Der Corvinusbecher - Katharina Durrani - E-Book

Der Corvinusbecher E-Book

Katharina Durrani

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Beschreibung

Der Corvinusbecher, das wertvolle Wahrzeichen der Stadt Wiener Neustadt, wurde gestohlen. Eine junge Frau, Simone Jaan, beobachtet auf der Burgruine Emmerberg einen vermeintlichen Doppelmord. Sie gerät gemeinsam mit ihrer Schwester Melanie in einen atemraubenden Kriminalfall rund um den wertvollen Kunstschatz.

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Seitenzahl: 308

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Über die Autorin:

Katharina Durrani, geboren 1971, absolvierte nach der Matura die Buchhandelslehre, danach den Lehrgang Grafikdesign an der Wiener Kunstschule.

Seit ihrer Jugend schreibt sie leidenschaftlich gerne, verfasst Gedichte und Geschichten. Sie liebt es, ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen, neue virtuelle Welten zu erschaffen. Auch in ihrer Kunst – sie malt in verschiedenen Techniken – wird das Fantastische hervorgehoben, spielen die kräftigen Farben eine große Rolle.

Katharina Durrani ist glücklich verheiratet und lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in Niederösterreich.

Der vorliegende Thriller ist der erste Band einer Reihe um die Protagonistin Simone Jaan.

Katharina Durrani

Der Corvinusbecher

Thriller

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die Personen und die Handlung sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Originalausgabe, 1. Auflage

©2019 by medimont verlag gmbh, München, Waldgartenstr. 26

Lektorat und Redaktion: Dr. Wolfgang K. Ernst

Umschlaggestaltung: Amalie v. Spreti, München

Umschlagabbildung: Anna-Bernadette Durrani)

Gesetzt in Adobe InDesign im Verlag

Druck und Bindung: ScandinavianBook, DK-6300 Gravenstein

Printed in the EU

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

eISBN: 978-3-911172-51-6

Sie finden uns im Internet unter:

www.medimont.deBestell-Nr.: 35001

Meinen Eltern

Inhalt

Über die Autorin

Mai, Burgruine Emmerberg, südliches Niederösterreich, nachmittags

Katzelsdorf, 17 Uhr

Burgruine Emmerberg, gleiche Zeit

Irgendwo unterhalb der Burgruine Emmerberg

Herrenhaus unterhalb der Ruine Emmerberg, Abend des nächsten Tages

Burgruine Emmerberg, 21 Uhr

Katzelsdorf, gegen 21 Uhr

Burgruine Emmerberg, um die gleiche Zeit

Herrenhaus (Haus der Familie Heindl), gleiche Zeit

Katzelsdorf, zwei Tage später

Herrenhaus unterhalb der Ruine Emmerberg

Katzelsdorf, am späten Nachmittag des nächsten Tages

Wiener Neustadt, Büro des Bürgermeisters, einen Tag später

Katzelsdorf, darauffolgender Tag 21 Uhr

Wien, kurz vor Mitternacht

Katzelsdorf, irgendwann in der Nacht

Wien, Labor, vier Uhr morgens.

Wien, Allgemeines Krankenhaus, 13 Uhr

Herrenhaus, eine Woche später, 21 Uhr

Herrenhaus, vierzehn Uhr nachmittags

Landeskriminalamt, nächster Tag

Katzelsdorf, am Nachmittag des gleichen Tages

Wiener Neustadt, darauffolgender Tag

Wiener Neustadt, Simones Wohnung, zwei Wochen später

Fischauer Vorberge, Ende Juni

Südwestlicher Stadtrand von Wiener Neustadt, ein baufälliges Haus in der Nähe der Südautobahn

Wiener Neustadt, Fußgängerzone, einige Tage später

Katzelsdorf, einen Tag später

Wiener Neustadt, am darauffolgenden Tag

Herrenhaus, zwei Tage später nach Einbruch der Dunkelheit

Katzelsdorf, Schule, einige Stunden zuvor

Herrenhaus, 0 Uhr 30

Irgendwo in Wiener Neustadt, gleiche Zeit

Herrenhaus, gleiche Zeit

Katzelsdorf, darauffolgender Tag

Landeskriminalamt, zwei Tage später

Wiener Neustadt, früher Nachmittag desselben Tages

Wiener Neustadt, darauffolgender Tag

Herrenhaus, eine Woche später

Wiener Neustadt, Haus von Familie Schaner, gleicher Tag

Herrenhaus

Wiener Neustadt, Abend des gleichen Tages

Katzelsdorf, später Abend des gleichen Tages

The Italian, italienisches Restaurant, Wiener Neustadt, einen Tag später

Liebfrauendom, Wiener Neustadt, Morgen des nächsten Tages

Landeskriminalamt, Nachmittag des gleichen Tages

Katzelsdorf, Fitnessparkour im nahegelegenen Wald, früher Abend des nächsten Tages

