Mutter und er schliefen dort auf einer Bettcouch. Lappen-Karlsson brachte ihm immer etwas mit, einen Comic oder eine Tüte gebrannter Mandeln.
»Sei so lieb und bleib ein bisschen hier drinnen«, sagte seine Mutter, und etwas war anders an ihren Lippen, sie waren roter, ihre Bewegungen waren hastig und linkisch.
Mucksmäuschenstill lag er da und lauschte, hörte aber keinen Laut, nicht einmal ein Flüstern. Manchmal bildete er sich ein, sie seien hinausgegangen, aber er traute sich nicht nachzusehen, traute sich nicht einmal, aus dem Bett zu steigen, bis seine Mutter zu ihm kam. Sie trug dann meistens schon ihr Nachthemd.
»Schläfst du etwa noch nicht?«, fragte sie immer wieder aufs Neue überrascht, und ihre Haare hingen dunkel und verfilzt den Rücken herab.
Er schüttelte abwartend den Kopf.
»Und warum nicht?«
»Du sollst bei mir liegen.«
»So so, meinst du, du Racker.«
»Ist Lappen-Karlsson gegangen?«
»Lappen-Karlsson? Der ist schon lange weg. Er ist nur auf einen Sprung geblieben. Und wir beide schlafen jetzt, du und ich. Morgen ist auch noch ein Tag.«
Aber an den Abenden, an denen Lappen-Karlsson da gewesen war, konnte keiner von ihnen einschlafen. Er lag auf dem Rücken und die Matratze kam ihm uneben vor. Er hörte, wie seine Mutter sich hin und her wälzte und seufzte. Er streckte seine Hand aus und tastete nach ihr, und schließlich nahm sie seine Hand.
Er war so voller Worte und Gedanken, aber ihm durfte nichts über die Lippen kommen. Schließlich schlief sie ein, der Griff ihrer Hand löste sich und ihre Finger glitten auseinander. Er hörte ihre unregelmäßigen grunzenden Atemzüge. In diesen Momenten empfand er Leere und Verzweiflung, die er in kurzen Seufzern hervorstoßen musste, so als wäre er sehr schnell gerannt. Es war eine Atemlosigkeit, aus der Tränen wurden. Seine Mutter schlummerte, bewegte sich ein wenig, hüstelte.
Er drehte sich auf die Seite und schloss die Augen.
Kaarina war bei den Hühnern, es roch nach Eiern und altem Kot.
»Du hast mich erschreckt!«, sagte sie, aber ihre Stimme klang weich, nicht angespannt. Sie hatte ihn noch nie angeschrien.
»Wo ist Holger?«, fragte er.
Sie zeigte zum Haus.
»Was tust du?«
»Eier einsammeln.«
Er trat zu ihr hinein, die Luft war stickig. Spreu wirbelte im Lichtstreif.
»Ich hab dir doch gesagt, dass ich die Eier einsammle«, kicherte sie.
»Ich weiß.«
Die Schwere ihrer Brüste, er hielt sie, wog sie in seiner Hand. Kaarina lehnte an der warmen Stallwand, ihre Hände, die Hitze stieg ihm bis in die Ohrenspitzen. Er schob den weichen Stoff der Kleider zur Seite, suchte und zog, hörte ihre keuchenden, kurzen Schreie und ihr Stöhnen. Als er an Holger dachte und das Geräusch seiner Holzschuhe innerlich heraufbeschwor, als er ganz intensiv daran dachte, dass Holgers sonnengebräuntes Gesicht über sie fiel wie ein Schatten, dass es kalt werden würde und alle Laute verstummten und erstickt würden . . .
Das dachte er und wurde steif, suchte und schob sich hinein.
In ihr brennend heißes, glühendes Versteck.
Er nahm den Weg über den Friedhof. Die Sonne stach ihm in den Nacken.
»Eines Tages werde ich fort sein, eines Tages wirst du allein sein.«
Jetzt war er allein.
Er hatte ihr einfach nicht zugehört. Seine Mutter hatte die Worte am Ende so oft wiederholt, dass sie schließlich ihre Bedeutung verloren hatten.
Er wusste, dass sie unter dem Stein lag, der ihren Namen trug. Sie hatte alles vorher geregelt. Zum Beispiel die Sache mit der Taube. Eine Taube aus Alabaster sollte auf der Grabsteinkante sitzen und ruhen, den Kopf unter den Flügel gesteckt.
»Dann kannst du dir immer vorstellen, das wäre ich. Sonst ist es vielleicht ein bisschen schwer zu verstehen.«
Der junge Pfarrer aus Stockholm meinte, solcher Krimskrams sei auf dem Friedhof verboten und dass es eine Verordnung gebe, die für alle schwedischen Friedhöfe gelte, eine Verordnung aus dem Ministerium für Kommunalverwaltung. Er bekam es dann mit Pfarrer Augustsson zu tun.
»Papperlapapp! Man kann eine Sondergenehmigung bekommen. Wenn eines unserer Gemeindemitglieder eine Alabastertaube haben möchte, dann soll es die Taube auch bekommen. Dagegen hat unser Herrgott bestimmt nichts einzuwenden.«
Die Taube hatte begonnen, eine etwas andere Farbe anzunehmen, war irgendwie schmutzig geworden. Er hatte begriffen, dass dies an der schmutzigen Luft liegen musste. Sie kam aus Deutschland, aus dem Ruhrgebiet. Er hatte stets eine Nagelbürste dabei und jedes Mal, wenn er ihr Grab besuchte, feuchtete er die Bürste an und schrubbte den Alabaster, bis ihm die Finger wehtaten.
Es gab ein Haus, das nur im Sommer bewohnt wurde. Er ging oft dorthin. Wie ein Elch hielt er sich am Waldsaum verborgen. Ein Mann und eine Frau. Er sah sie auf der Eingangstreppe sitzen, glühende Punkte, ihre Zigaretten. Er stand da und beobachtete sie und sie ahnten nicht das Geringste davon.
Er war gerne nachts unterwegs. Darin waren sie sich ähnlich, die Katze und er. Er konnte sich so gewandt bewegen, dass ihn niemand hörte, ebenso gewandt wie sie, was aber auch notwendig war, wenn man unsichtbar bleiben wollte.
Und das wollte er, denn er wollte selbst entscheiden.
In der Schule hatte man ihn gezwungen, jemand zu sein, der er nicht war. Dort hatte er sowohl einen Namen als auch Pflichten gehabt. Aber das war lange her. Nun war er sein eigener Herr.
