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Der Tod kennt keine Zufälle
Tödliche, scheinbar zufällige Unfälle fordern täglich Menschenleben. Doch wie viele davon sind Morde, verübt von einer Gruppe von eiskalten Killern, deren Spezialität es ist, jede noch so kleine Spur zu vertuschen? Beim Versuch, eine Unschuldige zu beschützen, gerät Ex-Cop Hardie ins Visier dieser Geheimorganisation, die scheinbar ganz Amerika unterwandert hat. Das Anwesen in Hollywood, das er bewachen soll, wird zur Todesfalle, und er muss alle Register ziehen, um nicht das nächste »Unfallopfer« zu werden.
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Seitenzahl: 395
Scheinbar zufällige, doch tragische Unfälle fordern täglich Menschenleben. Aber wie viele davon sind Morde, verübt von einer Gruppe eiskalter Killer, deren Spezialität es ist, jede noch so kleine Spur ihres Attentats zu vertuschen? Eigentlich scheint es für den Ex-Cop Charles Hardie ein ganz normaler Auftrag zu sein. Er soll ein Anwesen in den Hügeln von Hollywood bewachen, solange der Besitzer auf Geschäftsreise ist. Die Situation ändert sich dramatisch, als sich die bekannte Schauspielerin Lane Madden in die Villa flüchtet. Sie behauptet, Unbekannte hätten ihren Wagen von der Straße gedrängt und sie unter Drogen gesetzt. Offenbar wollten die Killer einen für den rasanten Hollywood-Lebensstil so typischen Verkehrsunfall mit tödlichem Ausgang vortäuschen. Hardie glaubt ihr zunächst kein Wort – bis er erkennen muss, dass das Anwesen tatsächlich von professionellen Attentätern umstellt ist.
»Der perfekte Thriller. Eine schnörkellose, dichte Sprache mit dem hämmernden Rhythmus einer kalifornischen Punkband auf Crystal Meth.«
Simon LeBon (Duran Duran)
Der Bewacher ist der packende Auftakt einer dreibändigen Thrillerserie um Charles Hardie.
Duane Swierczynski wurde 1972 in einem Vorort von Philadelphia geboren. Er war Redakteur des Philadelphia City Paper. Neben einer Reihe von Kriminalromanen, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde, schrieb er Sachbücher und Comics. Duane Swierczynski lebt mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen in Philadelphia.
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Für David Thompson
Che sempre l’omo in cui pensier rampolla sovra pensier, da sé dilunga il segno perché la foga l’un de l’altro insolla
DANTE, PURGATORIO: CANTO V, 16–18
You’re the type of guy who gets suspiciousI’m the type of guy who says the pudding is delicious
LL COOL J, »I’M THAT KIND OF GUY«
Das schrille Quietschen von Reifen auf Asphalt.
Die Schreie …
Seine.
Deine eigenen.
Und dann …
Los Angeles – heute
It’s all fun and games until someone loses an eye.
REDENSART
Sie war gerade erst nach Los Angeles gezogen, als sie zufällig die Decker Canyon Road entdeckt hatte. Irgendwo bei Malibu war sie vom Pacific Coast Highway abgebogen und einen Berg hinaufgerast, und dann die zwanzig Kilometer übelkeiterregender Serpentinen und Haarnadelkurven bis nach Westlake Village. Es war großartig gewesen! Die Hände am Lenkrad des Sportwagens, den sie sich von ihrer ersten richtigen Filmgage gekauft hatte. Denn das machte man doch, oder? Etwas von dem Geld für ein überteuertes, aufgemotztes Cabrio zu verbraten, das bei hundertzehn Sachen seinen Spoiler ausfährt. Es war ihr egal gewesen, dass sie fast fünfzig Stundenkilometer schneller fuhr als auf dieser Straße angemessen gewesen wäre. Sie genoss die Meeresluft, die ihr ins Gesicht blies, die Vibration der Reifen, die kaum noch den Boden berührten, das Brummen des Fahrzeugs, das ihren Körper umgab, und das Wissen, dass eine falsche Bewegung nach links oder rechts ihr nagelneues Auto mitsamt ihrem nagelneuen Leben auf den Grund einer Schlucht befördern würde. Und Jahre später würden sich die Leute vielleicht fragen: Was ist eigentlich aus dieser hübschen Schauspielerin geworden, die in diesen witzigen romantischen Komödien mitgespielt hat? Damals hatte es ihr Spaß gemacht, die Decker Canyon Road entlangzufahren, denn es hatte das Durcheinander in ihrem Kopf fortgeblasen. Das Leben war auf ein simples, berauschendes Ja oder Nein, Null oder Eins, Leben oder Sterben zusammengeschrumpft.
Doch jetzt raste sie die Decker Canyon Road hinauf, weil sie nicht sterben wollte.
Die Scheinwerfer kamen immer näher.
Der Scheißkerl hatte angefangen, sie zu jagen, als sie vom Pacific Coast Highway auf die Route 23 gebogen war. Er hatte den Motor aufheulen und das Fernlicht aufblitzen lassen und sich an ihre Stoßstange gehängt. So dass sie gezwungen war, auf über neunzig Sachen zu beschleunigen, während sie zu Gott betete, dass der Platz reichte, um die nächste Haarnadelkurve zu nehmen. Dann, ohne jede Ankündigung, ließ er sich zurückfallen und verschwand … aber nur scheinbar.
Die Straße hatte keinen Seitenstreifen.
Und auch keine Leitplanken.
Offensichtlich wusste er das und wollte ihr solch einen Schreck einjagen, dass sie das Steuer verriss.
Ihr Handy lag auf der Mittelkonsole. Dort war es völlig nutzlos. Die Sekunden, die es dauerte, den Notruf zu wählen, wäre sie abgelenkt. Mit möglicherweise fatalen Folgen. Außerdem, was sollte sie denen erzählen? Schicken Sie jemand zur Route 23, zur siebzehnten Haarnadelkurve von der Mitte aus gesehen? Nicht mal die State Police fuhr hier oben Streife, sie verteilte ihre Strafzettel lieber draußen an der Kanan Road oder der Malibu Canyon Road.
Nein, sie behielt besser die Straße im Auge und die Hände am Steuer, wie Jim Morrison mal gesungen hatte.
Andererseits, Jim war in einer Badewanne gestorben.
Die Scheinwerfer blieben hinter ihr. Alle paar Sekunden dachte sie, sie hätte ihn abgehängt oder er hätte es aufgegeben, oder – lieber Gott, bitte bitte bitte – er wäre über eine Bodenwelle gefahren und in die Schlucht gestürzt. Doch jedes Mal, wenn sie glaubte, er wäre verschwunden … tauchte er wieder auf. Wer auch immer hinter dem Lenkrad saß, scherte sich einen Scheiß darum, dass sie sich auf der Decker Canyon Road befanden, wo eine falsche Bewegung mit dem Lenkrad bedeutete, dass man bei Gott die Rechnung bestellen konnte.
Inzwischen hatte sie drei Kilometer zurückgelegt; fünfzehn lagen noch vor ihr.
Ihren Boxster hatte sie schon lange nicht mehr; sie hatte ihn vor drei Jahren nach einem Unfall in Studio City in Zahlung gegeben. Sie fuhr jetzt einen Wagen, der zu ihrem Alter passte – einen geleasten Lexus. Einen Wagen für Erwachsene. Ein tolles Fahrzeug. Doch als sie jetzt in der Dämmerung um diese unglaublich engen Kurven fuhr, wünschte sie sich ihren Boxster zurück.
