Ein ehrliches Leben - Joakim Zander - E-Book

Ein ehrliches Leben E-Book

Joakim Zander

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Beschreibung

Willst du ein ehrliches Leben führen, oder spielst du weiter das falsche Spiel der Gesellschaft? Martin möchte alles hinter sich lassen: Die Fesseln der Kleinstadt, in der er aufwuchs, seine Mittelschicht-Herkunft, für die er sich schämt. Doch als er sich an der juristischen Fakultät in Lund einschreibt, führen ihm seine reichen Kommilitonen deutlich vor Augen, dass nicht für alle die gleichen Regeln gelten. Martins Sehnsucht nach intellektueller Verbundenheit, Authentizität, einem anderen Leben scheint sich erst zu erfüllen, als er auf einer Anti-Nazi-Demonstration in Malmö eine junge Frau kennenlernt. Max macht ihn mit ihren exzentrischen Freunden bekannt. Das Leben der Gruppe basiert auf radikalen und aufregenden Idealen, aber auch auf Lügen und immensen Risiken. Als Martin merkt, in was sie ihn hineinziehen, ist es bereits zu spät, um auszusteigen. Er ist einer von ihnen, einer der Banditen.  Ein Spannungsroman über Wahrheit, Täuschung und die Verlockungen eines Lebens außerhalb des Gesetzes.

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Seitenzahl: 524

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Joakim Zander

Ein ehrliches Leben

Roman

 

 

Aus dem Schwedischen von Ulla Ackermann und Thomas Altefrohne

 

Über dieses Buch

Willst du ein ehrliches Leben führen, oder spielst du weiter das falsche Spiel der Gesellschaft?

Simon möchte alles hinter sich lassen: die Fesseln der Kleinstadt, in der er aufwuchs, seine Mittelschicht-Herkunft, für die er sich schämt. Doch als er sich an der juristischen Fakultät in Lund einschreibt, führen ihm seine reichen Kommilitonen deutlich vor Augen, dass nicht für alle die gleichen Regeln gelten. Simons Sehnsucht nach einem anderen Leben scheint sich erst zu erfüllen, als er auf einer Anti-Nazi-Demonstration in Malmö eine junge Frau kennenlernt. Sie macht ihn mit ihren exzentrischen Freunden bekannt. Das Leben der Gruppe basiert auf radikalen und aufregenden Idealen, aber auch auf Lügen und immensen Risiken. Als Simon merkt, in was sie ihn hineinziehen, ist es bereits zu spät, um auszusteigen. Er ist einer von ihnen, einer der Banditen. 

«Ein fesselnder Roman über die Mechanismen von Gewalt, die Zerbrechlichkeit unserer Sozialsysteme und die dringliche Sehnsucht der Jugend nach Sinn.» Fredrik Backman

Vita

Joakim Zander, 1975 in Stockholm geboren, wuchs in Söderköping an der schwedischen Küste auf und lebte in Syrien, Israel und den USA. Er studierte Jura in Uppsala, promovierte in Maastricht und arbeitete danach für das Europäische Parlament und die Europäische Kommission in Brüssel und Helsinki. Sein Debütroman «Der Schwimmer», Auftakt der Klara-Walldéen-Reihe, erschien in 30 Ländern und war ein internationaler Bestseller. Nach den Folgebänden «Der Bruder» und «Der Freund» beschreitet der Autor mit seinem literarischen Spannungsroman «Ein ehrliches Leben» neue Wege, das Buch wird von Netflix verfilmt. Der Autor lebt in Lund.

 

 

 

Ulla Ackermann, Jahrgang 1978, studierte Skandinavistik und Germanistik in Münster/Westfalen und Lund. Seit 2015 arbeitet sie als freie Übersetzerin und übersetzt Romane und Sachbücher aus dem Schwedischen und Norwegischen, u. a. von Christoffer Carlsson und Maria Turtschaninoff.

 

Thomas Altefrohne, geboren 1991, hat in Münster/Westfalen Skandinavische Studien und Interdisziplinäre Niederlandistik studiert. Seit 2022 übersetzt er Literatur aus dem Schwedischen ins Deutsche.

Impressum

Die schwedische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel «Ett ärligt liv» bei Wahlström & Widstrand, Stockholm.

Die Zeile «Wir haben Seile und Dolche» auf den S. 50, 53, 180, 236, 240 und 413 stammt aus dem Gedicht «Schatten und Mittagshitze» in «Geht auf Zehenspitzen, denn die Heimat liegt im Sterben!» von Muhammad al-Maghut; Verlag Schiler & Mücke, Übersetzung Stephan Milich.

Die Verse auf S. 156–157 und 250 sind dem Gedicht «Berauschet Euch» von Charles Baudelaire entnommen, zitiert nach dem Projekt Gutenberg: https://www.projekt-gutenberg.org/baudelai/gedipros/chap015.html.

Die Textpassage auf S. 230 von John Stuart Mill stammt aus «Über die Freiheit»; Verlag Reclam, Übersetzung Bruno Lemke.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Ett ärligt liv» Copyright © 2022 by Joakim Zander

Redaktion Anja Lademacher

Covergestaltung Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, nach dem Original von Wahlström & Widstrand

Coverabbildung Design Elina Grandin

ISBN 978-3-644-01690-3

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Je suis avec les bandits!

L’Anarchie, Dezember 1911

 

Wir sagen immer die Wahrheit. Wir sitzen hier, weil wir die Verlogenheit nicht mehr ertragen.

Ulrike Meinhof

Prolog

«Ich erinnere mich nur an wenige Momente in meiner Jugend, in denen ich mich nicht gelangweilt habe», sage ich. «Mit diesem Satz beginnt mein Buch, weil es genau so war.»

Der SPIEGEL-Journalist nickt und blickt in den Saal des Hamburger Kulturzentrums Kampnagel, der fast bis auf den letzten Platz gefüllt ist. Sechs Abende in Folge habe ich auf dem Podium gesessen, bei verschiedenen Literaturfestivals, überall in Deutschland. Heute Abend ist der Rahmen größer als sonst. Mein deutscher Verlag hat mich mit zwei anderen, sehr viel bekannteren schwedischen Schriftstellern auf die Bühne gesetzt. Die Veranstaltung steht unter dem Motto «Nordic Noir», und ich gehöre jetzt zum schwedischen Krimiwunder, oder sagen wir, diese Einordnung hat meinem Debütroman ihre magische Wirkkraft verliehen und ihn, mit mir im Gepäck, hierhergebracht.

«Sie meinen also, dass die Ereignisse in Ihrem Buch aus Langeweile resultieren?», fragt der Journalist auf Englisch. «Ein interessanter Gedanke. Das wäre eine ziemlich gewalttätige Reaktion, meinen Sie nicht?»

«Nicht die Ereignisse an sich», erkläre ich, «aber die Art und Weise, wie der Protagonist in sie hineingezogen wird.»

Der Journalist wendet sich an das Publikum und wechselt ins Deutsche. In der letzten Woche habe ich mein eingerostetes Schuldeutsch aufpoliert und verstehe das meiste.

«Der Roman beruht auf wahren Begebenheiten, die sich vor einigen Jahren in Schweden ereignet haben», erläutert er. «Eine spektakuläre Verbrechensserie, die großes mediales Aufsehen erregt hat. Es wurde viel über den Zusammenhang der Taten und einen möglichen politischen Hintergrund spekuliert. Und natürlich über die Frage, wer dahintersteckte.»

Irgendwo wird eine Tür geöffnet. Ich drehe meinen Kopf in Richtung des Geräusches, und als ich die Augen zukneife, sehe ich gegen das grelle Scheinwerferlicht, wie jemand in den Saal schlüpft. Einen Moment lang meine ich, die Person zu erkennen, doch als ich genauer hinschaue, ist sie verschwunden. Der SPIEGEL-Journalist stellt seine nächste Frage.

«Die Frage nach der Täterschaft beantworten Sie ja in gewisser Weise», sagt er. «Aber Sie beziehen keine Stellung zu den Ereignissen. Alles wird aus der Sicht des Erzählers geschildert, und der ist vor allem ein Beobachter. Oder ist er mehr als das? Könnte man daher sogar sagen, dass Ihr Buch in gewisser Hinsicht unmoralisch ist?»

«Unmoralisch?», wiederhole ich.

Ich habe ein leichtes Rauschen in den Ohren. Gegen das Scheinwerferlicht blinzele ich in den Saal. Vor mir sitzen über fünfhundert Menschen. Ich muss mich getäuscht haben.

«Halten Sie das Buch für unmoralisch? Der Gedanke ist mir nie gekommen.»

«Sie verurteilen die Taten Ihrer Protagonisten nicht ausdrücklich. Fast könnte man meinen, das Gegenteil wäre der Fall? Man bekommt den Eindruck, dass Sie die Taten bis zu einem gewissen Grad sogar rechtfertigen?»

Ich schweige viel zu lange. Ich habe so oft davon geträumt, genau diese Fragen beantworten zu dürfen, doch nun habe ich keine Ahnung, wie ich mich ausdrücken soll. Mein Blick schweift suchend durch die Reihen.

«Ich bin mir nicht sicher, ob die Frage nach der Moral in diesem Zusammenhang sonderlich interessant ist», erwidere ich schließlich. «War es Camus, der sagte, der einzige Zweck von Moral bestehe in der Rechtfertigung von Mord? Oder habe ich das auf Instagram gelesen?»

Der Journalist übersetzt meine Antwort, und das Publikum lacht verhalten.