Einmal, als er im Moor unterwegs war, sah er, wie zwei Elchkälber geboren wurden. Das eine rutschte heraus, als er gerade vorbeikam. Vor ihm lag das Moor und dort stand die Elchkuh mit gekrümmtem Rücken und so damit beschäftigt, Leben zu schenken, dass sie ihn gar nicht bemerkte. Er war mit dem Wind gekommen, nahm hastig einen Umweg und ließ sich im Riedgras auf die Knie fallen. Kurze Zeit später wurde das zweite Kalb geboren. Die beiden neugeborenen Tiere lagen da und dampften, das Ganze geschah, noch bevor die Bäume ausgeschlagen hatten und er musste sich ducken und durfte sich zwischen den Grassoden nicht rühren. Er war so nah, dass er die Zunge der Elchkuh erkennen konnte, und als ein Windstoß kam, erreichte ihn der herbe Geruch von Blut.
Er hatte sich gewünscht, seine Mutter wäre noch am Leben, weil er gerne mit ihr darüber gesprochen hätte. Stattdessen hatte er es Kaarina gegenüber erwähnt. Sie hatte ihm zugehört, aber ihr Blick war unstet gewesen, so als wolle sie lieber nichts davon hören.
Jetzt stand er da und schaute auf die gleiche Art, aber diesmal beobachtete er das Paar, die beiden, die zu dem Haus gekommen waren. Ihr Auto parkte am Schuppen, Nummer fünf-fünfsieben. Und daneben stand der Hackklotz, in dessen Holz die Axt steckte. In den ersten Tagen hatte der Mann dort gearbeitet, die Holzscheite flogen nur so durch die Gegend und er hatte geflucht und zugeschlagen und oft Pause gemacht um zu rauchen. Die Holzscheite lagen immer noch im Gras. Niemand hatte sie aufgehoben.
Er hatte die beiden auch früher schon beobachtet, ohne dass sie etwas davon ahnten. Die Frau. Sie wusch sich die Haare und das Wasser tropfte von ihren braunen Brustwarzen herab. Einmal hatten sie miteinander geschlafen, hinter dem Vorratskeller. Er war damals aus dem Wald gekommen und sie waren nackt und vollkommen still gewesen. Es hatte ihm gefallen, das zu sehen, und mehrmals war er in der Hoffnung zurückgekehrt, es noch einmal erleben zu dürfen. Aber es blieb bei dem einen Mal.
Er hatte mit Kaarina darüber gesprochen, was er gesehen hatte. Kaarina hatte Angst bekommen.
»Geh da nicht wieder hin, sie könnten sonst wütend werden.«
Sie war immer so ängstlich und vorsichtig.
Das Äußere der Frau behagte ihm nicht. Sie hatte helle und flaumige Haare, mürrische Lippen und sah immer unzufrieden aus, ganz im Gegensatz zu dem Mann, der ein Mensch war, dem er sich gerne gezeigt hätte. Er würde sicher seine schwarzen Augenbrauen hochziehen und etwas Ruhiges und Würdiges sagen.
Aber nein. Das Risiko wollte er nicht eingehen.
Sie hatte wie ein Tier auf allen vieren gestanden. Die festen, weißen Schenkel des Manns.
Nachher war er in den Wald zurückgegangen und hatte sich gewünscht, Kaarina würde zu ihm kommen. Heftig und erregt hatte er sich das gewünscht. Aber Kaarina war kein Mensch, der kam. Und er selbst wollte nicht zu oft zum Hof gehen. Holger konnte sonst auf dumme Gedanken kommen, er bekam so einen seltsamen Blick, wenn er gereizt wurde.
Es war Mitternacht. In der Dunkelheit huschte eine Waldschnepfe mit einem kaum hörbaren, gleichsam klappernden Geräusch vorbei. Der Mann und die Frau schliefen nicht. Sie unterhielten sich laut auf der Treppe, aber er konnte nicht hören, was sie sagten. Die Frau schrie etwas, ihre Stimme überschlug sich. Sie lief in das rutschige Gras. Der Mann setzte ihr nach, er trug eine weite Hose.
Er stand da und sah die Frau weglaufen und wie der Mann sie schließlich einholte. Seine Beine waren ja so lang und die Frau war so schmächtig. Sie hatte da unten nicht so viele Haare wie Kaarina, das hatte er gesehen, aber ihre Brüste waren voll und schwer.
»Wir gehen ins Haus!«, hörte er und sah, dass die Tür zugezogen wurde.
Gleichzeitig berührte etwas Weiches seinen Knöchel. Die Katze. Ein bisschen weiter weg saßen die kleinen Kätzchen.
Es war genau, wie er es sich gedacht hatte. Hierher waren sie gelaufen.
Manchmal erinnerte er sich an die Bewegungen, besser gesagt, sein Körper erinnerte sich an das gespreizte Abstützen der Beine auf dem Boden des Bollerwagens, die Knorrigkeit des Holzes. Und an seine halb abgewandte Mutter, ihre gewölbte Hand an der Stange, die Knöchel. Die Geräusche, wenn sie zog. Das quietschende Knarren der Räder.
Als Erwachsener stellte er sich manchmal vor, er säße wieder in der Karre und hievte sich mit den Armen in einer Art Ruderbewegung ohne Ruder hüpfend über die Wiese, aber eben erwachsen, groß.
Leider wusste er nicht, was aus dem Bollerwagen geworden war, sonst hätte er ihn für die kleinen Kätzchen benutzen, sie herumziehen und dadurch ihr Fernweh betäuben können.
Dank ihm waren sie auf der Welt.
Er näherte sich dem Haus. Es war Tag. Das Auto war wieder fort. Sie waren oft unterwegs und er fragte sich, wonach sie suchten.
Das Haus hatte es immer schon gegeben und seine Mutter hatte mit Respekt von ihm und den Menschen gesprochen, die früher dort wohnten. Zu ihrer Zeit. Und von den Tieren, die zu dem Hof gehörten.
Es gab dort eine Kuh, die zum Angriff überging, sobald man ihre Weide betrat.
»Wir haben versucht sie zu überlisten«, sagte seine Mutter. »Ich war damals noch ein junges Mädchen und konnte so schnell laufen, dass meine Beine wie Trommelstöcke gingen. Aber sie holte mich trotzdem ein und lief ein Stück neben mir, diese Kuh, sie wollte mich bestimmt auf die Hörner nehmen, denn sie war bösartig, aber sie vergaß völlig stehen zu bleiben, und lief stattdessen immer weiter neben mir her. Sie hatte praktisch keine Hörner und war braun. Dann kroch man unter dem Zaun durch, warf sich einfach auf die Erde, rollte herum und drunter durch. Mein Gott, was hatte man da Herzklopfen!«
Der Mann, dem die Tiere gehörten, konnte gut mit ihnen umgehen. Die Tiere wussten das und waren friedlich, außer dieser Kuh, die eine Schraube locker hatte. So lange sie noch ein Kalb war, machte es nichts, aber als sie größer wurde und Hörner bekam, musste der Bauer sie schlachten lassen.
