Der Buchladen am Ende der Welt - Ruth Shaw - E-Book

Der Buchladen am Ende der Welt E-Book

Ruth Shaw

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Beschreibung

AM ENDE DER WELT,GANZ WEIT IM SÜDEN NEUSEELANDS, steht ein winzig kleiner Buchladen. Er gehört einer Frau mit einer unfassbaren Lebensgeschichte: Ruth Shaw verlor ihr Kind und ihre große Liebe. Sie segelte jahrelang über den Pazifik, wurde von Piraten überfallen, wegen Glücksspiels verhaftet, war Streetworkerin und Köchin für einen Erzbischof. Heute verkauft sie Bücher im abgelegenen Fiordland. Oder verschenkt sie. In ihren Memoiren verwebt sie Anekdoten über die Menschen, die ihren Buchladen besuchen, mit den bittersüßen Geschichten aus ihrem abenteuerlichen Leben. Ein Buch über Trauer und Verlust, aber auch über die Liebe – zum Leben, zur Welt der Bücher und zur Weite des Ozeans.

  • Eine Lebensgeschichte wie ein Abenteuerroman
  • Ergreifend und zugleich voller Humor
  • Ein kleiner Buchladen als Mikrokosmos des Lebens

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Seitenzahl: 326

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1. Auflage 2023

© Ruth Shaw, 2022

© 2023 für die deutschsprachige Ausgabe: DuMont Reiseverlag, Ostfildern

Alle Rechte vorbehalten

 

Die englische Originalausgabe ist 2022 unter dem Titel »The Bookseller at the End of the World« bei Allen & Unwin in Sydney und Auckland erschienen

 

Zitate auf S. 15 und 181 aus:

Margery Williams, Der kleine Schmusehase

Die Rechte an der deutschen Übersetzung von Kim Landgraf liegen beim Anaconda Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

 

Übersetzung: Anja Samstag

Lektorat: Patrick Schär

Illustrationen: Sophie Watson

Gestaltung Umschlag: Saskia Nicol (mit Anpassungen durch Anja Linda Dicke)

Fotos Innenteil: zur Verfügung gestellt von Ruth Shaw

Satz und Gestaltung Fotostrecke: Anja Linda Dicke

 

Printed in Poland

 

ISBN 978-3-616-03235-1

www.dumontreise.de

Für meine wundervolle Mutter Freda (November 1925 – Juni 1972) und für meinen großartigen Ehemann Lance: meine erste und letzte Liebe.

Inhalt

Kapitel 1 Zwei winzige Buchläden

Kapitel 2 Bücher und die erste Geschäftsidee

Kapitel 3 Die Kunst des Kartenspiels

Kapitel 4 Naseby

Kapitel 5 1963

Kapitel 6 Auf zur Navy

Kapitel 7 Stewart Island und wie ich Lance kennenlernte

Kapitel 8 Die Arbeit für den Erzbischof

Kapitel 9 Alle Mann an Bord

Kapitel 10 Meine kurze Karriere als Diebin

Kapitel 11 Die nächsten Tragödien

Kapitel 12 Ankunft in Rabaul

Kapitel 13 Bitte sorgt euch

Kapitel 14 Briefe aus der Heimat

Kapitel 15 Heimlich davongemacht

Kapitel 16 Geh nicht gelassen in die gute Nacht

Kapitel 17 Die Villa des verrückten Hutmachers

Kapitel 18 Ehe, Marihuana und die Menagerie

Kapitel 19 A Kind of Magic

Kapitel 20 »Widersetzt euch viel! Gehorcht wenig!«

Kapitel 21 Kampf für »The Opposition«

Kapitel 22 Die Heimat ruft

Kapitel 23 Ankunft zu Hause

Kapitel 24 Lance’ Abenteuer

Kapitel 25 Die Suche nach meinem Sohn

Kapitel 26 Mein Junge mit den blauen Augen

Kapitel 27 Der Buchladen am Ende der Welt

Kapitel 28 Home Street

Danksagung

Quellennachweise

Kapitel 1

Zwei winzige Buchläden

Unweit des Lake Manapōuri, an der Ecke Hillside Road und Home Street, stehen zwei kunterbunt bemalte winzig kleine Buchläden, umgeben von Pflanzen, allerlei Krimskrams und dem einen oder anderen Haustier, das hier wohnt.

Von Ende September bis Mitte April schließe ich jeden Morgen meine Two Wee Bookshops auf. Mein grüner Fiat 500, Baujahr 1961, steht gut sichtbar an der Southern Scenic Route und wirbt für den »kleinsten Buchladen in Neuseeland«. Ich stelle das »GEÖFFNET«-Schild an der Ecke zur Home Street raus, und dann fange ich an, Bücher auf Tischen und alten, bunt gestrichenen Schulbänken auszulegen. Auf die Kreidetafel schreibe ich: »GEÖFFNET. Bitte laut klingeln, wenn ich nicht da bin.« Neben der Tür hängt eine Schiffsglocke, deren Bimmeln ich beinahe überall auf unserem großen bewaldeten Grundstück hören kann.

Ich war siebzig Jahre alt, als ich mich entschied, die Buch­läden zu eröffnen, sozusagen als netten Zeitvertreib für eine Rentnerin. Schon dreißig Jahre zuvor besaß ich einen ersten Buch­laden, als Teil einer Jachtvermietung namens Fiordland Ecology Holidays, die mein Mann Lance und ich leiteten.

Schon gewöhnliche Buchläden ziehen Leute an, die Bücher lieben, doch meine Two Wee Bookshops sind wie ein Leuchtfeuer für jeden, der vorbeireist. Vielleicht liegt es an den bunten Farben, den alten Fenstern und Türen. Oder daran, dass sie einfach wirklich sehr klein sind.

Tibor aus Budapest zum Beispiel fuhr an den Häuschen vorbei, als sein Blick auf das Wort »Bookshop« fiel. Er kehrte postwendend um – und landete schließlich in unserem Gartenhäuschen, in dem er einen Monat lang wohnte. Er war Krankenpfleger, machte einen verlängerten Urlaub und lebte in seinem alten Kombi. Als Gegenleistung für Kost und Logis arbeitete er im kleinen Wald, der unser Haus umgibt. Er liebte Bücher und verbrachte seine Zeit oft damit, im Buchladen zu sitzen, zu lesen und sich mit meinen Kunden zu unterhalten. Wenn ich wegmusste, schloss er den Laden für mich auf und verkaufte erfolgreich eine Menge Bücher. Als er zurückmusste, flossen viele Tränen. Er wollte nicht gehen, und wir waren traurig, dass wir uns verabschieden mussten.

