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Magisterarbeit aus dem Jahr 2006 im Fachbereich Kulturwissenschaften - Europa, Note: 1,5, Humboldt-Universität zu Berlin (Kulturwissenschaftliches Seminar), Sprache: Deutsch, Abstract: "Die neue Umwelt zerfällt zu einem chaotischen Wirbel beschleunigter Teilchen: schwindelerregend, strukturlos. Man weiß sich selbst nicht dazu in Beziehung zu setzen und kann das nur in kleinen Anläufen versuchen. Man zerfällt sich selbst zu kleinen, beziehungslosen Zeitsequenzen: ein Prozess der Identitätsdiffusion." (Waldhoff, Hans-Peter, Fremde und Zivilisierung, Frankfurt a. M., 1995, S. 194) Das Betreten der Fremde wird zur Bedrohung für Existenz und Identität, die Folge: Bodenlosigkeit, Orientierungslosigkeit und - als letzte Konsequenz - Verlust der Heimat und des Selbst. Wer mag sich solchem aussetzen? Und dann - ganz im Gegensatz dazu: Auf die Frage, nach den Gründen seines Aufenthaltes in der Fremde antwortet der Schriftsteller Wolfgang Koeppen, er fühle sich dort am wohlsten, „weil zwischen mir und allem eine Distanz ist, eine Barriere, und zwar nicht nur eine der Sprache…Es ist ein schöner Zustand.“ (Linder, Christian, Schreiben als Zustand, Gespräch mit Wolfgang Koeppen, in: ders. Schreiben und Leben, Köln, 1974, S. 70) Gründe und Folgen der Migration bilden ein großen Feld, zwischen Identitätsdiffusion und „räumlicher Fremde“ als „Erprobungsfeld des Ich“ , zwischen Fremde als Freiheit und dem Fremden als Bedrohung, ein so unüberschaubares Feld, dass man schon vor Beginn der Untersuchung die Segel streichen und sich Einfacherem zuwenden möchte. Unzählige Menschen emigrierten aus Deutschland auf der Flucht vor Verfolgung durch die Nationalsozialisten, in den 60ern kamen Menschen aus anderen Ländern nach Deutschland, euphemistisch ‚Gastarbeiter’ genannt. Seit dem Fall der Mauer haben tausende von Menschen ihre Heimat hinter sich gelassen, um in den westlichen Bundesländern Arbeit zu finden. Nicht zu vergessen die geforderte Mobilität in Hinblick auf die ökonomischen Erfordernisse der globalisierten Wirtschaft. Doch aller vorhandenen Mobilität zum Trotz ist Migration noch immer die Ausnahme, das Abenteuer, das es zu bestehen gibt. So unterschiedlich daher auch die Folgen dieser Ausnahmesituation für den Einzelnen, die anhand von literarischen Werken der türkischen Autorinnen Emine Sevgi Özdamar und Aysel Özakin analysiert und dargestellt werden.
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Einleitung
Die neue Umwelt zerfällt zu einem chaotischen Wirbel beschleunigter Teilchen: schwindelerregend, strukturlos. Man weiß sich selbst nicht dazu in Beziehung zu setzen und kann das nur in kleinen Anläufen versuchen. Man zerfällt sich selbst zu kleinen, beziehungslosen Zeitsequenzen: ein Prozess der
Identitätsdiffusion.1
Das Betreten der Fremde wird zur Bedrohung für Existenz und Identität, die Folge: Bodenlosigkeit, Orientierungslosigkeit und - als letzte Konsequenz - Verlust der Heimat und des Selbst. Wer mag sich solchem aussetzen? Und dann - ganz im Gegensatz dazu: Auf die Frage, nach den Gründen seines Aufenthaltes in der Fremde antwortet der Schriftsteller Wolfgang Koeppen, er fühle sich dort am wohlsten, „weil zwischen mir und allem eine Distanz ist, eine Barriere, und zwar nicht nur eine der Sprache…Es ist ein schöner Zustand.