»Er war so weichherzig und sanftmütig, dass er es nicht mit ansehen konnte, wenn sie kamen, um seine Tiere abzuholen. Sie waren bei ihm gewesen, seit sie klein waren, du hast ja selbst gesehen, wie klein ein Ferkel sein kann, zusammengerollt und ganz nackt, wie es sich an seine Mama presst und nach den Zitzen sucht, so wie alle kleinen Babys das tun. Du hast das auch getan, auch wenn du dich daran nicht mehr erinnern kannst, du hast mit den Lippen gesucht und gesaugt. Ich habe dich gehalten, so habe ich dich gehalten, eingewickelt in eine Decke mit ganz vielen Fransen . . . und einmal, als ich dich abgelegt habe, hast du angefangen, an den Fransen zu saugen. Du hast eine Menge Flusen in den Mund bekommen und gewürgt und geschrien. Ich habe einfach nicht kapiert, dass es gefährlich sein könnte. Ich war so ungeübt, verstehst du, ich wusste nicht viel über kleine Kinder.«
Diese Geschichte hatte sie ihm nicht einmal, sondern viele, viele Male erzählt, aber er sagte es ihr nicht. Vielleicht wusste seine Mutter es auch, vielleicht wusste sie, wie gerne er ihr zuhörte, wenn sie von Dingen erzählte, die geschehen waren, ehe er alt genug war, um sich daran zu erinnern.
»Die Leute, die damals in dem Haus wohnten, bekamen ein Kind, nur eins. Eine Tochter. Sie hieß Susanne. Sie war jünger als ich, aber wir sind trotzdem zusammen zur Schule gegangen. Alle Mädchen beneideten sie um ihren Namen, Susanne. Niemand sonst hieß so. Wir kannten jedenfalls sonst keinen. Manchmal begleitete ich sie nach Hause. Ihre Mama machte Milch für uns warm und stellte Löffel mit Honig in die Tassen. Ich erinnere mich noch, dass sie was am Rücken hatte, sie ging am Stock.«
Er dachte an seine Mutter.
Er dachte: Ich gehe zu Holger rüber.
Er dachte: Kaarina. Wenn sie da ist.
Aber Holger stand auf dem Hügel vor dem Haus und am hinteren Ende des Zauns drängten sich alle Hühner zusammen. Er hatte die Klappe zum Hühnerhaus mit einem Brett versperrt. Jetzt bückte er sich und griff ein gelb gesprenkeltes aus dem Federhaufen heraus. Er hielt es an den Beinen fest, und es flatterte wild.
Am Hackklotz lag die Axt bereit.
Unbemerkt ging er ums Haus herum. Kaarina war da. Sie beugte sich über einen Korb voller Wäsche. Sie hatte die Ärmel des Pullovers hochgekrempelt, ihre Ellbogen waren rissig und grau.
Er dachte, dass er sie rufen würde, mit leiser Stimme rufen und froh machen.
Vielleicht würde sie sich aber gar nicht freuen. Vielleicht würde sie stattdessen vor Schreck und Überraschung aufschreien. Aber sie entdeckte ihn, ehe er überhaupt dazu kam, etwas zu tun. Sie ließ ein nasses glattes Kleidungsstück in den Wäschekorb zurückfallen und machte eine Geste, um ihm zu bedeuten: Ich habe gemerkt, dass du da bist.
Langsam ging er auf sie zu. Wenn es ihm nur gelänge, sie zum Kichern zu bringen. Dann kam alles Weiche an ihr und ihrer Haut zum Vorschein.
»Kleine Kaarina, Kicherkind . . . komm mit in den Wald zum Spielen.«
Aber sie stierte nur die Wäsche an und schwieg.
Er stand in der Fliederlaube und schaute ihr dabei zu, wie sie weiter Wäsche aufhängte. Sein Körper war voller Schwere und Lust, seine Hände bewegten sich zur Wurzel seiner Lust.
Eine Tür fiel ins Schloss. Holger stand in einem Blut besprenkelten Hemd auf der Treppe. Der offene Mund mit seinem Loch aus Worten, der heitere, unstete Blick.
Kaarinas Hände und die Wäsche.
Voller Lust ging er davon.
Er war ein hoch aufgeschossener und kräftiger Mann mit großen Händen, die jedoch nicht besonders grobschlächtig waren. Er hatte immer Probleme, passende Kleider für sich zu finden. Er sah es nicht oder achtete nicht weiter darauf, wenn die Hosenbeine über seinen Fußknöcheln endeten. Jetzt spazierte er durch das Moor und das Bild seiner Mutter verflüchtigte sich.
Es wurde allmählich Abend, aber es war immer noch hell und warm. Mit dem Abend kamen die Kriebelmücken und die Mücken. Die Schwalben wussten das und verfolgten sie mit weit aufgesperrten Schnäbeln. Seit er am Morgen Kaarinas Eier gegessen hatte, war er nicht mehr hungrig gewesen. Er hatte die Eier ins Wasser gelegt und gekocht. Sie hatten seinen Magen den ganzen Tag gefüllt, aber jetzt war er leer.
Das Essen war die größte Sorge seiner Mutter gewesen und sie hatte gesagt, dass sie ihm das Kochen beibringen müsse, sie hatte gesagt, er könne auch selbst in ihr Kochbuch schauen und sie fragen, aber dazu war es nie gekommen und dann war alles vorbei. Eines Morgens lag sie steif und verkrümmt in ihrem Bett. Er hatte sie berührt, sie fest in die Ohrläppchen gekniffen, immer fester, um sie zu einer Reaktion zu zwingen. Aber in seinem tiefsten Inneren wusste er Bescheid. Ihre Arme waren gebeugt und die Hände wiesen zu Fäusten geballt nach oben, so als hätte sie gegen etwas angekämpft, das gekommen war um sie zu verletzen. Er war inzwischen erwachsen und schlief im Speicherzimmer. Sie schlief weiterhin auf der Bettcouch. Er hatte später oft gedacht, wenn er noch unten gelegen hätte, aber ein erwachsener Sohn und seine Mutter lagen nicht so eng beieinander, zeigten einander ihre nackten Körper nicht. Was geschehen war, war im Laufe der Nacht geschehen, und er konnte nichts mehr dagegen tun. Sie lag in dieser trägen, verdrehten Körperhaltung da und er packte sie an den Ohren und kniff hinein.
»Mama!«, sagte er, ja, er schrie es sogar.