Die Decker Canyon Road war für zwei Dinge bekannt: für die verrosteten Fahrgestelle, die über die Hügel verstreut waren, und die erstaunliche Tatsache, dass selbst umsichtigen Fahrern übel wurde, die lediglich versuchten, Westlake Village heil zu erreichen.
Ihr war kotzübel, allerdings wusste sie nicht, ob es an der Straße lag oder an den Ereignissen der letzten Tage. Vor allem der letzten paar Stunden. Sie hatte kaum etwas gegessen, kaum geschlafen. Ihr Magen fühlte sich ganz rau an.
Sie war im Gespräch für einen Film gewesen, der eine todsichere Sache zu sein schien: Produzenten, Regisseur, Autor und Hauptdarsteller waren bereits an Bord, das Ja des Studios war nur noch reine Formsache. Es war zwar nur eine Nebenrolle, doch so einen prestigeträchtigen Film hatte sie seit Jahren nicht mehr gedreht. Mit so einer Rolle würden die Leute wieder auf sie aufmerksam werden: Wow, da spielt sie mit? Ich hab mich schon gefragt, was aus ihr geworden ist. Und dann hatte sich alles in nicht mal einer Stunde zerschlagen.
Fast die ganze letzte Woche hatte sie in ihrem Apartment in Venice verbracht, vor sich hingebrütet, hatte kaum etwas gegessen und getrunken, und auch den Fernseher nicht eingeschaltet – Gott bewahre, wenn eine ihrer Scheißproduktionen liefe, oder, noch schlimmer, irgendeine Scheißproduktion, für die man sie nicht hatte haben wollen.
Also war sie heute Abend zu einer langen nächtlichen Spazierfahrt aufgebrochen. Genug gegrübelt. Sie hoffte, dass die Meeresluft ihre trüben Gedanken fortfegte. Ja, am besten den Großteil der letzten drei Jahre …
Da tauchten die Scheinwerfer wieder auf. Sie kamen auf sie zugeschossen, klebten förmlich an ihrer Stoßstange.
Anzahl der Autounfälle pro Jahr: 43 200.
Sie trat aufs Gaspedal und riss das Lenkrad herum und schaffte mit qietschenden Reifen – knapp – die nächste Serpentine.
Der Mistkerl blieb direkt hinter ihr.
Am schlimmsten war, dass sie jenseits ihrer Scheinwerfer kaum etwas erkennen konnte und blitzschnell eine Entscheidung nach der anderen treffen musste. Es gab keine freie Fläche, um rechts ranzufahren und ihn vorbeizulassen. Falls er überhaupt vorhatte, sie zu überholen.
Sie fragte sich, warum sie annahm, dass es sich um einen Mann handelte.
Und dann fiel es ihr wieder ein. Na klar.
Sie wusste, dass die Decker Canyon Road irgendwo den Mulholland Highway kreuzte. Ja, dort stand sogar ein Stoppschild. Dort würde sie liebend gerne halten und ihm beide Stinkefinger zeigen, während er vorbeifuhr.
Wie weit war es bis dahin noch? Sie konnte sich nicht erinnern. Es war Jahre her, dass sie auf der Straße unterwegs gewesen war.
Die Fahrbahn schlängelte, wand und krümmte sich und stieg weiter an, die Reifen klammerten sich an den Asphalt, so gut sie konnten, während die Scheinwerfer hinter ihr auf und ab tanzten und hin und her schlingerten, als würde sie von einer gigantischen elektrischen Wespe verfolgt werden.
Schließlich wurde die Straße flacher – etwas, an das sie sich jetzt wieder erinnerte. Von hier verlief sie vierhundert Meter gerade durch ein Tal, dann folgten erneut mehrere halsbrecherische Kurven, hinauf ins nächste Tal. Kurz nachdem sie die ebene Strecke erreicht hatte –
… trat sie aufs Gas …
100, 110, 120
… die elektrische Wespe fiel weiter zurück …
130
Ha, fick dich!
Sekunden später erreichte der Lexus die nächsten Serpentinen; sie musste jetzt nur noch durch die Kurven schlingern und den Abstand vergrößern. Sie trat auf die Bremse, aber nur leicht – denn sie wollte nicht an Schwung verlieren.
Doch mitten in der Kurve tauchten die elektrischen Augen wieder auf.
Verdammt!
Er blieb direkt hinter ihr, in jeder Kurve, bei jedem Wendemanöver. Es schien, als machte der Wagen da hinten sich über sie lustig. Was du auch tust, ich kann es besser.
Als sie in der Ferne schließlich das rot schimmernde Stoppschild am Mulholland Highway erblickte, sagte sie sich, scheiß drauf. Setzte den Blinker. Drosselte das Tempo. Und bog auf den schmalen Randstreifen, der jetzt neben der Straße auftauchte. Los, fahr vorbei. Ich halte. Halte und schreie vielleicht ein bisschen, mir reicht’s. Vielleicht merke ich mir auch dein Kennzeichen. Und rufe doch noch die Highway Patrol an, du rücksichtsloses Arschloch.
Rutschend kam sie mit dem Lexus zum Stehen. Zum ersten Mal seit sie den Pacific Coast Highway verlassen hatte, was ihr wie eine Ewigkeit vorkam.
Der Wagen, der sie verfolgt hatte, hielt neben ihr.
Scheiße.
Sie griff nach ihrem Handy und drückte gleichzeitig die Zentralverriegelung. Offensichtlich handelte es sich bei dem anderen Wagen um einen beschissenen Chevy Malibu, ausgerechnet. In irgendeinem hellen Farbton – das konnte man in der Dunkelheit nicht genau erkennen. Der Fahrer stieg aus, sah über sein Dach hinweg zu ihr herüber und forderte sie mit einer Geste auf, das Fenster runterzulassen.
Mit dem Telefon in der Hand hielt sie einen Moment inne, dann kam sie seiner Bitte nach. Und betätigte den elektrischen Fensterheber. Die Scheibe fuhr fünf Zentimeter herunter.
»Hey, alles okay?«, rief der Mann. Sie konnte zwar sein Gesicht nicht erkennen, doch er hatte eine junge Stimme. »Gibt’s Probleme mit dem Wagen?«
»Alles bestens«, sagte sie ruhig.
Er ging um die Vorderseite seines Autos herum und kam langsam näher.
»Schien, als hätten Sie Probleme. Soll ich Hilfe rufen?«
»Ich telefoniere gerade mit den Cops«, log sie. Sie hatte den Finger auf der 9 und verharrte dort. Los, drück schon, redete sie sich zu. Und dann zweimal die 1. Du schaffst es. Sollte der Typ eine Schrotflinte zücken und dich erschießen, werden deine letzten Minuten wenigstens digital aufgezeichnet.
»Was zum Geier sollte das? So an meiner Stoßstange zu kleben?«
»An Ihrer was? Wovon reden Sie überhaupt? Ich habe auf der Straße die ganze Zeit niemanden gesehen, bis Sie gerade abgebremst haben. Ich wäre Ihnen fast hinten draufgeknallt!«
Der Typ klang ziemlich glaubwürdig. Andererseits, L. A. wimmelte von Menschen, die dafür bezahlt wurden, glaubwürdig zu klingen.
»Schön, lassen wir die Polizei das klären.«
»Okay«, sagte der Mann und blieb stehen. »Ich warte in meinem Wagen, falls Sie nichts dagegen haben. Es ist etwas unheimlich hier, so weit draußen.«
Sie konnte es sich nicht verkneifen – sie warf ihm einen vernichtenden Was-Sie-nicht-sagen-Blick zu.
