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Wo du herkommst, gibt es keine Zukunft. Wo du hingehst, gibt es kein Zurück. Yasmine Ajam ist ihrer Vergangenheit und der rauen Stockholmer Trabantenstadt Bergort entflohen, sie arbeitet als Trendscout in New York. Doch eine alarmierende Nachricht lässt sie nach Jahren zurückkehren: Ihr jüngerer Bruder Fadi wird vermisst, angeblich ist er tot. Und in den Straßen der Vorstadt droht die Gewalt zu eskalieren – Autos brennen, Schlägertrupps sind unterwegs. Hat Fadis Verschwinden damit zu tun? Yasmine gibt die Hoffnung nicht auf, ihren Bruder lebend zu finden. Klara Walldéen forscht in London für eine renommierte Menschenrechtsorganisation. Im Vorfeld einer internationalen Sicherheitskonferenz wird ihr Computer gestohlen, kurz darauf kommt ein Kollege zu Tode. Dass ihre Arbeit brisant ist, weiß Klara. Aber wer könnte bereit sein, dafür zu töten? Die Spuren führen nach Schweden. In Stockholm begegnen sich die jungen Frauen: beide auf der Suche nach der Wahrheit. Beide in höchster Gefahr. «Unglaublich spannend und brandaktuell. Eines der Bücher, die man dieses Jahr unbedingt gelesen haben muss.» (Skånska Dagbladet) «Weit mehr als ein gewöhnlicher Krimi, ein Roman, der lange nachhallt.» (Ölandsbladet) «Es ist vor allem Fadis Geschichte, die einen berührt und unter die Haut geht.» (Hallandsposten) «Ein elegant erzählter internationaler Thriller. Anspruchsvoll und erschreckend glaubwürdig.» (Dagens Nyheter) «Zander ist besser und realistischer als Stieg Larsson und David Lagercrantz.» (Gefle Dagblad) «Dass dieses Buch als bester schwedischer Krimi des Jahres nominiert ist, versteht sich von selbst. Zander ist definitiv einer unserer neuen Stars.» (DAST Magazine) «Einer der stärksten Krimis dieses Jahres. ‹Der Bruder› kombiniert Spannung, Tempo, aktuelle Themen mit Figuren, die einem wirklich ans Herz wachsen.» (CrimeGarden) «Nach Stieg Larsson, Henning Mankell und Jens Lapidus gibt es eine neue große Stimme in der skandinavischen Krimiszene: Joakim Zander.» (Metro) NOMINIERT FÜR DEN SCHWEDISCHEN KRIMIPREIS
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Joakim Zander
Der Bruder
Thriller
Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein und Nina Hoyer
Ihr Verlagsname
Wo du herkommst, gibt es keine Zukunft. Wo du hingehst, gibt es kein Zurück.
Yasmine Ajam ist ihrer Vergangenheit und der rauen Stockholmer Trabantenstadt Bergort entflohen, sie arbeitet als Trendscout in New York. Doch eine alarmierende Nachricht lässt sie nach Jahren zurückkehren: Ihr jüngerer Bruder Fadi wird vermisst, angeblich ist er tot. Und in den Straßen der Vorstadt droht die Gewalt zu eskalieren – Autos brennen, Schlägertrupps sind unterwegs. Hat Fadis Verschwinden damit zu tun? Yasmine gibt die Hoffnung nicht auf, ihren Bruder lebend zu finden.
Klara Walldéen forscht in London für eine renommierte Menschenrechtsorganisation. Im Vorfeld einer internationalen Sicherheitskonferenz wird ihr Computer gestohlen, kurz darauf kommt ein Kollege zu Tode. Dass ihre Arbeit brisant ist, weiß Klara. Aber wer könnte bereit sein, dafür zu töten? Die Spuren führen nach Schweden.
In Stockholm begegnen sich die jungen Frauen: beide auf der Suche nach der Wahrheit. Beide in höchster Gefahr.
«Unglaublich spannend und brandaktuell. Eines der Bücher, die man dieses Jahr unbedingt gelesen haben muss.» (Skånska Dagbladet)
«Weit mehr als ein gewöhnlicher Krimi, ein Roman, der lange nachhallt.» (Ölandsbladet)
«Es ist vor allem Fadis Geschichte, die einen berührt und unter die Haut geht.» (Hallandsposten)
«Ein elegant erzählter internationaler Thriller. Anspruchsvoll und erschreckend glaubwürdig.» (Dagens Nyheter)
«Zander ist besser und realistischer als Stieg Larsson und David Lagercrantz.» (Gefle Dagblad)
«Dass dieses Buch als bester schwedischer Krimi des Jahres nominiert ist, versteht sich von selbst. Zander ist definitiv einer unserer neuen Stars.» (DAST Magazine)
«Einer der stärksten Krimis dieses Jahres. ‹Der Bruder› kombiniert Spannung, Tempo, aktuelle Themen mit Figuren, die einem wirklich ans Herz wachsen.» (CrimeGarden)
«Nach Stieg Larsson, Henning Mankell und Jens Lapidus gibt es eine neue große Stimme in der skandinavischen Krimiszene: Joakim Zander.» (Metro)
NOMINIERT FÜR DEN SCHWEDISCHEN KRIMIPREIS
Joakim Zander, 1975 in Stockholm geboren, wuchs in Söderköping an der schwedischen Küste auf und lebte in Syrien, Israel und den USA. Er studierte Jura in Uppsala, promovierte in Maastricht und arbeitete danach für das Europäische Parlament und die Europäische Kommission in Brüssel und Helsinki. Derzeit lebt er mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Lund. Sein von der Presse hochgelobter Debütroman «Der Schwimmer» erscheint in 30 Ländern und ist ein internationaler Bestseller, eine US-Verfilmung ist geplant. «Der Bruder» ist der zweite Band in der Reihe um Klara Walldéen und wurde für den Schwedischen Krimipreis nominiert.
Für meine Eltern
Fadi
Wir fliegen tief durch die Vorstadt heute Nacht, unser Tempo ist perfekt geeicht, unsere Formation geschlossen und stark. Wir sind lautlos heute Nacht, unsere Augen sind Schlitze. Wir sind X-men, Band of Brothers, wir sind Elite.
Im Drivvedsvägen brennt ein Auto, und wir hören die Explosion der Scheiben in der Hitze und sehen das Glas auf den Schnee regnen wie Eis, durchsichtige Scherben, das Ergebnis von Frust und Zeitvertreib. Es ist ein Abend wie jeder andere in diesem Winter, und die Kids machen sich nicht einmal mehr die Mühe, über die Bahnüberführung davonzurennen, sondern bleiben um das Auto herum stehen, so nahe, dass sich die Flammen in ihren aufgerissenen Augen widerspiegeln und ihre Haarspitzen ansengen. Sie wissen genau, wie lange es dauert, bis die Sirenen ertönen, sie haben keine Eile, keine Verpflichtungen und nicht einmal mehr etwas, vor dem es sich zu fliehen lohnt.
Wir aber bleiben nicht, unser Ziel ist größer, wir sind längst keine Vogeljungen mehr, die Autos in Brand stecken, wir sind Adler und Falken, Raubtiere mit schärferen Krallen, spitzeren Schnäbeln, größerem Hunger. Lois, Fuchs, Mehdi und Bounty. Ich drehe mich um und betrachte meine Brüder, ihre Schatten im Schein des Feuers. Etwas in meinem Herzen wächst und wächst. Ich habe aufgehört, dir nachzujagen. Du bist schon so lange auf dem Weg fort von hier. Und auch wenn dein Schatten immer noch jeden Abend, wenn ich schlafen gehe, auf die graue Wand in meinem Zimmer fällt, sind es doch meine Freunde, meine Brüder, die so sind wie ich. Genauso orientierungslos und ahnungslos wie ich. Genauso müde und leer.
«Ey, Fadi?»
Bountys Stimme klingt hell und hohl, als hätte er nicht genug Luft oder Kraft in der Lunge.
«Schnauze, Schwuchtel», raunzt Fuchs.
Er verpasst Bounty einen Stoß gegen die Schulter, der ihn zur Seite taumeln lässt, in den tieferen Schnee hinein.
«Reißt euch zusammen», sage ich. «Jetzt ist es ernst, kapiert ihr das nicht?»
«Aber …», stammelt Bounty.
«Nichts aber, scharmuta!», faucht Fuchs und holt aus.
«Bist du dir denn wirklich sicher mit dem Code?», schiebt Bounty hinterher und springt zurück, um dem Schlag auszuweichen. «Bist du sicher, dass sie ihn nicht geändert haben?»
Der Beton beugt sich über uns, schließt uns ein, hält uns fest. Die Luft ist bei minus zehn Grad frostklar und riecht nach brennendem Benzin. Ich zucke mit den Schultern und spüre, wie sich meine Lunge zusammenzieht. Ich habe dasselbe Gefühl wie immer: dass ich nichts weiß und mir keiner Sache sicher bin.