«Ich bin ausschließlich an der Wahrheit interessiert», sage ich. «Und die Wahrheit ist, dass manche Menschen viel und andere wenig besitzen. Ist es falsch, wenn der, der wenig hat, diesen Zustand ändern will? Ist es unmoralisch, sich mit ungerechten Spielregeln nicht abfinden zu wollen?»

«Vielleicht wenn man Gewalt einsetzt, um seine Ziele zu erreichen?»

«Das hängt davon ab, wie man Gewalt definiert, oder nicht?»

Ich beuge mich vor und trinke einen Schluck lauwarmes Wasser aus dem Glas auf dem Tisch neben mir. Wie gewöhnlich bin ich unsicher, wie viel ich erzählen und bis zu welchem Grad ich das Buch für sich selbst sprechen lassen soll. Vor dem Erscheinungstermin, als mir all diese Fragen noch nicht gestellt worden waren, hatte ich geglaubt, das Buch könnte unmöglich missverstanden werden. Wenn ich mir Sorgen machte, dann darüber, dass es überdeutlich war.

«Ein Mensch, der durch seine Herkunft oder Klassenzugehörigkeit geschützt wird, empfindet die Gesellschaft nicht als gewalttätig», sage ich. «Aus einer privilegierten Stellung heraus ist man sich seiner Teilhabe an Gewalt nicht bewusst.»

Ich hole tief Luft und beuge mich zu dem Journalisten vor. Vielleicht sollte ich gelassener reagieren, aber ich will, dass er es versteht.

«Gewalt ist eine notwendige Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der grundlegenden Ungerechtigkeit, dass manche Menschen reich und andere als Habenichtse geboren werden. In meinem Roman werden die Verhältnisse auf den Kopf gestellt. Die Gewalt richtet sich gegen die, die normalerweise nicht von ihr betroffen sind.»

Das sind Charles’ Worte, denke ich bei mir. Er wäre stolz, mich jetzt zu hören.

«Nicht nur», erwidert der Journalist.

Meine Brust krampft sich zusammen, als ich das altbekannte Gefühl vertreibe, ehe es mich vereinnahmen kann. Ich wende den Blick nicht ab.

«Nein», pflichte ich bei. «Nicht nur. Über diesen Widerspruch habe ich viel nachgedacht.»

«Und trotzdem beziehen Sie nicht eindeutig Stellung? Trotzdem verurteilen Sie die damaligen Ereignisse nicht?»

Einen kurzen Moment lang sehen wir uns an.

«Es steht mir nicht zu, ein Urteil zu fällen», sage ich. «Sie sind derjenige, der von Moral und Schuld spricht. Ich schildere nur, was ich gesehen habe, so ehrlich, wie ich kann.»

«Also sind Sie Anarchist?»

Der SPIEGEL-Journalist runzelt die Stirn.

«Ich bin Schriftsteller», entgegne ich. «Alle Schriftsteller sind Anarchisten.»

Ich trinke noch einen Schluck Wasser und lasse meinen Blick abermals durch den Saal schweifen.

«Manches, was ich in meinem Roman aufgreife, war echt und schön», fahre ich fort. «Anderes schrecklich. Ich weiß nicht, ob es sonderlich subversiv ist, Geschehnisse so zu schildern, wie sie sich ereignet haben, ohne zu beschönigen oder zu moralisieren. Ich will die Wahrheit erzählen. Die Wahrheit ist das Einzige, was mich interessiert.»

Als ich meinen Blick erneut ins Publikum richte, sehe ich sie. Sie sitzt auf einer Treppenstufe ziemlich nah an der Bühne. Ich erkenne ihren Lockenkopf, meine, ihre Sommersprossen zu sehen. Sie trägt sogar dieselben Boots wie damals.

«Sie sagen, das Einzige, was Sie interessiert, sei die Wahrheit?», hakt der Journalist nach.

Lächelnd lehnt er sich auf seinem Stuhl zurück. Vielleicht hält er mich für jung und naiv, für prätentiös. Vielleicht hat er recht. Ich höre ihn kaum.

«Wahrheit ist ein großes Wort», fährt er fort. «Es muss eine ziemliche Bürde darstellen, ihr Interpret zu sein?»

«Nicht wirklich», erwidere ich. «So gut wie gar nicht. Man muss sie einfach nur erzählen.»

«Aber existieren nicht unterschiedliche Auffassungen von Wahrheit? Ist Wahrheit nicht von Mensch zu Mensch verschieden?»

Ich sehe ins Publikum und schaue sie geradewegs an. Das Scheinwerferlicht blendet mich. Trotzdem bin ich mir sicher. Sie ist es.

«Vielleicht wenn man die Wahrheit mit dem vermengt, was man sich als Wahrheit wünscht, so wie wir es gerade tun. Viele Menschen wollen, dass die Wahrheit einen moralischen Gehalt besitzt. Das ist ein sentimentaler Gedanke. Die Wahrheit ist nichts anderes als Wahrheit. Manchmal ist sie gewalttätig. Manchmal ist Erfundenes wahrer als das, was sich wirklich zugetragen hat. Manchmal ist Erfundenes bloß eine Lüge. Manchmal ist eine Lüge der einzige Weg, die Wahrheit zu sagen. Wenn wir über Wahrheit sprechen, verzetteln wir uns in Details. Details sind irrelevant. Die Ethik der Wahrheit geht über schlichte Ehrlichkeit hinaus.»

Der Journalist übersetzt meine Antwort fürs Publikum und wendet sich dann wieder an mich.

«Das führt uns zu der Frage, die man sich beim Lesen Ihres Buches stellt», fährt er fort. «Der Roman basiert auf wahren Ereignissen. Und wie wir gehört haben, liegt Ihnen die Wahrheit am Herzen. Also …»

Der Journalist räuspert sich und macht die vor dem Interview-Finale übliche Kunstpause. Ich meine zu sehen, wie sie mir von der Treppe aus zulächelt.

«Wie viel von dem, was Sie in Ihrem Buch schildern, haben Sie selbst erlebt? Wie viel von dem, was Sie erzählen, ist die absolute Wahrheit?»

Erster Teil

1

Ich erinnere mich nur an wenige Momente in meiner Jugend, in denen ich mich nicht gelangweilt habe. Ich beklage mich nicht, daran war niemand schuld außer ich selbst, denn ich bin ganz normal aufgewachsen, in einer ganz normalen schwedischen Kleinstadt in Östergötland. Meine Kindheit fand in einem Siebzigerjahre-Einfamilienhaus aus braunem Klinker statt und in einer Grundschule aus rotem Klinker, die ein paar Jahre nachdem ich aufs Gymnasium gewechselt war abgerissen wurde und aus deren Trümmern sich, wie ein Phönix aus der Asche, ein von Neonröhren erleuchteter Supermarkt aus Fertigbauteilen erhob.

Abgesehen von Langeweile gibt es wenig, woran ich mich aus meiner Grundschulzeit erinnere: der Geruch von Radiergummi und feuchten Schuhen. Augen, die ich nur mit Gewalt offen halten konnte. Wursteintopf. Und dass ich grundsätzlich als Dritter ins Team gewählt wurde, wenn wir in der Mittagspause auf dem Rasen hinter der Schulcafeteria die Fußballmannschaften einteilten.

An eine Sache jedoch erinnere ich mich bis ins Detail: In meinem dritten Grundschuljahr stand eines Morgens der Kiesplatz vor den Schaukeln nach einem nächtlichen Wolkenbruch unter Wasser. Das Laub war schon von den Bäumen gefallen. Gelb und nass wirbelte es auf und blieb an unseren Schuhen und unserer Kleidung haften. Angesichts dieser abrupten Veränderung unserer unmittelbaren Lebenswelt gerieten wir alle außer Rand und Band. Als es zur ersten Pause läutete, stürmten wir hinaus, mit Gummistiefeln oder ohne, und befanden uns sofort im Krieg. Klasse 3a gegen Klasse 3b. Vielleicht hatten sich die Unterschiede zwischen uns mittlerweile verfestigt. Vielleicht lag es aber auch bloß daran, dass wir neun Jahre alt waren. Eine Zehn-Minuten-Pause lang drehte sich unser komplettes Leben darum, mit den Füßen so große Wassermassen wie möglich in Richtung unserer Gegner zu spritzen und sie zum Rückzug zu zwingen.

Ich erinnere mich nicht mehr hundertprozentig, wie es anfing, aber wie auf ein Signal hin stürmten die beiden kleinen Armeen von den entgegengesetzten Enden des Schulhofs aufeinander los. Auf dem überschwemmten Platz schwappte das Wasser über unsere Stiefelschäfte. Als die eisige Kälte durch unsere Socken drang, schnappten wir nach Luft und zögerten vielleicht eine Zehntelsekunde, aber nicht länger. Für die meisten war das unerwartete Chaos ein Spaß, ein Streich, der ein bisschen zu weit ging, ein Jux.

Ich war ein pflegeleichter Schüler. Fleißig. Die Schule fiel mir leicht. Ich hing meinen Tagträumen nach und löste Matheaufgaben und Lückentests trotzdem schneller und mit weniger Fehlern als die meisten meiner Klassenkameraden. Ein klein wenig stach ich heraus, mehr aber nicht. Doch in diesem Moment, in dieser Zehn-Minuten-Pause auf dem überschwemmten Schulhof, traten die endlosen Stunden im Klassenzimmer in den Hintergrund, und etwas anderes ergriff von mir Besitz. Etwas Größeres, Wilderes und Zornigeres. Als wären mein Lerneifer und das unauffällige Betragen, das ich im Unterricht an den Tag legte, nur eine Tarnung, eine Maske. Etwas, hinter dem ich mich verstecken konnte, weil ich mich nicht traute zu zeigen, dass ich in Wahrheit ein Monster war.