Doch das war ein Fehler, denn jetzt schaute er sie an – und zwar ganz genau. Er hatte sie erkannt. Seine Augen leuchteten auf, und seine Mundwinkel verzogen sich zu einem wissenden Lächeln.
»Sie sind Lane Madden. Ist nicht möglich!«
Na klasse. Jetzt war sie nicht mehr irgendeine anonyme wütende Frau auf der Decker Canyon Road. Jetzt musste sie ihre übliche Rolle spielen.
»Hören Sie, mir geht’s gut, wirklich«, sagte sie. »Fahren Sie weiter. Ich hab mir das alles wohl nur eingebildet.«
»Äh, verstehen Sie mich nicht falsch, aber dürfen Sie überhaupt hinterm Steuer sitzen?«
Lanes Gehirn brüllte: Arschloch.
»Mir geht’s gut.«
»Wissen Sie, es macht mir nichts aus zu warten, wenn Sie die Polizei rufen wollen, wenn Sie die Sache melden, oder was immer Sie vorhaben.«
»Wirklich, mir geht’s gut.«
Offensichtlich hatte der Typ gemerkt, dass er mit seinen Anspielungen etwas zu weit gegangen war. Er lächelte verlegen.
»Als ich hierhergezogen bin, habe ich mir geschworen, dass ich nicht eines dieser Arschlöcher werde, die ständig um Autogramme bitten. So einer bin ich nicht. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich ein großer Fan Ihrer Filme bin.«
»Danke.«
»Und in natura sehen Sie noch viel besser aus.«
»Danke, wirklich sehr liebenswürdig.«
Für einen Moment herrschte peinliches Schweigen, dann verstand der Typ ihren Fingerzeig, lief zurück zur Fahrerseite seines Malibu und winkte ihr zaghaft zu, bevor er wieder in seinen Wagen stieg und in die dunkle Nacht verschwand.
Lane raste durch Westlake Village und dann auf den Freeway 101. Es war noch eine Stunde bis Tagesanbruch. Um diese Zeit war auf dem Freeway am wenigsten los. Sie atmete einige Male durch, bis sie einen klaren Kopf bekam. Wenn ihr Gehirn mit genügend Sauerstoff versorgt war, könnte sie über die ganze Sache vielleicht lachen. Denn irgendwie war es schon komisch, jetzt wo es vorbei war.
Irgendwie.
Der Malibu-Typ hatte sie gar nicht verfolgt; er hatte bloß eine Spazierfahrt auf der Decker Canyon Road gemacht – nur zum Vergnügen, so wie sie. Es hatte allerdings so gewirkt, als hätte er es auf sie abgesehen. Tja, er war offensichtlich nur ihrem Beispiel gefolgt. Lane Madden hatte eindeutig zu viele Actionfilme gesehen. Ja, in zu vielen davon mitgespielt.
Sie hatten sie am Cahuenga Pass in der Nähe des Barham Boulevard abgepasst – ein Team aus zwei Autos. Malibu hatte das bereits Dutzende Male gemacht. Seine Berufsbezeichnung: professionelles Opfer. Man spähte im Rückspiegel die Zielperson aus und absolvierte eine Reihe unscheinbarer Manöver, die nur ein echter Spitzenfahrer draufhatte. Eine leichte Drehung des Lenkrads, ein kurzer Tritt auf die Bremse, und ratzfatz, fertig war der Blechschaden. So was passierte ständig.
Das war der spaßige Teil. Was danach kam, war langweilig. Blutend im eigenen Wagen zu warten, bis die Highway Patrol eintraf und die Rettungssanitäter einen ins nächste Krankenhaus gebracht hatten. Natürlich war Malibu stocknüchtern, und als Fahrer hatte er eine blütenreine Weste, denn seine Daten wurden nach jedem Auftrag wieder gelöscht. Auf dem Computer erschienen lediglich Einträge zu seiner ehrenamtlichen Arbeit mit leukämiekranken Kindern (gefälscht) sowie zu seinen gemeinnützigen Wohnprojekten (ebenfalls gefälscht). Niemand würde ihn genauer unter die Lupe nehmen. Vielleicht würde man seinen Namen – ein Deckname, und er hatte viele davon – in ein, zwei Zeitungsartikeln erwähnen. Aber das Hauptaugenmerk würde sich auf die Schauspielerin richten.
Malibu hatte sie auf der Decker Canyon Road erledigen wollen, doch wie sich herausstellte, kannte sie die Strecke genauso gut wie er. Mit ein paar bewährten Tricks hätte er ihren süßen kleinen Arsch in den Canyon befördern können. Doch so war es nicht besprochen worden, also hatte er per Headset mit Mann telefoniert. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: nein. Die Sache sollte möglichst alltäglich wirken. Etwas, das kurz in den Schlagzeilen auftauchte, ohne dass weiter nachgehakt wurde.
Nein, besser, es wirkte, als wäre mal wieder irgendeine zugekokste Schauspielerin zu spät unterwegs gewesen und hätte die Kontrolle über ihren Wagen verloren.
Also war er ihr zum Freeway 101 gefolgt. Und jetzt hieß es: Showtime.
Malibu arbeitete gerne mit Schauspielern. Das war stets ein Vergnügen. Man wusste genau, was sie vorhatten, wie sie reagierten. Als hielten sie sich an ein Drehbuch. Sie glaubten, sie stünden über den Dingen –
»Danke, wirklich sehr liebenswürdig.«
– was die Sache umso befriedigender machte.
Lane näherte sich der Ausfahrt Highland Avenue – Hollywood Bowl. Es war immer noch schrecklich früh. Über L. A. lag eine blassgraue Wolkendecke. Von hier würde sie vielleicht zum Hollywood Boulevard runterfahren und dann den Sunset Boulevard zurück bis zum Pacific Coast Highway und weiter nach Venice. Dort würde sie sich eine große Tasse starken Kaffee machen – einen dieser kubanischen Espressos, die sie immer trank. Etwas von Neko Case auflegen, warten, dass ihr Agent aufwachte. Und ihre nächsten Schritte planen. Wenn das Leben aufhört, einem die Fresse zu polieren, jammert man nicht über die fehlenden Zähne. Sondern sucht einen verdammten Zahnarzt auf und richtet den Blick nach vorne.
Sie betätigte die Blinker, um die Spur zu wechseln, als sie vor sich erneut den Malibu bemerkte, Scheiße, der von der Decker Canyon Road. Als ihr das klar wurde – er bremst, er bremst, er bremst –, kam das Fahrzeug mit quietschenden Reifen abrupt zum Stehen.
Während die Motorhaube aus ihrer Verankerung gerissen wurde, wurde Lanes Körper nach vorne gegen die Windschutzscheibe geschleudert. Glas splitterte. Und der Airbag explodierte.
Aus einer Entfernung von etwa fünfzig Metern beobachtete Mann den Unfall. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, auf dem Seitenstreifen zu halten und einen jener freundlichen Mitbürger zu spielen, die sich anboten, einem bis zum Eintreffen der Polizei die Hand zu halten. Nur dass diese freundliche Mitbürgerin eine Spritze mit einem Speedball zücken und dem Opfer die Nadel in den Arm rammen würde. Keine Begrüßung, kein Gespräch, kein gar nichts. Nur Tod.
Der Speedball enthielt genug Heroin und Kokain, um einen Menschen von der Größe eines John Belushi zu erledigen; in schätzungsweise weniger als einer Minute würde er bei ihr zum Herzstillstand führen. Und wenn nicht, gab es auch noch exotischere Mittelchen, die sich schnell mit einer Spritze aufziehen ließen. Besser wäre allerdings ein reiner Speedball. Auf diese Weise würde Lane Madden sterben und zur Hölle fahren, bevor sie überhaupt mitkriegte, was passiert war. Der Teufel könnte ihr es dann erklären.