Und dann trafen wir Jana, ein junges deutsches Mädchen, das den Buchladen betrat, sich auf einen Stuhl setzte, zu weinen begann und sich mit einem völlig durchnässten Taschentuch die Nase schnäuzte. Ich nahm sie in den Arm und drückte sie an mich, während sie schluchzte. Ihre Beziehung war gerade zu Ende gegangen, erzählte sie mir. Ich nahm sie mit ins Haus, und Lance hielt auf seine gewohnt verständnisvolle und mitfühlende Art die Stellung im Buchladen. Er ist der persönliche Berater des Ladens und bringt den ganzen Tag lang pausenlos Tee und Kaffee. Außerdem ist er mein Handwerker, mein Mädchen für alles, und gemeinsam richten wir jeden Morgen die Buchläden her. Jana blieb eine Woche bei uns.

Und dann kam Lily aus Polen, die solches Heimweh hatte, dass sie nur reden wollte – und wie sie redete! Ich erfuhr alles über ihre Familie bis hin zu ihren Großeltern, wo sie zur Schule gegangen war und welche Teile Neuseelands sie schon bereist hatte. Am Ende dieser atemlosen und größtenteils einseitigen Unterhaltung erzählte sie mir von ihrer Trennung.

Adam aus Australien kam. Er sah aus wie etwa einundzwanzig, ein breitschultriger Kerl mit einem frechen Grinsen. Er arbeitete in Milford Sound und hatte ein paar Tage frei.

»Ich will nur wissen, wie man ein Buch liest«, sagte er.

Das hatte ich noch nie gehört, aber wenn jemand weiß, wie man ein Buch liest, dann wohl eine Buchhändlerin.

»Was interessiert dich, Adam?«, fragte ich.

»Nicht viel. Ich baue Gras an und rauche das auch ganz gern.«

Seine Offenheit überraschte mich – er kannte mich ja gar nicht. Dann dachte ich daran, wie mein Aussehen auf einen Fremden wirken musste. Ich trug die für mich typische weite indische Baumwollhose, eine Tunika, die bis zu meinen Knien reichte, und dazu einen bunten Hut. Ich verstand, was er wohl annahm.

»Ich habe genau das richtige Buch für dich«, sagte ich. »Warte kurz – es ist aus meiner eigenen Büchersammlung und steht eigentlich nicht zum Verkauf.«

Bogor, von Burton Silver geschrieben und 1980 veröffentlicht, ist ein Buch mit Cartoons über einen einsamen Förster namens Bogor, der sich mit einem Igel anfreundet, der Marihuana anbaut. Der Igel ernährt sich von Schnecken, die er auf den Marihuana­pflanzen züchtet. Die Cartoons erschienen von 1973 bis 1995 im Magazin New Zealand Listener und keine andere Comicreihe Neuseelands wurde so lange fortgesetzt wie diese. Wir verliebten uns alle in die Bogor-Comics, die für jene Zeit ziemlich radikal waren. Die Bogor-Bücher erschienen wenig später und sind heute Sammlerstücke.

Ich kehrte mit dem Buch in den Laden zurück und erzählte Adam die Geschichte von Bogor und dem netten Igel, der bekiffte Schnecken fraß. »Du wirst es lieben. Es ist leicht zu lesen, und ich bin sicher, du kannst nicht mehr aufhören, wenn du erst mal angefangen hast.«

Adam fing an zu lesen. Als er das Buch zurückbrachte, erzählte er, er habe auf der Online-Tauschbörse Trade Me nachgesehen und wolle nun selbst anfangen zu sammeln.

 

* * *

 

Eines Tages tauchte ein Mann namens Alan auf. Er saß schweigend auf der Stufe beim Eingang, sein hängender Kopf berührte beinahe die Knie.

»Warum kommen Sie nicht rein und setzen sich?«, fragte ich ihn. »Ich schließe die Tür, damit Sie etwas Zeit für sich haben.«

»Nein, das wäre zu viel verlangt«, sagte er, doch er stand auf und kam in den Laden. Ich eilte hinaus, drehte das »GEÖFFNET«-Schild um, wischte die Kreidetafel ab und schloss die Tür. Wir saßen einige Minuten lang schweigend da, bis ich mich schließlich vorstellte. Ich sah zu ihm hinüber, und er weinte.

Unser Haus liegt direkt neben den Buchläden, also lief ich rüber und bat Lance, zwei Tassen Kaffee in den Laden zu bringen. Das mache ich oft, wenn viel los ist und die Leute darauf warten, endlich die überfüllten Buchläden betreten zu können. Mehr als fünf Kunden – und man kann sich nicht mehr bewegen. Lance unterhält die Wartenden dann mit wunderbaren Geschichten aus seinem Leben und bringt Tee und Kaffee. Zum Glück liest er selbst viel, sodass er, wenn gewünscht, auch gern über Bücher redet.

Der Kaffee kam: einer nur mit Milch, der andere mit Milch und Zucker. Lance hatte richtig geraten – Alan war der Milch-und-Zucker-Typ.

»Danke, Ruth«, sagte Alan. »Ich glaube, das Schicksal wollte, dass ich hierherkomme – nur lese ich eigentlich keine Bücher.«

»Es kommen viele Leute her, die keine Bücher lesen.«

»Es lag an den Farben und der Glocke an der Tür, das hat mich angelockt. Ich bin Feuerwehrmann aus New South Wales, und mir wurde befohlen, Urlaub zu nehmen. Hier bin ich also.« Er seufzte und sah zu mir auf. »Glaubst du, ich habe meine Kollegen im Stich gelassen? Denn ich glaube das. Sie sind noch dort draußen. Und egal wo ich hingehe, rieche ich den Rauch.« Die Buschbrände in Australien waren in jenem Jahr so entsetzlich, dass wir selbst hier in Manapōuri, unten an der Südinsel Neuseelands, den Rauch riechen konnten und der Himmel die Farbe des Feuers annahm.