In den ersten Minuten war ich ein Held, ein Herkules an vorderster Front. Es kümmerte mich nicht, dass ich nass wurde, nichts konnte mich aufhalten, niemand mich zum Rückzug bewegen. Mit Füßen und Händen spritzte ich Wasserkaskaden auf und schlug Vega und Omar und den Rest der Parallelklasse in die Flucht.

«Vernichtet sie!», schrie ich meinen Klassenkameraden zu. «Wir machen keine Gefangenen!»

Meine Kraft wuchs, bis ich stärker war als Theo und Emil, die ADHS-Störenfriede aus unserer Klasse. Ich war haarscharf davor, die Kontrolle zu verlieren, unvernünftig und unbesonnen zu handeln. Fast fühlte ich mich frei.

Doch plötzlich traf mich eine Handvoll Kies an der Wange. Ich blieb stehen und schrie vor Schmerz auf. Als ich mich umdrehte, entdeckte ich Anton aus der Parallelklasse, sah sein rotblondes Haar und sein dämliches Grinsen.

Anton wurde jeden Morgen in einem frisch gewaschenen schwarzen BMW zur Schule gebracht. Die Einladungen zu seinen Geburtstagsfeiern waren heiß begehrt und wurden mit der gleichen Noblesse und Exklusivität vergeben wie Adelstitel.

«Nimm das, du Schwuli!», rief er mir mit seiner Piepsstimme zu.

Und in dem Moment verlor ich wirklich die Kontrolle. Ich weiß nicht, wie ich diesen perfekten runden Stein zu fassen bekam oder wie mir dieser perfekte Wurf gelang. Ich weiß nur, dass der Stein aus meiner Hand flog, dass er Anton am Hinterkopf traf und Anton, nur von seinen Händen und Armen geschützt, mit dem Gesicht voran in das schlammige Wasser fiel. Ich brüllte auf, in göttlichem Stolz und göttlicher Rache.

All die Ungerechtigkeit, die uns dieser dämliche Anton tagtäglich vor Augen führte: Nun hatte ich ihm seine rechtmäßige Strafe erteilt. Mit erhobenen Armen stürmte ich brüllend auf ihn zu. Der Anblick der Parallelklässler, die angesichts meiner unverhältnismäßigen Gewalt erschrocken zurückwichen, einen Moment wie erstarrt innehielten und schließlich geschlossen davonrannten, erfüllte mich mit Euphorie.

«Ihnen nach!», schrie ich meinen Klassenkameraden zu, ohne mich umzudrehen. «Sie fliehen!»

Ich warf mich auf den inzwischen heulend am Boden knienden Anton und versetzte ihm einen so heftigen Stoß, dass er mit einem Aufschrei zurück ins Wasser fiel.

«Siehst du, was passiert?», schrie ich. «Siehst du, was passiert, wenn du dich mit mir anlegst?»

Ich hob die Faust, um ihm geradewegs ins Gesicht zu schlagen, so wie ich noch nie jemanden geschlagen hatte. Doch irgendetwas stimmte nicht. Das Geräusch von platschendem Wasser und das laute Geschrei in meinem Rücken waren verstummt. Der Bann war gebrochen, ohne dass ich es bemerkt hatte.

«Kommt schon!», schrie ich über die Schulter. «Sie fliehen! Vernichtet sie!»

Ich stand auf und drehte mich um. Die anderen hatten sich unter das kleine Vordach vor dem Eingang zurückgezogen. Nur ich und Anton waren noch im Wasser, meine Füße und Beine waren bis auf die Haut durchnässt, meine Wangen brannten. Nur ich und der heulende, schniefende Anton zu meinen Füßen.

«Schluss jetzt!»

Lena, unsere Klassenlehrerin seit der ersten Klasse, kam aus dem Gebäude, ihr ungeschminktes Gesicht mit den dunklen Augen war müde und aufgebracht zugleich. Sie machte ein paar lange Schritte an mir vorbei, beugte sich zu Anton hinunter, legte ihm einen Arm um die Schulter und half ihm auf.

«Was ist denn in dich gefahren?», fauchte sie mich an. «Hast du den Verstand verloren? Ich erkenne dich ja gar nicht mehr wieder.»

Langsam trottete ich zum Eingang, auf das kaum unterdrückte Gekicher meiner Klassenkameraden zu. Eisige Scham, bei etwas derart Kindischem und Brutalem, bei etwas derart Entblößendem und Unverhohlenem ertappt worden zu sein, erfasste mich, doch all das verblasste im Licht der herben Enttäuschung, von denen verlassen worden zu sein, für die ich geglaubt hatte zu kämpfen.

 

Meine Kindheit hatte mir keine nennenswerten Widrigkeiten entgegengebracht. Aber ab der Mittelstufe fing ich an, sie herbeizusehnen, mit der Naivität eines Menschen, der nie etwas verloren hat. Meine Tagträume waren voller Bilder von Terroranschlägen und der Vorstellung, mein Vater oder meine Mutter würden sterben, womöglich durch Selbstmord, sodass sie mich auf diese Weise in abgrundtiefe Trauer stürzten. Aber ich malte mir nicht aus, wie mich diese Trauer traumatisieren, sondern wie sie mich vielmehr interessant machen würde. Doch die herbeigewünschten Schicksalsschläge blieben aus. Die Tage verstrichen. Der Herbst wurde zum Winter, der Winter zum Frühling und der Frühling zum Sommer, während ich auf der Stelle trat und auf Augenblicke wartete, die nicht kamen.

Dreimal in der Woche ging ich zum Fußballtraining, am Wochenende fanden die Spiele statt, und ich war ein ganz passabler Spieler, besser als der Durchschnitt. Das verlieh mir einen gewissen Status, den ich in die Freiheit ummünzte, mich den Kleinstadt-Gepflogenheiten nicht vollständig unterzuordnen. Ich strengte mich in der Schule an und lief in einem grünen Militärparka herum, den ich in Norrköping in einem Secondhandladen aufgestöbert hatte, und ich begann, alte Bands zu hören. The Clash, Wu-Tang Clan, Refused.

 

Als ich aufs Gymnasium kam, hängte ich meine Fußballschuhe pflichtschuldig an den Nagel und las stattdessen Bücher. Im ersten Jahr hatten wir in Schwedisch einige Wochen lang einen Vertretungslehrer. Er hieß Matts, und in gewisser Weise entsprach er, mit seinem Jeanshemd, seinem Man Bun und seiner schwarzen Hornbrille, einem wandelnden Klischee. Aber ich war am Ende meiner Weisheit angelangt, und was das Intellektuelle anging, nahm ich, was ich kriegen konnte. Matts redete von Hesse und von Kerouac, und was bitte, ist ein Klischee, wenn nicht das? Doch ich langweilte mich zu Tode, verschlang Steppenwolf und Unterwegs und bat um Nachschub.

Alle Bücher, die uns bis dahin in der Schule vorgesetzt worden waren, hatten von Wäldern und Armut gehandelt, von Småland und Värmland, von Fröding, Zwergen und vom Volksheim und ödeten mich zutiefst an. In den Büchern, die Matts uns empfahl, traf ich auf die Gefühle, von denen ich träumte. Ich las mich in der Stadtbücherei durch die «Rote Bibliothek», während sich draußen vor dem Fenster auf der E22 die Autos stauten. Ich blieb im 20. Jahrhundert hängen, bei Hemingway und Joyce und Träumen vom Exil. Ich schlief mit Proust ein und wachte mit William Gibson auf.

Trotzdem fühlte ich mich nicht einsam. Oder doch, das tat ich. Ich vermisste jemanden, mit dem ich reden konnte. Aber ich war kein Ausgestoßener. Meine Einsamkeit war selbst gewählt. In meiner Klasse gab es einen Punker, der ein Jahr älter war als ich, und eine Gruppe Skater, mit denen ich ab und zu auf Partys ging und dort mit ihnen abhing, auf dem weißen Ledersofa von irgendjemandes Mutter in Skönberga oder in Dockgärdet. Ich sah ihnen dabei zu, wie sie sich auf frisch geputzten Glastischen Joints bauten und schwedischen Hip-Hop hörten. Doch nichts davon bedeutete etwas. Es war belanglos und unzureichend, nichts, wofür ich wirklich etwas empfand.

Der Mensch ist das, wozu er sich macht, hat Jean-Paul Sartre geschrieben. Ich versuchte, mich durchs Schreiben selbst zu erfinden. Doch was ich zuwege brachte, waren nichts als kindische Karikaturen dessen, was ich ausdrücken wollte. Dilettantische Annäherungen an etwas, von dem ich ahnte, dass ich es zutiefst empfand, es aber nicht in Worte zu kleiden vermochte, ohne dass es bei peinlichen Offensichtlichkeiten und Sentimentalitäten blieb. Aber vor allem hatte ich nichts zu erzählen. Ich hatte nichts erlebt. Der Mensch ist das, wozu er sich macht. Abends zockte ich FIFA und versuchte, mich in Mädchen aus meinem Jahrgang zu verknallen, die ich in den sozialen Medien heimlich stalkte. Beides ohne nennenswerten Erfolg.

Mein Leben erstreckte sich vor mir wie die Fortsetzung des Lebens meiner Eltern. Eine Anstellung bei der Gemeinde oder in einem Firmenbüro, ein Haus, ein Auto, ein Karton mit Weihnachtsdekoration in der Garage. Kinder und Hobbys der Kinder und gemeinsame Familienfreitagabende. Es fühlte sich an wie Geborgenheit, aber auch endlos und unbeschreiblich bedeutungslos. Schlug dieser Gedanke in mir Wurzeln, setzte ich mich mit vor Angst hämmerndem Herzen im Bett auf. Nein, ich würde mich nicht zu einem Nichts degradieren.