«Ja, Mann», antworte ich. «Und jetzt halt die Fresse.»
Wir warten im Schatten auf der anderen Seite des Pirattorget, obwohl der Platz menschenleer ist, es ist halb zwei Uhr nachts. Wir warten, bis die Sirenen von der Autobahn herüberdringen und der Himmel über dem Spielplatz von Blaulicht erhellt wird. Wir warten, bis wir Mehdi sehen, der über die eiskalten Steinplatten vor Samis Kebab herantrottet, seine Schritte hallen dumpf in der Winternacht. Die Sirenen sind verstummt, jetzt hört man nur noch das Geschrei der Kids, die sich auf dem Bahnübergang in die andere Richtung entfernen.
«Alles locker», sagt Mehdi atemlos, seine asthmatischen Lungen pfeifen und rasseln.
Er beugt sich vor, ächzt und stöhnt.
«Es ist nur die Feuerwehr, die schicken nicht mal mehr die Bullen her.»
Wir nicken schweigend, feierlich, als wären wir auf einer Beerdigung. Jetzt wird es ernst. Der Schlüssel brennt in meiner Tasche, der Code in meinem Gedächtnis. Ich drehe mich um, und mein Blick wandert zu den kinderfingerverschmierten Fenstern auf der anderen Seite des Platzes und von dort weiter hinauf, die rissige Fassade entlang mit ihren lädierten Jalousien und Bettlaken anstelle von Gardinen und den somalischen Flaggen, und dann schaue ich noch weiter empor, über die Dächer. Der Himmel ist schwarz und kalt, und nicht einmal die Sterne sind heute zu sehen, nicht einmal ein halber, trauriger Mond, nur schwarze Wolken. Dennoch verharrt mein Blick dort oben, festgefroren wie die Nacht, wie meine Finger. Das ist die wahre Entscheidung. Du oder die Brüder.
Ich reiße meinen Blick vom Nachthimmel los und sehe die anderen an.
«Worauf warten wir noch? Jalla!»
Wir schwärmen in Formationen über den Platz, leise und schnell, wie Tarnkappenflieger, wie fucking drones. Wir sind eine Einheit, wir sind Gangster, wir sind Elite. Kein Laut, nur der Dampf, der aus unseren Mündern strömt, nur die Atemzüge und das Blut, das in unseren Ohren rauscht, nur wir und unser Auftrag.
Es ist leicht. Einfach den Schlüssel ins Schloss, keine Blicke über die Schultern. Alle hinein, und dann mache ich es so, wie ich es bei dir beobachtet habe, ich gehe direkt zu dem weißen Kästchen, konzentriere mich einzig und allein auf meinen Herzschlag und auf den Puls, schon vermeldet das Display «Deaktiviert», nur eine Zehntelsekunde Warten, dann der lange Piepston, der bedeutet, dass es funktioniert hat. Wir sind drin. Schnelle, stumme Hi-fives, die Taschenlampen hervorgeholt, an der Garderobe vorbei und hinein ins Studio.
Zwei MacBooks auf dem Tisch im Mischraum. Swoosh! Gehören jetzt uns. Zwei Samsung-Handys in der Ladestation. Swoosh! Gehören jetzt uns. Drei kleine Tablets. Swoosh! Mikros und Gitarren. Wir sehen uns an. Drauf gepfiffen, zu schwer. Ich beuge mich rasch unter das Mischpult, gehe in die Hocke, taste im Dunkeln, bis ich ihn finde. Langsam ziehe ich den Schuhkarton hervor. Nike. Ich öffne ihn, stecke die Nase hinein, und der süßliche Geruch von Gras schlägt mir entgegen.
«Ey!»
Ich halte meinen Brüdern einen fertiggedrehten Joint hin, und sie machen große Augen. Aber es gibt noch mehr. Das habe ich gesehen, als ich mit dir hier war, ich habe gesehen, wie Blackeye irgendeinem Loser zweitausend Kronen gegeben hat, um Alk zu beschaffen. So bin ich überhaupt erst auf die Idee gekommen.
Ich schleiche in den anderen Raum, das Büro. Ziehe an der obersten Schublade, aber sie klemmt. Jackpot!
«Fuchs!», flüstere ich ins Studio. «Schraubenzieher!»
Fuchs ist der König der Schraubenzieher, Stemmeisen und Brechstangen. Nicht ein Fenster, nicht eine Tür, die er nicht öffnen könnte – das hier ist fast zu einfach für ihn. Er setzt unter der Schreibtischplatte an, drückt das Werkzeug nach oben, und schon springt die Schublade auf. Die Kasse ist grün und schwer, aber ich halte Fuchs auf, als er sich daran zu schaffen machen will.
«Scheiß drauf», sage ich. «Darum kümmern wir uns später.»
Und dann sind wir fertig. Wir strömen durch die Tür wie Wasser, die Arme voll mit unserer Beute, und rennen zum Spielplatz, wo wir sie grob unter uns aufteilen. Ich nehme die Kasse und ein Macbook.
«Jetzt erst mal den Ball flachhalten. Wir sehen uns Donnerstag.»
Und dann ist es vorbei. Die Nacht ist wieder kalt und klar. Die Autos brennen nicht mehr. Und jetzt bricht die Müdigkeit über mich herein wie ein Meer, wie Schnee, wie die Dunkelheit, und ich taumle nach Hause, leer und still, aber gar nicht aufgekratzt von meiner Gesetzlosigkeit, weder zufrieden noch stark. Überhaupt nicht so, wie ich dachte.
In meinem Zimmer angekommen, will mich der graugelbe Lichtschein der Laterne vor meinem Fenster nicht mehr loslassen, er bahnt sich den Weg unter meine Lider und in meine Pupillen hinein, selbst wenn ich die Augen schließe und meinen Kopf tief in das Kissen bohre. Das Licht lässt mir keine Ruhe. Irgendwann gebe ich auf und öffne die Augen. Ich setze mich im Bett auf, ohne die Lampe einzuschalten. Die Zeit zieht sich in die Länge und ändert ihre Gestalt, bis sie ganz verschwindet und plötzlich die Tür quietscht und der Boden knarrt. Ich drehe mich nicht um, sondern starre weiter die Wand an.
Du bringst den Winter ins Zimmer herein, als du die Tür öffnest und dich auf meine Bettkante setzt. Die Luft steht still.
«Erinnerst du dich noch an damals, als wir klein waren?», fragst du. «Oder was heißt klein, du warst vielleicht zehn. Erinnerst du dich, wie ich anfing zu sagen, dass wir von hier wegmüssen?»
Ich weiß, was du erzählen wirst, es ist ein Teil unserer Mythologie, aber ich sage nichts. Ich sitze nur da, still und mit geradem Rücken.
«Ich hatte mich schon wieder mit ihnen gestritten. Worum es ging, weiß ich nicht mehr. Irgendein chara, einfach nur Mist. Und ich musste raus und kam erst spät wieder nach Hause. Du warst schon zu groß, um mit deinem dreckigen alten Lego vom Flohmarkt zu spielen, und als ich nach Hause kam, hattest du all deine blauen Steine auf eine der grünen Platten gesteckt und zwischendrin ein paar weiße und sie auf mein Bett gestellt, ehe du eingeschlafen bist. Erinnerst du dich?»
Ich nicke schwach. Ich erinnere mich. Ich erinnere mich an alles.
«Erinnerst du dich, was es war?»
Ich antworte nicht. Es ist zu lange her. Es liegt zu viel dazwischen.
«Du hast gesagt, es wäre ein Meer. Du hättest uns ein Meer gebaut, auf dem wir davonsegeln können. Und du würdest ein Boot organisieren, mit dem wir fahren könnten.»
Ich spüre, wie es in meinen Augen und meiner Brust brennt. Ich spüre, wie sich alles zusammenzieht, wie ich in der Vergangenheit untergehe, wie ich in der Zukunft untergehe. Um zu ertrinken, braucht man kein Wasser.
«Aber das Boot hast du nie klargemacht, Fadi. Nur das Meer.»
Ich will etwas erwidern, vielleicht eine Erklärung, vielleicht eine Entschuldigung. Entschuldigung, Entschuldigung. Aber ich weiß, dass ich nur piepsen und krächzen kann. Und dass ich nicht mehr zustande bringe als Chaos und Stress. Wir schweigen.
Dann schließlich sagst du: «Vielleicht hast du das Boot jetzt organisiert, Fadi. Aber es ist so klein, dass nur einer hineinpasst.»
Endlich drehe ich mich um und blicke dich an. Du siehst müde und dünn aus, deine Haut ist blass in dem schwachen Licht. Meine gesamte Kindheit über habe ich gesehen, wie du versuchst, von hier wegzukommen. Aber so habe ich dich noch nie erlebt.
«Wie meinst du das?», frage ich.
Du siehst so traurig aus, als du mich anschaust. Nicht enttäuscht, nicht böse. Nur traurig.