Wir unterhielten uns über eine Stunde lang. Bei den Schrecken, die er erlebt hatte und zu denen er zurückkehren musste, war mir zum Heulen zumute.

Schließlich stand er auf, stellte seine Tasse auf den kleinen Tisch, zog ein Taschentuch aus der Box, die ich für alle möglichen Situationen dort stehen habe, und putzte sich die Nase. »Danke, Ruth. Du warst genau das, was dieser ausgelaugte, alte Feuerwehrmann gebraucht hat.«

Ich umarmte ihn, sah zu ihm hoch, denn er war sehr viel größer als ich, und lächelte. Ich wusste, dass er am nächsten Tag den Kepler Track wandern wollte. »Versuche, den Wald zu riechen«, sagte ich. »Atme die Bergluft ein und sei dir gewiss, dass du bereit sein wirst, wieder an der Seite deiner Freunde zu arbeiten, wenn du zurückgehst. Ich habe ein kleines Buch für dich.« Ich reichte ihm eine Ausgabe von Fellosophie: Tierisch gute Alltagstipps. »Das wird dich zum Lächeln bringen – vielleicht sogar zum Lachen.«

Alan grinste. Ich hielt ihm die Tür auf, und als er um die Ecke in Richtung See lief, drehte ich das Schild auf »GEÖFFNET«.

An manchen Tagen verschenke ich mehr Bücher, als ich verkaufe. Das sind die Freuden des Rentnerinnendaseins, man hat keinen Druck mehr, Geld verdienen zu müssen. Es ist viel erfüllender, das perfekte Buch zu verschenken, als es zu verkaufen.

 

* * *

 

Der kleinere Buchladen, der für die Kinder, versteckt sich hinter einem Zaun. Man kann nur die Vorderseite sehen. Die rote Tür ist kaum mehr als einen Meter hoch.

Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen im Kinderbuchladen. Oft hocken die Kinder da, lesen und kuscheln dabei mit einem der Plüschtiere, die auf dem unteren Regal in einer ­Reihe sitzen und sehnsüchtig auf Aufmerksamkeit hoffen. Die Mütter, Väter und Großeltern finden Bücher aus ihrer Kindheit und schwelgen in Erinnerungen.

In einer Ecke habe ich eine Leihbücherei eingerichtet. Die Kinder dürfen ein Buch und ein Kuscheltier über Nacht mit nach Hause nehmen, und das Plüschtier erhält seinen Namen vom ersten Kind, das es ausleiht. Wenn die Kuscheltiere zurückgebracht werden, wasche ich sie und hänge sie zum Trocknen raus. Meine Wäscheleine ist oft voller plüschiger Tiere, die an den Ohren oder am Schwanz aufgehängt sind. Da sind die Zwillingsbären Honey und Maple, die flauschige weiße Katze Blizzard MacMurray, die Katze Mornington, das Kamel Camo, die gelbe Ente Moon und der Hase Bouncy.

Das kleine weiße Lämmchen Eep war für zwei Nächte bei einer Übernachtungsparty und kam etwas klamm und voller Dreck und Gras zurück.

»Wow! Sieht aus, als hätte Eep tolle Ferien gehabt«, sagte ich.

»Ich habe sie nachts im Stall bei den anderen Schafen schlafen lassen, damit sie nicht so allein ist.«

»Großartige Idee. Es hat ihr bestimmt gefallen.«

Eep ist jetzt zurück im Regal und nach ihrem Bad wieder strahlend weiß.

Tama verbringt die Ferien bei seinen Großeltern in Manapōuri und kommt regelmäßig im Buchladen vorbei. Er ist ein sehr ernster Junge, nachdenklich und manchmal auch ziemlich lustig. Er nahm Growl, den Plüschlöwen, mit nach Hause. Bevor er den Laden verließ, erklärte ich ihm, dass ich Growl in die Wasch­maschine gesteckt hatte und sein Brüllen nun kein Brüllen mehr war, sondern eher wie jemand klang, der am Ertrinken war.

Tama lächelte und sagte: »Das macht nichts.«

Als er Growl am nächsten Tag zurückbrachte, sah er mir in die Augen und sagte: »Ich glaube, du warst zu hart zu Growl. Sein Brüllen ist gar nicht so schlecht.«

Eins meiner Lieblingsbücher in der Leihbücherei ist Der kleine Schmusehase von Margery Williams aus dem Jahr 1922. »Was bedeutet echt?«, fragt der kleine Hase einmal das weise Schaukelpferd. »Echt bedeutet nicht, wie man gemacht ist«, sagt das Schaukelpferd. »Es heißt, dass etwas mit dir geschieht. Wenn ein Kind dich sehr lange liebt, nicht nur gerne mit dir spielt, sondern dich wirklich liebt, dann wirst du echt.«

Ich habe dieses Buch viele Male gelesen, und diese Stelle erinnert mich an die Zeiten in meinem Leben, in denen ich die Bedeutung des Wortes »echt« verstehen gelernt habe.

Kapitel 2

Bücher und die erste Geschäftsidee

Mein Vater war von 1941 bis 1946, dem Jahr, in dem ich geboren wurde, Feuerwehrmann bei der Eisenbahn. Er hat uns viele Geschichten über seine Arbeit erzählt. Die Lokomotive K942 mochte er am liebsten. New Zealand Rail führte sie ein, weil sie mit dem bergigen Terrain gut zurechtkam und mehr schwere Fracht befördern konnte. Ich glaube, ich habe die Begeisterung für Züge von meinem Vater geerbt: Mein ganzes Leben lang war ich ent­weder auf einem Schiff unterwegs, oder ich saß in einem Zug.

Mum war neunzehn, als sie Dad heiratete, der einundzwanzig war. Das war 1944. Die ersten drei Jahre ihrer Ehe zogen sie bei Dads Eltern, Gran und Pop, ein. Während dieser Zeit kamen meine Schwester Jill und ich zur Welt.

Von Gran und Pops Haus in Christchurch aus blickte man auf den Fluss Avon. Ein perfektes Haus für eine Familie, mit fünf Schlafzimmern, einer großen Küche, einem Esszimmer, Wohnzimmer und sogar einer Waschküche mit Warmwasserspeicher. Jill und ich teilten uns ein Zimmer mit Tante Maureen, der Zwillingsschwester von Tante Lorraine, beide waren nur zehn Jahre älter als ich und die jüngsten von Grans fünf Kindern. Tante Joan, die Älteste, war schon verheiratet und lebte auf der Nordinsel. Bei uns wohnten außerdem zahllose Pflegekinder, die wir Onkels und Tanten nannten.