Die Bücher waren schuld, dachte ich bei mir. Sie hatten mich zu dem Glauben verleitet, auch ich hätte etwas Wichtiges zu erzählen, könnte über Jahre hinweg unter großen Entbehrungen am Rand des Bankrotts leben, während ich an etwas schrieb, das etwas über die Welt aussagte. Etwas. Das etwas aussagte. Über die Welt. Das zusammenfasste, wo ich mich befand. Alles, was ich dazu an Handwerkszeug besaß, war Ehrgeiz.

Der Gedanke, dass ich meine Teenagerjahre mit FIFA und Snapchat und Büchern vergeudete, versetzte mich in Panik. Ich sah Klassenkameraden, die Erfahrungen sammelten, die blaumachten, klauten und Partys feierten. Ich war eifersüchtig auf ihren Mut. Gleichzeitig zweifelte ich ihr Tun an. War das alles, was sie wollten? Die Mathestunde schwänzen, um stattdessen in Norrköping in der Domino-Galerie ein T-Shirt mitgehen zu lassen? Sich zu bekiffen oder bei einem Kumpel zu Hause selbst gebrannten Fusel trinken? Das war so unbedeutend. Das setzte die Welt nicht in Brand. Das würde sie nicht über Söderköping hinausbringen. Ich wollte so unendlich viel mehr. Und diese Einsicht lähmte mich.

 

In meinem letzten Jahr am Gymnasium kreisten meine Gedanken zunehmend um Geld. Geld war in meiner Familie nie im Überfluss vorhanden gewesen, erst recht nicht, seit meinem Vater im Herbst gekündigt worden war und er seinen stupiden Bürojob im Gewerbegebiet von Norrköping verloren hatte. Durch seine Arbeitslosigkeit wurde Geld zu einem ständigen Thema. Wir waren vorher nicht arm gewesen, hatten auch nicht jede Öre zweimal umdrehen müssen. Wir hatten genügend Kleidung, immer Essen auf dem Tisch, und freitagabends bestellten wir Pizza. Die Familie meines Vaters besaß ein Sommerhäuschen auf Norra Finnö, wo wir so gut wie alle Sommer meiner Kindheit verbrachten. Als meine Schwester und ich klein waren, flogen wir auch ein paarmal nach Kreta. Unser Auto war nur vier Jahre alt. Doch das Gehalt, das mein Vater mit seinem eintönigen Job in der Lüftungsfirma verdiente, hatte das Gehalt meiner Mutter, die halbtags als Vorschullehrerin arbeitete, nur so gerade eben ausgeglichen. Als mein Vater aufgrund von Auftragsmangel erst in Kurzarbeit gehen musste und wenig später die Kündigung erhielt, fiel sein Verdienst komplett weg. Geldnot war stets die kaum sichtbare Schäre am Rand der Fahrrinne gewesen, in der sich unser Familienleben bewegte. Solange wir den Kurs hielten, stellte sie keine Gefahr dar, doch wir wussten genau: Die kleinste Abweichung konnte in eine Katastrophe münden.

Die Arbeitslosigkeit meines Vaters war eine solche Abweichung. Der Schaden, den die Kollision mit der Schäre anrichtete, war nicht so groß, dass wir untergingen, doch es gelang uns auch nicht, das Leck zu stopfen. Es war, als würde Monat für Monat mehr Lebensenergie aus meinen Eltern gesogen. Es war traurig und sinnlos. Ich beschloss, dass ich niemals so leben, niemals den Launen des Schicksals so ohnmächtig ausgeliefert sein würde. Und vor allem musste ich, so schnell wie irgend möglich, weg aus Söderköping.

 

Ende Oktober kam ich mit Lydia zusammen. Sie hatte in der Schule einen künstlerischen Schwerpunkt gewählt und spielte Gitarre. Obwohl von Natur aus schüchtern und zurückhaltend, schleppte sie mich bei der alljährlichen Halloween-Party der Abschlussklasse ab. Sie hatte sich als das kleine Mädchen aus der Addams Family verkleidet. Wednesday, so hieß sie doch? Ich ging als Zombie Pussy Riot und trug eine neongelbe Sturmhaube, die ich mir vorigen Herbst auf einer Klassenfahrt nach Stockholm gekauft hatte, als man noch auf Klassenfahrten fuhr. Um wie ein Untoter auszusehen, hatte ich meine Augen mit einem Kohlestift umrandet. Es war jämmerlich. Irgendwann hörte ich auf zu zählen, wie oft ich erklären musste, wen ich eigentlich darstellen wollte, und als Antwort bloß einen leeren Blick und ein zögerndes «Okay …» erhielt. Außerdem war es unter der Wollhaube irre heiß. Zum Schluss hatte ich die Nase voll und rollte sie zu einer Mütze auf. Wir hatten beide getrunken, Lydia mehr als ich, und als sie in dem bescheuerten Partykeller in einem der Mietshäuser am Ringvägen auf mich zukam, lallte sie:

«Du bist genauso schüchtern wie ich. Wir sollten miteinander gehen.»

Und dann waren wir zwei Monate zusammen, bis sie dahinterkam, dass ich gar nicht schüchtern und mystisch war, sondern einfach nur zu Tode gelangweilt, einzig und allein auf Bücher und Geld fokussiert und darauf, so schnell wie möglich aus Söderköping wegzukommen.

«Du bist nie wirklich anwesend», sagte sie in der Woche vor Weihnachten. «Jedes Mal, wenn ich dich etwas frage, antwortest du ‹Was?› oder ‹Ich weiß nicht›. Du hältst dich ständig für besser als alle anderen.»

Aber ich hielt mich nicht für besser. Im Gegenteil. Ich wünschte mir, ich würde genauso empfinden wie Lydia und die anderen. Ich wünschte mir, im Hier und Jetzt sein zu können und dass meine Gedanken nicht unentwegt anderswo wären.

«Ich kann mich ändern», erwiderte ich. «Ich will nicht arrogant rüberkommen. Ich will dich nicht kränken oder ärgern.»

Seufzend küsste sie mich, und als wir in ihrem Emo-Zimmer mit den lila-schwarzen Wänden in ihrem frisch bezogenen Bett zu einem alten Song von The Cure miteinander schliefen und ich in ihr kam, wusste ich, dass es das letzte Mal war. Und dieses Wissen löste eine derart abgrundtiefe Trauer in mir aus, dass ich hinterher mein Gesicht an ihrem Hals verbarg und heulte. Die Verzweiflung war wie ein Messer, das meine Gleichgültigkeit durchschnitt, und ich wollte jedes Fitzelchen Gefühl aus diesem Zustand herauspressen.

Am Ende schob Lydia mich weg.

«Sogar wenn du weinst, bist du woanders», sagte sie.

 

An diesem Weihnachten saugte ich meiner Trauer über die Trennung von Lydia das Mark aus und versuchte, sie so lange wie möglich zu spüren. Ich schrieb Lydia Gedichte und ellenlange Briefe, die ich an ihre Schul-E-Mail schickte, ohne auch nur eine einzige Antwort zu bekommen. Ich verschanzte mich unter meinem Kopfhörer und ließ The Cure in Dauerschleife laufen, obwohl die Songs mir gar nichts bedeuteten. Am Ende war es meine kleine Schwester, der es zwischen den Jahren schließlich zu bunt wurde.

«Es reicht», sagte Emma. «Wie lange willst du noch in dieser selbst auferlegten Quarantäne hocken?»

Ich blickte von meinem ungemachten Bett auf und nahm den Kopfhörer ab. In Between Days strömte ins Zimmer. Meine Schwester lehnte mit einer Tasse Tee in der Hand im Türrahmen. Sie ging in die Neunte, sah aber älter aus, mit ihrem Make-up und den zu einem Bun hochgebundenen blonden Haaren. Emma hatte keine Probleme damit, im Hier und Jetzt zu sein. Sie hatte Freunde, die wie ein Heuschreckenschwarm mehrmals in der Woche in unser Wohnzimmer einfielen. Sie spielte Handball, und am Seitenrand gab es einen Typen, von dem ich wusste, dass er in die Elfte ging.

«Du magst diese alte Emo-Mucke doch noch nicht mal.»

Sie sah mich unverwandt an.

«Ich glaube auch nicht, dass du Lydia wirklich gemocht hast.»

«Du hast keine Ahnung, wovon du redest», erwiderte ich. «Hau ab und mach die Tür hinter dir zu.»

Achselzuckend trank sie einen Schluck Tee, machte aber keine Anstalten, mich in Frieden zu lassen.

«Du bist lächerlich», sagte sie. «Weißt du das?»

Wortlos stand ich auf, schubste sie aus dem Zimmer und zog die Tür mit einem Knall zu. Als ich mich umdrehte, sah ich das Chaos in meinem Zimmer, die heruntergelassenen Jalousien, die auf dem Fußboden verstreute Kleidung und die Teller mit Essensresten auf dem Nachttisch. Emma hatte recht. Ich war lächerlich.

 

Aber warum habe ich beschlossen, Jura zu studieren? Und warum in Lund? Warum direkt nach dem Abitur?