«Was hast du geglaubt? Dass sie nicht begreifen würden, wessen Schlüssel es war? Wessen Code? Das Studio hat personalisierte Codes. Jeder hat einen eigenen, damit man weiß, wer zu welcher Zeit da gewesen ist. Das kontrollieren sie morgens als Erstes, wenn Jorge kommt, und dann werden sie sehen, dass mein Code benutzt wurde.»
Was soll ich machen? Die Scham brennt in mir. Der Verrat. Diese verdammte Dummheit. Ich bin ein Verräter.
Dann kommt die Angst.
«Jorge und Blackeye», sage ich. «Sie werden mich umbringen.»
«Die nicht», erwiderst du. «Aber Biz oder Mahmud oder der Russe werden es auf jeden Fall tun.»
Jetzt spüre ich, wie mir die Tränen über die Wangen laufen. Es ist eine solche Schande, ich meine die Tränen, aber auch dass mich die Angst paralysiert.
«Fadi, Habibi», sagst du. «Wie konntest du nur so dumm sein? Du weißt, dass sie sich nicht damit zufriedengeben werden, die Sachen zurückzubekommen. Wer Pirate Tapes so etwas antut … Verdammt, Fadi, sie sind doch das Einzige, worauf wir hier stolz sein können. Wer so was macht, ist ein Verräter. Das ist ein Verrat an der ganzen Vorstadt. Sie werden nicht zimperlich sein.»
Durch meine Tränen hindurch sehe ich, wie du vom Bett aufstehst und zu deinem Schrank gehst. Du bist fast nie hier, allerhöchstens ein, zwei Nächte in der Woche, aber ich weiß, dass du deine Skizzenbücher hier aufbewahrst. Jetzt streckst du dich, um das oberste Regalbrett zu erreichen, suchst die Blöcke und die Bücher zusammen und steckst sie mit deinem Schwedischwörterbuch in einen Stoffbeutel von Pirate Tapes. Das Lexikon hat viele Eselsohren, es ist verschlissen und abgegriffen von all unseren Tagen und Nächten.
Es erscheint mir unendlich lange her, dass wir glaubten, es würde ausreichen, all diese Wörter zu lernen, dass es genügen würde, wie alle anderen zu singen, anstatt nur zu piepsen und zu krächzen. Du hältst inne, ziehst das Lexikon wieder heraus und legst es auf das Bett.
«Das nimmst besser du», sagst du. «Ich brauche es nicht mehr.»
Ich verberge mein Gesicht zwischen den Händen, ich kann dich nicht länger sehen.
«Woher wusstest du das?», frage ich leise. «Woher wusstest du das mit Pirate Tapes?»
Zwischen den Fingern kann ich sehen, wie du mit den Schultern zuckst, wie du den Kopf schüttelst.
«Ich habe euch schon heute Nachmittag auf der Brücke beobachtet, wie ihr gestresst geraucht habt. Es war klar, dass ihr irgendetwas vorhattet. Ihr seid nicht so wahnsinnig smooth, wie ihr immer denkt, Fadi. Dann habe ich von dem Einbruch gehört. Ich bin doch nicht blöd.»
«Was willst du tun?», frage ich. «Wo willst du hin?»
«Das geht dich nichts an. Es ist besser, wenn du es nicht weißt. Ich melde mich wieder.»
Du hockst dich vor mir hin, ziehst mir die Hände vom Gesicht weg und zwingst mich, dich anzusehen.
«Es ist so», sagst du, und deine Stimme klingt derart ernst, dass die Luft um uns herum zu zittern beginnt. «Im Grunde können sie nur feststellen, dass ich heute Nacht im Studio war. Es ist mein Code. Wenn ich also heute Nacht ohne ein Wort verschwinde, werden sie niemand anderen verdächtigen.»
Du packst meine Handgelenke und siehst mir direkt in die Augen, siehst durch meine Tränen und meine Scham hindurch, durch das Blendwerk, direkt hinein in mein Ich, direkt in meinen Abgrund. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, ich öffne den Mund und schließe ihn wieder, versuche dem Blick aus deinen tiefen Augen auszuweichen, doch du lässt mich nicht los.
«Aber ich verstehe nicht …», stammle ich.
«Es ist ganz einfach, habibi», sagst du. «Am Ende hast du mir ein Boot gebaut.»
Du streichst mir über das Haar.
«Verzeih mir», sage ich. «Verzeih mir, verzeih mir.»
Ich schließe die Augen und spüre deine trockenen Lippen an meinen Wangen. Als ich die Augen wieder öffne, bist du fort.
Yasmine
Der Betonboden unter der dünnen Matratze … das Donnern eines Lastwagens auf der Straße, das die schmutzigen Fensterscheiben vibrieren ließ … die vereinzelten Stimmen und die klappernden Absätze auf dem Asphalt … die Sirenen auf der Atlantic Avenue … die drückende Hitze … der Puls, der zwischen den Ziegelwänden widerhallte … der Schlüssel in der Tür.
Mit einem Ruck setzte sich Yasmine auf. Sie war sofort hellwach, auf nahezu alles gefasst. All die Geräusche und die Lichtstreifen auf dem Boden. Die Dunkelheit, die Reflexe und die Signale, die sie nicht unmittelbar identifizieren, mit nichts verbinden konnte. Aber das Geräusch des Schlüssels in der Tür war ihr vertraut. Sie sah sich um und erhob sich lautlos, zog das schwarze Top vom Vortag über den Kopf, zwängte sich in ihre Jeans und fuhr sich durch ihr dichtes schwarzes Haar. Der raue Boden war erstaunlich kühl unter ihren Fußsohlen.
Der Schlüssel hatte zu kämpfen, das Schloss klemmte und klackte. Chickchackchackchick, hallte es durch die leere Wohnung. Von der Straße flimmerte Blaulicht herein und tanzte auf halbfertigen Leinwänden, die an einer Seite des Zimmers lehnten.
Es war mitten in der Nacht. Wie lange hatte sie geschlafen? Hatte sie überhaupt geschlafen? Der Jetlag rauschte noch in ihr, als würden ihre Sinne über eine längst verlassene Radiofrequenz gesteuert, die sie träge und langsam machte. Sie schüttelte den Kopf, um wieder klar zu denken. Leise bewegte sie sich auf das Geräusch zu in Richtung Tür, instinktiv und wachsam wie ein Tier. In ihrem Rücken verschwanden die Sirenen auf der rissigen Straße, und es kehrte wieder Ruhe ein. Nur der Schlüssel im Schloss war noch zu hören.
Sie näherte sich der Tür, bis ihre Lippen das Metall berührten, als sie auf Schwedisch flüsterte: «Bist du es?»
Ihre Stimme war trocken und heiser von der Flugzeugluft. Der Schlüssel verstummte.
«Yasmine?», fragte er auf der anderen Seite der Tür.
Wie er ihren Namen sagte. Die Betonung und diese abgehackte, ungeduldige Melodie. Aggression und Verwirrung zugleich. Alles, was sie aufgebaut hatten, war innerhalb eines Augenblicks zusammengestürzt.
Sie entriegelte das Schloss von innen, und die Tür glitt auf.
David sah beinahe normal aus, fast so wie noch vor einer Woche. Die vertrauten, sanft geschwungenen Lippen, die tiefe Stirnfalte. Das Grübchen in der linken Wange, der rasierte Schädel. Er trug dasselbe graue T-Shirt mit denselben Flecken von Sprayfarbe und Tusche und dieselbe alte Jeans aus dickem Denim, die sie ihm auf ihrer ersten Reise nach Tokio in Shibuya gekauft hatte. Allerdings hatte er auch Bartstoppeln, schmutzige Nägel und diesen Quecksilberblick.
«Yasmine, Baby!»
Er öffnete die Arme und trat lächelnd über die Schwelle, seine Zähne leuchteten gelblich im Schein der Straßenlaterne. Sie wich einen Schritt zurück vor seinem Versuch einer Umarmung.
«Baby, I didn’t realize … What time is it?»
Er drehte das Handgelenk auf der Suche nach einer nicht vorhandenen Uhr und klopfte seine Taschen ab, bis er schließlich sein Handy fand und frenetisch darauf herumtippte, ohne dass es reagierte.
«What the fuck? I’m outta battery, baby! What time is it?»
Sein Kiefer mahlte ununterbrochen, und er ließ das Telefon fallen, das scheppernd auf dem Betonboden aufkam. Dann näherte er sich ihr wieder, die Hände erhoben, als wollte er ihr Gesicht berühren. Yasmine wich erneut zurück, bis sie mitten im Raum stand, mitten in diesem Loft, wie er es nannte, dabei war es nicht größer als eine Studentenbude oder ein begehbarer Schrank, auch wenn die Decken hoch waren und die Sonne manchmal, am frühen Morgen, das Zimmer mit Licht erfüllte.
«Warum sprichst du Englisch mit mir?», fragte sie.
Er blieb stehen und betrachtete sie, als hätte er ihre Anwesenheit gerade erst bemerkt.
«Wie bist du hier reingekommen?», fragte er auf Schwedisch, in einem vorwurfsvollen Ton, der paranoid und aggressiv klang.