Gran führte den riesigen Haushalt mit sanfter, aber bestimmter Art. Pop war immer draußen in seinem Schuppen, wo er an Fahrrädern arbeitete, oder drüben im berühmten Fahrradladen seines Bruders Jim, Hobdays Cycles, den dieser 1943 in der Colombo Street eröffnet hatte. Das Geschäft gibt es noch heute.

Gran war eine dralle Frau, die jeden Tag Schürze trug, das Haar stets zu einem strengen Dutt zusammengebunden. Sie lächelte fast immer, und bei ihr gab es ständig Umarmungen und Geknuddel. Ich liebte sie ungeheuerlich. Oft sagte Gran, wenn sie mich umarmte und mir einen Kuss auf den Kopf drückte: »Ruthie, ich weiß, du versuchst, brav zu sein, aber du bist es einfach nicht.«

Sie hat uns Hosen aus Mehlsäcken genäht, und sonntags gab es Sad Cake, der seinem traurigen Namen alle Ehre machte. Statt Butter kam Nierenfett in den Teig, was den Kuchen so schwer machte, dass er oft eingefallen war, wenn er auf den Tisch kam. Als Entschädigung bekamen wir Marmelade und dicken Rahm auf gebuttertem Brot.

Mums und Dads erstes eigenes Haus lag in der Bangor Street, einen Block vom Fluss Avon und einen kurzen Fußmarsch von Gran und Pop entfernt. Wir zogen 1949 dort ein. Es war ein sehr kleiner Holzbungalow, den Dad immer wieder umbaute. Damit war er sehr beschäftigt, doch Onkel Ivan und er entschieden sich trotzdem, ein weiteres Projekt zu wagen: industrielle Hühnerzucht zur Fleischgewinnung. Sie fanden ein passendes Stück Land für die Aufzucht der über hundert Hennen, doch im letzten Moment, als die Vögel bereits gekauft und bezahlt waren, stieg der Landbesitzer aus. Und so zog das Projekt »freilaufende Tiefkühlhühnchen« in unseren kleinen Garten.

Als die Hühner eintrafen, hatte Dad bereits die komplette Rückwand unseres Hauses eingerissen, sodass die Küche und unser kleines Schlafzimmer zum Garten hin offen waren. Er flickte die Wand behelfsmäßig mit Jutesäcken, die die Wärme drinnen halten sollten. Wir hörten regelmäßig, wie die Hühner leise gackernd unter den Jutesäcken hereinschlüpften, um auf den Kopfteilen unserer Betten oder an einem anderen gemütlichen Platz in einer Reihe sitzend zu schlafen.

Das Hühner-Unternehmen nahm ein abruptes Ende, als die Nachbarn sich beschwerten, doch erst nachdem die Hühner die komplette Kontrolle über unseren Garten und das Haus übernommen hatten.

Dad ließ sich ständig etwas Neues einfallen, häufig zog er die ganze Familie mit hinein. (Diese Eigenschaft hat er eindeutig an mich vererbt.) Als wir von der Bangor Street in die Oxford Ter­race zogen, entschied Dad sich kurzerhand, aus dem großen Haus eine Pension zu machen.

Zwei unserer ersten Pensionsgäste waren Bill und Maurice, die ersten Krankenpfleger im Christchurch Public Hospital. Maurice wurde später Oberpfleger im Silverstream Hospital in Upper Hutt. Es gab ständig Drama, weil sie offen schwul und ein Paar waren, was in den 1950ern eine große Sache war. Bill war für uns Onkel Bill. Mum führte die Pension, während Dad die Sommermonate über in der Deep-Lead-Goldgrube in Matakanui in Central Otago arbeitete.

Als Dad das Haus in der Oxford Terrace fertig umgebaut, repariert und gestrichen hatte, wurde es verkauft, und wir zogen 1953 in die Conference Street.

Anfang der 1940er kaufte Grandad Benn, der Vater meiner Mutter, ein Ferienhaus mit zwei Zimmern an der Pile Bay, einer kleinen, abgelegenen Bucht, gut versteckt hinter den hohen, grasbewachsenen Hügeln auf der Banks-Halbinsel. Er hatte außerdem ein hölzernes Rettungsboot mit riesigen Rudern gekauft, denn Rīpapa Island lag in Ruderdistanz. Die Sommerferien verbrachten wir mit unseren Cousins Ken und David an der Pile Bay. Wir liefen barfuß und ungestüm über die Hügel und entlang der steinigen Küste, wir lernten zu rudern, zu angeln und wie man nach Herzmuscheln und Pipimuscheln grub, wir rutschten die grünen Hügel hinunter, und nachts saßen wir auf der Kuppe und beobachteten, wie die Fähre, die zwischen den Inseln hin- und herfuhr, aus dem Lyttelton Harbour zur nächtlichen Überfahrt nach Wellington ablegte.

Wenn Dad und Onkel Ivan an den Wochenenden kamen, schliefen wir Kinder im Stockbett Kopf an Fuß, sodass vier Betten für unsere Eltern übrig blieben. Onkel Ivan war mit Mums Schwester Philliss verheiratet (auch Tante Fan genannt). Nachts warfen die gleichmäßig surrenden Öllampen Schatten an die Wände. Wie sehr ich den Geruch des Schlafzimmers liebte – herb, salzig, mit einem Hauch von warmem Kerosin. Unter meiner ­Matratze hortete ich Stapel von Büchern, die ich, oft bei Kerzenschein, immer in den Ferien las.

Wir spielten Karten, machten Puzzles, badeten draußen in einer Emaillewanne im Stehen, putzten uns die Zähne im Meer und trugen jeden Tag dieselbe Kleidung. Grandad knüpfte Fischer­netze aus Baumwollzwirn, und wenn er damit fertig war, tränkte er sie in kaltem Tee, damit sie nicht rotteten.