Für ein paar Momente war Lane wie betäubt. Ihr Körper teilte ihr mit, dass sie verletzt war, schwer verletzt, doch sie wusste nicht genau, wo. Die Signale kamen in ihrem Hirn nicht richtig an. Sie schaute sich um, versuchte sich auf visuellem Wege Klarheit zu verschaffen. Wenn sie es schaffte, die einzelnen Details zusammenzufügen, wüsste sie, was passiert war.
Auf ihrem Schoß lagen Glassplitter. Der Airbag war ihr ins Gesicht geknallt. Sie schob ihn ein wenig zur Seite. Ihr rechter Knöchel pulsierte. Ihr Fuß hatte sich irgendwie unter dem Bremspedal verklemmt.
Ein paar Meter vor sich konnte sie den Wagen sehen, den sie gerammt hatte, oder der sie gerammt hatte – sie war sich nicht sicher. Der Kopf des Fahrers hing über dem Lenkrad. Sie hoffte, dass sie ihn nicht getötet hatte.
Dann öffnete jemand ihre Fahrertür und schob den Airbag ganz zur Seite.
Als sie hinunterschaute, sah sie einen Handschuh mit Spritze.
Obwohl der Schock immer noch ihre Wahrnehmung dämpfte, wusste sie, dass die Spritze ein Detail war, das nicht hierhergehörte.
Die fremde Person packte ihr linkes Handgelenk, drehte es herum, jagte ihr die Nadel in die Armbeuge und drückte den Kolben herunter. Lanes Herz begann zu rasen. Himmel, was war in der verdammten Spritze? Vor ihren Augen verschwamm alles. Sie klammerte sich an den Beifahrersitz, spürte die kleinen, runden Glassplitter.
Lane nahm eine Handvoll davon –
– und schleuderte sie ihrer Angreiferin in die Augen.
Es ertönte ein fürchterlicher Wutschrei, und plötzlich wackelte die Spritze frei hin und her, baumelte von Lanes Arm. Sie zog sie heraus, warf sie fort und versuchte, aus dem Wagen zu kriechen. Inzwischen schlug ihre Angreiferin, ohne etwas zu sehen, wild um sich und hielt nach ihr Ausschau. Fluchte und beschimpfte sie.
Als Lanes Handflächen sich in den Asphalt des Freeway 101 gruben, merkte sie, dass sie ihren rechten Fußknöchel nicht bewegen konnte. Und das verdammte klobige Metallgewicht, das daran befestigt war, machte die Sache nicht leichter. Ihr Herz schlug viel zu schnell, ihre Haut war schweißnass. Alles um sie herum wirkte, als hätte man es in Mull gewickelt. Auf ihren Händen und dem einen gesunden Knie krabbelte sie zum Zaun am Rand des Freeway 101.
Und kletterte hinüber.
Kalifornien ist ein hübscher Schwindel.
MARC REISNER
Um 5.30 Uhr sollte das Fahrgestell eigentlich einsatzbereit sein, doch um 5.55 Uhr war klar, dass daraus nichts werden würde.
Der Chefpilot teilte den Passagieren mit, dass es ein Problem mit einem der Ventile gebe. Sobald der Schaden behoben und der Papierkram erledigt sei, würden sie Richtung L. A. starten. Höchstens noch fünfzehn Minuten. Eine halbe Stunde später erklärte er sinngemäß, dass er Blödsinn erzählt habe, der Schaden jetzt aber wirklich, ganz ehrlich, behoben sei und sie gegen 6.45 Uhr abheben würden. Dreißig Minuten später gab der Kapitän zu, dass er die Passagiere gründlich für dumm verkauft habe und dass sie wahrscheinlich um 8.00 Uhr starten würden – ein Sensor müsse ersetzt werden. Nichts Ernstes.
Nein, natürlich nicht.
Nachdem er zwei Stunden in einer schmalen Röhre bei lebendigem Leib geröstet worden war, folgte Charlie Hardie dem Rat des Flugpersonals und stieg aus, um sich die Beine zu vertreten. Zunächst stand er eine Ewigkeit mit knurrendem Magen herum, dann beschloss er, zur Bäckerei im Einkaufsbereich zwischen Terminal B und C zu marschieren. Hardie hatte genau einmal von seinem trockenen Bagel abgebissen, als die Durchsage ertönte: Flug 1417 ist jetzt abflugbereit. Alle Passagiere werden gebeten, sich unverzüglich zum Terminal B, Gate …
Als Hardie mit seinem Handgepäck zu seinem Platz zurückkehrte, hatte bereits jemand das Fach darüber belegt. Er schaute nach links und nach rechts auf der Suche nach einer Lücke, in die er seine Tasche zwängen konnte. Keine Chance. Alles eng zusammengepfercht. Genervte Passagiere versuchten sich im Gang an ihm vorbeizudrängeln, doch Hardie würde erst zur Seite treten, wenn er sein Handgepäck verstaut hatte. Er hatte es nicht mit dem anderen Gepäck aufgeben wollen. Und er hatte sich seinen Sitz sorgfältig ausgesucht, so dass er als einer der Ersten an Bord gehen konnte und auf jeden Fall ein freies Fach direkt über seinem Platz bekam. Es war ihm egal, was mit seinen anderen Sachen passierte, aber sein Handgepäck durfte er nicht aus den Augen verlieren.
»Alles in Ordnung?«, fragte eine sanfte Stimme.
Eine Flugbegleiterin – jung, lächelnd, mit zu viel Make-up – versuchte, den Stau in der Mitte der Maschine aufzulösen und zu verhindern, dass es zu einem Streit kam.
Hardie hielt seine Reisetasche in die Höhe.
»Ich suche hierfür nur einen Platz.«
»Ich kann das für Sie aufgeben.«
»Nein, kommt nicht in Frage.«
Die Flugbegleiterin starrte ihn an und bemerkte den Ausdruck wilder Entschlossenheit in seinen Augen. Für einen Moment wirkte sie besorgt, fasste sich dann aber schnell wieder.
»Warum schieben Sie die Tasche nicht unter Ihren Vordersitz?«
Das hatte Hardie früher schon mal versucht – bei seinem ersten Flug. Doch so eine scheißarrogante Flugbegleiterin hatte ihm irgendeinen Schwachsinn von wegen Höhe und Breite erzählt, und dass der Gang frei bleiben müsse.
»Sind Sie sicher, dass das erlaubt ist?«
Sie berührte sein Handgelenk und beugte sich zu ihm herunter. »Sonst würd ich’s Ihnen nicht vorschlagen.«
Der Flug verlief ruhig, eintönig, langweilig. Die Landung ebenfalls – in der frühen Morgendämmerung setzten sie sanft auf. Hardie war froh, dass er den schweren Teil jetzt hinter sich hatte. In ein paar Stunden würde er in der Wohnung eines Fremden seiner Arbeit nachgehen und sich in einen Zustand wohliger, alkoholgetränkter Selbstvergessenheit fallen lassen, so wie er das mochte.
Zu seinem Job als Haussitter war Hardie vor zwei Jahren ganz zufällig gekommen. Er wohnte damals in billigen Hotels, und der Freund eines Freundes musste beruflich nach Schottland, also hatte er Hardie gefragt, ob er sich um sein Haus eine Stunde nördlich von San Diego kümmern könne. Vier Schlafzimmer, Swimming Pool, im Garten mehrere Zitronenbäume. Hardie bekam fünfhundert Dollar pro Woche und hatte ein Dach über dem Kopf. Er hatte fast ein schlechtes Gewissen, das Geld zu nehmen, denn es gab nicht viel zu tun. Das Haus brannte nicht ab; und es versuchte auch niemand einzubrechen. Hardie schaute sich alte Filme an, auf DVD und im Fernsehen. Schüttete jede Menge Bourbon in sich hinein. Futterte Cracker. Machte hinter sich sauber und pinkelte nicht auf den Badezimmerboden.