“2Gründe und Folgen der Migration bilden ein großen Feld, zwischen Identitätsdiffusion und „räumlicher Fremde“ als „Erprobungsfeld des Ich“3, zwischen Fremde als Freiheit und dem Fremden als Bedrohung, ein so unüberschaubares Feld, dass man schon vor Beginn der Untersuchung die Segel streichen und sich Einfacherem zuwenden möchte. Unzählige Menschen emigrierten aus Deutschland auf der Flucht vor Verfolgung durch die Nationalsozialisten, in den 60ern kamen Menschen aus anderen Ländern nach Deutschland, euphemistisch ‚Gastarbeiter’4genannt, um den Hunger der boomende Wirtschaft nach billigen - und willigen - Arbeitskräften zu stillen. Seit dem Fall der Mauer haben tausende von Menschen ihre Heimat hinter sich gelassen, um in den westlichen Bundesländern Arbeit zu finden. Nicht zu vergessen die geforderte Mobilität in Hinblick auf die ökonomischen Erfordernisse der globalisierten Wirtschaft. Doch aller vorhandenen Mobilität zum Trotz ist Migration noch immer die Ausnahme, das Abenteuer, das es zu bestehen gibt: „Der übliche Gebrauch des Wortes Migration umfasst den Anspruch auf Bodenhaftung, wobei von der Ortsfestigkeit des Menschen als Normalität ausgegangen und die Ortsbezogenheit als Maß genommen wird.“5So unterschiedlich daher auch die Folgen dieser Ausnahmesituation für den Einzelnen:
1Waldhoff, Hans-Peter,Fremde und Zivilisierung,Frankfurt a. M., 1995, S. 194
2Linder, Christian,Schreiben als Zustand, Gespräch mit Wolfgang Koeppen,in: ders.Schreiben und Leben,
Köln, 1974, S. 70
3Wierlacher, Alois,Mit fremden Augen,in: Krusche, Dietrich u. Wierlacher, Alois (Hrsg.),Hermeneutik der
Fremde,Iudicium Verlag, München, 1990, S. 64
4„Man könnte behaupten, dass der Migrationskonflikt nirgends deutlicher zutage tritt, als in dem Widerspruch,
die Migranten als Gäste zu bezeichnen und als Fremde zu behandeln.“ Galanis, Georgios N.,Migranten als
Minorität im Spiegel der Presse,Frankfurt a. M., 1989, S. 20
5Köstlin, Konrad,Kulturen im Prozess der Migration und die Kultur der Migrationen,in: Chiellino, Carmine
(Hrsg.),Interkulturelle Literatur in Deutschland: ein Handbuch,Verlag Metzler, Stuttgart, 2000, S. 368
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Dieeinen werden aus dem Land ihrer Väter verjagt und empfinden diesen Akt in ihrem späteren Leben als beglückende Erlösung aus provinzieller Verengung; (...) manche durchrasen die ganze Welt und fühlen sich überall und nirgends zu Hause; andere ergreift schon nach der nächsten Hügelkette eine
unstillbare Sehnsucht nach der heimatlichen Ofenecke.6
Allzu häufig bindet man Migration an nationale Grenzen7und von dort ist der Schritt nicht weit zu einer kulturellen Grenzziehung, die als Begründung erlebter Erschütterungen hervorgeholt wird. Migration kann sich innerhalb nationaler Grenzen, beispielsweise als klassische Bewegung vom Dorf in die Stadt vollziehen, innerhalb eines begrenzten geografischen Raumes und natürlich auch zwischen Staaten und Kontinenten. Meiner Arbeit liegt ein weiter Migrationsbegriff zu Grunde, als ein Verlassen der gewohnten Umgebung, dem Lebensort, mit dem Ziel, sich an einem anderen, zunächst noch unbekannten Ort dauerhaft - dies muss natürlich nicht lebenslang sein - niederzulassen.8Das Phänomen der Migration hat dabei verschiedene Beweggründe und unterschiedliche Auswirkungen auf die Person des Migranten. Allen gemeinsam ist jedoch die Konfrontation mit einer zunächst unbekannten Umgebung.