Ich hätte ein Jahr Pause machen sollen. Nach London oder Berlin gehen sollen. Ich hätte in einem Café jobben und im Berghain Ecstasy oder Amphetamin einwerfen können. Jung und abgebrannt in einer heruntergekommenen Bude mit ein paar italienischen Austauschstudenten als Mitbewohnern. Ich hätte einen Dreier haben und in den Nächten meinen ersten Roman schreiben können. Der Gedanke war verlockend, fast schwindelerregend. Ich hätte einen Sommerjob als Telefonverkäufer annehmen und weiter zu Hause wohnen bleiben können, um ein bisschen Geld auf die hohe Kante zu legen, um mich dann mit Kleidung, Pass und Rucksack ins nächstbeste Flugzeug von Stockholm nach Berlin zu setzen.

Davon hatte ich abends oft geträumt, und manchmal hatte ich nicht einschlafen können; so stark waren die Emotionen, die erwartungsvolle Spannung, die diese Möglichkeit in mir hervorrief. Doch wenn ich am nächsten Morgen aufwachte, war der Gedanke verschwunden, abgelöst von der Befürchtung, Antrieb und Richtung zu verlieren, wenn ich meinen Weg nicht in gerader Linie fortsetzte, wenn ich nicht einer Geraden folgte, auf einen vagen Traum von Glück zu, den ich mir zusammenfantasiert hatte.

 

Meine Zensuren waren gut genug für ein Jurastudium in Lund. Tatsächlich waren sie gut genug für jedes Studium. Ich interessierte mich für das Gemeinwesen, und Lernen fiel mir leicht. Jura erschien mir als der sichere Weg, als eine Ausbildung, die mich vor der Langeweile und der Willkür von Schicksalsschlägen schützen würde.

Meine Eltern verstanden nicht, warum ich nicht in Linköping studieren konnte.

«Wird Jura dort nicht angeboten?», fragte meine Mutter.

Sie jätete im Beet vor der Hecke zur Straße das Unkraut, ich lag auf einer Decke im Gras, las Old School von Tobias Wolff und träumte davon, dass Lund so sein würde wie das Internat im Roman, voller Gotik, weitläufiger Rasenflächen und komplizierter Freundschaften. Es war Mitte April und einer der ersten warmen Frühlingstage.

«Nur Wirtschaftsrecht», murmelte ich. «Das ist nicht dasselbe.»

«Ich verstehe nicht, warum du es dir immer so schwer machst», sagte meine Mutter und stand auf. «Du könntest weiter zu Hause wohnen und müsstest kein Studiendarlehen beantragen. Wirtschaftsrecht klingt doch gut?»

Sie wandte sich um und sah mich an, in einer Hand einen Eimer mit Unkraut, in der anderen eine Blumenkelle. Mit zusammengekniffenen Augen blinzelte ich zu ihr hoch. Sie war in Östra Husby aufgewachsen, einem kleinen Dorf in Vikbolandet, und nach ein paar Jahren in Norrköping waren mein Vater und sie in das Haus gezogen, in dem ich aufgewachsen bin. Mein Vater war ein Kind des Schärengartens. Für meine Eltern war bereits Linköping ein großer Schritt. Das siebentausend Einwohner zählende Söderköping war genau das, was sie bewältigten.

«Wirtschaftsrecht ist eine Ausbildung für Juristen zweiter Klasse», wandte ich ein. «Man kriegt nicht mal ein Staatsexamen. Mit Wirtschaftsrecht kann man weder Rechtsanwalt noch Richter werden, und man macht auch kein Rechtsreferendariat.»

«Willst du neuerdings Richter werden?» Meine Mutter schüttelte den Kopf.

«Du weißt, dass es klüger ist, sich realistische Ziele zu setzen?», fuhr sie fort. «Man sollte keine überzogenen Erwartungen haben.»

Realistische Ziele.

Man darf nicht vermessen sein.

Ihr hattet doch eine schöne Kindheit?

Warum bist du so versessen darauf, von hier wegzugehen?

Du wirst sehen, das Leben ist nicht so einfach, wie du es dir vorstellst.

Oder passiv-aggressiv und noch unumwundener, wenn sie schlecht gelaunt war.

Ein Glück, dass du so viel besser bist als alle anderen.

Ich habe natürlich unrecht, wie immer, denn du weißt ja alles besser.

Glaubst du, du bist der Einzige, der im Leben etwas erreichen will?

«Du sagst doch immer, dass du Geld verdienen willst», fuhr sie jetzt fort. «Tun Wirtschaftsjuristen das nicht?»

Die Sonne schien durch die Äste des kahlen Apfelbaums, ihre Strahlen waren noch blass und verschlafen. Ich seufzte.

«Sicher», erwiderte ich und schlug das Buch zu.

In Wahrheit hatte ich keinen blassen Schimmer, was Wirtschaftsjuristen taten, außer dass es mir sterbenslangweilig vorkam.

«Aber ich habe meine Bewerbungsunterlagen schon abgeschickt, und die Frist ist abgelaufen.»

Ich stand auf und faltete die Decke zusammen.

«Mit dem Zug sind es nur vier Stunden bis Norrköping. Und CSN zahlt mir ein Studiendarlehen. Ihr müsst euch also keine Sorgen machen.»

«Aber wo willst du wohnen?», rief meine Mutter mir nach, als ich über den Rasen in Richtung Terrasse ging, die mein Vater selbst gebaut hatte.

«Das wird sich schon finden», erwiderte ich über die Schulter hinweg.

 

Und am Ende löste sich die Wohnungsfrage in Lund tatsächlich; eine Woche vor Semesterbeginn. Es war mein Vater, der sie, wider Erwarten, löste. Oder vielleicht war es auch gar nicht so überraschend. In diesem Sommer hockte er hauptsächlich auf der Terrasse in der Hollywoodschaukel und scrollte auf seinem Handy herum. Eines Nachmittags stolperte er über einen Facebook-Post. Einer seiner ehemaligen Kollegen hatte eine Schwester, deren Sohn jetzt eigentlich sein drittes Jura-Semester beginnen sollte, aber offenbar im letzten Augenblick beschlossen hatte, eine Pause einzulegen und stattdessen in Frankreich Französisch zu lernen, ohne seine WG-Mitbewohner von seiner Planänderung informiert zu haben. Der Kollege bat nun seine Facebook-Community um Hilfe, jemanden zu finden, der das WG-Zimmer für das anstehende Semester übernahm und die Miete bezahlte. Mein Vater hatte sofort zurückgeschrieben – ohne mich zu fragen.

«Die Wohnung soll sehr zentral liegen», meinte er. «Das klingt doch toll? Eine WG, mit zwei anderen Jungs?»

Einen Moment lang schien er fast eifersüchtig, als ginge ihm auf, wie ein solches Studentenleben sein könnte, was er verpasst hatte. Mit Homies zusammenzuwohnen, Bier zu zischen und X-Box zu zocken. Hätte er das gerne gemacht?

Ich musste die Augen schließen, weil er mir mit einem Mal unendlich leidtat. Und das Gefühl, seinen Vater wegen seiner versäumten Jugend zu bemitleiden, empfand ich als schrecklich erniedrigend.

«Klingt fantastisch», sagte ich. «Danke, dass du das organisiert hast.»

Viertausendfünfhundert Kronen Monatsmiete. Danach blieben mir von meinem Studiendarlehen noch fast sechstausend Kronen zum Leben. Außerdem hatte ich noch zehntausend Kronen auf dem Konto, angespart von meinem jämmerlichen Sommerjob als Telefonverkäufer von Handyverträgen. Die Vergütung war zur Hälfte leistungsabhängig erfolgt, und angesichts der Tatsache, dass bei neunundneunzig Prozent der computergenerierten Telefonnummern aufgelegt worden war, sobald ich mich vorgestellt hatte, war es unfassbar, dass ich überhaupt etwas verdient hatte. Es kam mir vor wie ein Vermögen. Die Angst, die der Blick meines Vaters in mir geweckt hatte, legte sich und wich einem Gefühl, das ich noch nie empfunden hatte. Vielleicht war es Euphorie.

Ich band meine Certina-Uhr um, die ich zum Abitur bekommen hatte, und packte meine Bücher.

«Aber hock nicht nur in der Bude und lies, du Nerd», sagte Emma.

Doch ich hörte sie kaum, befand mich schon auf halber Strecke in ein anderes Leben.

2

Mein großer Koffer holperte über das Kopfsteinpflaster der Niels Bjelkegatan. Er war bestimmt zehn Jahre alt und stammte aus irgendeinem Supermarkt, angeschafft für einen unserer Kreta-Urlaube. Ich schämte mich, dass ich mich für den Koffer schämte, doch er machte allzu deutlich, dass ich zum unteren Rand der ländlichen Mittelschicht gehörte, einer Welt aus Discountern, Circle-K-Tankstellen und matschigen Schneeflocken im Schein gelber Straßenlaternen, an denen man auf der Autobahn vorüberfuhr. Ich wollte nicht auf diese Weise abgestempelt werden, ich wollte der sein können, der ich sein wollte. Ich wollte mein Leben beginnen, und der Koffer war wie ein Seil, das mich in eine verschlafene Vergangenheit zurückzog.

Ich blieb vor der hohen Eingangstür des gepflegten roten Backsteinhauses stehen, das sich bis zur Karl XI gatan und dem belaubten Park dahinter erstreckte. Der August war bisher extrem heiß gewesen, und der heutige Tag bildete keine Ausnahme. Es waren vermutlich über fünfundzwanzig Grad, und ich war froh über das weiße T-Shirt, das ich unter meinem aufgeknöpften hellblauen Hemd trug, damit die Schweißflecken nicht zu deutlich zu sehen waren.