Aber ihre Augen waren trüb geworden und ihre Kinnlade hing herab. Da schoss ihm etwas durch den Kopf, was sie gesagt hatte. Du musst mir die Augen schließen und das Kinn hochbinden, damit ich nicht wie ein Dorftrottel daliege und glotze. Er versuchte, ihre Anweisungen zu befolgen und strich mit der Hand über die widerspenstigen Lider, die sich ein Stück herunterschieben ließen, um anschließend sofort wieder zurückzuschnellen. Anschließend holte er ein Taschentuch, das er zusammenrollte und ihr wie Zaumzeug um das Kinn legte, aber der Kiefer war starr und widersetzte sich. Er knotete das Taschentuch auf dem Scheitel zusammen, aber das sah nicht gut aus. Die Enden glichen herabhängenden Kaninchenlöffeln und bildeten einen traurigen Anblick. Er musste den Knoten wieder lösen und sie so liegen lassen.
Geh zur Frau des Pfarrers, hatte sie gesagt. Sie kümmert sich um dich und richtet mich her. Mach das bitte, bevor andere kommen, der Pfarrer oder die Männer, die mich forttragen sollen.
Im Licht der Morgendämmerung lief er zum Pfarrhof und an diesem Morgen aß er nichts, weinte aber auch nicht, denn das, was geschehen war, überstieg sein Fassungsvermögen.
Die Frau des Pfarrers hieß Ingalisa. Sie zog später fort, nach Skara oder Hjo, er erinnerte sich nicht mehr genau. An diesem Morgen trat sie in einem blutroten Morgenmantel aus dem Haus, und als sie sah, dass er es war, wusste sie augenblicklich, worum es ging.
»Gib mir zwei Minuten!«, bat sie. »Zwei Minuten.«
Dann liefen sie los. Sie lief vor und er folgte ihr. Sie wussten beide, dass es eigentlich keinen Grund zur Eile mehr gab, aber sie liefen trotzdem, so als bräuchten sie die endgültige Bestätigung. Frau Ingalisa trug kleine, schwarze Stiefel. Er sah, wie sie im Morast einsank, sah ihre Schritte schwerer werden. Er konnte nichts tun um es ihr leichter zu machen.
Aber sie war stark und schnell und das bisschen Matsch machte ihr nichts aus. Sie stellte die Stiefel in der Diele ab und hängte ihren Mantel auf. Darunter trug sie eine Jeans und einen dunkelblauen Jumper. Sie goss Wasser in eine Schüssel und wusch den verdrehten Körper der Mutter unter dem Nachthemd. Die Arme der Toten standen immer noch hoch, die Finger waren nach innen gekrümmt. Ingalisa, die Frau des Pfarrers, blieb stumm, während sie arbeitete. Ihr Mund war klein und schief, er sah ihre Zungenspitze.
Anschließend holte sie die Blumenvase mit den blauen pelzigen Blumen aus der Küche und stellte sie in das Zimmer, in dem seine Mutter lag. Das sah schön aus.
»Deine Mutter braucht jetzt nicht mehr zu leiden«, sagte sie und trocknete ihre Hände ab. »Du musst versuchen, es so zu sehen, wenn du dich einsam fühlst.«
Es war ihm nicht bewusst gewesen, dass seine Mutter gelitten hatte. In den folgenden Wochen und sogar noch heute, viele Jahre später, dachte er oft darüber nach.
Die Pfarrersfrau trug an einer Kette ein Kreuz um den Hals. Es fiel nach vorn, als sie sich zu ihm vorbeugte.
»Du kommst am besten mit zu mir nach Hause«, sagte sie. »Du musst jetzt erst einmal frühstücken.«
Zurück gingen sie wesentlich langsamer. Es war jemand da, der ihr in der Küche half, denn der Pfarrer feierte seinen vierzigsten Geburtstag. Es war eine Frau namens Ragnhild und sie kochte Kaffee und strich Butter auf ein Brot, von dem er noch nie zuvor gegessen hatte. Es blieb ihm als Totenbrot im Gedächtnis.
Die Frau des Pfarrers regelte alles für ihn. Sie rief Doktor Dahl an, der vorbeischaute und den Totenschein ausstellte. Sie besorgte Männer, die dafür sorgten, dass die Leiche seiner Mutter aus dem Haus geschafft wurde, und darüber hinaus eine Frau, Dora Granberg, die einen gründlichen Hausputz vornahm. Der Geschmack und der Geruch des Todes sollten mit Hilfe von Schmierseife und Wasser aus dem Haus verbannt werden.
»Du bist ein tüchtiger Junge und hättest das bestimmt auch selbst geschafft, aber ich habe es deiner Mutter versprochen, und Dora Granberg ist zuverlässig, wenn es ums Putzen geht. Deine Mutter hat auf ihr bestanden.«
Er kam sich eigenartig hintergangen vor. Die Frau des Pfarrers wusste anscheinend mehr über seine Mutter und ihre Gedanken als er selbst.
Er blieb den ganzen Tag auf dem Pfarrhof und man bot ihm an, dort auch zu übernachten, aber er lehnte ab. Sein Haus stand einsam und verlassen, er wollte heim.
Der alte Pfarrer besuchte ihn am nächsten Tag. Er sprach eine Weile über seine Mutter, lobte sie für ihren Fleiß.
»Und wenn jemand etwas wegen der Alabastertaube sagt, berufst du dich einfach auf mich.«
An die eigentliche Beerdigung konnte er sich kaum noch erinnern. Die Frau des Pfarrers hatte ihm schwarze Kleidung besorgt. Er kam sich vornehm darin vor und hatte das Gefühl, dass die Leute ihm mit neuer und verblüffter Achtung begegneten. Die Frau des Pfarrers war es dann auch, die für Kaffee und Kuchen und kleine Stielgläser mit Sherry sorgte.
In der Nacht nach der Beerdigung lag er in seinem Bett und dachte an sie.
An die Pfarrersfrau Ingalisa.
Er stand am Gatter zu dem Haus und das Auto war nicht da. Daraufhin ging er in die Hocke und lockte die Katze. Als er sich dem Haus näherte, hatte er sie und die beiden Kätzchen zwischen den Obstbäumen erblickt. Sie brachte ihnen gerade bei, wie man die Stämme hochkletterte.
Nein. Jetzt war sie nicht mehr zu sehen.
Die spiegelblanken, leeren Fenster. Er hatte gesehen, wie die Frau in den geblümten Shorts sie putzte, sie trug einen BH, aber keinen Pullover. Ihre starken, braunen Arme, die putzten und polierten. Manchmal legte sie eine Pause ein, um sich eine Zigarette anzuzünden. Als die obere Etage an der Reihe war, stieg sie auf eine Leiter, machte dabei einen Fehltritt und wäre beinahe hinuntergefallen. Den Wassereimer hielt sie in der Hand. Sie dachte mehr an ihn als daran, wohin sie die Füße setzen musste.