Polizeiinspektion Wiener Neustadt, darauffolgender Tag

Südwestlicher Stadtrand von Wiener Neustadt, ein baufälliges Haus in der Nähe der Südautobahn

Wien, Atelier des Restaurators, nächster Tag

Wiener Neustadt, Büro des Bürgermeisters, eine Woche später

Wiener Neustadt, Hauptplatz

Wiener Neustadt, Büro des Bürgermeisters, später Nachmittag des nächsten Tages

Wiener Neustadt, Haus von Familie Schaner, eine Stunde später

Rathaus Wiener Neustadt, eine Woche später

Geotop Engelsberger Marmorsteinbruch, darauffolgender Tag, 21 Uhr

Krankenhaus Wiener Neustadt, nächster Tag

Wiener Neustadt, Büro des Bürgermeisters, wenige Tage später

Südwestlicher Stadtrand von Wiener Neustadt, ein baufällges Haus in der Nähe der Südautobahn

Wiener Neustadt, Simones Wohnung, einige Tage später

Irgendwo auf einer Straße, Ziel unbekannt

Wiener Neustadt, Simones Wohnung, zeitig am nächsten Morgen

Rathaus Wiener Neustadt

Hauptplatz Wiener Neustadt, Cafe Bernhard, kurz nach acht Uhr morgens

In einer Buchhandlung in Wiener Neustadt, Vormittag des gleichen Tages

Südwestlicher Stadtrand von Wiener Neustadt, ein baufälliges Haus in der Nähe der Südautobahn

Simones Wohnung, einige Tage später

Polizeiinspektion Wiener Neustadt, um die gleiche Zeit

Südwestlicher Stadtrand von Wiener Neustadt, ein baufälliges Haus in der Nähe der Südautobahn, gleiche Nacht

Wiener Neustadt, irgendwo am Stadtrand am Morgen des folgenden Tages

Burgruine Emmerberg, in den Morgenstunden

Polizeiinspektion Wiener Neustadt, Mittagszeit

Wiener Neustadt, irgendwo am Rande der Stadt, einige Stunden zuvor

Krankenhaus Wiener Neustadt, Nachmittag

Polizeiinspektion Wiener Neustadt, kurze Zeit später

Wiener Neustadt, irgendwo am Stadtrand, eine gute Stunde zuvor

Irgendwo im österreichischen Luftraum

Krankenhaus Wiener Neustadt, viele Stunden später

Polizeiinspektion Wiener Neustadt, nächster Morgen, gegen neun Uhr

Krakau / Polen, zeitig am Morgen des gleichen Tages

Polizeiinspektion Wiener Neustadt, spät am Abend

Landhaus in Polen, in der Nacht

Wiener Neustadt, Wohnung von Simone Jaan, vier Tage später

Polizeiinspektion Wiener Neustadt, zeitig am Morgen des nächsten Tages

Landeskriminalamt Niederösterreich, vormittags

Landhaus in Polen, einen Tag später

Katzelsdorf, Haus der Familie Urban, drei Tage späte

Dank an …

Die Burgruine Emmerberg wirkt, aus der Entfernung betrachtet, wie ein hohler Zahn, zumindest der Turm, der sich über die Landschaft erhebt. Sanfte bewaldete Hügelketten, ein Steinbruch mit rötlichem Marmor, in dem seit Jahrzehnten Theateraufführungen stattfinden, ein weites Tal, kleine Dörfer – das ist die Neue Welt, ein Gebiet im südlichen Niederösterreich.

Simone Jaan liebt ihre Heimat und geht gerne spazieren. Heute ist die Burgruine Emmerberg in der Nähe von Winzendorf ihr Ziel. Die Natur gibt ihr Kraft und Mut, das ist schon immer so gewesen.

Simone wohnt in einer kleinen Zweizimmerwohnung in Wiener Neustadt, einer Stadt, die sich mittlerweile über sehr viel Zuwachs freuen darf. Kein Wunder, denn diese Stadt hat ja alles: Einkaufszentren, Schulen, Restaurants, viele Kaffeehäuser, unzählige Eissalons, ein Kinocenter und ein Theater; Industrie, Gymnasien, Fachhochschulen – nun ja, eigentlich fehlt nur noch eine Universität. Simone lebt gerne in dieser Stadt.

Mit ihren 26 Jahren hat Simone bereits eine höchst unerfreuliche Beziehung hinter sich. Thomas Grodner war Simones erste große Liebe. Vor einem Jahr war sie zu ihm in ein kleines burgenländisches Dorf gezogen, schwerverliebt. Aber aus dem vermeintlichen Prinzen wurde leider ein ganz fetter Frosch.

Thomas ließ Simone immer öfter alleine, trieb sich mit seinen Freunden in den Dorfgasthäusern herum, kam meist stark betrunken zurück. Irgendwann hatte Simone genug und stellte ihn zur Rede. Es kam zu einem Streit, der eskalierte. Thomas hatte Simone wüst beschimpft, sie auch angerempelt und geschlagen.