Ich hatte mir gestern den ganzen Tag den Kopf darüber zerbrochen, was ich anziehen sollte, felsenfest davon überzeugt, dass meine erste Begegnung mit Ludvig und Victor, mit denen ich das halbe Jahr, in dem ihr Mitbewohner in Frankreich war, zusammenwohnen sollte, meine gesamte Studienzeit in Lund und damit den Rest meines Lebens bestimmen würde. Ich wollte smart wirken, lebenserfahren, lässig und stylish. Zum Schluss hatte ich mich für weiße Chinos, ein weißes T-Shirt und das hellblaue Button-down-Hemd von Ralph Lauren entschieden, das meine Mutter mir nach langem Drängeln beim Ausverkauf im Johnells in Norrköping gekauft hatte. Es war zeitlos und ähnelte den Hemden, die John Coltrane auf seinen Sechzigerjahre-Fotos trug. Ich stand inzwischen voll auf Blue Note und Jazz, auch wenn ich befürchtete, dass es vollkommen offensichtlich war, dass mich die Botschaft mehr interessierte als die Musik selbst. Wie auch immer, das Hemd passte jedenfalls zu dem, der ich sein wollte, und gleichzeitig war es nicht zu auffallend. Ich atmete tief durch und öffnete die massive Tür.

 

Die Wohnung lag unter dem Dach, und ich brauchte bestimmt fünf Minuten, um meinen Koffer in den engen Aufzug zu bugsieren und das Türgitter hinter mir zu schließen. Die Knöpfe waren dick und schwergängig, als ich die Vier drückte und der Aufzug sich schaukelnd und surrend auf eine Art in Bewegung setzte, die ich nur aus alten Filmen kannte. Es gefiel mir, es fühlte sich städtisch an.

Nachdem ich auf die kleine Messingklingel gedrückt hatte, dauerte es eine ganze Weile, bis die Wohnungstür geöffnet wurde. Mein Herz hämmerte wie wild, und ich schwitzte stärker als draußen auf der Straße. Im Facebook-Chat, den ich vorige Woche mit Ludvig geführt hatte, überprüfte ich noch einmal den Nachnamen und glich ihn mit dem Namensschild an der Tür ab. Obwohl ich keinen Moment daran zweifelte, dass ich richtig war – Rehnskiöld war kein Name, den man vergaß.

Ich klopfe einmal, sagte ich zu mir selbst. Wenn in zehn Sekunden niemand aufmacht, fahre ich wieder nach Hause.

Ein absurder Gedanke, aber solche Deals schloss ich ständig mit mir selbst:

Wenn der Bus nicht in zwei Minuten kommt, lasse ich Norrköping heute sausen.

Wenn ich dieses Buch nicht ausgelesen habe, bevor ich ins Bett gehe, darf ich eine Woche lang nicht FIFA zocken.

Wenn ich in Mathe keine Eins schreibe, laufe ich einen Marathon.

Bloß war der Einsatz heute höher. Ich glaube, wenn Ludvig die Tür auf mein Klopfen hin nicht fast sofort geöffnet hätte, ich wäre wirklich auf der Stelle umgekehrt und weggegangen. Doch er öffnete augenblicklich, als hätte er hinter der Tür gestanden und auf mich gewartet.

«Sorry, die Klingel ist kaputt. Wir müssen sie reparieren lassen.»

Er streckte eine trockene, kräftige Hand aus. Ich schüttelte sie linkisch und hoffte inständig, dass meine Hand nicht feucht war.

«Du bist Ludvig, oder?», fragte ich.

Er war groß, vielleicht sogar größer als ich, und ich maß immerhin eins siebenundachtzig, an einem guten Tag eins achtundachtzig. Sein halb langes, blondes Haar trug er zu einer luftigen Stockholmer-Yuppie-Frisur zurückgekämmt, die so voll mit teuren, unsichtbaren Pflegeprodukten war, das sie ganz natürlich aussah. Er hatte hohe Wangenknochen, einen athletischen Körper und wache Augen, die mich mit einer Mischung aus Neugier und Gleichgültigkeit musterten und mir mehr noch als der Koffer das Gefühl gaben, ein Hinterwäldler zu sein.

«Yes, das bin ich», sagte er. «Hübsches Hemd.»

Er nickte mir zu, und einen Moment lang hielt ich es für einen ironischen Kommentar. Dann ging mir auf, dass er das gleiche Hemd trug. Allerdings zugeknöpft und mit hochgerollten Ärmeln, den Saum nachlässig in blaue Shorts gestopft. Ich sah also nicht aus wie John Coltrane. Ich sah aus wie ein Jurastudent.

«Wir müssen einen Plan machen, wer von uns sein Hemd wann tragen darf», meinte er und ging in einem überraschend dunklen Flur voran. «Komm, ich zeig dir dein Zimmer.»

Ich folgte ihm in ein Wohnzimmer mit Dachschrägen. Zwischen zwei Dachgauben zur Straße hin thronte auf einer weißen IKEA-TV-Bank ein gigantischer Fernseher. Auf dem Bildschirm lief eine Folge von Maria Contis schwedischer Reality-Show. Seit einigen Jahren schien sie twenty-four-seven auf sämtlichen Kanälen gesendet zu werden. Maria Conti zählte zu den größten schwedischen Stars aus der jungen Oberschicht, ein ausgewogener Mix aus vererbtem Jetset und aktuellen Werbedeals. Gerade stand sie in weißer Sportkleidung in der neuen Küche, die sie in ihrem Haus in West Hollywood hatte einbauen lassen. Im Hintergrund erahnte man ihren Freund, einen anonymen und etwas älteren amerikanischen IT-Milliardär. Sie war unrealistisch durchtrainiert, unrealistisch erfolgreich und unrealistisch perfekt. Vor ein paar Monaten hatte sie sich an einem kalifornischen Sandstrand mit ihrem IT-Milliardär verlobt, eine moderne Version einer Hippie-Zeremonie am äußersten Rand der ökonomischen Stratosphäre. Medienberichten zufolge hatte der Ring zwei Millionen Dollar gekostet; die dazugehörige Kette und die Ohrringe noch einmal so viel.

«Verflucht fox, die Conti», sagte Ludvig. «Mega bangable. Du weißt, dass sie steinreich ist? Also ihr Vater. Irre assets. Vollkommen irre.»

Mit der Zeit sollte ich es lernen. Alle heißen Bräute waren fox und bangable. Und alle Vermögenswerte assets.

Auf dem Bildschirm setzte sich Maria Conti eine Sonnenbrille auf und stieg von sanftem L.A.-Licht beschienen in einen schwarzen SUV. Sie wirkte verstimmt.

«Eine alte Folge.»

Ludvig schaltete den Fernseher aus.

«Ihr Typ ist gerade dabei, einen globalen Zeitungs-Streamingdienst aufzubauen. Sie sind den Herbst über in Schweden. Wohnen im Hotel. Maria ist genau so, wie sie in der Show rüberkommt. Eine Zicke, aber ziemlich cool. Und wie gesagt, irre fox und mega bangable.»

«Du kennst sie?»

Ludvig zuckte die Achseln.

«Ihre Schwester war mit Victor auf dem Enskilda-Gymnasium in einer Klasse. Ich hab sie manchmal auf Partys gesehen, mehr nicht.»

Der Gedanke raubte mir den Atem. Maria Conti war die begehrteste Frau Schwedens, und meine Mitbewohner bewegten sich in denselben Kreisen wie sie. Ich war von mir selbst enttäuscht, weil es mich so sehr beeindruckte.

Vor dem Fernseher standen eine graue, leicht fleckige Eckcouch und ein großer Couchtisch mit einem Shaker darauf, der, wie ich annahm, Ludvigs Proteindrink enthielt.

«Das Wohnzimmer.» Ludvig machte mit dem rechten Arm eine ausholende Bewegung. «Wenn das Semester losgeht, sind Victor und ich kaum hier. Mach es dir einfach bequem. Netflix und HBO sind in der Miete mit drin.»

Er deutete auf den Fernseher.

«Da steht die PlayStation. Fühl dich wie zu Hause. All basics included.»

Er ging an mir vorbei in einen Raum am Ende des Wohnzimmers, der sich als Küche entpuppte, groß genug für einen Esstisch mit sechs Stühlen, und einer weiteren Dachgaube mit Aussicht auf einen begrünten Innenhof. Ludvig öffnete den Kühlschrank.

«Du hast das Fach in der Mitte», sagte er. «Es stehen noch ein paar von Tottes Sachen drin. Wirf sie einfach weg.»

Bevor er die Tür wieder zumachte, erhaschte ich einen Blick auf ein Glas Himbeer-Heidelbeer-Marmelade und ein Glas Erdnussbutter. Totte musste der nach Frankreich getürmte Mitbewohner sein.

«Komm», sagte Ludvig. «Dein Zimmer ist hier hinten.»

Er ging zurück ins Wohnzimmer, und ich folgte ihm.

«Wem gehört die Wohnung?», fragte ich. «Oder ist sie gemietet?»

«Sie ist Familienbesitz», erwiderte er.

Die Art, wie er «Familienbesitz» sagte, klang so natürlich, als redete er von einem Staat oder einer ganzen Kultur.

«Wir haben sie gekauft, als meine ältere Schwester hier studiert hat, dann haben wir sie eine Zeit lang vermietet, bis ich mit dem Studium angefangen habe. Victor ist aus Stockholm, aber unsere Familien kennen sich schon ewig. Als kleine Jungs waren wir zusammen in Falsterbo im Segellager. Totte haben wir im ersten Semester hier in Lund kennengelernt. Wir sind die drei Musketiere. Oder waren es, bis der Mistkerl beschlossen hat, eine Pause einzulegen und in Aix-en-Provence Französisch zu lernen.»