Rīpapa Island, fast komplett mit dem Fort Jervois bebaut, war für uns Kinder ein Traum von einem Spielplatz. Hier entstanden wunderbare Erinnerungen, die ich heute noch in mir trage. Die Insel hat eine beeindruckende Geschichte: Zuerst gab es dort eine feste Siedlung des Māori-Stammes Ngāi Tahu, dann wurde im späten 19. Jahrhundert eine Quarantänestation für die ankommenden Immigranten errichtet, später ein Gefängnis für 150 Anhänger des spirituellen Māori-Führers Te Whiti und danach eine Verteidigungsbasis während beider Weltkriege.

Die Befestigungsanlage ist von hoher architektonischer und ästhetischer Bedeutung und steht heute als seltenes Beispiel einer unterirdischen Festung der 1880er-Jahre unter Denkmalschutz. Vier versenkbare Kanonen sind durch Tunnels mit unterirdischen Magazinen und Unterkunftsräumen verbunden. Der Haupteingang erinnert an ein Schloss, inklusive einer Steinmauer, Mauerzinnen und falscher Schießscharten in Form eines Kreuzes.

Die kleine Insel ist von Felsen umringt, und um die Festung wurde ein Damm gemauert. Der einzige Weg, um auf die Insel zu gelangen, führte über eine Seilbrücke oder die Bootsrampe ­hinauf. Vom Innenhof aus betraten wir ein mysteriöses Labyrinth kleiner Tunnel, von denen die meisten mit Eisentoren versperrt waren. Es war angsteinflößend, aber auch furchtbar aufregend. In der kühlen Dunkelheit erkundeten wir den Damm mit den riesigen Kanonen und Zellentüren, die noch auf- und zugingen.

Unsere Familie besitzt das Ferienhaus an der Pile Bay noch immer. Es hat inzwischen Solarpaneelen auf dem Dach, eine Komposttoilette, zwei Schlafzimmer und eine Dusche. Der alte Kerosin-Kühlschrank wurde durch einen solarbetriebenen ersetzt, und der wunderbare alte gelb-grüne Kohleherd musste einem Gasherd Platz machen. Damals waren wir die Enkelkinder, nun sind wir die Großeltern, die Geschichtenträger.

 

* * *

 

Dad konnte nicht lange stillsitzen: Das Haus in der Conference Street stand zum Verkauf. Wir zogen in ein großes, zweistöckiges Haus in der Fitzgerald Avenue, in dem ein Lebensmittelladen den Großteil des Erdgeschosses einnahm. Im Alter von acht Jahren hatte ich meine erste bezahlte Arbeit: Ich half Mum und Dad im Laden. Die zehnjährige Jill verdiente bereits zwei Pfund die Woche, indem sie Namen auf Zeitungspapier schrieb, die Bestellungen einpackte und einen Abend die Woche bis spät arbeitete und Mum half, den Laden zu schließen.

Dad erklärte mir, dass der Mindestlohn für Frauen bei etwas über drei Schilling die Stunde lag, und weil ich erst acht Jahre alt war, würde er mir einen Schilling und sechs Pence die Stunde geben. (Erst 1967 wurde das Neuseeländische Pfund, das in 20 Schilling unterteilt war, durch den Neuseeland-Dollar ersetzt.) Nach der Schule war ich dafür verantwortlich, Reis, Mehl und Zucker aus großen Säcken sowie Tee aus großen Holzkisten abzuwiegen und zu verpacken. Dad ermutigte mich, mehr über Gewinn und Verlust zu lernen, wie man haushaltet und wie wichtig Rücklagen waren. Ich steckte meinen Lohn in ein Glas ganz unten in meinem Kleiderschrank, und genau wie mein Vater hatte ich bereits Pläne, wie ich mein wöchentliches Einkommen verbessern wollte.

Meine erste eigene Geschäftsidee bestand darin, Mäuse als Haustiere zu züchten und zu verkaufen, was mein Vater voll und ganz unterstützte. Er baute mir ein dreistöckiges Mäusehaus aus Obstkisten aus dem Laden, und Mum brachte mir bei, wie man sich um die Mäuse kümmerte. Ich war entschlossen, dass das Mäusegeschäft ein Erfolg werden würde, Scheitern war keine Option. Sobald die kleinen Mäuse alt genug waren, steckte ich sie in eine Reisekiste, die auf meinen Gepäckträger passte, und nahm sie mit in die Schule, um sie zu verkaufen. Ich verkaufte sie in Papiertüten mit Stroh darin für je ein Sixpencestück.

Das Geschäft lief gut, bis die Nonnen fanden, dass das Schulgelände kein angemessener Ort war, um Mäuse zu verkaufen. Obwohl ich die restlichen Mäuse sehr günstig verkauft hatte, machte ich noch Gewinn. Ich kaufte meinen Eltern einen Sittich, den Dad Floyd nannte. Wir fanden später heraus, dass Floyd ein Weibchen war, als sie auf Dads Schulter ein Ei legte. Er liebte sie. Mum duldete sie.

In Central Otago ist die Geschichte der Goldgewinnung all­gegenwärtig – von der Küste Dunedins ins Landesinnere nach Palmers­ton, über die bekannte Fernstraße Pigroot in die Maniototo-­Ebene bis weiter nach Ōmakau, Clyde und die Gegend um Alexandra. Ich hatte ältere Verwandte vom Goldrausch reden gehört, aber nie viele Gedanken daran verschwendet. Bis ich den fieberhaften Zustand erlebte, in den mein Vater geriet, als er begann, auf seinem eigenen Grubenfeld in Matakanui, das früher Tinkers hieß, zu arbeiten.

Dad war der alleinige Anspruchsberechtigte der Deep-Lead-Goldgrube, nachdem die älteren Partner verstorben waren. Laut Gesetz musste man mindestens einmal im Jahr in der Mine arbeiten, ansonsten konnte jeder Anspruch auf das Land erheben und Dad würde seine Rechte verlieren. Das Problem war, dass die Hauptgoldader unter einem kleinen See lag, daher konnte man in der Mine nur arbeiten, wenn das Eis nach dem Winter geschmolzen war und der Wasserspiegel des Sees tiefer lag. Das Flussgold wurde hauptsächlich über eine Waschrinne gewonnen.