Noch am gleichen Tag hatte sie Thomas verlassen. Sie wollte ihn anzeigen, hat es dann doch nicht gemacht. Wieso eigentlich? Keine Ahnung. Vielleicht liebte sie ihn ja doch noch und hatte Mitleid mit ihm.

Simone ist danach nach Wiener Neustadt zurückgekehrt und hat sich geschworen, nie mehr auf einen Mann hereinzufallen. Sie liebt ihr Singledasein. Ganz im Gegensatz zu ihrer Schwester. Melanie hat einen fürsorglichen Ehemann, Martin Urban, und zwei Söhne im Alter von zwölf und vierzehn, Moritz und Lorenz. Sie ist fast zehn Jahre älter als Simone und wohnt mit ihrer Familie in Katzelsdorf, einem kleinen, aber feinen Dorf südlich von Wiener Neustadt.

Ihrer Schwester sieht Simone gar nicht ähnlich. Sie hat karottenrote, dichte, lange Haare, die sich kaum bändigen lassen, eine zarte Statur, ist nur knapp ein Meter sechzig groß. Ihr Gesicht ist übersät mit Sommersprossen bei sehr hellem Teint. Simone hat wunderschöne grüne Augen und eine kleine Nase, fast Stupsnase. Ja, sie ist hübsch, mädchenhaft. Sie sieht aus wie höchstens achtzehn.

Melanie hingegen ist eine stattliche und resolute, selbstbewusste und stets besorgte Frau. Sie hat brünette kinnlange Haare, ist groß und schlank, ein fein geschnittenes Gesicht. Sie sieht ihrem Vater, Gerald Jaan, sehr ähnlich.

Simone ähnelt mehr ihrer Großmutter. Im Äußeren wie im Inneren, meint zumindest ihre Mutter. Die Eltern des Schwesternpaares, Gerald und Margarete Jaan, leben in Bad FischauBrunn, einem Dorf nördlich von Wiener Neustadt.

Beruflich haben sich die Schwestern in verschiedene Richtungen entwickelt. Simone ist kaufmännische Angestellte, nicht im herkömmlichen Einzelhandel, sondern sie verkauft Bücher. Melanie hingegen ist Graphologin und Gerichtssachverständige. Sie lebt und liebt ihren Beruf. Darum muss Simone ihr hie und da bei den Kindern aushelfen. Die Buben sind klug, sie lieben ihre Tante, mehr als ihre Oma, Margarete Jaan. Denn diese neigt leider zum ständigen Herumnörgeln, mit Simone aber können die beiden durch dick und dünn gehen.

Nur einmal war Simone fuchsteufelswild geworden: Der jüngere der Brüder, Moritz, hatte sie als Karottenkopf beschimpft. Dieses Wort hasst Simone. Ja, sie hat karottenrote Haare, doch damit ist er zu weit gegangen!

Und, es hat lange gedauert, bis sie sich wieder ausgesöhnt hatten.

Wenn Simone nicht bei ihrer Schwester auf ihre Neffen aufpasst und frei hat, macht sie am liebsten »Verbotenes«. Sie stöbert durch alte verfallene Ruinen, aufgelassene Fabriken, verschafft sich Zugang zu Dachböden. Das hat seinen Grund: Ihr Vater, Geschichtsprofessor, ihre Mutter, Archäologin, hatten den Grundstein für dieses Interesse in ihrer frühen Kindheit gelegt. Wie viele Burgen hat Simone besichtigt, in wie vielen Museen war sie mit ihren Eltern gewesen? Das hinterlässt Spuren. Bei Melanie ist die Liebe zu alten Bauwerken bei weitem nicht so stark ausgeprägt, ehrlich gesagt, hat sie viel zu viel zu tun, um sich mit diesen Dingen auseinanderzusetzen. Doppelbelastung, Familie und Beruf. Das ist anstrengend. Sie hat keine Zeit zum Nachdenken oder für Expeditionen, wie ihre Schwester.

Im Sommer fährt Melanie für drei Wochen nach Griechenland, um sich von ihrem stressigen Leben zu erholen.

Simone jedoch bleibt stets in Österreich. Meistens ist sie für zwei Wochen in Oberösterreich auf Stift Reichersberg. Dort besucht sie Hobbykurse, wie zum Beispiel den Möbelrestaurierungskurs, oder sie fährt ins Waldviertel und absolviert auf Stift Geras einen Malkurs. Simone malt gerne und gut, hat geschickte Hände. Sie hat künstlerisches Talent, eben auch von der Großmutter, der sie so ähnlich sei. Seit der Sache mit Thomas ist Melanie sehr besorgt um Simone. Sie ruft sie fast jeden Tag an, hat ihr angeboten, bei ihr zu wohnen. Doch Simone hat ihren Stolz und sie ist ja kein kleines Kind mehr. Sie hat ihr Leben, ihre Wohnung, ihre Freunde. Es geht ihr psychisch dank Therapie ganz gut. Die Panik¬attacken wurden weniger, die Nächte weniger albtraumbelastet. Nein, Simone sieht keinen Grund, zu ihrer Schwester zu ziehen.