«David», sagte sie und legte den Kopf schief wie ein Kind. «Was ist passiert?»
Sie hatte die Arme über der Brust verschränkt und spürte, wie Wut durch ihren Schmerz und ihre Verwirrung drang und wie sie wuchs. Es gab einen Abgrund in ihr, in ihnen beiden, in diesem Raum. Und immer wenn sie glaubte, sie hätte am brüchigen Rand dieses Abgrunds Halt gefunden, merkte sie, wie er sich weitete und ihre Finger abzurutschen drohten. Sosehr sie auch kämpfte, strampelte und blutete, am Ende stürzte sie trotzdem für immer in die Tiefe.
«Passiert?», fragte er. «Wie meinst du das, passiert?»
Er öffnete den Kühlschrank, zog die Gemüsefächer heraus, schob sie wieder zurück und wühlte weiter. Ein Päckchen Butter fiel auf den Boden, ohne dass er es bemerkte.
«Bei Timmy und Aisha war eine Party, dann sind wir mit Rasheed und ein paar anderen Leuten weitergezogen.»
Er drehte sich verwundert zu ihr um.
«Aber was machst du jetzt schon hier? Du wolltest doch erst am Donnerstag kommen?»
«Es ist Donnerstag», sagte sie und massierte ihre Schläfen mit den Fingerspitzen. «Inzwischen vielleicht sogar schon Freitag.»
Das Rauschen ließ nicht nach, im Gegenteil, es wurde stärker.
«Die Party bei Timmy und Aisha war schon am Dienstag», fuhr sie fort. «Du warst seitdem nicht zu Hause, oder?»
Er zuckte mit den Schultern und schien nachzudenken.
«Donnerstag?», fragte er. «Rasheed und ich haben uns ein paar Beats angehört, die er entdeckt hat. Dann sind wir zu einer Party in Bushwick gefahren. Lauren war auch da.»
Er sah aus, als erwartete er Lob dafür, den Namen einer Galeristin genannt zu haben, die niemals ein Bild von ihm ausstellen würde, was sie beide wussten.
«Sie war wahnsinnig interessiert an meiner neuen Phase, du weißt schon, die Vögel und die Kirchen. Habe ich dir davon eigentlich schon erzählt?»
Yasmine sank auf den Boden und schlug die Hände vors Gesicht. Ihre Finger glitten von der Felskante ab.
«Schon tausendmal, David. Aber du hast rein gar nichts gemalt, hab ich recht? Nicht einen einzigen, dämlichen Strich!»
Sie stand wieder auf, ging zu der Matratze in der Ecke und griff nach zwei dünnen, raschelnden Seiten. Dann kehrte sie zu David zurück und legte die Dokumente wortlos vor ihn auf den Küchentisch.
Er beugte sich vor und kniff die Augen zusammen.
«Ach, das», sagte er. «Scheiß drauf. Es dauert doch ewig, bis so was vor Gericht kommt. We’re artists, baby! Zwangsräumungen sind Teil unseres Lebens.»
«Das Gericht entscheidet in zehn Tagen, David. Danach stehen wir auf der Straße, hast du verstanden? Ich habe dir verdammt noch mal jede Woche Geld gegeben, um die Miete zu bezahlen. Wofür hast du es rausgeworfen? Speed? Partys in Bushwick?»
Tiefer und tiefer hinab in den Abgrund. Sie hatte nicht einmal Lust, dagegen anzukämpfen.
«Ich brauche einen Drink», antwortete er und riss die Tür des Gefrierfachs auf.
Er kramte geräuschvoll darin herum, bis er eine beschlagene Flasche zu fassen bekam, die er in das graue Dämmerlicht der Nacht hochhielt. Er drehte und schüttelte sie und stellte sie auf den Kopf, ehe er sie mit voller Kraft gegen die graue Ziegelwand schmetterte. Die Flasche verfehlte das Fenster um wenige Zentimeter und zersprang in einem Splitterregen.
«Warum hast du den Wodka ausgetrunken?», zischte er und drehte sich zu ihr um.
Vielleicht lag es an der drohenden Räumung, vielleicht an der Reise und dem Jetlag. Vielleicht auch an der Trauer und der Verwirrung der letzten Monate, die in ihr wuchsen – oder an dem immer größer werdenden Abgrund unter ihr. Oder es lag nur an dem Schmutz unter seinen Fingernägeln. Vielleicht führte auch all das zusammen dazu, dass sie plötzlich den dunklen, blutigen Boden des Abgrunds sah. Jedenfalls verwandelten sich seine Drohungen plötzlich in ein Versprechen. Plötzlich wusste sie, was zu tun war.
«Ich habe deinen Wodka nicht angerührt, David!», sagte sie.
Und nicht nur das. Ihre Stimme zitterte nicht dabei, sie wich ihm und seinem Blick auch nicht aus. Stattdessen verschränkte sie wieder die Arme vor der Brust und ging auf ihn zu. Sie spürte, wie sich eine Scherbe in den Ballen ihres linken Fußes bohrte, das Glas fühlte sich kalt an in der Hitze, sogar ihr Blut fühlte sich kalt an.
David schien verwundert zu sein. Was sie sagte, wich von ihrer bisherigen Geschichte ab, einer Geschichte zahlloser Szenen, in denen sie mit Besen und Kehrblech in der Ecke kniete und die Scherben auffegte. Für einen Moment wirkte er betreten, doch seine Kiefer mahlten weiter, und seine Pupillen wirkten, als würden sie gleich zerspringen.
Dann fragte er: «Was hast du da gerade gesagt?»
Er trat einen Schritt auf sie zu, und seine Mundwinkel zuckten, vom Speed oder von der Anstrengung oder dem Schlafmangel. Sie spürte erneut, wie ihre Finger über die Kante glitten, wie sie aufgeschürft wurden und zugleich das Blut aus ihr herausrann, durch den Fuß, über den Beton.
Sie wusste, dass sie es sofort beenden konnte. Sie könnte einknicken, sich beugen. Toilettenpapier holen und die verdammten Scherben zusammenklauben. Zum indischen Laden auf der Classon Avenue rennen, der die ganze Nacht geöffnet hatte, und eine Flasche Jack Daniel’s kaufen. Er würde sie zur Hälfte austrinken und vielleicht eine Weile toben. Sie würde seine Wut von ihrer Person weglenken nach außen, auf die Galeristen und Agenten und all die anderen Leute, die er dafür verantwortlich machte, dass er kein einziges taugliches Bild gemalt hatte, seit sie nach Brooklyn gekommen waren. Vielleicht könnte sie sich Geld von Brett leihen, um die Zwangsräumung abzuwenden? Ein paar Reisen nach Tokio oder Berlin machen. Und weiter Geld zurücklegen für eine eigene Wohnung, in die sie in einer dunklen Nacht für immer verschwinden könnte. Sie könnte all das tun, was sie schon hundertmal zuvor getan hatte, könnte es sich erlauben, langsam wieder in den Abgrund zu fallen und sich von der Geschichte verschlingen zu lassen.
Aber sie tat es nicht.
«Ich habe gesagt, dass ich zehn Tage in Tokio war», erwiderte sie stattdessen. «Und du weißt, dass ich deinen verdammten Wodka nicht angerührt habe.»
Er tat einen Schritt auf sie zu und schien für einen Moment abzuschätzen, was sie eigentlich vorhatte.
«Aber du warst hier und hast zum tausendsten Mal beim Feiern mit deinem dämlichen Loserclub die Miete verprasst, während ich dafür gearbeitet habe, dass es vorangeht und wir aus dieser Scheiße rauskommen», fuhr sie fort.
Jetzt war sie zu weit gegangen. Weiter als je zuvor. Aber der Schlafmangel hatte sie leichtfertig gemacht. Für einen Moment kam es ihr so vor, als wäre sie nicht länger ein Teil dieser Szene. Als hätte der letzte Monat dazu geführt, dass sie sich ein wenig aus den Klauen dieser Geschichte befreit hatte, als wären all die Dinge, die David und sie gemeinsam erlebt hatten, nicht mehr wichtig, sondern nur noch vergessene Mythen und Träume.
Inzwischen war ein Monat vergangen. Ein Monat, seit Fadi verschwunden war. Seit das Handy in ihrer Tasche gesummt hatte, als sie in der U-Bahn irgendwo unter dem Washington Square Park entlanggefahren war, und sich die Welt um sie herum von einem Moment auf den anderen langsamer gedreht hatte. Ein Monat war vergangen, seit sie begonnen hatte, vor der Trauer und der Vergangenheit zu fliehen, schneller und weiter, als sie es sich zugetraut hätte. Und dann, in genau dem Augenblick, als sie geglaubt hatte, weiter könnte sie nicht mehr weglaufen, und gespürt hatte, dass die Trauer sie allmählich einholte, kam die zweite Nachricht. Das war vor vier Tagen gewesen. Ein verschwommenes Bild, das vielleicht Fadi darstellte und in Bergort aufgenommen worden war. Fadi war tot. Fadi lebte. Nichts passte mehr zusammen, es gab keine erkennbaren Muster mehr.