Vor langer Zeit war seine Mutter hier gewesen und hatte mit dem Mädchen Susanne gespielt, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass seine Mutter einmal kleiner gewesen sein sollte als er selbst, wenn er sich zurückerinnerte.
Er hatte sie zu den wilden Himbeersträuchern begleitet, wo sie einen ganzen Tag zubrachten. Am nächsten Morgen entsaftete sie die Beeren und kochte eine süße und dünnflüssige Marmelade aus ihnen, die zwischen den Zähnen knirschte. Sie hing in den Sträuchern und erzählte.
Susanne bekam ein kleines Pferd geschenkt, es war braun und lieb und sie fütterte es mit Grasbüscheln. Aber das Pferd war so klein, dass man nicht auf ihm reiten konnte. Ihr Vater war so ein lieber Mensch, dass er ihr ein nutzloses kleines Pferd schenkte, das nur fressen und düngen konnte. Wenn das Pferd mit den anderen Pferden auf der Weide stand, gab das Kleine den Ton an. Es legte die Ohren an und warf seine Mähne und die Großen machten ihm Platz und ließen es in Ruhe.
Gespannt lauschend und mit schützend erhobenen Händen näherte er sich dem Haus. Seine Mutter hatte hier in der großen Stube gespielt, und jetzt war ihm, als könne er die Mädchen sehen, und er dachte daran, dass sie erwachsen wurde und plötzlich nicht mehr am Leben war. Denn so erging es allen, Mensch wie Tier. Man war klein, man wuchs heran, man alterte und man starb.
Plötzlich wurde er von Schwermut ergriffen, einer heftigen und bedrückenden Einsamkeit. Im Gras unter dem Fenster hatte seine Mutter damals mit ihren Mädchenfüßen gestanden und ein wenig an der Fensterscheibe gekratzt, bis Susanne aufblickte. Sie lächelte erleichtert, denn sie saß an den Hausaufgaben und ihr war langweilig. Sie ließ die Schultern sinken und stand auf. Ihre Mutter war in der Küche, denn wo sonst sollte eine Mutter sein. Das Schulmädchen Susanne schlug ihre Bücher und Hefte zu, ich geh mal raus zu Ebba, und ihre Stimme klang bestimmt, es war keine schüchterne Frage, und anschließend quietschte die Tür und sie trat aus dem Haus.
Er sah die beiden Mädchen deutlich vor sich, so, wie sie auf einer alten Fotografie aussahen, die seine Mutter ihm einmal gezeigt hatte. Sie sahen sich ähnlich, kurze Haare mit Spangen darin, Röcke und schwarze Schuhe. Ihre kleinen, kleinen Körper. Sie sausten die Steintreppe herab und spielten Fangen zwischen den Bäumen.
Er schloss die Augen und der Geruch war da, der beißende Geruch eines Fells. Damals gab es in dieser Gegend noch Wölfe. Seine Mutter hatte als Kind einen gesehen und von da an durfte niemand mehr allein in den Wald gehen. Ein Erwachsener musste dabei sein, ein Mann mit einem Jagdgewehr.
Seine Hände wurden feucht, ihn schauderte vor Angst und Erregung, er wusste nicht mehr, wo er war, aber er musste ins Haus und spürte etwas Kratzendes am Fußgelenk, er schaute hinab, nein, es war nur ein Schatten, grau und schlank, ein Aufblitzen von Raubtierzähnen. Er rüttelte an der Tür, aber sie war abgeschlossen. Sie hatten sie ordentlich verriegelt, genau wie die Fenster. Verängstigt und ziellos fliehend lief er über den Rasen:
Die Katze, die kleinen Kätzchen! Waren sie jetzt in Gefahr, ernsthaft in Gefahr?
Er wollte sie zu sich locken, aber seine Lippen waren wie gelähmt und wollten keine Worte oder Laute formen. Er lief zur Scheune. Hier war es leicht, das Hängeschloss war durch einen spitzen Keil ersetzt worden.
Hinein. Er zog die morsche Tür hinter sich zu und blieb, sie festhaltend, eine Zeit lang stehen und lauschte auf Geräusche. Seine Mutter hatte damals das Heulen gehört. Es kam vom Waldsaum und sie hatte unaussprechliche Angst bekommen. In der folgenden Nacht wurde sie krank. Sie hatte Schüttelfrost, und sobald sie die Augen schloss, sah sie die schmalen Augen und die Schnauze, die sich gen Himmel reckte.
Er presste ein Auge an den Türspalt und versuchte hinauszuspähen. Draußen war es hell, die Schwalben sirrten und die Grillen zirpten. Es gab dort nichts mit einem Pelz. Doch. Eine Pfote kratzte unter der Tür und er hörte gurgelnde Laute aus einer Raubtierkehle. Er schrie laut auf und stampfte mit dem Absatz auf der Erde auf. Mit beiden Händen hielt er die Tür fest, zog sie an sich, hielt dagegen. Draußen fauchte es, und seine verängstigten Augen sahen, wie die Mädchen zum Plumpsklo rannten, und er wollte ihnen zurufen, passt auf, versteckt euch, lauft weg. Er hörte ihre hellen, schrillen Stimmen. Den Wolf sah er jetzt nicht mehr, aber sein Geruch war noch da und stieg ihm in die Nase. Er begann zu zittern, wie seine Mutter damals im Fieber gezittert hatte.
Tagelang hatte sie im Fieber gelegen, fantasiert und war sehr krank gewesen. Der Arzt, den man hinzuzog, berichtete, dass er einer Gruppen von Jägern begegnet war, aber keiner hatte einen Wolf gesehen, nachdem seine Mutter einen erblickt hatte. Schließlich begann man zu glauben, dass es Fieberfantasien waren, dass sie da schon krank gewesen war.
Sie hatte aus dem Fenster geschaut, als sie ihm davon erzählte. Sie richtete sich auf, als sie unvermittelt wütend wurde.
»Sie haben mir nicht geglaubt. Anfangs schon, aber dann haben sie gesagt, ich hätte mir das Ganze nur eingebildet. Sie sind eingeschnappt gewesen, weil sie mehrere Tage damit vergeudet hatten, im Wald herumzulaufen und nach Wölfen zu suchen. Das war während der Heuernte und dann gab es Regen und ein Teil der Ernte war verdorben. Ich glaube, sie haben mir die Schuld daran gegeben.«
Er sank zusammen, ließ aber nicht los. Draußen war jetzt alles still. Das Scharren hatte aufgehört. Er betrachtete seine blassen verkratzten Hände, sah sie im Dunkeln und sie brannten.