Der Freund seines Freundes war zufrieden und empfahl Hardie anderen Freunden weiter – die eine Hälfte davon an der Westküste, die anderen an der Ostküste. Die Sache sprach sich herum; zuverlässige Haussitter waren schwer zu finden. Was Hardie so attraktiv machte, war seine frühere Tätigkeit für die Polizei. Bald schon hatte er so viele Aufträge, dass er nicht mehr im Hotel wohnen musste, sondern mit Koffer und Handgepäck unterwegs war. Was ihn im Grunde genommen zu einem Obdachlosen machte, auch wenn er in den elegantesten Wohnungen des Landes hauste. Wohnungen, für die ein einfacher Bürger ein ganzes Leben lang schuften musste.
Hardie hatte nichts weiter zu tun, als dafür zu sorgen, dass in die von ihm betreuten Objekte nicht eingebrochen wurde. Und dass sie nicht niederbrannten.
Ersteres war kein Problem. In der Regel machten Einbrecher einen Bogen um bewohnte Häuser. Außerdem kannte Hardie die üblichen Einstiegsmöglichkeiten, also vergewisserte er sich nach seiner Ankunft, dass alles dicht war – das Ganze dauerte nur ein paar Minuten – und dann … ja. Das war’s. Mehr »Arbeit« war nicht nötig. Er hatte seinem Agenten Virgil erklärt, dass er sich weder um Pflanzen noch um Tiere kümmere. Er sorgte nur dafür, dass nichts geklaut wurde.
Mit dem Feuer war das was anderes. Besonders während der Saison in Südkalifornien. Hardies letzter Einsatz an der Westküste war in Calabasas gewesen, er hatte dort auf das Haus eines Drehbuchautors aufgepasst, der in Deutschland für eine Comedy-Serie arbeitete. Während er sich mit Bourbon volllaufen ließ, hatte er die Nachrichten verfolgt: Ohne große Vorankündigung hatte der Wind gedreht, und eine Feuerwand kam direkt auf ihn zugerast.
Hardie konnte nichts tun, um das Haus zu retten. Also hatte er jeden Gegenstand, der für einen Autor wichtig sein könnte – Manuskripte, Notizen, Festplatten – in seinen Mietwagen verfrachtet. Er war noch damit beschäftigt, jeden verfügbaren Winkel damit vollzustopfen, als die Flammen den Garten erreichten. Auf die Motorhaube und seinen Kopf regnete Asche herab. Hardie schaffte es den Hügel hinunter zum Highway, während er im Rückspiegel verfolgte, wie das Feuer langsam das Haus verschlang. Beim Anblick des Rauches und der Hubschrauber musste er an den alten Punk-Song »Stukas Over Disneyland« denken. Die Tatsache, dass er damals eine Menge Bourbon intus hatte, ließ seine geglückte Flucht umso erstaunlicher erscheinen.
Denn das tat er, wenn er seine »Arbeit« erledigt und das Haus gesichert hatte – er ließ sich volllaufen und schaute sich alte Filme an. Sobald er der Handlung nicht mehr folgen konnte, wusste er, dass er sein Limit erreicht hatte. Dann stellte er die Flasche beiseite und schloss die Augen. Er musste sich keine Sorgen machen, dass er einen Einbrecher, die Sirenen oder sonst irgendwas überhörte. Denn der stets wachsame Reptilien-Cop-Bereich seines Gehirns ließ sich nicht abschalten. Darum, so glaubte Hardie, trank er so viel.
Ein echter Teufelskreis.
Nach dem Feuer in Calabasas und nachdem er wochenlang schwarzen Schleim gehustet hatte, hatte Hardie von Südkalifornien erst mal genug. Er nahm ein paar Jobs in New York, San Francisco, Santa Fe, Boston und sogar – während einer schrecklich schwülen Woche – in Washington an. Der Autor aus Calabasas war dankbar, dass Hardie es geschafft hatte, einen Großteil seiner Unterlagen zu retten, es war also nicht so, dass man ihm schlechte Noten ins Haussitter-Zeugnis geschrieben hätte. Im Gegenteil, er hatte inzwischen mehr Jobangebote, als er annehmen konnte. Seine Lebenshaltungskosten – Alkohol, gebrauchte DVDs, ein bisschen was zu essen – waren minimal. Den Rest seines Einkommens schickte er an ein Postfach in einem Vorort von Philadelphia.
Als dieses neue Angebot aus Kalifornien hereinkam, fand Hardie es in Ordnung, dorthin zurückzukehren. Das Haus lag mitten in den Hollywood Hills, und das Erdreich war genauso trocken wie letztes Jahr, wenn nicht trockener. Damals hatte es besonders viele Flächenbrände gegeben.
Außerdem jährte sich zum dritten Mal der Tag, an dem Hardies altes Leben geendet hatte, darum wollte er möglichst weit von Philadelphia entfernt sein. Ja, er wollte nicht mal in der Nähe der Ostküste sein.
Hardie bahnte sich seinen Weg aus der engen Röhre und versuchte im Gehen seinen schmerzenden Körper zu strecken. Doch man ließ ihn nicht. Hinter ihm drängten Körper vorbei, und von vorne stießen sie fast mit ihm zusammen. Er fühlte sich wie eine menschliche Flipperkugel. Am unteren Ende einer Treppe erreichte er das Gepäckband und wartetet darauf, dass oben die Koffer ausgespuckt wurden.
Neben ihm stand ein kleiner, etwa achtjähriger Junge, der die Hand seiner Mutter fest umklammert hielt. Jedes Mal, wenn sich hinter ihm zischend die automatische Tür öffnete, warf er einen Blick über die Schulter. Am anderen Ende der Gepäckausgabe stand eine junge Frau – dunkles Haar, hübsche Augen, eine altmodische Handtasche unterm Arm. Mit einem ihrer Stöckelschuhe wippte sie im Rhythmus eines sehr langsamen Songs.
Das Drehkreuz hörte gar nicht mehr auf zu rotieren.
Die Gepäckausgabe erinnerte Hardie immer an eine Ritterrüstung, schmutzig und verkratzt, wie von einem Ritter, der in eine Schrottpresse gefallen war.
Nach und nach wurden die Koffer ausgespuckt. Keiner davon sah wie Hardies aus. Links von ihm ertönte ein Schrei. Der kleine Junge rannte auf die Türen zu. Ein Mann, Ende dreißig, blieb abrupt stehen, ging in die Hocke und breitete seine Arme aus, während der Junge auf ihn zugestürzt kam. Dann hob er ihn in die Höhe und wirbelte ihn einmal halb um die Achse. Hardie richtete den Blick wieder aufs Gepäckband. Die junge Frau mit der Handtasche, die im Takt der Musik gewippt hatte, war verschwunden. Wahrscheinlich war ihr Koffer gekommen.
Schließlich waren alle Gepäckstücke eingetroffen und abgeholt worden, und Hardie blieb allein zurück und starrte auf das leere Metallband, das sich drehte und drehte, drehte und drehte.
War ja klar.
Im Koffer war nichts von Wert – ein paar graue T-Shirts, Jeans, Socken, Deo und Zahnpasta sowie einige DVDs. Und Hardie hatte immer noch sein Handgepäck, Gott sei Dank.