«Du verdammtes Schwein!», schrie sie jetzt und hörte, wie ihre Stimme brach, wie sie rau und verletzlich klang.
«Halt die Fresse!», brüllte David zurück, deutlich lauter als sie.
Er hielt ihr eine Hand vors Gesicht, als wollte er ihre Worte daran hindern, in den Raum hinauszudringen.
«Du sollst einfach nur die Fresse halten! Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Hä? Ich bin dir nichts schuldig! Und das weißt du auch.»
Jetzt schrie er ihr direkt ins Gesicht, sie konnte seinen chemischen Atem riechen und den stechenden Schweißgeruch von einem achtundvierzigstündigen Fest. Dann wurde seine Stimme leiser, bedrohlicher.
«Was bildest du dir ein, mir solchen Bullshit entgegenzuschleudern? Ohne mich wärst du immer noch im Kanakenland. Ohne mich würdest du jetzt in dem dämlichen Nagelstudio der Mutter deiner Freundin zu Hause in der Betonburg arbeiten, du undankbare kleine Fotze. Oder du wärst tot wie dein verdammter Bruder. Kommst mir hier mit deinen Japanreisen – als hättest du die nicht auch mir zu verdanken. Du solltest dich schämen!»
Sie spürte, wie sein Speichel auf ihre Wange spritzte, und wusste, dass er recht hatte. Er hatte es ihr schon so oft gesagt. Sie hatte es schon so oft gedacht: Sie stand derart tief in seiner Schuld, dass der Abgrund gerechtfertigt war. Sie spürte, wie die Geschichte erneut ihre Klauen in sie schlug. Wie sie sie an sich zog und langsam mit in die Tiefe riss.
Jetzt war sie wieder kurz davor, loszulassen und hinabzustürzen. Kurz davor, die Arme um ihn zu legen. Ihn festzuhalten, seinen Kopf an ihrer Schulter zu spüren, seine Arme um ihre Taille.
Doch irgendetwas war in dieser Nacht anders. Als würde direkt am Rand des Abgrunds eine Strickleiter baumeln, die sie gerade so erreichen konnte – Fadis Tod und seine Wiederauferstehung. Die Welt erbebte und drehte sich, bis Yasmine schwindelig war. Die Reise zwischen den Zeitzonen hatte ihr ein Gefühl von Leichtigkeit und Unwirklichkeit gegeben. Aber sie wusste, dass sie die Leiter nicht allein würde erreichen können, sie brauchte ihn selbst dafür, sie brauchte David, um sich von David zu befreien. Vielleicht vor allem, um sich aus dem bodenlosen Abgrund hinaufzuarbeiten und die Geschichte neu zu schreiben. Sie brauchte ihn, um sich zu befreien und zu retten, was noch zu retten war.
Also nahm sie allen Mut zusammen und zwang die aufkommende Zärtlichkeit mit reiner Willenskraft, dem Hass zu weichen. Sie schubste David weg, so fest sie konnte, und schrie mit aller Kraft.
Er stolperte einen Schritt rückwärts und war für einen Moment desorientiert.
«Verflucht, was für ein jämmerliches Fake du bist», schrie sie. «Was für ein Clown! Du glaubst, du wärst Künstler …»
Sie lachte höhnisch.
«Künstler! Was für ein Witz! Du hast seit einem Jahr keinen Strich gemalt. Du bist ein Junkie, David. Nur einen winzigen Schritt von der Gosse entfernt. Und du glaubst, du hättest mich gerettet? Kapierst du nicht, dass ich das Einzige bin, was dich noch davor bewahrt, auf einer Parkbank zu schlafen?»
Weiter kam sie nicht, dann traf Davids Faust sie über der Schläfe. Ein brennender Schmerz, in ihrem Kopf drehte sich alles, und sie fühlte sich fast schwerelos, während sie rückwärts auf den Betonboden fiel, den Geschmack von Metall auf der Zunge. Ein Gefühl von Leere und Traurigkeit. Wie das Ende der Geschichte.
Und das Gefühl eines Sieges.
Fadi
Die Vorstadt heißt also Bergort, sie nennen sie Bergort, sie können sie nennen, wie sie wollen, uns ist es egal. Wir können es doch nicht aussprechen, und trotzdem sind wir damit immer noch besser als sie. Denn wir wissen jetzt, dass sie hier niemals werden sprechen können, sich niemals werden verständigen können. Stumm werden sie vor diesen Wänden stehen – oder schlimmer noch als stumm, denn sie wollen es versuchen. Sie werden stammeln und stottern und glauben, dass ihre gerollten Konsonanten und vertauschten Vokale ausreichen würden, um hier zurechtzukommen; dass es ausreichen würde, radebrechend zu erklären, was man will. Aber das tut es nicht, es genügt nie. Ihre gestikulierenden Arme, flackernden Blicke, ihre schwarzen abgewetzten Anzughosen, Kopftücher und Schmuckstücke. Wie sollte das ausreichen? Wir haben es schon vom ersten Tag an gewusst. Wie hatte es ihnen entgehen können? Dass wir hier fremd sind. Dass wir nie mehr werden können als die Summe unserer Einschränkungen. Dass es für solche wie uns nie ausreicht, alles so gut zu machen, wie wir können.
Also treffen wir eine Entscheidung, hier, im Wohnzimmer unserer neuen, alten, heruntergekommenen Wohnung mit dem zerkratzten Parkett und den Kinderkritzeleien auf den Küchenschränken, mit unseren albernen Erinnerungen, die immer noch in einem Umzugskarton an der Wand verpackt stehen, denn genau wie sie warten wir nach wie vor darauf, dass jemand die Sache angeht. Dass uns endlich jemand auspackt und in die neue Umgebung einfügt. Doch hier auf dem Parkett beschließen wir, dass wir nicht so sind wie die Sachen in der Kiste, dass wir auf niemanden warten können, dass wir uns nie auf die beiden Menschen dort draußen in der Küche verlassen können, die uns hierherbrachten und anschließend kapitulierten. Die nur aus alten Kleidern, alten Gedanken und alter Sprache bestehen.
Schweigend sitzen wir da. Wir hören, wie sie in der Küche murmeln, wie sie über die Tahina aus dem Laden unten am Platz klagen und über die sauren Tomaten, die Petersilie, das Olivenöl, darüber, dass es hier oben im Norden kein Gemüse gibt, das diese Bezeichnung verdient hätte. Wir sehen einander an, und du lächelst und fährst mir über die Wange, streichst mir eine Strähne aus der Stirn. Du hast mir gerade ein Wort beigebracht, das so lustig ist. Schnitzel. Es war ein Gericht, das es in der Schulmensa gab, etwas, das irgendwie braun und grau aussah und möglicherweise Fleisch enthielt. Eigentlich dürfen wir ja kein Schweinefleisch essen, aber wir kümmern uns nicht darum. Dazu gab es Kartoffeln, es gibt immer zu allem Kartoffeln.
Wir sitzen auf dem Boden und lauschen ihrem Gejammer und Genörgel aus der Küche, und es kommt mir so vor, als wären wir jetzt hier allein, nur du und ich, als lägen Ozeane, ja, ganze Welten, Galaxien, Universen, zwischen uns und der Küche.
Von der schiefen Balkontür zieht ein kalter Wind herein, und du flüsterst mir zu: «Vielleicht sollten wir stattdessen Schnitzel essen.»
Und wir lachen, bis wir kaum noch Luft bekommen. Hier fängt es an. Hier beschließen wir, dass es nur noch uns gibt.
Anfangs gehen wir nur vor die Tür, wenn wir in die Schule müssen. Nach der Schule warte ich bei den Baracken auf dich, ich verstecke mich hinter den Büschen, die im Herbst das Laub verlieren und genauso kahl und hässlich werden wie alles andere hier. Während ich auf der großen Uhr des Ziegelsteingebäudes auf der anderen Seite des Hofs die Minuten zähle, pflücke ich die weißen Beeren von den Büschen, die zwischen meinen Fingern zerplatzen, sodass ihr Saft herausspritzt.
Immer ist es grau, immer regnet es. Bis es eines Tages zu schneien anfängt. Im ersten Moment kann ich es nicht glauben, diese Flocken, die aus dem Nichts kommen und leicht sind wie Gedanken, wie Träume, wie Wind. Ich friere und hüpfe und zittere und warte und warte.
Und ich frage mich, wer dort hineingehen darf, in diese große Ziegelsteinschule, und warum wir hier in diese Baracken gehen müssen, und ich zähle die Sekunden, die mir wie Minuten vorkommen, wie Stunden und Tage, bis du schließlich aus der Tür herauskommst, immer als Erste, immer allein, immer so lange in das Gebüsch starrend, bis du mich entdeckst. Und dann ist es nicht mehr kalt, nicht mehr trostlos, dann sind die Sekunden keine Stunden mehr, und der Nachmittag ist zeitlos mit dir.