Mai, Burgruine Emmerberg,südliches Niederösterreich,nachmittags

Gut gelaunt bummelt Simone zwischen den hohen alten Kastanienbäumen die Zufahrtstrasse entlang. Hie und da blickt sie gen Himmel. Die schiefergraue Wolkenwand gefällt ihr gar nicht. Es ist früher Nachmittag an einem überaus heißen Maitag. Wirklich sommerliche Hitze. Die Luft steht und flimmert über dem Asphalt. Simone beschleunigt ihr Tempo. Ab in den kühlen Wald. Nach wenigen Metern mündet die Allee in eine Kreuzung von Waldwegen.

Simone stapft zu dem wunderschönen Jagdhaus. Dieses Herrenhaus hat ihr schon immer gefallen. Grüne Fensterläden, schönbrunngelbe Fassade, eingebettet in einem saftiggrünen, blühenden Garten. Ein Schäferhund läuft bellend auf sie zu und fixiert sie hinter dem weißen verschnörkelten Zaun. Simone achtet nicht auf ihn. Sie hat Angst vor großen, bellenden Hunden.

»Rex!«, brüllt eine Männerstimme aus einem der zahlreichen Fenster. Ein schrilles Pfeifen. Danach Ruhe. Ein wirklich sehr einfallsreicher Name, denkt Simone und erreicht die Kreuzung. Sie folgt der Forststraße. Keine Viertelstunde später steht Simone vor einem riesigen, verschlossenen Burgtor. Ein Schild weist darauf hin, dass die Ruine wegen Baufälligkeit gesperrt ist. Und das bereits seit vielen Jahren, wie Simone weiß. Egal, denkt sie sich, wendet sich nach links und nimmt den schmalen Pfad entlang der Wehrmauer mit ihren Schießscharten und Türmchen. Irgendwo wird es schon einen Durchschlupf geben.

Die Vögel zwitschern, eine leichte Brise kühlt Simones schweißnasses Gesicht. Der Duft von Rinde, gemischt mit Blütenduft und trockenem Gras kitzelt ihre Nase. Schmetterlinge flattern und kosten Blütennektar, Insekten aller Art summen durch die Luft. In der Ferne donnert es leise. Simone hält kurz inne, betrachtet die Wolken oberhalb der Baumkronen, zuckt mit den Schultern, seufzt leise und trottet weiter. Der Weg wird schmäler und steinig. Rechter Hand die Steinmauer und links Brombeerhecken, Brennnessel, alte Föhren und der Abhang. Simone muss echt aufpassen, wo sie hintritt.

Sie bleibt abrupt stehen. Nichts geht mehr. Der Weg ist zu Ende, vor ihr der felsige Abgrund. Die Wehrmauer weicht zurück, macht eine scharfe rechtwinkelige Kurve. Simone bleibt wohl nichts anderes übrig, als umzukehren. Abermals erfüllt Donnergrollen die Luft und treibt Simone einen leisen Schauder über den Rücken. Nähert sich das Gewitter oder nicht? Der Himmel über ihr ist hellgrau, nicht weiter schlimm. Ein bisschen Regen schadet nicht.

Als sie zum Burgtor zurückkehrt, spürt sie den ersten Regentropfen. Aber Simone ist kein Mensch, der gleich aufgibt. Sie beginnt die Burg von der anderen Seite zu umrunden. Sie würde sogar Klettern in Kauf nehmen, wenn sie nur die Chance hätte, in die Ruine zu gelangen. Wieso? Eigentlich weiß es Simone selbst nicht. Irgendetwas zieht sie in dieses steinalte, verfallene Gemäuer. Sie kennt seine Geschichte und sein Schicksal. Wenn sie sich ein Ziel für ihre Erkundungstouren ausgesucht hat, macht sie sich immer erst einmal einen Plan. Dazu gehört das Lesen der Geschichte des Bauwerks, einen Lageplan erstellen, Zeit einplanen, genau zu wissen, was sie dort erwartet. Ob sie schon einmal etwas Wertvolles gefunden hat? Nein, leider noch nicht. Zwar hat Simone die Angewohnheit, sich immer »Erinnerungsstücke« von ihren Ausflügen mitzunehmen, aber bislang waren es nur Baumaterialien, nichts von Wert.

Dieser Weg ist weitaus unwegsamer als der andere. Simone kämpft sich durch hüfthohes Gras ein Stück bergauf, klettert über einige Felsen, stolpert über eine Baumwurzel und liegt bäuchlings am Boden. »Verdammt noch einmal!«, schreit sie wütend, stützt sich mit den Händen ab und zieht die Beine an. Ihr Blick wandert an der Wehrmauer entlang. Teilweise ist sie von Efeu überwuchert oder von Sträuchern besiedelt.