«Du kommst hierher, aus Schonen?», erkundigte ich mich.

Ludvig nickte.

«Aus Malmö.»

«Deine Eltern sind auch Juristen?»

Ich wollte nicht zu interessiert wirken, aber auch nicht zu desinteressiert. Eigentlich wollte ich alles über Ludvig wissen. Ich hatte keine Ahnung von Jura, oder was für Leute Jura studierten. Vielleicht würde ich der Einzige sein, der aus einer Familie kam, die keine lange Reihe von Juristen hervorgebracht hatte. Ich befand mich auf unsicherem Gebiet und wollte wenigstens wissen, womit ich es zu tun hatte, um mich anpassen zu können.

«Mein Vater hat in Lund Jura studiert», erzählte Ludvig. «Aber er hat nie als Jurist gearbeitet.»

«Was macht er stattdessen?»

«Er verwaltet einen Fonds. Investments. In Osteuropa. Asien. Grüne Energie und Nachhaltigkeit.»

Ludvig grinste und malte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft.

«Diese Schiene.»

«Verstehe», sagte ich.

Doch in Wahrheit verstand ich rein gar nichts und hoffte, Ludvig würde nicht fragen, was meine Eltern beruflich machten.

Ludvig öffnete eine Tür am anderen Ende des Wohnzimmers. Ich beugte mich vor und blickte hinein.

«Dein Zimmer», sagte er.

Das Zimmer war winzig, kaum groß genug für das Bett, den kleinen Schreibtisch und die Kommode, die unter der Schräge passgenau eingebaut zu sein schien. Ein winziges Dachfenster ließ einen Streifen Sonnenlicht herein, der auf die Matratze fiel.

«Könnte sein, dass Totte seinen Kram in der Kommode gelassen hat», meinte Ludvig. «Pack das Zeug einfach in einen Karton, damit du Platz für deine Sachen hast.»

«Kein Problem», erwiderte ich und nickte eifrig, um nicht wie jemand zu wirken, der Probleme machte.

«Ja, das wäre wohl alles.» Ludvig drückte mir einen Schlüsselbund in die Hand. «Du willst bestimmt auspacken. Ich muss zu einer Fachschaftssitzung. Aber wir sehen uns später. Okay?»

Im Zimmer war es stickig. Als Ludvig gegangen war, stieg ich aufs Bett, um zu prüfen, ob das Dachfenster sich öffnen ließ.

«Ach, eine Sache noch.»

Ludvig stand wieder in der Tür.

«Du musst zwei Monatsmieten als Kaution hinterlegen. Ich glaube, das habe ich noch nicht gesagt.»

Er beugte sich ins Zimmer und legte ein Blatt Papier aufs Bett.

«Das ist der Mietvertrag.» Er zwinkerte mir zu. «Schließlich sind wir Juristen, nicht wahr?»

Er klopfte zweimal mit der Faust an den Türrahmen und verschwand wieder im Wohnzimmer. Ich blieb auf dem Bett stehen und hörte, wie seine Schritte sich über das Parkett entfernten und kurz darauf die Wohnungstür hinter ihm ins Schloss fiel. Ich bückte mich nach unten und las den Vertrag, den er aufs Bett gelegt hatte.

Es war meine erste Begegnung mit einem trockenen juristischen Text, kaum dass ich aus dem Zug gestiegen war.

Der Mieter verpflichtet sich zur Leistung einer Kautionszahlung.

Mietzins.

Ich überflog die Sätze bloß, sah nur, dass die Kaution zwei Monatsmieten betrug, insgesamt neuntausend Kronen, und dass ich eine weitere Monatsmiete als Vorauszahlung leisten sollte. Mir wurde schwindelig, und ich sank aufs Bett.

Ludvig erwartete, dass ich ihm dreizehntausendfünfhundert Kronen überwies. Das war unmöglich. Auf dem Rücken liegend starrte ich geradewegs in den blauen Himmel über dem Dachfenster. Keine einzige Wolke war zu sehen, nichts. Ich brauchte mehrere Minuten, um zu begreifen, dass ich schon abgebrannt war, bevor das Semester überhaupt angefangen hatte.

Ich zog mein Handy aus der Hosentasche und loggte mich ins Onlinebanking ein. Ich hatte den ganzen Sommer über sparsam gelebt. Trotzdem belief sich mein Kontostand, sprich die Vergütung des Sommerjobs plus ein paar kleinere Beträge, die ich zum Abitur bekommen hatte, sowie ein paar Tausender, die meine Eltern zum Umzug beigesteuert hatten, auf knapp fünfzehntausend Kronen. Nach Abzug von Ludvigs Forderung blieben mir noch genau eintausenddreihundert Kronen. Und mein Studiendarlehen kam erst in ein paar Wochen.

Natürlich hätte meine instinktive Reaktion sein müssen, meine Eltern anzurufen. Beschämt, was sonst, doch die meisten Jugendlichen wären vermutlich nicht einmal das. Die meisten Eltern besaßen wahrscheinlich ein finanzielles Polster für Fälle wie diese, einen Puffer, um unvorhergesehene Ausgaben abzudecken. Manche kalkulierten solche Ausgaben vielleicht sogar von vornherein mit ein. Aber meine Eltern besaßen kein finanzielles Polster.

Bis vor ein paar Minuten hatte ich geglaubt, reich zu sein. Ich hatte noch nie so viel Geld auf dem Konto gehabt. Jetzt war mir nur noch hundeelend zumute. Wahrscheinlich brauchte Ludvig das Geld gar nicht. Vermutlich machte er sich noch nicht einmal Gedanken darüber, dass ich die Miete schuldig bleiben könnte, oder wofür diese Kautionszahlung auch immer gedacht sein sollte. Für ihn war es eine reine Formalität, eine symbolische Summe, etwas, was man einfach machte, ein Nichts. Für mich ging es dabei um alles. Aber nie im Leben würde ich mit jemandem darüber reden.

Ein paar rasche Klicks, und die gesamte Summe war auf Ludvigs Konto. Ich würde mich eben von Knäckebrot ernähren müssen. Es durfte bloß niemand merken.

***

Die ersten Tage vergingen damit, dass ich mich für die Einführungskurse einschrieb und einer der hiesigen Studentenverbindungen, der Östgöta Nation, beitrat. Dann versuchte ich, mir einen Plan zurechtzulegen, um bis zur Überweisung des Studiendarlehens genug Geld für Essen zur Verfügung zu haben. Ich bewarb mich für einen Job in der Spülküche der Östgöta Nation, und schon am Sonntag stand ich sechs Stunden lang in der winzigen Küche und räumte – zusammen mit einem chinesischen Studenten, der nicht genau zu wissen schien, wo er sich befand oder wie er hier gelandet war – eine Gastro-Spülmaschine ein und aus. Dafür bekam ich ein paar Hundert Kronen und vor Schichtbeginn ein Gratis-Essen. Kurz bevor geschlossen wurde, gab es eine Runde Fassbier und einen Snack zum Selbstkostenpreis. Schließlich war der eigentliche Sinn und Zweck, in einer Studentenverbindung zu jobben, genau das: Anschluss zu finden und Teil der Gemeinschaft zu werden. Aber ich brauchte Bares und konnte es mir nicht leisten, den winzigen Betrag, den ich verdiente, zu verpulvern, um Kontakte zu knüpfen.

Das Einzige, was ich mir seit meiner Ankunft in Lund gekauft hatte, war eine gebrauchte Gesetzessammlung für sechshundert Kronen. Sie war immerhin ein Beweis dafür, dass ich hier war, dass ich wirklich und wahrhaftig Jura studierte. Einen ganzen Nachmittag lag ich auf dem Bett, sah das Buch einfach nur an und strich mit der Hand über den blauen Leineneinband.

«Du kannst die komplette Seminarliteratur von mir oder Victor kaufen», meinte Ludvig. «Zum Freundschaftspreis.»

Doch dieser Freundschaftspreis überstieg die fünfhundert Kronen, die noch auf meinem Konto waren, um mehrere Tausend.

«Ich glaube, ich kaufe mir die Bücher neu», erwiderte ich.

«Klar», pflichtete Ludvig mir bei. «Gebrauchte Bücher sind unfresh.»

 

Mitte der ersten Septemberwoche war mein Kontostand auf null gesunken, und am Freitag hatte ich mich seit drei Tagen ausschließlich von Haferbrei ernährt. Ich hatte sogar die Marmelade und die Erdnussbutter aufgegessen, die dieser Totte zurückgelassen hatte. Um mich herum fanden die anderen Studierenden ihre Gruppen und trafen sich in der Unibibliothek oder in einer Studentenverbindung, um gemeinsam zu lernen. An ihren Scherzen und ihren Insiderjokes merkte ich, dass sich die Bande zwischen ihnen festigten. Meine notorische Abgebranntheit färbte auf mein soziales Leben ab, und nachts schob ich Panik, diese Farbe könnte von Dauer sein. Bald würde mein Studiendarlehen überwiesen, und dann hätte ich genug Geld, um auszugehen und einen Kaffee oder ein Bier zu trinken. Aber ich hatte Angst, dass es dann zu spät sein könnte. War man nicht von Anfang an dabei, war der Zug abgefahren. Würde ich fast fünf Jahre Einsamkeit überleben? Oder zumindest ein Weirdo-Dasein, wie auf dem Gymnasium?