In diesem Herbst, in diesem Winter, tauschen wir ihr «Wayed Wayed» gegen unser «Razor Tongue» und «7Days» und gegen Britney Spears. In diesem Herbst, in diesem Winter gehen wir über den Asphalt, zwischen struppigen Hecken und gefrorenem Gras, durch eine Welt, die immer dunkler wird, bis ich glaube, die Sonne nie wiederzusehen, als wäre sie für immer verschwunden und hätte mich allein gelassen. Als wäre ich von allem verlassen. Bis auf dich, meine Schwester.
Und langsam gehen wir zu ihnen nach Hause, über den vereisten Boden, wir lassen unsere Füße durch den Neuschnee schleifen und hinterlassen kleine Gräben und Furchen, Zeichen, an denen man sich orientieren könnte. Als wären wir Hänsel und Gretel und müssten nicht den Weg nach Hause finden, sondern einen Weg von hier fort.
Es wird so schnell kalt, und ich friere in meinen alten Turnschuhen, wenn der Schnee bis unter die Lasche dringt oder durch das Loch in meiner Sohle oder unter meine viel zu kurzen Hosenbeine.
«Du wächst zu schnell, kleiner Bruder», sagst du. «Bald können wir uns deine Beine nicht mehr leisten.»
Und die Kälte dringt auch durch die Polyesterjacke und die senfgelbe Strickjacke aus dem Secondhandladen, durch T-Shirts und die Haut bis in die Knochen.
«Wir sind bald zu Hause, Habibi», sagst du. «Dann lassen wir dir ein warmes Bad ein.»
Und wir lachen, denn wir haben ja keine Badewanne, nur eine Dusche mit einem dünnen, lauwarmen Strahl. Doch unser Lachen wärmt mich.
Du sagst: «Möwe, Möbel, möchten, mögen.»
Neue Wörter, die du gelernt hast. In deinem Mund klingen sie wie Vogelzwitschern, vollkommen fremd, nicht menschlich. Aber wir wissen, dass sie der Schlüssel zu allem sind, wirklich allem. Wir verstehen, dass wir keine Wahl haben. Wir sind jetzt hier, und wir können unsere kurzen Hosen, dreckigen Schuhe und unser enges, schreckliches Zuhause nicht austauschen. Aber wir können die Melodie der Sprache lernen, bis wir schöner singen können als alle anderen.
Und als der Frühling endlich sein blasses Licht auf das gelbe Gras wirft, krähe ich: «Erben, sterben, Regen, leben.»
«Das ist ein unreiner Reim!», sagst du.
Und wir lachen wieder, heftig, atemlos, bis wir uns in den schmelzenden Schneewehen wälzen, zwei dünne, ausgezehrte, einsame Kinder in einer vollkommen fremden Welt.
Manchmal ist die Wohnung leer, wenn wir nachmittags nach Hause kommen, leer und dunkel, nur die Gerüche hängen in der Luft. Dann bereuen wir, dass wir uns nicht beeilt haben, dass wir nicht schneller durch den Winter nach Hause gerannt sind, um noch mehr von diesen Augenblicken für uns allein zu haben, hier in der Dunkelheit, wo es verhältnismäßig warm ist.
An diesen Nachmittagen, die wir für uns haben, wenn wir die Kissen auf den Boden legen und ganz dicht vor dem Fernseher sitzen, beinahe hineinkriechen in den Bildschirm, kommen wir in dieser ersten Zeit dem Glück am nächsten. Wir lernen das Wort zappen und zappen an den arabischen Sendern vorbei direkt zu Ricki Lane und Oprah Winfrey und Wiederholungen von Beverly Hills, 90210. Wir tunken trockenes Brot in Hummus oder Baba Ganoush oder was wir sonst noch im Kühlschrank hinter den sauren Tomaten und den geschmacksarmen, fauligen Paprika finden. Dann liegen wir einfach da, noch immer durchgefroren und dösig, mit halb geöffneten Augen, und du liest mir die Untertitel vor. Deine Stimme ist schwer und müde und so warm, dass ich träume, ich könnte mich darin einhüllen wie in eine Decke, wie in die dickste, weichste Decke der Welt, und so lange schlafen, bis die Kälte verflogen ist und die Sonne durch die Schlitze der kaputten Jalousien hereinfällt und uns die Welt zurückgibt.
Meistens aber, zwischen Kursen und Gelegenheitsjobs, ist einer von ihnen zu Hause. Oder sie sind beide da, mit ihrem Seufzen und Stöhnen, ihren müden Augen, ihren erbärmlichen Streitereien, ihren halbherzigen Fragen nach unseren Hausaufgaben und ihrem aufgeregten Gerede und ihren resignierten Gesten, wenn wir sagen, wir hätten keine Hausaufgaben. Wie sollten wir da jemals etwas lernen? Diese Gesellschaft sei zu nachgiebig und unbekümmert.
Sie sollten uns selbst Mathe- und Arabischaufgaben stellen, denn sie können doch hören, wie wir uns wegbewegen, uns von ihnen wegbewegen, wie wir wispern und flüstern.
«Kopf, Topf, Zopf, Schopf.»
«Gut, Hut, Wut, Mut.»
Sie können doch hören, wie wir krächzen und fast schon singen.
Sie können doch sehen, wie unsere Flügel wachsen.
Yasmine
Die Sonne war gerade erst in einem grauen Sommernebel aufgegangen, als der Zug auf die Manhattan Bridge rattert, doch es war bereits warm. Yasmines linkes Auge pochte und schmerzte. Viel mehr Sorge bereitete ihr aber der Fuß, aus dem sie am Vortag morgens nur schnell die Glasscherben herausgezogen hatte, ehe sie in ihre schwarzen Leinenschuhe geschlüpft war. Sie hatte die Wunde nicht gereinigt und erst viel später verbunden, am Nachmittag auf der Toilette eines Diners in Prospect Heights. Jetzt spürte sie, wie die Wunde unter der Kautschuksohle pulsierte und das schmierige Blut an der zerknautschten Kompresse klebte. Natürlich machte es die Sache nicht besser, dass sie gestern Abend stundenlang in der Dunkelheit im Prospect Park herumgelaufen war wie eine Scheintote, ehe sie sich schließlich ein Zimmer in einem Hotel in der Dean Street genommen hatte, das sie sich eigentlich gar nicht leisten konnte, um dort eine weitere schlaflose Nacht zu verbringen.
Sie blickte über den Fluss und die kompakte, morgengraue Silhouette der Stadt, und hatte das Gefühl, dass ihr Leben noch einmal aufgehört und sie noch einmal den Endpunkt erreicht hätte. Merkwürdigerweise hatte dieses Gefühl kaum etwas mit David zu tun. Eigentlich hatte sie sich den Augenblick, in dem sie ihn endlich verlassen würde, anders vorgestellt. Reiner und klarer, überwältigender, nicht wie ein Glied in einer Kette von Größerem und Wichtigerem.
Jetzt lag alles, was sie besaß, neben ihr auf dem U-Bahn-Sitz in einem Seesack von der amerikanischen Flotte, den sie sich vor einem halben Jahr vor ihrer ersten Reise nach Ljubljana gekauft hatte. Darin waren ihr Skizzenbuch, ihr Computer, Unterwäsche und Socken, T-Shirts und ein marineblaues, weites knielanges Kleid von einem englischen Designer, das so teuer gewesen war, dass ihr schwindelig geworden war, als sie es vor ein paar Monaten bei ebay ersteigert hatte. Außerdem ein M51-Parka, die kleinste Größe und doch zu groß, den sie im selben Armeeladen gekauft hatte wie den Seesack. Ihr Handy und die überzogene American-Express-Karte hatte sie ebenfalls eingesteckt. Diese Dinge hatte sie mitnehmen können. Alles andere gehörte ihrer Vergangenheit an. Noch einer Vergangenheit.
Sie zog das Handy aus der Tasche. Es zitterte, weil sich die Vibrationen des Zugs auf ihre Hand übertrugen. Das Telefon war warm, genauso hatte es sich vor einem Monat angefühlt, als sie in einer anderen U-Bahn saß, uptown wie jetzt, auf dem Weg zu irgendeinem Kunden nahe der Grand Central Station. Sie erinnerte sich nicht mehr daran, welcher Kunde es gewesen und worum es gegangen war, sondern wusste nur noch, dass das Handy in ihrer Hand gepiept hatte und wie sie innerlich vor Scham und Freude zusammengezuckt war, als sie den Absender sah. Eine Mail von Parisa.
Scham verspürte sie, weil sie an all die anderen Mails denken musste, die sie nie beantwortet hatte, und weil ihre Gedanken zurück nach Bergort gelenkt wurden, zurück zu ihrem alten Leben und allen, die sie im Stich gelassen hatte, zurück zu Ignacio und Fadi.