Einige Meter weiter entdeckt sie ein Loch in den Steinen. Sie rappelt sich auf, klopft sich den Schmutz von der Hose und will rasch weitergehen. »Au!« Simone hält sich ihr rechtes Knie. Es sticht bei jedem Schritt. »Das darf doch nicht wahr sein!«, zischt sie und humpelt weiter. Vor dem Durchschlupf lässt sie sich ins weiche Gras sinken und späht in das Burginnere.

Der Vorhof, dahinter zahlreiche Gewölbe und der Turm, der »hohle Zahn«. Dazwischen Bäume und Sträucher aller Art, Steinhaufen, eine Feuerstelle aus der Gegenwart und von Moos und Gras bedeckte Böden. Ja, die Natur hat den Hügel mit seiner Ruine schon längst wieder in Besitz genommen.

Das Loch ist zu klein, da kommt sie unmöglich hindurch. Mit beiden Händen beginnt sie lose Gesteinsbrocken durch die Luke zu rollen. Klar, erwischen darf sie sich nicht lassen. Mit den Handrücken schiebt sie den verbleibenden Schotter zur Seite. Es staubt kräftig, sodass Simone für einen Augenblick nichts sieht.

Kritisch hockt nun Simone vor der Maueröffnung und betrachtet diese. Kommt sie da hindurch oder wird sie steckenbleiben? Sie beißt die Zähne zusammen und quetscht sich durch die Öffnung. Steinkanten kratzen über ihre Haut. »Au!«, flucht sie verärgert. Weiter. Mit dem Oberkörper ist sie durch, sie stützt sich mit beiden Händen im Gras ab und schiebt sich weiter. Mist! War ihr Hinterteil zu groß? Sie drückt und zieht, dreht sich zur Seite, wetzt an den Steinen entlang und plumpst bäuchlings in die Wiese.

Geschafft! Sie fühlt sich großartig, alle Hindernisse überwunden zu haben. Der Adrenalinkick ist gewaltig. Ja, sie hat es gut gemacht und das Gefühl allein ist es wert. Ja, auf jeden Fall. Die Burgruine ist ein Ort vieler schöner Erinnerungen. Simone richtet sich langsam auf und schaut sich um.

Früher, in ihrer Kindheit, war sie öfters hier gewesen. Damals gab es nur Schilder, die vor der Gefahr durch Steinschlag warnten, aber kein verschlossenes Burgtor. Die Ruine war frei zugänglich. Aber jetzt? Simone seufzt kurz bei dem Gedanken und wischt sich den Staub von den Armen. Dann beschließt sie, den Platz, an dem sie als Kind mit ihrer Schwester Froschkönig gespielt hat, zu suchen. Abermals donnert es. Simone schaut zum Himmel, die dunkelgrauen Wolken ziehen rasch vorüber, aber dahinter? Sie schluckt. Das sieht nicht gut aus! Eher nach Weltuntergang. Sind heute überhaupt derartige Unterwetter im Wetterbericht erwähnt worden? Sie wischt sich ihre roten Haare aus dem Gesicht und überlegt zum Auto zurückzukehren, und zwar rasch! Nein, das wird zeitlich nicht klappen. Laufen kann sie nicht, denn ihr Knie sticht bei jedem Schritt. Was tun?

Simone kramt in Erinnerungen, überlegt fieberhaft, wo in dieser Ruine ein geeigneter Unterschlupf ist. Aber sie kann keinen klaren Gedanken fassen. Denk nach! Früher hatte sie mit Melanie Verstecken gespielt, während ihre Eltern ein Picknick machten. Sie hatten viele Räume entdeckt. Aber welcher von diesen existiert noch und welcher bietet ihr bei diesem Wetter Zuflucht?

Sie schließt kurz die Augen und ja, das Küchengewölbe! Es ist ein von Ruß geschwärzter mächtiger dunkler Raum mit einem Rauchfang. Simone humpelt einen ausgetretenen Pfad entlang, der sie näher zu den Gemäuern führt. Noch fehlt ihr die Orientierung.

Die Luft steht, der Gesang der Vögel hat eine Pause eingelegt, alles ist still, mucksmäuschenstill. Nichts ist zu hören.

Plötzlich läuft Simone ein eiskalter Schauder über den Rücken und ihre Armhaare sträuben sich. Sie verharrt in ihrer Bewegung. Was ist das? Mitten in der Stille hat jemand oder etwas geschrien, aus Leibeskräften gebrüllt. Ein Vogel? Ein wildes Tier? Sie schaut sich hektisch um. Niemand ist zu sehen. Hat sie sich womöglich geirrt? Der anschließende Donner erschreckt sie fast zu Tode. Mit einem Mal setzt schwerer sintflutartiger Regen ein.