Dann erklang aus seinem Inneren ein rhythmisches Kauen von großen gemächlichen Kiefern, ein Rasseln von Ketten und Rascheln von Halmen und vor seinen Augen füllte sich der Stall wieder mit Leben. Er sah die braunen Pferderücken und ging auf sie zu. Sie standen in ihren Boxen, die Köpfe zusammengesteckt, sodass er, als er sich zum ersten hineingezwängt hatte, auch das Pferd erreichen konnte, das ihm gegenüber stand. Stroh und Pferdeäpfel bedecken den Boden. Den Rücken dicht an der Wand ging er in die Hocke und der große Kopf des Pferdes senkte sich zu ihm herab. Er blieb in der Hocke und ließ das Pferd schnuppern und die Luft aus seinen Nüstern war warm und süß. Ruhe breitete sich in ihm aus und machte seinen Kopf schläfrig träge.
Er dachte, dass er nach Hause gehen wollte. Er würde zur Tür hinausschlüpfen und laufen, laufen, das Gras würde trocken und nachgiebig sein und er würde nicht ausrutschen oder sich verletzen, er würde so lange laufen, bis er zu seinem eigenen Haus gelangte. Es lag ziemlich weit weg, aber er würde nicht schlappmachen, und wenn er nach Hause kam, würde die Katze am Gatter liegen und die Kätzchen bei ihr trinken, sie würden sich an ihren weißen Bauch drängen und die Katze würde sanft schnurren und ihre Jungen ablecken.
Kommt rein, würde er müde nach seinem Lauf keuchen, und dann würde die Katze aufstehen und ihm ins Haus folgen und die Kätzchen ihr folgen, alle vier würden ins Haus gehen und sich auf das Sofa legen und er läge dann mit einem Kissen unter dem Kopf auf dem Rücken, während die Kätzchen neben ihm Platz nahmen. Sodass er sie jederzeit berühren und dabei spüren könnte, dass sie lebten.
Er hörte das Auto, stand an dem mit Spinnweben bedeckten Fenster und sah sie zum Haus hinauffahren. Den Mann und die Frau. Das passte ihm nicht, nicht jetzt. Er warf den Kopf in den Nacken. Seine Haare wurden nach hinten geschleudert, fielen ihm aber gleich wieder in die Stirn. Er stand da und hielt einen alten, krummen Nagel in der Hand, der sich in seinen Daumenballen bohrte, Rost und Blut.
Die Frau trug ein buntes Kleid. Ihre Schultern waren gebeugt und nackt, sie ging barfuß durch das Gras. Ihr Körper war verändert, ein wenig eingefallen, und die glatten Haare hingen ihr in die Augen.
Sie gingen beide ins Haus. Er dachte, dass er jetzt auch fast in ihrem Haus gewesen wäre. Das wäre nicht gut gewesen. Er hätte jetzt im Haus sein können, wenn er sich entschlossen hätte, ein Fenster aufzubrechen, wie er es schon einmal getan hatte. Es war nicht schwer gewesen. Wenn er die Katze im Haus vermutet hätte, wäre er ihr gefolgt.
Damals hatte er sie in einem der Betten in der oberen Etage gefunden. Er nahm zwei Kissen mit, die er in sein eigenes Bett legte, weil er dachte, dass die Katze dann bei ihm bleiben würde.
Aber sie lief trotzdem weg.
Jetzt blieb er in der Scheune.
Es war staubig und die Sonne beschien die Wände und das vermodernde Zaumzeug.
Aber die Geräusche waren verstummt! Die Pferde kauten nicht mehr, verteilten ihr Gewicht nicht mehr auf drei Beine und hielten das vierte schonend gebeugt, waren nicht mehr in ihren Boxen, nur die Abdrücke im Holz von ihren Zähnen und alte Holzsplitter, die wie Sägespäne auf dem Boden lagen, waren übrig geblieben, jedoch keine Halme und auch keine Spuren von Rosshaar.
Er beugte sich vor und stützte sich dabei auf den Händen ab. Die Frau saß auf der Eingangstreppe, die Beine an den Bauch gezogen. Der Mann stand hinter ihr, abgewandt und stumm. Die Frau sprach. Er sah ihren Mund. Der Mann breitete die Arme aus und verschwand durch die Tür.
So stand er am Fenster, als sie plötzlich ganz dicht herankam, ihr Gesicht war auf einmal ganz nah und er sah den Mund und die steile Falte über der Nase. Ihr Gesicht hatte ihn immer unruhig gemacht. Sie saß mit gespreizten Beinen, sodass er ihre Knie und Schenkel sehen konnte und dass sie einen weißen Slip trug. Nein, ihr Gesicht hatte ihm niemals Ruhe eingeflößt, ebenso wenig wie ihr Körper. Eine verbissene Sehnsucht hatte sich in ihm festgesetzt, nicht die Art von Sehnsucht wie nach Kaarina, sondern eher eine Art Abscheu, ein Schmerz. In manchen Nächten hatte er sich vorgestellt, sie wäre in seinem Zimmer und sie hatte frech gelacht und dabei ihre Zähne gezeigt und sich über ihn gebeugt, sodass die Brüste sich an seinem Hals rieben. Er hatte nach ihnen geschnappt und sie an sich gezogen. Daraufhin wand sie sich und kämpfte und er musste sie festhalten. Sie war stark und zäh, aber er war stärker. Aus ihrem Mund waren Spucke und harte Worte gekommen und er hielt ihn zu, und als er das tat, dachte er an Holger, an Holger und Kaarina. Anschließend, wenn sie sich wieder beruhigt hatte und gefügig und still auf dem Bett lag, zog er sie aus.
Er fragte sich, wie sie wohl hieß. Er hatte den Mann nach ihr rufen hören und es war ein kurzer und ungewöhnlicher Name gewesen, den er nicht behalten konnte. Er hatte ihn vorher noch nie gehört.
Sie saß jetzt auf der Treppe und der Mann kehrte zurück und sie hielten Gläser in den Händen und tranken. Ja. Sie tranken.
Dann sah er die Katze. Sie stand am Fuß der Treppe und im Gras wirkte sie klein und grau. Er ging zur Scheunentür und öffnete sie. Die Katze würde ihn dort stehen sehen, sie würde zu ihm kommen und ihre Jungen dabei haben.
Danach ging alles so schnell, dass ihm gar nicht die Zeit blieb zu begreifen, was mit ihm geschah.
Seine Hände schossen nach vorn, weiche Haut und Schrammen, er musste zudrücken, musste die Luft hindern.