In den Sommerferien stellten Mum und Dad einen Geschäftsführer für den Laden ein, und wir fuhren alle zur Mine am Fuß der Dunstan Mountains. Die Sommer waren extrem heiß, was meinem dunkleren Teint nichts ausmachte, doch Mum und Jill hatten ständig Sonnenbrand, weil sie so blass waren. Mum war nur 1,53 Meter groß, doch was sie in der Mine leistete, war außerordentlich. Dad arbeitete von Tagesanbruch bis es dunkel wurde an der Waschrinne, Mum schaufelte den dabei entstehenden Goldsand, Jill siebte mithilfe der Wiege, und ich wusch die Matten und schwenkte die kleine Goldpfanne, die Dad mir gekauft hatte. Dad feuerte uns immer wieder an: »Macht so fleißig weiter; kein Grund, langsamer zu werden. Der Tag hat erst angefangen, wir haben einen langen Tag vor uns.«

Am Abend sammelte Dad den Goldsand, trocknete ihn am Feuer und füllte ihn dann in eine Zeitung, die er zu einem »V« geformt hatte. Er schüttelte die Zeitung leicht und pustete dabei sanft in den trockenen, goldenen Sand. Dank seiner Erfahrung und Geduld konnte er sehen, wie der Goldstaub und die Flocken sich auf dem Papier vom Dreck trennten.

Am Ende der Woche ging er immer zur Hütte des alten Sandy Anderton, einem hartgesottenen Goldgräber, der den gewonnenen Goldstaub vorbereitete, damit man ihn in der Bank in Ōmakau verkaufen konnte. Sandy schnitt ein tiefes Loch in eine große Kartoffel, gab den Goldstaub hinein und verschloss das Loch mit dem herausgeschnittenen Kartoffelstück. Die Kartoffel wurde dann über Nacht ins Feuer zwischen heiße Kohlen gelegt. Am nächsten Morgen verbarg sich in der garen Kartoffel ein Goldklumpen. Für eine Unze Gold erhielt man 12 Pfund.

Geschichten aus dem Buchladen: »Erzählt eure Geschichten«

 

Man hatte mich gebeten, vor der örtlichen Frauengruppe zu sprechen. Diane MacDonald, die Leiterin, hatte mich in der Radioshow Saturday Morning beim Sender RNZ gehört und mich eingeladen. »Erzähl einfach von deinen Buchläden … und natürlich vor allem über dein Leben!«

Als ich auf dem Parkplatz der Heilsarmee parkte, lief Diane schon auf mich zu.

»Schrecklicher Morgen«, sagte sie. »Es tut mir so leid, es war chaotisch. Eine der netten Damen unserer Gruppe ist gestern verstorben, und ich muss es noch allen erzählen.«

Mein Hirn ratterte: Wie richtete man das Wort an eine Gruppe von Frauen, die gerade die Nachricht erhalten hatten, dass eine ihrer Freundinnen gestorben war? Ich hatte vorgehabt, ihnen Geschichten zu erzählen, die sie zum Lachen bringen würden, doch wie konnte ich das in einer so erschütternden Situation tun?

Diane stand am Lesepult und verkündete die schrecklichen Neuigkeiten, dann fügte sie hinzu, wir müssen weitermachen und den Vormittag gemeinsam genießen. Sie stellte mich vor.

Ich sprach ihnen mein Beileid aus und redete darüber, wie oft wir davon überrascht werden, dass jemand stirbt. Ich habe immer daran geglaubt, dass jeder eine Geschichte zu erzählen hat, also betonte ich, wie wichtig es für die Familien der Frauen war, deren Geschichten zu hören, ja, sie sollten sie am besten aufschreiben.

»Sie brauchen kein aufregendes oder ein von Dramen erfülltes Leben, um eine Geschichte zu haben. Es ist genauso wichtig, Ihren Kindern und Enkeln davon zu erzählen, wie es war, auf einem Bauernhof aufzuwachsen, bei jedem Wetter zu Fuß zur Schule zu gehen, und das manchmal sogar mit nackten Füßen. Sich daran zu erinnern, welche Hausmittel die eigene Mutter gegen Husten, Kopfschmerzen und Insektenstiche hatte. Wer hat Ihr erstes Tanzkleid genäht? Meine Großmutter hat uns Hosen aus Mehlsäcken genäht! Erinnern Sie sich daran, wie Kuchen mit Schmalz oder Fett gemacht wurden? Wie das Telefon einen ›Gemeinschaftsanschluss‹ hatte und jeder wusste, dass die Tratschtanten aus dem Dorf mithörten? Erinnern Sie sich daran, wie wichtig und aufregend es war, einen Brief zu bekommen?«

Als ich Geschichten wiedergab, die mir meine beiden Großmütter erzählt hatten, brach ich fast in Tränen aus.

»Schreiben Sie Ihre Geschichten auf«, sagte ich. »Bitte schreiben Sie Ihre Geschichten auf.«

Zum Glück konnte ich das Gefühl von Traurigkeit überwinden und schaffte es, diese großartigen Frauen zu unterhalten – der Morgen war kostbar und unvergesslich.

Nach meiner Sitzung futterte ich mich durch einen peinlich großen Berg von wunderbarem Essen, als Diane mich fragte, ob es möglich wäre, dass der Winton Book Club nach Manapōuri komme und in meinen Buchläden ein Treffen abhalte. Ich sagte, das sei eine großartige Idee.

Ein paar Monate später kamen sie mit drei Autos an, voll­gepackt mit allerlei Häppchen zum Mittag. Es war ein fantas­tischer Tag, wir saßen draußen in der Sonne, alle mit Sonnenhut, plauderten und lachten, während wir uns durch die Leckereien futterten. Als sie das ausgewählte Buch besprachen, war offensichtlich, dass es einigen von ihnen gefallen hatte und anderen nicht, was zu einer lebhaften Debatte führte.

Ich war zu jener Zeit zur Hälfte fertig mit diesem Buch und lauschte aufmerksam. Ich fragte mich, wie sich wohl eine offene Diskussion zu meinem Buch abspielen würde. Sex, Drogen, Kraftausdrücke, einige Verhaftungen und mehrere Ehen würden gewiss lebhafte Debatten anregen!

Kapitel 3

Die Kunst des Kartenspiels

Es war 1953, und ich war sieben Jahre alt. Wir waren gerade in ein zweistöckiges Haus mit dem sehr noblen Namen Brixton House in der Conference Street in Christchurch gezogen, das dritte Haus, in dem wir in den letzten sechs Jahren gewohnt hatten.