Und gleichzeitig Freude, weil Parisa standhaft blieb und ihr noch immer ab und zu schrieb, ein paarmal im Jahr, obwohl Yasmines Antwort immer ausblieb und sie nicht einmal wusste, ob Yasmine ihre Nachrichten überhaupt las. Sogar Fadi hatte irgendwann zu schreiben aufgehört. Anfangs hatte sie antworten wollen, zumindest auf seine Mails. Sie hatte die Antworten im Kopf formuliert, während sie auf der Matratze auf dem Boden in Crown Heights lag. Lange, detaillierte Briefe mit Erklärungen und dem Versprechen ihrer Rückkehr.
Sie antwortete heute noch in Gedanken, etwa drei Jahre nach Fadis letzter Mail. Aber sie schrieb ihnen nie wirklich, sie wusste einfach nicht, wie sie anfangen sollte. Ihr Bruch mit Bergort war so plötzlich und vollständig gewesen. Aber es war die einzige Möglichkeit gewesen. Sie hatte Fadi verlassen und war direkt mit David nach Arlanda gefahren. Und Ignacio? Hatte er geahnt, dass sie weggehen würde? Dass sie sich deshalb schon von ihm getrennt hatte, bevor sie David kennenlernte? Auch Ignacios Mails waren irgendwann ausgeblieben.
David und sie waren wie berauscht gewesen, als sie von ihren Stipendiengeldern Tickets gekauft hatten. Gleichzeitig hatte sie ihr Facebook- und Instagram-Konto gelöscht. Sie hatte alles getilgt, was sie im Netz der Vorstadt hätte gefangen halten können. Alles bis auf die Mail-Adressen, eine letzte kleine Rettungsleine. Alles bis auf die Scham.
Wie hatte sie dieses Leben nur so schnell hinter sich lassen können? Bergort, das sie geformt hatte. Ignacio, der ihre erste große Liebe gewesen war. Vor allem aber Fadi. Ihr Bruder, ihr eigen Fleisch und Blut, den sie beschützt, über den sie gewacht hatte, solange sie denken konnte. Aber es hatte nie eine Alternative gegeben, die Vorstadt drohte in sie hineinzuwachsen und sie in eine dunkle Tiefe zu ziehen, von der sie immer gewusst hatte, dass sie dort existiert, und deren Teil zu werden sie immer befürchtet hatte.
Doch als sie David kennengelernt hatte, schien es, als würde sich plötzlich ein anderer Weg auftun. Eine andere Richtung, ein anderes Leben. Und das hatte sie sofort gewählt, beinahe ohne darüber nachzudenken. Wenn man weiterwollte, durfte man manche Gedanken nicht zu Ende denken.
In dem Moment, als die alte American-Airlines-Maschine vor vier Jahren in JFK gelandet war, hatte ihr Leben von vorn begonnen. Wie Millionen andere Menschen hüllte sie sich in diesen Tarnmantel New York und tauchte darin unter. Vor New York gab es nichts. Keine Geschichte, keine Vergangenheit. Nur das Danach, die Zukunft. Der amerikanische Traum. Trotz David, der Drogen und der Armut. Trotz des Heimwehs und des schleichenden Gefühls, dass dieses Dunkle, Klebrige, das sie nach unten zog, nicht aus der Vorstadt kam, sondern die ganze Zeit in ihr selbst vorhanden war.
Und dann kam plötzlich die Mail von Parisa – wie aus dem Nichts. Sie wusste nicht einmal, warum sie sie geöffnet hatte, vielleicht war ihr Bergort so fern erschienen, dass sie geglaubt hatte, der Fluch wäre gebannt.
Die Nachricht war kurz gewesen. Sie hatte nur aus ein paar Zeilen bestanden:
Hallo Yazz,
ist das überhaupt noch deine Mail-Adresse? Anyway, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Dein Bruder ist tot. Keine Ahnung, was du gehört hast, aber er war nach Syrien gegangen. Jetzt haben sie auf Facebook geschrieben, dass er im Kampf gefallen ist. Mehdi hat es deinen Eltern erzählt. Es tut mir so leid, Schwester.
Sie wusste noch, dass der Zug an der 31st Street angehalten hatte, als sie gerade den letzten Satz gelesen hatte, und dass sie aufgesprungen war und sich durch den Wagen gedrängt hatte und die Rolltreppen zum Washington Square Park hinaufgerannt war.
Der Rest dieses Tages war wie ausgelöscht, sie erinnerte sich nur noch an den Abend, als David sie zusammengekauert unter dem Fenster in ihrem chaotischen Studio in Crown Heights fand.
«Du musst deine Eltern anrufen», hatte er geflüstert und sich an sie gekuschelt, ausnahmsweise einmal nicht ungeduldig und hektisch, sondern ruhig und warmherzig.
Aber sie hatte sich aus seiner Umarmung gewunden, nur den Kopf geschüttelt und die Wand angestarrt, paralysiert von dem Gefühl, nicht mehr weiterleben zu können.
Am nächsten Morgen war sie mit einem neuen Gefühl in der Brust aufgewacht. Einer unendlichen Einsamkeit. David war wieder verschwunden und der Raum kühl und leer. Ein glühender Sonnenstreifen hatte seinen Weg durch das schmutzige Fensterglas gefunden, es sah aus, als hätte jemand Orangensaft auf dem Boden verschüttet.
Sie hatte den Raum mehrere Tage nicht verlassen, bis Brett gekommen war, weil sie eine Besprechung mit ihm verpasst hatte, und sie ins Café mitgeschleift hatte, wo sie einen halben Bagel aß und dabei kaum die Augen offen halten konnte. Privat hatten sie sich eigentlich noch nie getroffen. Brett war nicht der tröstende Typ, und sie war kein Mensch, der sich gern trösten ließ, also saßen sie die meiste Zeit in quälendem Schweigen dort, bis sie irgendwann den Kopf hob und seinem unangenehmen Blick begegnete.
«Organisier mir einen Job», hatte sie ihn gebeten. «Was auch immer. Hauptsache weit weg.»
Was auch immer, um den Gedanken an Fadi zu verdrängen und nicht mit David darüber reden zu müssen. Was auch immer, um nicht ihre Eltern anrufen oder zurück nach Bergort fahren zu müssen. Was auch immer, um vor sich und ihrem eigenen Verrat davonzulaufen.
Brett hatte genickt und ihr spärliches Frühstück bezahlt. Drei Tage später flog sie über Detroit nach Baltimore und von dort weiter nach Tokio. Sie hatte es kaum geschafft, vorher noch ihre Kleidung zu waschen. Und in Japan war sie nur mehr ein Schatten ihrer selbst. Sie ließ sich zwischen Hotels und Flughäfen hin- und herfahren, von einem Treffen mit Künstlern und Werbeleuten zum anderen, vollkommen desinteressiert an den Gesprächen und der Welt um sie herum. Das Einzige, was sie aufrecht hielt, war der eigentliche Weg, die Richtung, die sie verfolgte.
An einem Dienstag mitten in der Nacht, als sie in einem modernen Tokioter Hotel mit vielen rechten Winkeln und hellem Holz irgendwo in Shibuya gesessen hatte, war die zweite Nachricht eingegangen. Zum ersten Mal sah sie die Mail-Adresse ihrer Mutter, und für einen Moment wollte sie die Nachricht ungelesen löschen. Doch sie war so erschöpft, war es so leid, alles abzuwehren und ständig zu fliehen, dass sie die Mitteilung doch öffnete. Der Text war kurz:
Auf Facebook steht, Fadi wäre vor einem Monat gestorben, dabei war er erst vor wenigen Tagen in Bergort. Ich verstehe das nicht, Yasmine. Bitte komm nach Hause.
Sie setzte sich in ihrem Hotelbett auf und knipste die Lampe an. Der Nachricht waren vier Bilder beigefügt. Das erste zeigte einen jungen Mann, der eine etwa einen Meter hohe, quadratische Schablone an eine schmutzige Wand hielt und mit einer roten Sprayflasche daraufsprühte.
Im Licht der Straßenlaterne trat sein Profil erstaunlich deutlich hervor. Yasmine fuhr mit zitternden Fingern über das Bild und vergrößerte es so weit wie möglich, bis fast nur noch der Mann und sein grobkörniges Gesicht zu sehen waren. Er war mager und ausgezehrt, dünner denn je, und er hatte sich deutlich verändert. Doch Yasmine erkannte ihn sofort. Das hätte sie auf jedem Bild getan. Es war Fadi, kein Zweifel.
Jetzt humpelte Yasmine an der Bleecker Street aus dem Zug und ging die Treppen zur Houston Street hinauf. Brett stand auf dem Parkplatz der Tankstelle, er lehnte an einem schwarzen SUV, der monströs genug für einen Oligarchen wäre. «Are you safe enough?», fragte irgendeine Firma namens Stirling Security mit meterhohen Buchstaben auf der Plakatwand über ihm. Yasmine biss die Zähne zusammen und versuchte, den Schmerz im Fuß zu verdrängen. Dafür hatte sie jetzt keine Zeit.