Meine erste Einengung auf dem großen Feld der Wanderbewegungen findet durch die Beschränkung auf literarische Werke statt, eine zweite durch die klare Eingrenzung innerhalb dieses Feldes auf die Werke zweier türkischstämmiger Autorinnen, Aysel Özakın und Emine Sevgi Özdamar. Der Darstellung ihrer Beschreibung von und Auseinandersetzung mit verschiedenen Formen der Migration gilt hier das Hauptaugenmerk. Dabei werde ich zeigen, wie die Auseinandersetzung mit der Fremde Wege einer erneuten Beheimatung aufzeigt.
Ausgangspunkt und Anlass der Arbeit war die Feststellung, dass die bisher erschienenen Untersuchungen zu den Werken der Autorinnen zumeist pädagogische oder praktisch orientierte Herangehensweisen verfolgten, die den kulturvermittelnden Aspekt der Literatur in den Vordergrund rückten und zu beweisen suchten:
6Hermand, JostSchreiben in der Fremde,in: Wulf Koepke/Lutz Winkler (Hrsg.),Exilliteratur 1933-1945,
Darmstadt, 1989, S. 62-93, S. 62.
7Vgl. hierzu Frederking: „Migration soll dabei die Wanderbewegung von Ländern der industriell
unterentwickelten (Peripherie) in höher industrialisierte Länder bezeichnen. (…) Diktiert wird sie vom
ökonomischen Interesse.“ Frederking, Monika,Schreiben gegen Vorurteile: Literatur türkischer Migranten in
der Bundesrepublik,Berlin, 1985, S. 8f
8Ich folge dabei Heidi Rösch in ihrer Ausweitung des Migrationbegriffes, die „für einen weiteren Begriff von
Migration [plädiert], der Flucht, Systemmigration, Aus- und Übersiedlung und andere Formen der Zuwanderung
genauso einschließt, wie Binnenmigration.“ Rösch, Heidi,Migrationsliteratur im interkulturellen Kontext,
Frankfurt a. M., 1992, S. 32
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Beider Analyse der Literatur von MigrantInnen in den letzten Jahren standen vorwiegend sozialwissenschaftliche und soziokulturelle Aspekte im Vordergrund. Dabei wurde diese Literatur aus einem Blickwinkel betrachtet, der auf die kulturellen Differenzen zwischen (...) Deutschland und dem jeweiligen Herkunftsland der AutorInnen und auf die Problematik des Abschieds von der Heimat und der Ankunft in der Fremde ausgerichtet ist. Es haben sich Begriffe wie ‚Gastarbeiterliteratur’ (...) herausgebildet, die auf eine Kategorisierung von einem eurozentrischen Standpunkt aus und auf eine
gestufte kulturspezifische Abwehr des Fremden hinweisen.9
Herangezogen wurden und werden dabei statische Konzepte von Identität und ein Kulturbegriff, der von homogenen Nationalkulturen ausgeht. Das Unbehagen an diesem Ansatz bildete Ursache und Anlass meiner Arbeit und die Suche nach einer alternativen Methodik, deren Ziel ein realitätsadäquaterer Umgang mit Migration, ihren Folgen und ihren Möglichkeiten ist. Bestätigt wurde dieses Vorhaben durch einen Forschungsüberblick, der zu der Erkenntnis führte, dass es häufig Aufgabe der Interkulturellen Pädagogik oder aber der Auslandsgermanistik war, sich mit der literarischen Produktion von MigrantInnen zu beschäftigen. Suchen die einen hierbei vornehmlich nach dem pädagogischen Nutzen dieser Art der Literatur für den Unterricht an Schulen oder in Hinblick auf bestehende Integrationsdebatten, so konzentrieren sich die anderen auf eine Verortung der Werke innerhalb des Literaturbetriebes. Einen kulturwissenschaftlichen Ansatz, der sich gerade durch die Breite von Methodik und genutzten Quellen auszeichnet, betrachte ich hierbei als Bereicherung des vorhandenen Forschungsmaterials. Darüber hinaus waren es die Kenntnisse aus dem Studium der Turkologie, die sowohl die Auswahl der Autorinnen mitbestimmten, aber auch dafür Sorge trugen, dass die gesellschaftlichen Hintergründe in der Türkei stärker betont und mitberücksichtigt wurden als in bisherigen Untersuchungen. Somit verbleibt diese Arbeit nicht bei der bloßen Kritik des Bisherigen, sondern will auch einen Beitrag zu einer Theorie der Migration als Fremderfahrung