Aber es war zu spät.
Er wurde zu sehr überrumpelt.
Eisen blitzte auf, und er nahm eine pulsierende Dunkelheit wahr.
Dann war es vorbei.
Schon als sie auf den Hof vor ihrem Haus bogen, wussten sie, dass sich in den wenigen Stunden, die sie fort gewesen waren, etwas ereignet hatte. Es war nichts Greifbares, nichts Sichtbares, nur eine Ahnung, etwas Dumpfes und Lauerndes. Beth kratzte sich mit den Fingernägeln über den Oberschenkel, am ganzen Körper brach ihr der Schweiß aus.
»Ulf . . .«, sagte sie, als ob er, nur weil er ein Mann und zwei Jahre älter war als sie, augenblicklich wissen müsste, was los war und was sie zu tun hatten.
Er antwortete nicht. Sie sah seine leicht nach oben geschwungenen Mundwinkel, die Andeutung eines Lächelns, was allerdings nicht bedeutete, dass er wirklich lächelte. Sein Mund verriet nichts über seine Gemütsverfassung, er war einfach schon so geboren, mit leicht nach oben geschwungenen Mundwinkeln. Anfangs hatte sie sich dadurch täuschen lassen, als sie sich noch beschnupperten und in sich hineinhorchten. Mittlerweile wusste sie Bescheid.
Sie wiederholte seinen Namen.
»Ulf, da ist was. Was ist das? Ich habe Angst.«
Der Mann an ihrer Seite schaltete den Motor aus. Gemeinsam starrten sie das Haus an, das vor ihnen im Grünen stand, idyllisch gelegen und rot wie der Prototyp eines wahren Sommerparadieses. Es sah alles aus wie immer. Die Tür war noch verschlossen wie bei ihrer Abfahrt, die Gardinen hingen glatt herab. Beth hatte Gräser gepflückt, hohe schaukelnde Rispen, und auf der verglasten Veranda in eine Vase gestellt. Die Trockenheit hatte alle Wiesenblumen verdorren lassen, nur ein paar kümmerliche Glockenblumen und die zähe, weiße Schafgarbe waren geblieben. Man musste ein ganzes Stück in Richtung Kahlschlag gehen, um sie zu finden.
Gräser gab es überall. Und Gräser waren schön.
Ulf räusperte sich und fuhr sich durch die Haare.
»Das bildest du dir nur ein«, murmelte er, aber ohne Nachdruck.
Sie hatten einen Ausflug nach Tidaholm gemacht. Am frühen Nachmittag waren sie losgefahren und obwohl sie die dortigen Geschäfte und ihr Angebot bereits kannten, nahmen sie sich dennoch die Zeit, erneut in ihnen zu stöbern. In einer Boutique am Marktplatz fand Beth ein türkisgrünes schulterfreies Sommerkleid. Alle Preise waren reduziert, außer bei den Kleidern, die ganz hinten im Geschäft unter einem handgemalten Schild mit der Aufschrift »Die neue Herbstmode« hingen. Das Kleid war um dreißig Prozent heruntergesetzt gewesen.
Es war ein heißer Sommer mit beißenden Gerüchen und verbrannter Erde. Im Radio wurden Reportagen über Waldbrände gesendet, die jedoch nicht in ihrer Gegend ausgebrochen waren, sondern in den Wäldern um Kalmar und Växjö. Beth in ihren Shorts, er hatte über ihre Shorts gelacht, nicht hart, sondern liebevoll, darin siehst du aus wie ein Kind, ein ganz kleines Mädchen.
Doch. Sie deutete es so.
Aus Liebe.
Das Gras war strohig und braun, regelrecht zermalmt, schoss es ihr beim Anblick des Grases auf dem gewölbten Dach des Vorratskellers durch den Kopf. Am Vormittag waren sie dort hochgeklettert, hatten sich an den Grassoden hochgezogen, im Gras gestanden und die hochstrebenden Zweige heruntergezogen. Kleine schwarze Kirschen, manche ein wenig verschrumpelt, aber süß, mit einem etwas faden Beigeschmack, weil der Baum schon so alt war. Man bekam Blähungen von ihnen und musste aufstoßen.
Sie rutschte auf dem Po herunter und begutachtete ihre Shorts. Ulf stand noch oben.
»Das gibt Flecken«, hörte sie ihn sagen und obwohl seine Stimme nun eine Spur gereizt klang, wollte sie nicht hören.
Sie ging zur Scheune. Das Gras piekste unter ihren Füßen. Sie hatte dort nichts zu erledigen, wurde nur plötzlich von dem Bedürfnis getrieben, sich zu bewegen, so als könnte sie ihm einfach nicht mehr so nahe sein.
Keinem Menschen.
Die Katze, eine kleine grauweiße Löwin, kam ihr entgegen. Miauend, auffordernd. Jeden Tag kam sie zu ihnen, jeden Morgen, wenn sie auf die Eingangstreppe hinaustraten, lief sie durch das taufeuchte Gras zu ihnen. Es sah lustig aus, wenn sie heftig die Pfoten schüttelte, um die Nässe loszuwerden. Beth taufte sie Lioness, worüber Ulf sich köstlich amüsierte. Lioness, das ist doch eine gewöhnliche Hauskatze, siehst du das nicht. Sie heißt ganz anders, man hat sie bestimmt Stina oder Maja getauft, wenn überhaupt . . . auf dem Land haben sie ihre eigenen Namen und Traditionen. Kein Mensch gibt einer Katze den Namen Lioness.
Als ob er das so genau wüsste.
Es war keine streunende Katze, das sah man ihr an. Sie war bestimmt auf einem Bauernhof in der näheren Umgebung zu Hause, aber offensichtlich gefiel es ihr bei ihnen besser. Beth verstand nicht ganz, warum, denn sie ließen die Katze nie ins Haus. Jetzt schmiegte sie sich an ihr Bein und Beth fühlte das kühle, weiche Fell. Vorgestern hatte sie sich die Waden rasiert, aber die Haarstoppel sprossen schon wieder und es kratzte.
»Ich darf dich leider nicht streicheln«, flüsterte sie. »Ich wünschte, ich könnte dich streicheln, das würde ich gern, am liebsten würde ich dich auf den Arm nehmen und dir die ganzen blöden Zecken aus dem Fell zupfen. Du würdest auf meinem Schoß liegen und weich sein und dein kleiner Motor würde anspringen, und ich würde deinem Motor lauschen und so ruhig und stark werden wie du.«
Wenn sie mit Katzenhaaren in Kontakt kam, schwoll ihr Gesicht an und ihre Nase begann zu laufen.