Trotzdem war der Verlust ärgerlich. Er hätte keine Klamotten zum Wechseln, bevor die Fluggesellschaft den Koffer nicht gefunden hatte – falls sie ihn fand, ha, ha, ha – und ihm zuschickte. Hardie ging zum Flugschalter in der Nähe des Gepäckbands und füllte ein Formular aus mit Kästchen, die selbst für seine winzige, enge Schrift zu klein waren. Er trug die Adresse des Hauses ein, auf das er aufpasste. Obwohl er sich fragte, wie der Kurierdienst es überhaupt finden sollte.
Der Besitzer, ein Musiker namens Andrew Lowenbruck, hatte Virgil erzählt, dass das Haus ziemlich schwer zu finden war, selbst für Leute, die mit den verschlungenen Wegen vertraut waren, aus denen das Straßennetz des ursprünglichen Teils von Hollywood Hills bestand. Einige Lieferanten waren der festen Überzeugung, dass der Alta Brea Drive gar nicht existierte.
Hardie schätzte, dass er seinen Koffer eher in irgendeiner alten Twilight-Zone-Folge wiedersehen würde. Irgendwo im Hintergrund, neben Burgess Meredith, oder in einem Gepäckfach über William Shatners Kopf.
Trotzdem füllte Hardie brav das Formular für verloren gegangene Gepäckstücke aus und sprang dann in einen schmutzigen, weißgrauen Shuttlebus Richtung Autoverleih. Er hasste es, einen Wagen zu mieten, denn das bedeutete zusätzliche Arbeit. Doch in den Hollywood Hills kam man nicht ohne aus. Was sollte er machen? Etwa den Bus zur Franklin, Ecke Beachwood nehmen und dann per Anhalter zum Haus fahren?
Eigentlich sollte Lowenbruck ihn heute Morgen in seiner Wohnung persönlich begrüßen. Aber er hatte der Agentur gestern Abend in einer E-Mail mitgeteilt, dass er früher als erwartet nach Moskau müsse. Lowenbruck arbeitete an der Filmmusik für einen exzentrischen russischen Regisseur, der nicht wollte, dass die unfertigen Rollen sein Heimatland verließen, darum musste er zu ihm fliegen, um sich einen Rohschnitt anzusehen und Ideen zu sammeln. Sein ursprünglicher Flug war gestrichen worden; und der Ersatzflug ging acht Stunden früher. Virgil hatte ihm erzählt, dass Lowenbruck für seine »aufwühlenden« Actionfilm-Soundtracks bekannt war – man nannte ihn einen modernen Bernard Hermann. Hardie wusste nicht, was gegen das Original sprach.
Also … Hardie würde ihn nicht treffen. Aber das war nichts Ungewöhnliches. In den seltensten Fällen traf er die Besitzer der Häuser, die er bewachte, persönlich – meistens wurde alles über Virgil in der Agentur abgewickelt, der seinerseits die Aufträge per E-Mail und über den FedEx-Schlüsselkurier abwickelte.
Was wohl auch besser so war. Bei Hardies Anblick hätten sich einige Besitzer die Sache vielleicht noch mal überlegt.
Dafür lernte er seine Kunden anhand der Gegenstände in ihrer Wohnung kennen. Die Fotos an den Wänden, die DVDs in den Regalen, das Essen im Kühlschrank. Gegenstände konnten nicht lügen.
Wie sich herausstellte, war der Alta Brea Drive nicht allzu schwer zu finden.
Man muss nur den Beachwood Drive, die Hauptstraße, rauffahren, bis man zu einer Sackgasse kommt, wo die Häuser aussehen wie aus einem Märchenbuch. Davor scharf nach links abbiegen in den Belden Drive, der wie eine Auffahrt wirkt – aber das ist eine richtige Straße, ehrlich, keine Angst, fahren Sie einfach weiter. Folgen Sie dem verschlungenen Straßenverlauf bis ganz nach oben, bis es so scheint, als würden Sie über die Straße hinaus fahren und in einer Schlucht in den sicheren Tod stürzen. Im letzten Moment kommt eine weitere Kurve, und dann Sie stehen vor Lowenbrucks Haus.
Hardie war froh, dass es helllichter Tag war. Wie zum Henker schafften die Leute es im Dunkeln hier rauf?
Die Straßen waren nicht für Gegenverkehr vorgesehen, und schon gar nicht für Reihen geparkter Fahrzeuge zu beiden Seiten. Was die Bewohner jedoch nicht davon abhielt, ihre Wagen dort abzustellen. Viel Glück, Sie werden es schon schaffen! Tatsächlich gelangte Hardie unfallfrei den Berg hinauf.
Er war bereits früher in den Hollywood Hills gewesen, als er andere Häuser hier bewacht hatte. Allerdings nicht genau in dieser Gegend – im historischen»Hollywoodland«-Baugebiet, auch bekannt als Beachwood Canyon. Das ganze Gelände wirkte auf Hardie irgendwie instabil. Er war in Philly in einem 7000-Dollar-Reihenhaus aufgewachsen, das man dicht an dicht mit Hunderten anderer Reihenhäuser auf einer ebenen Fläche zwischen den beiden Flussufern errichtet hatte.
Hier draußen war es genau das Gegenteil – nichts als Hügel und Anhöhen mit Multi-Millionen-Dollar-Villen in riskanter Lage. Immer wenn Hardie die Hollywood Hills betrachtete, rechnete er damit, das laute Knacken von Holz zu hören, und dann – wuuusch. Worauf sämtliche Häuser die Hänge herabrutschten und am Grund des Canyons einen riesigen Haufen aus geborstenen Holzlatten und Glasscherben bildeten.
Darum trank Hardie etwas mehr als sonst, wenn er auf eines der Häuser hier aufpasste.
Er hielt vor dem Grundstück und schaltete den Motor des Mietwagens aus – einen Honda irgendwas, der komplett aus Plastik zu bestehen schien und sich auch so fuhr. Der Alta Brea Drive existierte, aber Hardie war sich wirklich nicht sicher, ob dieses Auto existierte. Es gehörte zum Mietwagen-Paket der Luftlinie, das er im Internet gefunden hatte. Er hatte sowieso nicht vor, groß damit rumzufahren. Er brauchte lediglich eine Möglichkeit, um was zu essen und Alkohol zu kaufen, und schließlich wieder zurück zum Flughafen zu kommen.
An der Straßenbiegung, links und rechts von Lowenbrucks Haus, standen noch zwei weitere Gebäude; und alle drei waren sie an den Berghang geschmiegt. Auf der anderen Seite des Alta Brea Drive erstreckte sich ein schroffer, mit Laub bedeckter Felsvorsprung, wo zwei Arbeiter in gelbbraunen Overalls gerade damit beschäftigt waren, mit Kettensägen das Gestrüpp zu beseitigen. Am oberen Ende des Vorsprungs stand ebenfalls etwas, das die Kalifornier als »Haus« bezeichneten. Von der Straße aus konnte man lediglich ein hoch aufragendes Türmchen erkennen, das offensichtlich zu einem richtigen Schloss gehörte. Das war typisch für diese Gegend. Egal, wo man sein Schloss errichtete, es gab immer jemanden mit einem noch größeren Schloss, das noch weiter oben stand.
Von der Straße aus wirkte Lowenbrucks Haus lediglich wie ein lang gestreckter, flacher Bungalow. Spanisches Ziegeldach, frisch gestrichene, grob verputzte Fassade. Links davon stand eine Garage für einen einzelnen Wagen. In der Mitte des Hauses befand sich eine schwere Eingangstür aus massiver Eiche, und rechts davon mehrere Fenster mit einem Panoramablick, der allerdings von mehreren hochgewachsenen Sträuchern versperrt wurde.