leisten. Dabei werde ich zeigen, wie die Möglichkeit einer erneuten Beheimatung in der Fremde genutzt wird und wie diese erfolgen kann, wobei die unterschiedlichen Strategien der Protagonistinnen herausgearbeitet werden. Die Arbeit dicht an den Texten, die Empirie, wird hierbei klar in den Mittelpunkt gestellt. Hier liegen Schwerpunkt und Hauptinteresse und hier findet auch eine deutliche Absetzung von bisherigen Untersuchungen statt. Bauten diese auf Theorien der Interkulturalität oder Hybridität auf, so verzichte ich bewusst auf speziell auf Migranten gemünzte Theorien. Ziel war und ist durch ein Arbeiten am Text die Nähe zur dargestellten
9Müller, Regula,„Ich war Mädchen, war ich Sultanin“: Weitgeöffnete Augen betrachten türkische
Frauengeschichte(n),in: Fischer, Sabine und McGowan, Moray (Hrsg.),Denn du tanzt auf einem Seil:
Positionen deutschsprachiger MigrantInnenliteratur,Tübingen, 1997, S.134
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Erfahrung(wieder) aufzubauen, die durch das Dazwischenschieben von Theorien gestört wird. Es wird dabei die Frage verfolgt, wie Migration in den ausgewählten Werken dargestellt wird. Welche Folgen hat sie für die Figuren, welche Chancen bieten sich? Welche Muster des Umgangs und der Orientierung lassen sich finden? Nochmals hingewiesen wird auf den ausdrücklich weit gefassten Migrationsbegriff, der dieser Arbeit zu Grunde liegt. Der Rahmen wurde dabei durch die Begriffe Identität und Fremde oder - prozesshaft ausgedrückt - Identitätsbildung und Fremderfahrung gesteckt. Als weiterer Aspekt tauchte im Verlauf der Arbeit an den Texten die Frage nach Strategien der Beheimatung auf. Es stellt sich die Frage, ob der Umgang mit der Fremde und ihre schließliche Überwindung nicht gerade das Ziel verfolgt, sich neu zu beheimaten, ein Wunsch, den alle Protagonistinnen haben, da ihre ursprüngliche Heimat aus politischen Gründen verloren ist, die Möglichkeit zur Rückkehr zunächst nicht gegeben. Durch solch eine Fragestellung erweitert die Arbeit trotz der klaren Beschränkung auf zwei Werke bisherige Forschungen und so erklärt sich auch die Gliederung:
Das Erste Kapitel ist der Einführung und Darstellung der Untersuchungen gewidmet, die bisher zu den Werken der gewählten Autorinnen erschienen sind. Dabei bildet ein Überblick über die Entwicklung der Migrantenliteratur türkischstämmiger Autoren den Anfang, woran sich eine Verortung der von mir ausgewählten Autorinnen anschließt. Die Wahl begründete sich dabei einerseits durch ähnliche Biografien, andererseits durch die gezielte Entscheidung für Autorinnen, deren Migration politische und nicht wirtschaftliche Gründe hatte. Eine Sichtung der vorhandenen Forschungsliteratur schließt sich hier an, zunächst durch die Darstellung formulierter Erwartungen an diese Form der Literatur. Exemplarisch werde ich drei literaturwissenschaftliche Arbeiten darstellen und ihre Hauptthesen herausarbeiten. Dabei lässt sich eine Veränderung der Bewertung von Migration in Hinblick auf die Person des Migranten nachweisen. Während die Dissertation von Annette Wierschke noch den vielsagenden TitelSchreiben als Selbstbehauptung. Kulturkonflikt und Identität in den Werken von Aysel Özakın, Alev Tekinay und Emine Sevgi Özdamar10trägt, spricht Kader Konuk in ihrer Arbeit vonIdentitäten im Prozess11. Beide Arbeiten orientieren sich an den amerikanischencultural studiesund an Homi K. Bhabhas Theorie der Hybridität12, verstehen Migration also vornehmlich als einen Vorgang zwischen zwei Kulturen und legen hier ihren
10Frankfurt a. M., 1996
11Essen, 2001
12Dabei muss man darauf hinweisen, dass Homi K. Bhabha von der Hybridität jeglicher Kultur ausgeht, die
Diskussion jedoch häufig verengt wurde auf Zwischenräume zwischen Kulturen als Orte der Hybridität, um sie
für die Migrationsforschung zu nutzen. Vgl. hierzu: Bhabha, Homi K.,Die Verortung der Kultur,Tübingen,
2000.