 

Als ich am Freitag in jener ersten Septemberwoche aufwachte, hatte ich mich bereits ins Onlinebanking eingeloggt, bevor ich die Augen richtig aufbekam – so wie ich es in Erwartung des Studiendarlehens seit Semesterbeginn jeden Morgen getan hatte. In meinem schlaftrunkenen Zustand glaubte ich zu träumen. Die Zahlen auf dem Display verschwammen ineinander, und ich blinzelte mehrmals, um klar zu sehen. Mein Kontostand belief sich auf annähernd fünfzehntausend Kronen. Das Geld war da, und ich hatte fast fünftausend Kronen mehr ausbezahlt bekommen, als ich erwartet hatte. Ich setzte mich im Bett auf und rieb mir die Augen. Auf der CSN-Website las ich, dass die Beträge für den halben August und den gesamten September aufgrund des Semesterbeginns zum 15. August auf einmal überwiesen worden waren. Unendliche Erleichterung durchflutete mich, und ich ließ mich zurück aufs Bett sinken.

Zum ersten Mal ging ich in das Café, um das ich von Tag eins an einen großen Bogen gemacht hatte, und gönnte mir zum Frühstück einen Cappuccino und ein Croissant. Das Love Coffee am Clemenstorget besaß ein modernes, kosmopolitisches Flair, es war nicht so muffig und in einen Dunst aus abgestandenem Biermief gehüllt wie die Lokale der Studentenverbindungen. Ich trank meinen Cappuccino aus und bestellte einen zweiten. Die Welt draußen vor dem Fenster hatte wieder Farben. Eine Zukunft erschien möglich. Ich würde mir die nötige Seminarliteratur kaufen und Freunde finden. Ich würde mich satt essen. Das war die Macht des Geldes und der Grund, warum ich Jura studierte und später einen hoch bezahlten Spitzenjob ergattern würde. Ich würde nie wieder jede Öre zweimal umdrehen und niemals wieder Haferbrei essen.

An der Theke unterhielten sich einige Studenten mit der Barista. Sie war in meinem Alter, hatte ein Nasenpiercing und trug ihr blondes Haar zu einem Bun hochgebunden. Seit ich in Lund war, hatte ich das Aussehen anderer Menschen kaum wahrgenommen, mein Gehirn war viel zu sehr auf das Geld fokussiert gewesen. Dass mir auffiel, wie heiß sie war, erschien mir wie eine Befreiung.

«Fährst du auch nach Malmö», erkundigte sie sich, als ich bezahlte.

Ich schob meine EC-Karte in das Lesegerät: unendliche Erleichterung, die Zahlung wurde akzeptiert.

«Malmö?», erwiderte ich. «Warum?»

Lächelnd hielt sie mir die Quittung hin. Ich schüttelte den Kopf.

«Die Demo?», sagte sie. «Der Neonazi-Aufmarsch? Alle scheinen dahin zu wollen.»

Mit dem Zug waren es bis Malmö nur zehn Minuten, aber in den vergangenen Wochen hätte es genauso gut auf einem anderen Planeten liegen können. Vage erinnerte ich mich daran, gelesen zu haben, dass die Neonazis die Erlaubnis erhalten hatten, in Linhamn, am Stadtrand von Malmö, zu demonstrieren. Ich errötete leicht und sah sie an.

«Ich dachte, das wäre morgen», sagte ich. «Ich war in den letzten Tagen so beschäftigt, dass ich das ganz vergessen habe.»

«Die offizielle Demo ist auch morgen», erwiderte sie. «Aber sie wollten ursprünglich mitten in der Stadt demonstrieren, was nicht genehmigt wurde, und jetzt gehen alle davon aus, dass sie da heute unangemeldet aufmarschieren.»

Ich zögerte, wusste nicht recht, was ich sagen sollte.

«Du solltest hinfahren», meinte sie, «wenn du nichts anderes vorhast. Es heißt, um drei Uhr geht’s los. Und es wird ganz schön chaotisch werden.»

Sie sah mich mit ihren blauen Augen an, und eine Mikrosekunde gab ich mich der Fantasie hin, ich wäre einer von diesen Typen, die so etwas sagten wie: ‹Wann ist deine Schicht zu Ende? Ich warte auf dich›, oder sie nach ihrem Snapchat-Profil oder ihrer Telefonnummer fragten. Wollte sie vielleicht, dass ich sie danach fragte? Doch ich nickte bloß und schob meine EC-Karte zurück ins Portemonnaie.

«Ernsthaft», sagte sie. «Es sind dunkle Zeiten. Jeder kann etwas dagegen tun.»

Das war natürlich ein bisschen übertrieben, aber ich war anfällig vor Glück, weil das Geld da war, und ich konnte keinen Tag länger in meinem winzigen Mansardenzimmer hocken.

«Du hast recht», sagte ich. «Ich fahre hin.»

3

Es herrschte kein Chaos, als ich in Malmö am Bahnhof aus dem Zug stieg. Wobei ich nicht behaupten konnte, schon einmal auf einer größeren Demonstration gewesen zu sein. In Norrköping bedeutete eine Demo gegen Rechts, dass ein paar Ökos mit selbst gebastelten Plakaten auf dem Tyska torget standen, und ich war im Lauf der Jahre nur einmal rein zufällig an ihnen vorbeigelaufen. Was diese Demo anging, hegte ich komplett andere Erwartungen. Es war kurz vor halb vier, als ich aus dem Bahnhofsgebäude kam. Und auf der Brücke über den Kanal meinte ich von der Innenstadt her das dumpfe Dröhnen von Trommeln zu hören. Als ich die Straße überquerte, fiel ein Schatten auf den Asphalt. Ich hob den Kopf und entdeckte einen Polizeihubschrauber, der besorgniserregend tief über den Hausdächern schwebte. Die Geräusche der Rotoren wurden immer lauter. Passanten blieben stehen und deuteten nach oben. In einer Seitengasse parkten zwei Polizeibusse. Schutzschilde wurden ausgeladen. Ich spürte, wie mein Puls schneller schlug. Es würde definitiv etwas geschehen.

Auf dem Stortorget stand eine kleine Gruppe Demonstranten mit Dreadlocks und roten Transparenten, die vielleicht fünfzig Köpfe zählte. Im ersten Moment stimmte ihr Anblick mich euphorisch. Sie wirkten authentisch, ehrlich, als kämen sie aus einer größeren Welt, voller Hasch und Diskussionen über die Fallstricke der Globalisierung, vielleicht aus Kopenhagen oder Berlin. Im Näherkommen schien es mir jedoch, dass sie, mit ihren weiten, kurzen Hosen, ihren postironischen Frisuren und ihrer diffusen Gender-Zugehörigkeit, eher aussahen wie gealterte Versionen der Ökos in Norrköping. Ihre Transparente und Trommeln waren eher nostalgisch als aufsehenerregend, eher geeignet für eine dröge Kundgebung am Ersten Mai als für den Widerstand, den ich zu erleben hoffte. Der Polizeihubschrauber kreiste am Himmel. Als ich mich umwandte, rückte eine Gruppe Polizisten in voller Kampfmontur heran, undeutliche und verwechselbare Gesichter unter weißen Helmen und hinter Plexiglasvisieren. Schwarze Gestalten umhüllt von Gore-Tex und Kevlar. Vielleicht waren es die Polizisten, die ich eben beim Ausladen ihrer Fahrzeuge gesehen hatte. Ich ließ sie passieren und sah ihnen nach.

Ich hatte meine finanzielle Depression überlebt. Doch in all ihrer Banalität hatte sie die tiefe Kluft offenbart, die geradewegs durch die Wohnung verlief, in der ich lebte. Eine Kluft, die eine Mikroversion derselben unsichtbaren Ungerechtigkeit darstellte, auf der die Welt aufgebaut war. Niemand konnte sich gegen die vereinte Macht von Geld, Herkunft und Klasse wehren. Absolut niemand. Ich war selbst überrascht, wie begierig ich auf einmal darauf war, zu erleben, wie die Welt aussah, wenn sie in Brand gesetzt wurde.

 

Der Lilla torg grenzte unmittelbar an den Stortorget. Aber die Atmosphäre dort war eine vollkommen andere. Keine Trommeln schlagenden, Fahnen schwenkenden Ökos. Stattdessen hatten sich in der Mitte des Platzes mehrere Hundert schwarz gekleidete Demonstranten eingefunden, viele mit Sturmhauben. Sie wirkten wie Fossile, wie Relikte aus einer Zeit, in der noch Seuchen und Todesgefahr geherrscht hatten. Die Demonstranten in der ersten Reihe trugen schwarze Motorradhelme über ihren Sturmhauben. Manche waren mit Knüppeln und Steinschleudern bewaffnet. An Rucksäcken baumelten Gasmasken. Demonstranten wie diese sah man normalerweise in den Nachrichten bei den Aufmärschen von Globalisierungsgegnern in den Hauptstädten der Welt. Gemeinsam bildeten sie eine kampfbereite Straßenarmee. Die Polizisten, die die Demonstranten jetzt einkreisten, waren deutlich in der Unterzahl. Wenn die Menge wollte, konnte sie den Platz spielend leicht verlassen.

«Deutsche und Dänen», sagte ein Maklertyp im Anzug, der neben mir stand, zu seinem Kollegen und deutete auf den maskierten Pulk.

«Verfluchter Abschaum, keinen Deut besser als die Nazis.»

«Psychopathen», erwiderte sein Kollege. «Das wird Krawall geben. Warum sind nicht mehr Polizisten hier?»

Mein Puls schnellte in die Höhe. Deswegen war ich gekommen, auch wenn es mir nicht bewusst gewesen war oder ich es mir nicht hatte eingestehen wollen. Und es verblüffte mich, wie sehr ich dem Krawall entgegenfieberte, wie vollkommen angstfrei und bereit für das Chaos ich mich fühlte.