Simone erwacht aus ihrer Starre und sprintet los. In diesem Moment sind ihr die Schmerzen egal. Sie muss von hier weg. Pitschnass und keuchend, mit Tränen in den Augen, hetzt sie durch die Ruine, die jetzt so feindlich und Angst einflößend aussieht. Sie hat das Gefühl, dass sie beobachtet wird, dass sich hinter den Sträuchern und Bäumen, in den vielen Ecken und Mauern Übeltäter verstecken. Unsinn! Reiß dich zusammen, Simone, ermahnt sie sich.

Katzelsdorf, 17 Uhr

»Wieso zieht Simone zu uns, Mama?« Lorenz sieht seine Mutter mit zusammengekniffenen Lippen an.

»Tante Simone, mein Kind«, bemerkt Melanie sanft, »wir haben Platz und du magst sie doch«, weicht sie aus.

»Mama, ich bin kein kleines Kind mehr«, seufzt ihr Sohn.

Melanie wendet sich ihrer Küchenarbeit zu und schweigt.

»Ist es wegen Thomas?«, fragt der Junge weiter und stellt sich zu seiner Mutter. Melanie schaut ihm in die Augen. Wie groß er schon geworden ist. Vierzehn und überragt sie um gute fünf Zentimeter. Seine braunen kurzen Haare stehen widerspenstig ab. Die Augen schauen sie missbilligend an. »Du kannst es mir ruhig sagen«, schnaubt der junge Mann.

»Ja, es ist wegen dieses Schnösels«, ruft eine fröhliche Stimme durch den Flur. Ein rotbackiger Bub springt gut gelaunt in die Küche und holt sich eine Limonade aus dem Kühlschrank.

»Wieso weiß es Moritz und ich nicht«, zischt Lorenz ärgerlich.

»Tu ich gar nicht. Zumindest nicht offiziell«, erwidert sein Bruder. »Du weißt doch, ich bin erst zwölf und darf nichts von all dem Erwachsenenkram wissen.« Er schenkt sich ein Glas ein und trinkt es in einem Zug aus. Melanie und Lorenz starren ihn an.

»Was ist?«

»Hast du wieder gelauscht?«, fragt ihn seine Mutter.

Moritz zuckt mit den Schultern und verlässt die Küche.

Melanie atmet durch, sieht zu ihrem Sohn und meint leise: »Ja, Thomas nervt Simone. Er ruft sie an, lungert vor der Eingangstüre ihrer Wohnhausanlage herum, passt sie im Supermarkt ab, folgt ihr zu ihrer Arbeit und so weiter.«

»Und deswegen kommt sie zu uns? Sie kann doch zu Oma und Opa ziehen.«

»Will sie nicht. Weißt du, das Zusammenleben mit den eigenen Eltern gestaltet sich ab einem gewissen Alter als eher schwierig.«

»Was du nicht sagst, Mama«, seufzt Lorenz kopfschüttelnd.

»Es ist nur vorübergehend.«

»Und was soll das ändern?«

»Thomas weiß nicht, wo sie ist.«

»Er ist ja nicht dumm. Ist doch logisch, dass Simone zu uns zieht. Er kann uns ausfindig machen oder ihr nach der Arbeit folgen und wird bald auch vor unserer Türe herumhängen und nerven.«

»Wird er nicht und wenn doch, wird Papa schon etwas einfallen.«

»Was sagt er eigentlich zu deiner Idee, dass Simone herkommt?«

»Tante Simone. Nichts, er ist einverstanden.«

Lorenz wirft seiner Mutter einen kurzen, undeutbaren Blick zu, dann schaut er auf die gähnend leere Herdplatte. »Wann kochst du?«

»Gleich.«

»Mama, eine Frage«, beginnt Lorenz unvermittelt. Er ist bereits durch die Küchentüre gegangen, aber wieder zurückgekehrt. »Wann zieht deine Schwester bei uns ein und für wie lange?«

»Nächste Woche. Den genauen Tag weiß ich noch nicht. Auch nicht wie lange sie bei uns zu Gast sein wird.«

Burgruine Emmerberg, gleiche Zeit

Blitze zucken von Wolke zu Wolke. Ohrenbetäubend dröhnt der Donner, nachdem ein Blitz in der Nähe eingeschlagen ist. Der Regen rauscht in Simones Ohren oder ist es das Rauschen ihres Blutes?

Verzweifelt sucht die junge Frau den Platz ihrer Kindheit. Beim Eingang zur Ruine befindet sich der Brunnen und dahinter geht es eine leichte Böschung hinab zur »Rauchkuchl«, wie es ihre Eltern immer bezeichnet haben, oder? Egal! Irgendwohin! Die Tropfen prasseln auf sie nieder. Sintflutartig! Sie ist komplett durchnässt und ihre Sicht ist wegen des Wassers, das ihr stetig über das Gesicht rinnt, eingeschränkt. Das ist wie unter der Dusche.