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Schwerpunkt.Die im letzten Jahr publizierte Dissertation von Yasemin Dayıoğlu-YücelIntegritätsverhandlungen in türkisch-deutschen Texten vonŞenocak,Özdamar, Ağaoğlu und der Online-Communitiy vaybee!13bildet den vorläufigen Abschluss der Forschung. Sie setzt einen anderen Schwerpunkt durch die Konzentration auf den Aspekt der Integrität, eine Methode, die sie durch die ausführliche Diskussion von Identitätskonzepten entwickelt. Aus ihrer Arbeit habe ich wichtige Anstöße und Ansätze für die vorliegende Untersuchung gezogen, beispielsweise in Hinblick auf die Rolle der eigenen Geschichte bei Migrationen. Das zweite Kapitel dient der Darstellung von Methodik und theoretischem Rüstzeug. So werde ich mich in meinem Vorgehen auf Clifford Geertz und seine Methode der ‚dichten Beschreibung’14stützen, die an dieser Stelle eingeführt und in Hinblick auf die Nützlichkeit für das Vorhaben der Arbeit diskutiert werden wird. Theoretische Grundlagen, die der Strukturierung der Analyse dienen, finden sich bei Schäffter und seiner Theorie der Fremderfahrung15, sowie bei dem Konzept der Identitätskonstruktion, wie es die Arbeitsgruppe um Heiner Keupp16erarbeitete. In einem sich anschließenden Unterpunkt werde ich auf den Diskurs des Orientalismus Bezug nehmen, da er sich sowohl in der Rezeption der Texte als auch in den Werken selbst wieder findet. Das dritte Kapitel bildet den Mittelpunkt der Arbeit. Hier findet sich die ausführliche Werkanalyse der gewählten Texte. Es steht die Beschäftigung mit dem RomanDie blaue Maske17von Aysel Özakın sowie den ErzählungenMutterzungeundGroßvaterzunge18von Emine Sevgi Özdamar im Zentrum. Dabei werde ich in dichter Beschreibung dem Zusammenhang von Fremderfahrung und Identitätsbildung in den Texten nachspüren. Die Gliederung dieses Kapitels ist dabei Folge der Methodik. Es wurde versucht, der Struktur der Texte soweit als möglich zu folgen und ich habe daher auf eine starre Unterteilung nach vorher bestimmten Gesichtspunkten verzichtet. Interesse galt der Herausarbeitung der Gründe für die erfolgenden Ortswechsel, sowie der Reaktionen und dem Umgang mit der Fremde. Allerdings dienten diese Vorüberlegungen nur als Anhaltspunkte. Die endgültige Gliederung ergab sich aus den Texten selber und den dort vorgefundenen Schwerpunkten. Dieser Art des Vorgehens ist es auch zu verdanken, dass sich hier ein Exkurs zu Waldenfels’ Konzeptionen
13Göttingen, 2005
14Geertz, Clifford,Dichte Beschreibung - Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme,Frankfurt a.M., 1987
15Schäffter, Ortfried,Modi des Fremderlebens,in: ders. (Hrsg.),Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten
zwischen Faszination und Bedrohung.Opladen, 1991, S. 11-42
16Keupp, Heiner u.a.,Identitätskonstruktionen - Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne,Reinbek
bei Hamburg, 1999
17Hamburg, Zürich, 1991
18enthalten in: Özdamar, Emine Sevgi,Mutterzunge,Köln, 1998
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vonHeimat19finden lässt, nahm dieser Begriff im Rahmen der Analyse an Bedeutung zu. Darüber hinaus denke ich, dass es gerade die enge Verknüpfung von theoretischem Exkurs und literarischen Werk ist, die hier fruchtbare Ergebnisse hervorbringt und ein Auseinanderreißen als nicht sinnvoll erscheınen ließ. Ziel war es, die ‚dichte Beschreibung’ möglichst wenig zu unterbrechen. Vereinzelt werde ich bisherige Ergebnisse der Sekundärliteratur ergänzend und vergleichend hinzuziehen.