Doch Hardie wusste, dass dies nur das Obergeschoss war. Von Virgil hatte er erfahren, dass das Gebäude drei Stockwerke hatte; die anderen beiden waren nach unten an die Flanke des Berges gebaut worden. In seinen Instruktionen hatte Lowenbruck davon gesprochen, sein Haus stehe »auf dem Kopf«.
Es hatte eine gewisse Berühmtheit erlangt. Im Jahr 1949 war dort der Film Noir Umzingelt gedreht worden sowie Teile des Neo-Noir-Streifens Der Glasdschungel von 1972. Das kam nicht von ungefähr. Der Regisseur von Der Glasdschungel war ein großer Fan von Umzingelt und hatte viel Zeit darauf verwendet, eine Dreherlaubnis für das Haus zu bekommen. Später dann, 2005, wurde ein Remake von Umzingelt gedreht – unter dem Titel Tod im Morgengrauen –, in dem das Haus allerdings nicht vorkam. Hardie hatte keinen der Filme gesehen, aber Lowenbruck hatte Virgil erzählt, dass sich DVDs davon im Haus befanden – er solle sie sich spaßeshalber mal ansehen. Den ersten würde er sich ansehen, die anderen jedoch nicht. Er hatte es sich inzwischen zur Regel gemacht, keine Filme anzuschauen, die nach seiner Geburt entstanden waren.
Offensichtlich waren die Filme ein weiterer Grund dafür, dass Lowenbruck einen Haussitter brauchte. Alle paar Tage tauchte irgendein Noir-Fan hier auf und machte Fotos vom Gebäude. Einige fragten sogar, ob sie hereinkommen könnten, als wäre das Haus eine reine Filmkulisse und nicht ein Ort, an dem tatsächlich Menschen wohnten.
Als er gestern am späten Abend die frühere Maschine nach Moskau noch erwischen wollte, hatte Lowenbruck Virgil per E-Mail mitgeteilt, dass er die Schlüssel im Briefkasten deponieren werde.
Hardie öffnete die Klappe.
Klar.
Keine Schlüssel im Briefkasten.
Keiner ist gekommen. Keinen interessiert’s.Es geht immer noch um nichts.
BILL COSBY, MAGNUM HEAT
Die Schlüssel zu einem 3,7-Millionen-Dollar-Haus im Briefkasten zu deponieren, ist nie eine gute Idee. Doch Lowenbruck hatte darauf bestanden – die Zeit war zu knapp gewesen, um sie Hardie per FedEx zuzuschicken, und er kannte auch keinen Nachbarn, bei dem er sie hätte hinterlegen können. Ob Hardie nicht selbst aufschließen könne? Sie lägen doch nur, wie lange?, acht Stunden im Briefkasten, bis er sie holte.
Oder gar nicht.
Hardie zog sein Handy aus der Jeanstasche, drückte die Kurzwahl von Virgils Büro. Und wartete. Nichts passierte. Als er einen genaueren Blick auf die Anzeige warf, stellte er fest, dass er kein Netz hatte. Wahrscheinlich die beschissenen Hügel, sie schirmten alles ab.
Hardie hatte Lust auf ein Bier. Und zwar sofort. Es war zwar noch superfrüh, aber vielleicht sollte er jetzt einfach in seinen Honda irgendwas steigen, wieder runter ins flache Gelände fahren und ein paar Bierchen kaufen. Vielleicht lagen die Schlüssel bei seiner Rückkehr auf magische Weise dann doch im Briefkasten. Wenn nicht, würde er ein weiteres Bier trinken. So lange, bis die Wirklichkeit sich fügte.
Ja. Sicher doch.
Hardie war klar, dass er eine Möglichkeit finden musste, ins Haus einzusteigen, wenn er das verdammte Ding nicht von außen bewachen wollte.
Er inspizierte die Vorderseite, suchte nach einer Einstiegsmöglichkeit, in der Hoffnung auf einen sichtbaren Schwachpunkt. Die massive Eichentür war verschlossen. Die Panoramafenster waren ebenfalls verriegelt – und vergittert. Hardie bemerkte, dass in den Ecken der Rahmen Alarmsensoren angebracht waren. Lowenbruck hatte Virgil den Zahlencode dafür gegeben, doch hier draußen nutzte er ihm nichts, oder?
Er ging zur rechten Seite des Grundstücks, vorbei an ein paar Eukalyptusbäumen, und machte einen langen Hals, bis er eine hölzerne Sonnenterasse erblickte, die auf der Rückseite des Hauses hervorragte. Sie wurde von schmalen Metallstangen gestützt und war mit einem schmiedeeisernen Geländer versehen. Wenn er es auf die Terrasse schaffte, könnte er bestimmt die Hintertür aufhebeln. Es gab bloß ein Problem: Die Terrasse war nur schwer zu erreichen. Von ihrem Rand ging es über fünfzehn Meter in die Tiefe. Es sei denn, Hardie kletterte aufs Dach und sprang von dort auf die Terrasse.
Letzteres schien wohl die einzige Möglichkeit.
Hardie seufzte. Sollte er das wirklich tun? Wer weiß, welche Schwierigkeiten da oben auf ihn warteten. Ein falscher Tritt, und er endete womöglich mit einem gebrochenen Bein in der Schlucht, wo die Rotluchse lauerten.
Hardie ließ das Telefon in seine Hosentasche gleiten, setzte sich hinters Lenkrad, fuhr den Honda ein Stück näher an die Garagentür heran und parkte ihn dort. Dann stieg er auf die Motorhaube und kletterte das schräge Ziegeldach hinauf. Die Ziegel waren von der Sonne ganz warm. Hardie stellte sich vor, wie die verdammten Dinger sich lösten, vom Dach rutschten und auf dem Gehweg barsten, eine nach der anderen. Er war ein groß gewachsener Mann; er hatte keine Ahnung, ob die Hersteller spanischer Dachziegel seine Größe und sein Gewicht bei der Produktion berücksichtigt hatten.
Doch er schaffte es ohne Probleme bis zum Dachfirst. Dort hielt er inne. Unter ihm erstreckte sich der dicht bewachsene Talkessel, und in der Ferne, unter einer Dunstglocke, ragten die gläsernen und metallenen Wolkenkratzer von Downtown L. A. empor. Plötzlich begriff Hardie, worin der Reiz bestand, hier zu wohnen. Obwohl die Berghänge mit Häusern übersät waren, hatte man das Gefühl, das eigene wäre das einzige von Bedeutung und die anderen Gebäude wären allein zu deinem Vergnügen erbaut worden. Niemand hatte einen so großartigen Blick wie du selbst, weder die Häuser über dir noch die unter dir. Man hatte für die Galavorstellung einen Sitz in der ersten Reihe. Und man konnte sie jederzeit genießen … das heißt, wenn man sich nicht gerade mit irgendeiner Filmmusik rumschlagen musste. Hardie fragte sich, wie oft Lowenbruck sich an der Aussicht erfreute. Auch wenn er bezweifelte, dass er dafür eigens auf sein Dach kletterte.
Okay, Schluss jetzt. Früher oder später würde jemand nach oben schauen und Hardie entdecken, der wie ein Idiot dahockte.
Er spähte auf die Terrasse und fing dann an, sich zu ihr vorzuarbeiten, indem er mit ausgestreckten Armen das Gleichgewicht hielt. Trotzdem musste er unwillkürlich einen kurzen Blick auf die weiter unten liegenden Häuser werfen. Mit ihren verschiedenfarbigen Dächern, den Pools und den Terrakotta-Veranden.