Es war ein älteres Haus ohne Vorgarten, dessen Tür direkt auf den Gehweg führte. Im Garten hinter dem Haus bot ein großer Walnussbaum Schatten, und in einer Ecke war ein Gemüsegarten.

Gegenüber der Küche im hinteren Teil des Hauses war ein kleines Schlafzimmer, in dem Nanny, die Mutter meiner Mutter, schlief. Nanny Ellen Martha Daisy lebte mit uns zusammen, seitdem sie Grandad Ethelbert Ponsonby Benn verlassen hatte. Seinen Namen habe ich immer geliebt. Er zog bei unserer Tante ein.

Nanny bekam ständig Besuch, aber wir durften ihr Zimmer nur betreten, wenn wir eingeladen waren. Sie war eine große, streng dreinblickende Frau mit einem verkniffenen Mund und dunklen, fast schwarzen Augen, die wachsam waren und oft traurig wirkten. Kurzes, dunkelgraues, sich kräuselndes Haar bedeckte ihren Kopf, auf der Nase trug sie eine Brille mit blassem Gestell, und ihre Kleider waren stets hochgeknöpft. Das Schönste an ihr, woran ich mich erinnere, waren ihre Hände: lange, elegante Finger, blass, gerade, sorgsam gefeilte Nägel mit winzigen Monden. Sie liebte es, Karten zu spielen, tatsächlich war sie eine ziemlich große Glücksspielerin und verzockte das Familienerbe.

Erst Jahre später, als ich mit Jill über Nanny sprach, fiel mir auf, wie scharfsinnig sie gewesen war. Sie war liebevoll zu Jill, las ihr Geschichten vor, während sie zusammen im Bett hockten, und es gab nie auch nur ein böses Wort. Jill hatte lange blonde Zöpfe, blaue Augen und war stets brav. Ich hingegen war unordentlich, ein Wildfang mit kurzem schwarzem Haar, hatte ständig Fragen und steckte andauernd in Schwierigkeiten. Ich habe von Nanny nie Zärtlichkeit erfahren – kaum ein Dankeschön dafür, dass ich ihr ab dem Alter von neun Jahren die Verbände um ihre eitrigen Beine wechselte.

Ich habe Nanny nicht so geliebt wie Gran, aber sie hat mir einige Fähigkeiten beigebracht, die ich brauchte, um durch mein chaotisches Leben zu navigieren. In außerordentlich jungem Alter habe ich von Nanny gelernt, wie man Cribbage, Siebzehn und Vier und Show-Poker spielt, sowie die Grundlagen einiger Kartentricks. Sie brachte mir bei, wie ich die Karten richtig in meinen kleinen Händen hielt, wie ich sie mischte, ohne dabei die unterste Karte des Decks zu zeigen, und wie man eine Karte selbstsicher und mit geschulter Miene legte, ohne dabei etwas zu verraten. Auch wenn meine Hände viel kleiner waren als ihre, hielt ich ­meine Karten so elegant, wie Nanny es tat, dicht bei mir, damit »niemand schummeln konnte«.

Diese Fertigkeiten entpuppten sich als hilfreich fürs Leben. Wann immer ich knapp bei Kasse war, spielte ich Karten, um Geld zu gewinnen. Am wichtigsten waren die entscheidenden Tricks, wie man bluffte und manipulierte. »Wenn du ein schlechtes Blatt hast, bringt es nichts, so auszusehen, als hättest du ein schlechtes Blatt«, hatte Nanny immer gesagt. Sie brachte mir bei, wie man überzeugend guckte und Blickkontakt hielt, selbst wenn man ein mieses Blatt hatte.

Das galt nicht nur für das Kartenspielen. Mein ganzes Leben lang haben sich die Dinge, die Nanny mir beigebracht hat, immer wieder als nützlich erwiesen. Wenn ich in einer Situation steckte, in der ich nicht sein wollte, musste ich das Selbstvertrauen haben, der Welt zu zeigen, dass ich das siegreiche Blatt in der Hand hielt.

Als ich etwas älter war, etwa zehn, ging ich immer mit meinem Vater und Onkel Ivan ins Pub, wo wir Euchre und 500 spielten. Ich war das einzige junge Mädchen im Raum. Dad und ich waren ein Team, und wir spielten sehr gut zusammen. Ich erinnere mich daran, wie Dad mir viele Jahre später, als ich auszog, um in die Navy einzutreten, sagte, dass das Leben wie ein Kartenspiel sei. Man bekommt ein Blatt, und die Art und Weise, wie man dieses Blatt spielt, entscheidet über den restlichen Monat, das rest­liche Jahr oder das restliche Leben. Aber du hast keine Zeit, um zu planen, denn wenn du beim Legen deiner Karten zögerst, können die Leute deinen nächsten Zug erraten. Sein nachdrücklichster Rat war: »Wann immer du in so einer Situation bist, stell dir dein Leben wie einen Satz Spielkarten vor und mal dir aus, wie du dein Blatt spielen würdest. Du kannst ein schlechtes Blatt in ein siegreiches Blatt verwandeln, indem du deine nächste Karte legst.«

Ich habe das Kartenspielen mein Leben lang geliebt – ein Glück, dass ich nie spielsüchtig geworden bin. Zweimal in meinem Leben sollte das Kartenspielen zu einer sehr interessanten Situation führen – bei zwei äußerst unterschiedlichen Anlässen: einmal in Papeete, Französisch-Polynesien, als ich auf der Cutty Sark quer durch den Pazifik segelte, das andere Mal in Rabaul, Papua-Neuguinea, wo ich fast vier Jahre lang arbeitete.

Geschichten aus dem Buchladen: Ein unwahrscheinlicher Pilger

 

Ein großer Mann tauchte vor der Tür des Buchladens auf. Er hatte ausgetragene Wanderkleidung an, und sein leichter Körpergeruch verriet mir, dass er gerade aus den Bergen kam. Er setzte sich auf die Stufe, zog seine nassen, matschverschmierten Wanderstiefel aus und stellte sie auf die Fußmatte.

»Gerade vom Wandern gekommen?«, fragte ich, obwohl es offensichtlich war.