Das vierte Kapitel zieht Bilanz. Die aufgeworfenen Fragen nach den Folgen der Migration und dem Umgang mit der Fremde werden hier, gestützt auf die Ergebnisse der Textanalyse abschließend beantwortet. Noch einmal soll die entwickelte Methodik und zu Grunde gelegte Theorie betrachtet und in Hinblick auf ihre Brauchbarkeit im Umgang mit Migrationsphänomenen bewertet und Vorschläge für einen anderen Blick auf diese gemacht werden.
19Waldenfels, Bernhard,In den Netzen der Lebenswelt,Frankfurt a. M. 1985
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EmineSevgi Özdamar und Aysel Özakın werden zumeist der Migrantenliteratur zugeordnet, d.h. die Einordnung ihrer Werke findet in Hinblick auf ihre eigene ethnische Herkunft und Migrantenbiografie statt. Ein kurzer Überblick über diese Form der Literatur mit dem Ziel der anschließenden Verortung der Autorinnen soll hier genügen. Ihre Werke wurden von mir aufgrund ihrer Beschäftigung und Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Migration ausgewählt. Daher bevorzuge ich den Begriff der ‚Migrationsliteratur’, der sichweder allein durch die Autorinnenbiographie noch allein durch den Gegenstand bestimmen (lässt). Migrationsliteratur umfasst weder alle migrierten Autorinnen noch klammert der Begriff nicht-migrierte AutorInnen, die den Gegenstand der Migration literarisch verarbeiten, per
definitionem aus.21
Die ersten schreibenden Migranten türkischer Abstammung22waren als sogenannte ‚Gastarbeiter’23nach Deutschland gekommen und sie zeichneten ein Deutschlandbild der enttäuschten Hoffnungen, beschreiben klimatische und soziale Kälte, Ausgrenzung und Einsamkeit. Auslöser der schriftstellerischen Tätigkeit war die Migration, ihrer Verarbeitung galt die Literatur.
In dieser ersten Phase der Literatur türkischstämmiger Autoren schrieben die meisten ihre Werke noch in der Muttersprache Türkisch. Der GermanistŞölçünweist darauf hin, „dass das
20Pazarkaya, Yüksel,Gastarbeiter,in: ders.Rosen im Frost,Zürich 1982, S. 201
21Rösch, S. 33. Eine Auseinandersetzung über die passende Begrifflichkeit für diese Art Literatur findet sich in
fast allen Untersuchungen. Ich halte sie in meinem Kontext für nicht ausschlaggebend, da es mir nicht vorrangig
um eine disziplinäre Zuordnung oder Begründung einer neuen wissenschaftlichen Disziplin geht.
22Ich beschränke mich hier auf Migranten aus der Türkei, wobei für andere Herkunftsländer Ähnliches gilt.
23Auch wenn ich den Begriff Arbeitsmigranten bevorzuge, soll hier das Wort ‚Gastarbeiter’ benutzt werden, da
sich auch die Literaten dieser Zeit als ‚Gastarbeiterautoren’ bezeichneten. Vgl. z.B. die Reihe ‚Südwind
gastarbeiterdeutsch’, die von Migrantenautoren gegründet wurde.