Der Geruch von feuchter Erde steigt ihr in die Nase. Simone hastet weiter einen gepflasterten, glitschigen Weg entlang, rutscht am moosigen Untergrund aus, schafft es aber, einen Ast zu ergreifen und so den Sturz abzufangen. Schwer atmend und zitternd steht sie in einem großen Saal und erkennt ihn sofort wieder.

Der Ballsaal! So hatten ihre Schwester und sie diesen riesigen Raum genannt. Drei Stockwerke umfasst der Saal, vor jedem Fenster zu beiden Seiten Mauern und steinerne Bänke, die bis zum heutigen Tag für Schwindelfreie zum Verweilen einladen, da man einen wunderbaren Blick auf die Landschaft hat. Ein einziger Schritt nach vorne durch die Fensteröffnung bedeutet den sicheren Tod, da sich die Burg über einen steilen Abgrund erhebt.

Simone schaut sich nach einem Unterschlupf um, aber das Einzige, was sie findet, sind hohe Laubbäume. Simone kauert sich darunter, ihre Zähne klappern, ungeheure Kälte überkommt sie. Nein, sie muss ins Trockene. Sie will nicht draußen bleiben. Das Unwetter tobt über ihr und die Gefahr, dass der Blitz ausgerechnet in den Baum einschlägt, unter dem sie Schutz sucht, ist ihr zu hoch. Simone stolpert aus dem Saal, hastet zwischen hohen Mauern entlang weiter. Auf einer Wiese bleibt sie stehen, hört etwas, dreht sich um. Der Turm wird in diesem Augenblick von einem gleißenden Blitz erhellt. Simone ist kurzzeitig geblendet.

Plötzlich sieht sie eine Bewegung zwischen den Sträuchern viele Meter vor ihr. Eine Gestalt verschwindet hinter einem Felsen unterhalb des Turms. Da ist jemand! Eine zweite Person erscheint auf der Bildfläche. Dann ein entsetzlicher Knall, ein Schuss? Simone sucht instinktiv Deckung, hechtet richtiggehend unter einen blühenden dichten Busch, die Augen starr auf die Stelle gerichtet, an der sie die Bewegung gesehen hatte. Wo waren sie? Wo? Nervös und bebend hockt sie inmitten von Zweigen.

Unvermittelt hallt ein Schrei zwischen den Mauern, übertönt den Regen. »Was haben Sie getan? Ist er tot?«, kreischt eine Frau hysterisch. Abermals ein markerschütternder Schrei. »Lassen Sie mich los!« Eine Person rennt auf den Turm zu. Sie trägt einen neongelben auffälligen Regenmantel. Eine andere Gestalt ist ihr dicht auf den Fersen. Simone hält die Luft an. »Wo ist er? Sag es endlich! Sonst ergeht es dir genauso wie ihm!«, schreit sie, als sie der Person im gelben Mantel habhaft wird. Mit einem Satz packt sie den Regenmantelträger und ringt ihn zur Erde. »Wo ist er? Wo hast du ihn versteckt?«, wiederholt eine wütende tiefe Stimme und greift nach einem faustgroßen Stein und hält ihn drohend in die Höhe. »Nein!«, schreit die andere Stimme. »Ich sag es Ihnen!«

Simone traut ihren Augen nicht, was geschieht da? Sie kann die weiteren Worte nicht verstehen. Aber das gellende: »Nein, bitte nicht!«, in Todesangst, klingelt in ihren Ohren. Simone wendet sich ab, sie will nichts mehr sehen. Das Handy. Sie muss Hilfe holen, die Polizei verständigen. Hastig greift sie in ihre Hosentasche und holt ihr Mobiltelefon heraus. Glücklicherweise ist es wasserdicht … Ihre Hände sind nass und das Telefon rutscht ihr aus den ungelenken Fingern.

Als Simone es aufheben will, bleibt sie mit dem Arm an einem spitzen Zweig hängen und schreit, während dieser sich in ihre Haut bohrt. Sie kann gar nicht anders. Der vermeintliche Täter hält inne und schaut auf. Simone presst sich entsetzt beide Hände auf den Mund. Der großgewachsene Mann steht auf, sieht in ihre Richtung.

Simone krabbelt hastig unter dem Busch hervor und rennt zu einem kleinen, gedrungenen, verfallenen Häuschen, stürzt durch die Türöffnung hinein und sucht nach einem Versteck. Im Halbdunkel sieht sie sich um. Eine Kapelle, die aus zwei Räumen besteht? Sie ist in der Falle. Sie wird sterben! Er wird sie töten. Sie hat soeben … Simone muss erbrechen. Würgend kriecht sie hinter den steinernen Altar unter einem Spitzbogenfenster und macht sich so klein wie möglich. Keinen Mucks jetzt.