»Zehn Tage. Ein bisschen Buschwandern. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus.«

Ich lachte. »Sie sehen aus, als könnten Sie eine Tasse starken Kaffee vertragen. Milch und Zucker?«

»Das wäre genial, danke. Zwei große Würfel Zucker.«

Als ich mit zwei Tassen Kaffee in den Laden zurückkehrte, saß er auf dem Boden und betrachtete eine aufgeschlagene Karte der Region Fiordland. »Diese Gegend ist unglaublich, nicht wahr? Man kann tagelang der Sonne folgen, und es gibt immer noch weitere Berge, hinter denen sie sich verstecken kann.«

»Dann haben Sie vor, noch mal zurückzukehren?«, fragte ich.

Er nickte.

»Wandern Sie vor etwas davon oder auf etwas zu?«, erlaubte ich mir zu fragen.

Er blickte vom Fußboden zu mir auf. »Ich wandere einfach nur. Sauge alles auf und füttere die Seele.« Er wusste wunderbar mit Sprache umzugehen.

Er erzählte mir, dass er »im Augenblick etwas verloren« und gerne allein sei, um die Dinge wieder zu ordnen.

»Ich bleibe einige Tage auf dem Campingplatz, und dann ziehe ich wieder los. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich hin und wieder vorbeikomme? Ich mag Bücher, aber mein Rucksack ist nicht groß genug, um welche mitzunehmen.«

»Kommen Sie jederzeit vorbei«, sagte ich zu ihm. »Wenn geschlossen ist, klopfen Sie an der Haustür, dann gebe ich Ihnen den Schlüssel.«

Die nächsten drei Tage ging Hamish ein und aus. Er hatte sich rasiert, und seine Kleidung war gewaschen, doch er trug immer noch seine alten Stiefel.

Schon bald wusste ich genug über ihn, um ihm ein Buch zu geben, das er wirklich lieben würde, ein Buch, das er sich selbst nie ausgesucht und gelesen hätte.

»Hamish, ich werde Ihnen ein Buch schenken, und Sie müssen es in Ihren Rucksack zwängen.«

Er nahm es und lächelte über den Titel: Die unwahrschein­liche Pilgerreise des Harold Fry von Rachel Joyce.

»Ich glaube, Harolds Schuhe ähneln Ihren Stiefeln«, sagte ich. »Wenn Sie es fertig gelesen haben, lassen Sie es in einer Hütte, damit es jemand anders liest.«

»Nein, Ruth. Das werde ich nicht tun«, sagte er. »Das hier ist mein Buch – Sie haben es für mich ausgewählt. Ich lasse es nirgendwo zurück.«

Er wollte mir die Hand schütteln, doch ich streckte mich und umarmte ihn.

»Passen Sie auf sich auf, Hamish.«

Kapitel 4

Naseby

1957 zogen wir in das kleine Dorf Naseby in Central Otago, mit kaum mehr als 100 Einwohnern eine der kleinsten und ältesten Gemeinden Neuseelands. Trotzdem gab es einen Bürgermeister und Stadträte. Zu Dads Freude waren wir im Herzen der Goldgräbergegend.

Im Mai 1863 war das erste Gold in einer Schlucht in der Nähe des Mount Ida gefunden worden. Viele Bergleute verließen die Goldfelder von Dunstan und wanderten durch den Schnee zu der neuen Fundstelle auf 600 Metern über Meereshöhe. Innerhalb der nächsten Monate wuchs ein Zeltdorf heran, dessen Einwohnerzahl sich sogar noch verdoppelte, als man im Hogburn Stream auf Flussgold stieß. Das Dorf erhielt 1873 offiziell den Namen Naseby.

Unser Haus war zweigeteilt: Die eine Hälfte war ein Metzgerladen mit einem Heizraum, und in der anderen Hälfte wohnten wir. Für Mum bedeutete der Umzug, dass sie ihre Schwester und Familie in Christchurch verlassen musste, daher fühlte sie sich ziemlich einsam. Meine Schwester Jill hasste Naseby, ihr war es in der strengen Struktur der katholischen Mädchenschule, wo sie von den Barmherzigen Schwestern unterrichtet wurde, gut gegangen, und jetzt musste sie an die Ranfurly High, eine gemischte Kleinstadtschule. Ich liebte unser neues Zuhause. Ich glaube, Dad, Beswick (unsere Perserkatze) und ich blühten in Naseby auf, wohingegen Jill und Mum »das Beste aus dem Umzug machten«.

Die Naseby Primary School, auf die ich ging, hatte nur zwei Räume, beide mit Kanonenöfen, um uns im Winter zu wärmen. Der Tag begann nicht damit, auf den Knien den Rosenkranz aufzusagen, wir mussten kein Latein lernen oder pausenlos Hymnen singen, wir mussten nicht unzählige Male die Woche zur Messe gehen oder den Katechismus lernen. Ich arbeitete nicht nach der Schule, nur in den Schulferien, also hatte ich Zeit zum Spielen und Forschen, und außerdem wurde Sport zu einem wichtigen Teil meines Lebens.

Der kleine Athenäum-Lesesaal lag nur zwei Häuser von uns entfernt. Dort drin war es dunkel, und die einzige Lampe verlieh dem Raum eine geheimnisvolle Atmosphäre voller Abenteuer und Intrigen. Viele der Bücher waren unglaublich alt, mit Leder- oder Stoffeinbänden, deren vergoldete Titel verblasst waren, und hauchdünnen Seiten, die raschelten, wenn man sie umblätterte. Ich fand es herrlich. Ich erinnere mich daran, wie ich an dem kleinen Holztisch saß und eines der großen Bücher umarmte, weil ich es so sehr liebte.

Dad wurde Ratsschreiber, während er gleichzeitig als Metzger arbeitete. Das Steuerbuch bewahrte er unter dem Tresen in der Metzgerei auf, und die Leute kamen in den Laden, um zu zahlen. Er war auch Eismeister und dafür zuständig, dass das Eis für die Curling-Turniere vorbereitet war, und natürlich war er nebenbei auch noch Goldgräber.

William (Billy) Strong war der Uhrmacher in Naseby. Er lebte in einem winzigen Lehmhaus in der Derwent Street, genau ge­genüber der Post. Sein Vater hatte das kleine, überfüllte Uhren­geschäft 1868 in der Leven Street eröffnet. Dort stand es noch immer, die Wände mit jeder nur denkbaren Art von Uhren vollgehängt – und nicht eine einzige zeigte die richtige Uhrzeit an.