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Schreibenin der Muttersprache (...) sich auch mit dem Bedürfnis nach kollektiver Identität“24deckte, aber auch Hinweis darauf ist, dass die Autoren „selbst noch völlig in der Türkei verwurzelt“25sind. Man nahm sich selbst zwar auch als Teil einer internationalen Arbeiterklasse wahr, vor allem aber als türkische Minderheit in Deutschland. Chiellino, der eine ausführliche Übersicht über die Entwicklung der Migrantenliteratur liefert, sieht in den 80ern eine zunehmende Verschiebung der Wahrnehmung der Literatur türkischstämmiger Migranten von der Bewertung als ‚Gastarbeiterliteratur’ hin zu einer Betrachtung als ‚Migrantenliteratur’, womit sich auch eine Veränderung in der gesellschaftlichen und politischen Beurteilung abzeichnet:
Mit der Verankerung der betreffenden Literatur in dem Begriff ,Migrant' und ,Migration' wenden sich die Befürworter primär gegen die Vorläufigkeit des Terminus ,Gastarbeiter' und plädieren für die politische Anerkennung der Tatsache, dass die Bundesrepublik ein Einwanderungsland
geworden ist.26
Erst spät meldeten sich Migrantinnen zu Wort, obwohl die deutsche (Frauen-) Öffentlichkeit besonderes Interesse an ihrer Situation zeigte.27Saliha Scheinhardts Romane nehmen dabei einen prominenten Platz ein, dienten sie meist der Bestätigung vorherrschender Meinung über das unterdrückte Leben türkischer Frauen.Frauen, die sterben, bevor sie gelebt hätten(1983) undDrei Zypressen(1984) stießen auf reges Interesse der Öffentlichkeit. Annette Wierschke erklärt dies damit, dass Saliha Scheinhardt mit ihren Romanen die Erwartungen der Leser von einer schreibenden Migrantin erfüllt. Sie erreichte dies dadurch, „dass sie mit ihrer Literatur eins der folgenden drei Kriterien“ erfüllte: „1. Bestätigung der Bilder über den Fremden und seine Kultur“, hier also die bestehenden Stereotype über Frauen im Islam, „2. der deutschen Literatur neues Blut zuführen (...)“ und „3. Anspruchslosigkeit, Flachheit und Eindimensionalität der Bilder und (kulturellen) Zusammenhänge.“28Dementsprechend schwer fiel und fällt es die Literatur von Aysel Özakın und Emine Sevgi Özdamar einzuordnen, was teilweise auch seinen Grund darin findet, dass sie nicht als ‚Gastarbeiter’ nach Deutschland kamen, sondern in Folge der politischen Situation. Diese wird im Folgenden dargestellt werden. Dabei ist mein Anliegen, eine Kontextualisierung der
24Şölçün,Sargut,Sein und Nichtsein - Zur Literatur in der multikulturellen Gesellschaft,Bielefeld, 1991, S.136
25Pazarkaya, S. 198
26Chiellino, Carmine,Am Ufer der Fremde - Literatur und Arbeitsmigration 1870 - 1991,Stuttgart/ Weimar,
1995, S. 297
27Vgl. hierzu Chiellino, 1995, S. 414, der auf die Zusammenarbeit von Deutschen und ausländischen Frauen in
Literaturprojekten hinweist und das große, wenn auch nicht unproblematische, Interesse der feministischen
Bewegung speziell an Autorinnen aus der Türkei erwähnt.
28Wierschke, Annette,Schreiben als Selbstbehauptung. Kulturkonflikt und Identität in den Werken von Aysel
Özakın, Alev Tekinay und Emine Sevgi Özdamar,mit Interviews, Frankfurt a. M., 1996, S. 33
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Autorinnenund ihrer Werke, indem ich sie nicht nur aus dem Blickwinkel des Migrationslandes betrachte, sondern auch in den Kontexten der Herkunftsgesellschaft, die in den 70ern und 80ern politisch erschüttert wurde.
Am 12. September 1980 putschte das türkische Militär unter Kenan Evren und entmachtete die Regierung von Süleyman Demirel. Die schon seit Jahren schwelenden Auseinandersetzungen, die sich stark vereinfacht auf den Nenner ‚links gegen rechts’ bringen lassen, erreichten damit ihren Höhepunkt. Doch noch lange war ein Ende der Verfolgungen und Folter Oppositioneller nicht abzusehen. „ ‚Ruhe und Ordnung’ heißt die Devise der neuen Herrscher; politische Verfolgung, willkürliche Verhaftungen und Folter werden zu alltäglichen Methoden der Machtausübung.“29Der Verdacht kommunistischer Aktivitäten genügte, um Festnahme und häufig langjährige Haftstrafen zu rechtfertigen. Mehr als 30.000 Menschen gingen ins Exil, dabei zumeist nach Frankreich, das schon lange Sehnsuchtsland der Intellektuellen war, aber auch viele - wie die von mir behandelten Autorinnen - nach Deutschland.