David hatte alles ausgegeben, was sie mühsam erspart hatte. Nur Bretts Kontakte und ihre eigene street smartness konnten jetzt noch dafür sorgen, dass sie mit dem nächsten Flugzeug nach Stockholm gelangte. Sie hatte Brett die drei anderen Bilder – ohne Fadi – weitergeleitet, die der Mail ihrer Mutter angehängt gewesen waren. Drei Bilder, die zeigten, dass in Bergort noch etwas anderes im Gange war. Jetzt kam es darauf an, dass dies ihr die Reise nach Schweden ermöglichte und ihr die Chance gab, alles wieder in Ordnung zu bringen.
Fadi
Es ist Frühjahr, ein Wunder, unmöglich zu glauben, und die Jacken, die wir in einem Sportgeschäft in der Stadt geklaut haben, gleiten von uns ab und geben unsere blassen, dünnen Arme frei, ausgemergelt von der Dunkelheit. In unseren Augen spiegelt sich noch immer ein Winter an der Spielkonsole mit Halo und Fifa. Wir können nicht einmal mehr krächzen, haben keine Bezugspunkte mehr jenseits der Bildschirme. Während wir auf den vollgekritzelten, kaputten Bänken auf dem Spielplatz sitzen und unsere Gesichter in die dünne, matte Sonnenscheibe halten, erinnern wir uns an ein anderes Leben, und wir fangen an, uns ein anderes Leben auszudenken.
«Bald können wir grillen, Bruder! Die krassesten Würstchen!»
«Wann kann man wieder schwimmen gehen? Im Mai, oder?»
«Ey, mir würde es schon reichen, mir in der Sonne ein kaltes Bier reinzuziehen, Mann.»
Doch es ist noch nicht Sommer, und wir frösteln, weigern uns aber, die Jacken wieder anzuziehen, und wir dribbeln den Ball bis nach Camp Nou, unsere steifen Gelenke knacken, und der Atem steigt noch als Dampf aus unseren Mündern.
Wir betreten den harten Kunstrasenplatz, in dessen Ecken noch schmutzige gefrorene Schneereste liegen, und wir verscheuchen die Kids, die mit einem Plastikball herumspielen, und bilden zwei Mannschaften mit je drei Spielern. Wir strecken uns und schießen den Ball so hart ins Aus, dass das Klirren des Metallzauns dahinter wie ein Gewitter zwischen den Betonwänden widerhallt. Lois, Fuchs und ich spielen gegen Mehdi, Bounty und Farsad, was natürlich ungerecht ist – Bounty wiegt hundert Kilo, und Mehdis Asthma pfeift und rasselt –, aber das ist mir egal, ich will nur gewinnen, will nur den Wind im Rücken spüren und den Frühling im Gesicht, der Sommer ist zum Greifen nah. An diesem Wochenende könnte ich ewig rennen, mir gelingen Hackenschüsse und Fallrückzieher. Ich bin Thierry Henry und Samuel Eto’o. Ich bin Zlatan Ibrahimović. Und als ich den Ball in den Anstoßkreis lege, spüre ich, wie plötzlich die ganze Welt in meiner Brust Platz findet, und während ich meine Arme ausstrecke und über den erbärmlichen, miesen Kunstrasen renne, höre ich das Publikum grölen und jubeln, und ich spüre, wie meine Arme wachsen, wie sich meine Flügel entwickeln, wie mein Körper leichter wird, bis ich abhebe und hoch über dem Kunstgras schwebe, über meinen Brüdern, über dem Beton.
Diese ersten Frühlingstage nehmen kein Ende, nicht einmal wenn die Sonne untergeht, die Temperatur fällt und es fast wieder winterlich ist. Aber wenn die Schatten zurückkehren, ziehen wir unsere Jacken wieder an, ein Rückzug, aber keine Kapitulation, und wir sitzen auf den Bänken am Spielplatz und rauchen und trinken Cola und träumen neue, große, schwindelerregende Träume, während der Schweiß vom Fußballspiel auf unserer Haut trocknet.
«Fuck, Ana Maria, ihr wisst schon? Die kleine Schwester von Jorge? Was die für geile Titten gekriegt hat! Wallah, ich schwör, Mann, fast wie Rihanna.»
«Wir sollten uns alle einen Grasvorrat zulegen und nach Barcelona fahren. Hat Jorge nicht einen Onkel da?»
«Ich werde mir Stoff kaufen und nach Australien fahren. Weißt du, wie krass die sind, diese Kängurus?»
«Australien? Verdammt, was für ein dämlicher bati du bist, Bounty. Kängurus? Hahaha!»
«Kängurus!»
Wir lachen über Bounty, bis wir uns auf dem harten, noch gefrorenen Sand krümmen und kaum noch atmen können, bis Bounty keucht und beinahe heulen muss vor Lachen.
Wir bleiben liegen, bis unser Lachen über die Häuser davonzieht und uns stumm und rastlos zurücklässt und das Licht um uns herum seine Farbe ändert und schließlich in tiefes Blau übergeht.
Der Abend ist gar nicht frühlingshaft, sondern eiskalt, und die Sterne sind immer noch Wintersterne, klar und deutlich, und ich wende mich ab und schließe die Augen. Vielleicht ist es dieses merkwürdige Licht, oder es ist der Frühling, der für einen Tag kam und wieder verschwand, aber plötzlich überrollt mich die Angst wie eine Welle, und ich keuche und bekomme kaum noch Luft. Mein Herz rast so sehr, dass ich ganz steif am Boden liegen bleibe.
Aber darüber spricht man nicht mit seinen Brüdern, wenn man nicht so einer werden will wie Bounty. Ich japse und keuche und sauge literweise eiskalte Luft in mich hinein, spüre den gefrorenen Sand an meinen Lippen und zwinge mich, ruhiger zu werden, zwinge mein Herz, langsamer zu schlagen.
«Ey, Fadi, was is los?»
Gewaltsam reiße ich die Augen auf, verdränge dieses Gefühl und rapple mich auf.
«Nichts, Mann», sage ich. «Kommt, wir gehen.»
Also gehen wir. Zur Bahnüberführung, über die Schienen, frierend in unseren T-Shirts unter den Winterjacken, während uns der Frühling noch immer unter der Haut kitzelt. Wir hängen auf der Brücke über der U-Bahn herum, lehnen am Geländer, rauchen und spucken und hören die Züge unter uns rattern.
Als Adde vorbeikommt, in einer Canada-Goose-Jacke und mit einer klirrenden Tüte, begrüßen wir ihn mit Handschlag.
«Verdammt, ist das kalt!», sagt er. «Ich dachte, es wäre Frühling.»
Wir nicken, und ich muss an dich denken, dass ich dich seit einer Woche nicht mehr gesehen habe, nicht einmal deinen Schatten. Ich denke, dass ich ihn fragen sollte, ob er dich im Studio getroffen hat, aber ich bringe es nicht über mich. Stattdessen zupfe ich am Pelzkragen seiner riesigen Jacke.
«Echt fett, Mann», sage ich. «Du bist der krasseste Diddy mit der Jacke.»
Er zuckt die Achseln, die Tüte klirrt.
«Hast du was zu saufen dabei?», krächzt Mehdi. «Spendier uns ’ne Runde!»
«Das hättest du wohl gern», antwortet Adde. «Party bei Red. In ein paar Jahren dürft ihr auch kommen, ihr Babys.»
Er lacht und verschwindet auf der anderen Seite der Brücke.
«So was von geizig!», ruft Mehdi ihm nach.
Adde dreht sich nicht einmal um, sondern hält nur den Mittelfinger in die Luft und setzt seinen Weg fort. Also ziehen wir los, über die noch gefrorenen gelben Rasenflächen. Wir sprühen sinnlose Tags auf Hauswände und Stromkästen. Boing. Das O ist ein Stern. Es bedeutet nichts, wir wissen nicht einmal, wo es herkommt, aber wir tätowieren den ganzen Vorort mit unseren dämlichen Zeichen, und ich richte meinen Blick auf den schwarzen Asphalt und die dunkelgrauen Fassaden, denn wenn ich ihn nach oben richten würde, in diese dunkelblaue Leere, wüsste ich nicht, was mit mir passieren würde.
Etwas muss geschehen. So wie jetzt kann es nicht weitergehen, so leise und leer und ärmlich. Also lasse ich die anderen mit ihren Zigaretten und ihren dämlichen Sprühflaschen hinter mir. Ich knöpfe meine Jacke zu und ziehe die Jeans weiter nach unten.
«Muss nur gerade was abchecken», sage ich.
«Was denn, Alter?», fragen sie.
«Nichts, bin gleich wieder da.»
Ich überquere den Platz, gehe vorbei am Kebab-Laden, wo die Finnen hocken und sich zu Tode saufen, vorbei am Assyrer und dem gelben Lichtstrahl von der U-Bahn, vorbei an den zehnstöckigen Hochhäusern und dann zu den dreistöckigen Blöcken, deren Fassade zwischen all den Parabolantennen kaum noch zu sehen ist.