Durch eine Lücke zwischen den Bäumen konnte er auf der rückwärtigen Terrasse des nächstgelegenen Hauses eine nackte Frau erkennen, die sich dort sonnte.
Es wirkte fast wie eine Fata Morgana. Die Äste und Bäume bildeten einen perfekten Rahmen für ihren Körper und gaben lediglich den Blick frei auf ihre atemberaubende, freizügige Nacktheit. Sie hatte einen großen Busen mit rosafarbenen Nippeln, die für die grelle kalifornische Sonne eigentlich zu empfindlich waren. Sie hatte sich eingecremt, und ihr muskulöser Körper war von der Nase abwärts – so weit Hardie das beurteilen konnte – perfekt rasiert. Ihre Haut glitzerte förmlich. Hardie fragte sich, warum Lowenbruck die Schlüssel nicht bei ihr deponiert hatte.
Die Augen der Frau waren hinter einer Sonnenbrille verborgen. Und sie hatte ein Handy am Ohr. Man konnte zwar sehen, wie sich ihr Mund bewegte, doch ihre Worte drangen nicht den Hügel hinauf.
Hardie verharrte in seiner Position, auf der abschüssigen Fläche des Daches bedrohlich nach vorne geneigt. Er starrte einen Moment hinüber, bevor er realisierte, Scheiße, dass sie ihn womöglich ebenfalls sehen konnte.
Vielleicht erzählte sie einer Freundin am Telefon gerade: Du wirst es nicht glauben, aber irgend so ein Idiot steht auf dem Dach meines Nachbarn und glotzt mir auf die Titten.
Hardie kletterte weiter nach unten, legte, um das Gleichgewicht zu halten, eine Hand auf eine der heißen Ziegeln und sprang dann auf die Terrasse. Dabei zermatschte er irgendwas mit den Füßen. Hardie traute sich kaum hinzuschauen … tat es aber trotzdem. Vor Kurzem war irgendein Tier hier oben gewesen und hatte auf Lowenbrucks Sonnenterrasse eine dicke Ladung zurückgelassen. Kein Vogel; diese Kreatur ernährte sich offensichtlich von herzhafterer Kost als Samen und Gras.
Scheiße.
Glücklicherweise hatte Hardie ein zweites Paar Schuhe eingepackt.
Unglücklicherweise befanden sie sich im vermissten Koffer.
Hardie ging auf Zehenspitzen zur gläsernen Schiebetür und zog daran. Auf wundersame Weise ließ sie sich öffnen. Entweder hatte Lowenbruck sie vergessen, oder er schloss sie sonst nicht ab.
Jedenfalls wurde beim Öffnen der Alarm ausgelöst – ein schrilles wiederkehrendes bie-BIEP bie-BIEP. Dreißig Sekunden ab jetzt. Hardie wusste, dass sich neben der Haustür eine Tastatur befand. Er musste sich beeilen, andernfalls hätte er bald Gesellschaft, und das würde seinen Alkoholgenuss bestimmt um ein paar weitere Stunden verzögern.
bie-BIEP
bie-BIEP
bie-BIEP
Gerade als er ins Innere treten wollte, fiel ihm die unidentifizierbare Tierscheiße an seinen Füßen ein. Rasch streifte er den dreckigen Schuh mit der Rückseite des anderen ab, zog diesen ebenfalls aus und sprang durch die offene Tür, während er nach etwas Ausschau hielt, das Ähnlichkeit mit der Tastatur einer Alarmanlage hatte.
bie-BIEP
bie-BIEP
bie-BIEP
An den Wänden bei der Haustür hing jede Menge Zeug, jede Menge Krempel. Scheiße. Scheiße. Scheiße …
Schließlich fand Hardie sie und tippte zwei Sekunden vor Ablauf des Countdowns den Code ein.
Er musste so schnell wie möglich die Sache mit dem Schlüssel klären – er wollte die Räumlichkeiten keine Sekunde unverschlossen lassen, und er hatte auch keine Lust, erneut über das Fliesendach zu klettern, um Lebensmittel zu kaufen. Vielleicht könnte er sich den Alkohol bringen lassen? Nein. Dazu benötigte er ein funktionierendes Handy, denn Virgil hatte ihm erklärt, dass Lowenbruck keinen Festnetzanschluss hatte.
Wie auch immer, das Wichtigste zuerst: Das Haus überprüfen.
Die Schiebetür an der Terrasse führte in ein Medienzimmer – und sofort wurde Hardie klar, dass er das große Los gezogen hatte. Da waren ein an der Wand befestigter Plasmafernseher und eine Stereoanlage, deren Markenname er lediglich aus den anderen Häusern kannte, die er bewacht hatte. Sowie ein gepolstertes schwarzes Ledersofa, das er augenblicklich zur Heimstätte für den Großteil des nächsten Monats auserkor. Die Wandregale waren voller DVDs, darunter viele Klassiker. Bestens. Die alten Filme halfen ihm, die Zeit totzuschlagen. Er erinnerte sich an einen ganz speziellen Fall – es war die Hölle gewesen –, eine Eigentumswohnung in Myrtle Beach, die nicht nur über keinen Kabel- oder Satellitenanschluss verfügte, sondern nicht mal über einen Fernseher. Das waren die längsten zwei Wochen seines Lebens gewesen.
Der Rest des Obergeschosses war offensichtlich nichts weiter als die Energieversorgung für das Medienzimmer. Durch die verschlossene Haustür gelangte man in eine Diele und weiter zu einer Wendeltreppe mit schmiedeeisernem Geländer, die zu den unteren Stockwerken hinabführte.
Das Treppenhaus war tapeziert mit Pappaufstellern weißer Actiondarsteller aus den Siebzigern und Achtzigern, die wie auf dem St.-Pepper-Cover arrangiert waren. Clint. McQueen. Bruce. Sly. Arnie. Van Damme. Segal. Und seltsamerweise Gene Hackman. Der Siebziger-Hackman. Der durchgeknallte Hackman. Der Hackman aus Die heiße Spur, Der Dialog und French Connection. Die 2-D-Collage aus Actionhelden schien dort schon eine Weile zu kleben. Die Ränder der Pappe waren ausgefranst, umgeknickt oder eingerissen, die Pappe selbst war vergilbt. Ihre Oberfläche war mit einer Staubschicht überzogen, und verschiedene Körperteile – mal ein Ellbogen, mal ein Fuß – hatten sich von der Wand gelöst. Entweder stand Lowenbruck auf Actionhelden oder einer der Vorbesitzer – und Lowenbruck war zu faul gewesen, das Zeug abzureißen.
Das nächste Zimmer war ein kleiner Essbereich; allerdings wurde hier nicht gegessen. Der Tisch war mit Drehbüchern, DVDs, CDs, alten Zeitungen, Notenpapier und Bleistiften übersät. Bei einem kurzen Blick in einen Schrank entdeckte er noch mehr zerfledderte Drehbücher, vergilbte Zeitungen sowie ungefähr vierzig CDs mit einem Soundtrack namens Two-Way-Split.
Die kombüsengroße Küche war sauber, wenn auch spärlich ausgestattet. Hier wurde offensichtlich nur selten gekocht. In den Wandschränken kein Alkohol, im Kühlschrank keine Lebensmittel, außer einer Schachtel Backpulver und ganz hinten einem Glas mit Martini-Oliven.
Zur einen Seite ging eine Gästetoilette ab. Wie praktisch. Von den Ledersofas zum Porzellanthron hier waren es vielleicht dreißig Schritte. Das machte das Leben angenehm.