»Lioness«, flüsterte sie. Die Katze betrachtete Beth stumm und regungslos, ihre gelben Augen waren wie Gläser mit schwarzen Furchen. Sie sahen die Katze oft mit einer Maus oder Wühlmaus aus dem Wald kommen. Die Maus war dann immer schon tot, das abstoßende Spiel mit den ausgefahrenen Krallen war ihnen bislang erspart geblieben. Sie schlich mit ihrer Beute stets hinter die Scheune. Wenn Beth Brennholz holte, hörte sie die Katze dort knirschen und schmatzen.
Eines Vormittags Anfang des Sommers hatte Lioness etwas dabeigehabt, das sie auf den Steinplatten vor der Treppe ablegte. Es bewegte sich und piepste. Dann bemerkten sie, dass ihre Körperform sich verändert hatte. Ihr Bauch war eingefallen und das Fell dünn und stumpf geworden.
In der Nacht hatte sie zwei Junge geboren.
Das Haus hieß Waldesglück und war um 1900 erbaut worden. Es war ein typisches Landhaus mit zwei Etagen und war rot mit weißen Giebeln. Beths Großeltern mütterlicherseits hatten hier gelebt und ihre Mutter war auf dem Tisch in der großen Küche geboren worden.
Als Kinder waren Beth und ihre ältere Schwester Juni von dem Gedanken fasziniert gewesen, dass ihre Mutter auf der gleichen braunen Holzfläche zur Welt gekommen war, auf der jetzt ihre Teller standen. Das Schlucken fiel ihnen dann schwer und sie bekamen das Essen nicht mehr herunter und mussten es heimlich mit der Zunge wieder rausdrücken und in ihren Servietten verstecken.
Auf einem Tisch gebären. Wie unwirklich!
Beth brachte ihre Zwillinge im Kreißsaal des Karolinska Krankenhauses zur Welt. Im Oktober wären sie sieben geworden.
»Was sollen wir heute unternehmen, Ulf?«, hatte sie an diesem Morgen zum Kellerdach hinaufgerufen. »Sollen wir nach dem Mittagessen etwas unternehmen, was meinst du? Wollen wir irgendwohin fahren?«
Ihre Kopfhaut juckte und sie rieb mit den Fingerknöcheln darüber, weil sie Angst hatte, sich sonst die Haut aufzukratzen. Eigentlich musste sie sich die Haare waschen, aber es war so umständlich. Der Boiler hatte den Geist aufgegeben und sie schafften es einfach nicht, ihn reparieren zu lassen. Also musste sie Wasser in dem großen Aluminiumkessel erhitzen, es dann in Eimer umfüllen und diese auf die Treppe hinaustragen. Ganze Fliegenschwärme wurden angelockt, wenn sie vorgebeugt und mit nassen Haaren auf dem Hof stand, nichts sehen konnte und nur die krabbelnde Berührung von Saugrüsseln und Insektenbeinen spürte.
»Ja, können wir machen«, sagte er lustlos. »Wir können einen kleinen Ausflug machen.«
Fast täglich nahmen sie den Wagen und fuhren in eine der kleinen Ortschaften in der Umgebung, kauften Zeitungen, Zigaretten, Wein. Die Stille, die das Haus umgab, vertrieb sie, sie waren eine solche Stille nicht gewohnt, ebenso wenig wie ihre eigenen Laute und Stimmen, die plötzlich so deutlich wurden. Eine nagende Rastlosigkeit breitete sich in ihnen aus, je länger der Tag dauerte, und sie nahmen Zuflucht in den Geschäften der Umgebung und kauften eine ganze Reihe von Dingen, die sich später als vollkommen überflüssig erwiesen wie zum Beispiel der elektrische Grill. Keiner von ihnen konnte sonderlich gut grillen, und wenn sie dann gelegentlich doch grillten, war das Ergebnis oft genug enttäuschend: faseriges Fleisch mit schwarzer Oberfläche – oder das Gegenteil, so blutig, dass es praktisch noch roh war.
Eigentlich ist es ja tote Materie, dachte Beth dann immer.
Sie wusste, dass der Verwesungsprozess in einem Körper schon kurz nach dem Eintritt des Todes begann, dass man schon nach gut zwei Stunden den faden Leichengeruch wahrnehmen konnte. Warum geschah mit geschlachteten Tieren nicht das Gleiche? Warum begannen sie nicht sofort zu verwesen? Wurden sie mit einer speziellen Methode behandelt, damit der Prozess hinausgezögert wurde? Sie hatte sich nie getraut, jemanden danach zu fragen, weil sie Angst hatte, wunderlich zu erscheinen.
Jetzt waren sie wieder zurück. Sie blieben noch einen Moment im Auto sitzen und Beth wiederholte ihre Worte. Ich habe Angst, Ulf, da stimmt doch was nicht, ich habe Angst. Sie hörte ihn atmen. Sein Körper war groß und unmittelbar neben ihr, ich liebe dich, dachte sie, du darfst mich niemals verlassen, niemals.
»Komm!«, sagte er. »Wir gehen rein.«
Eine Schwalbe durchschnitt die Luft und berührte fast die Motorhaube. Wenn ihre Küken so weit waren, das Nest zu verlassen, waren die Schwalben manchmal regelrecht aggressiv. Eines Morgens hatte eine Schwalbe Beths Gesicht attackiert, aber als sie es anschließend Ulf erzählte, glaubte er ihr nicht.
»Komm«, wiederholte er.
Sie stiegen aus dem Wagen, ließen die Türen jedoch einen Spalt weit offen stehen. Schneidende Angst erfasste Beths Körper, breitete sich von den Kuhlen der Handteller die Arme hinauf und weiter in Bauch und Rückgrat aus. Sie suchte in ihrer Tasche nach dem Hausschlüssel, er war ganz nach unten unter ihren Taschenkalender gerutscht. Sie reichte ihn Ulf.
»Mach du auf!«, sagte sie.
Als sie das Wohnzimmer betraten, wurde ihnen klar, dass ihr Gefühl sie nicht getrogen hatte. Es war jemand da gewesen. Das Fenster zum Wald stand sperrangelweit auf, es war nicht beschädigt oder aufgebrochen worden, sondern stand nur auf und wurde durch einen Haken festgehalten.
Ulf blieb auf der Schwelle stehen und hielt sich am Türrahmen fest, als befürchte er ein Nachbeben.
»Als du letztens die Fenster geputzt hast«, sagte er langsam, »musst du vergessen haben, sie wieder ordentlich zuzumachen.«
»Nein«, erwiderte sie automatisch.
»Aber jemand hat es geöffnet und ist vielleicht sogar hereingeklettert.«
Sie schüttelte den Kopf.