»He!«, ruft die tiefe Stimme. Der Mann steht vor dem Gebäude, in ihrer unmittelbaren Nähe. Simone kann ihn atmen hören. Der Mörder. Ihr Magen rebelliert, ihr ist schwindelig und sie bekommt kaum Luft. Nur kein Geräusch jetzt! »Hallo!«, ruft die Stimme. »Komm da raus!«

Das Gewitter ist weitergezogen, der Regen hat aufgehört, die ersten Sonnenstrahlen kommen heraus und beleuchten den Altar. Wie ein göttlicher Fingerzeig, direkt auf ihr Versteck. Will Gott, dass sie stirbt, dass sie von diesem Mann beseitigt wird, weil sie eine Zeugin ist? Simone rückt noch näher an den Altar. Sie drückt sich an den Sockel, damit sie im Schatten bleibt. Die Sonne erfüllt den gesamten Altarraum mit gleißendem Licht. Eigentlich wunderschön. Aber nicht für Simone, die um ihr Leben zittert.

»Wo bist du? Komm schon. Lass uns saubermachen und verschwinden!«, brüllt einer der beiden Männer. Saubermachen? Simone zittert wie Espenlaub.

»Da war jemand!«, erwidert der Mann mit der tiefen Stimme.

»Komm schon. Das war nur eine Katze! Du weißt ja, wie die schreien.«

Lange schon ist es draußen ruhig. Simone verharrt in ihrem Versteck, außer sich vor Angst. Irgendwie zweifelt ihr Verstand an dem, was sie soeben gesehen hat. Es erscheint ihr alles unwirklich. Sie fühlt sich wie am Filmset von einem »Tatort«. Ja, genau, wo sind nochmal die Kameras, das Filmteam? Simones Beine schmerzen. Irgendetwas drückt in ihr linkes Knie. Etwas Hartes, Kantiges. Sicher ein Stein. Simone verlagert ihr Gewicht, krabbelt herum, setzt sich auf den kalten Boden und streckt die kribbelnden Beine aus.

Dort wo sie eben noch zusammengekauert gekniet hatte, leuchtet etwas in den Sonnenstrahlen. Eine Metallskulptur? Egal. Irgendein Spielzeug. Dafür hat sie jetzt wirklich keinen Kopf. Simone lauscht. Unschuldiger Vogelgesang dringt in ihr Ohr, sonst nichts. Kein Geschrei, keine Stimmen. Sind sie weg? Kann sie wieder aus ihrem Versteck?

Simone rückt weiter in die wärmenden Sonnenstrahlen, schaut in den blauen Himmel über ihr. So ruhig, so schön. Es ist immer eine Überraschung, wie schnell ein Unwetter vorüberzieht und die Sonne wieder zum Vorschein kommt.

Erneut fällt ihr Blick auf die kleine Figur am Boden zwischen zwei Pflastersteinen. Eine Zinnfigur, mutmaßt Simone. Aber die Farbe stimmt nicht. Zinnfiguren sind dunkel, diese glänzt golden. Die junge Frau atmet tief durch, spürt Neugierde in sich aufwallen. Sie streckt die Hand aus und hebt mit tauben Fingern den Gegenstand vorsichtig hoch und betrachtet ihn. Eine Rittergestalt? Schön und genau gearbeitet.

Gedankenverloren steckt sie die Figur in die Hosentasche und tastet nach ihrem Handy. Verdammt, wo ist es? Unter dem blühenden Strauch. Sie muss es finden. Vorsichtig und lautlos erhebt sie sich. Zunächst schaut sie durch das Fenster. Niemand da. Keine Menschenseele. Sie blinzelt in alle Richtungen und wartet. Ihr gesamter Körper tut ihr weh.

Langsam setzt sie sich in Bewegung. Unvermittelt muss sie niesen. Laut. Erschrocken hält sie inne und wartet auf das Geräusch von Schritten oder ein Gebrüll. Als es wieder absolut still bleibt, setzt Simone ihren Weg durch die verfallene Kapelle fort und schleicht sich aus dem frei stehenden Gebäude.

Dort unten ist der Tatort. Ja und da ist der Busch. Aber ist wo der Ausgang der Ruine? Simone hetzt zu dem Strauch und kriecht hinein. Kein Handy? Es ist weg, nicht mehr zu finden. Verzweifelt sucht sie eine ganze Reihe von Sträuchern ab, aber ihr Mobiltelefon bleibt verschwunden. Fix und fertig steht sie auf der Lichtung und schaut zum Turm. Wo ist sie hergekommen? Simone ist vollkommen orientierungslos und kann keinen klaren Gedanken fassen. Immer wieder spukt die Szene des vermeintlichen Mordes vor ihrem geistigen Auge. Ist der Mord wirklich geschehen? Vielleicht irrt sie sich ja, aber in ihrem Innersten weiß Simone, dass zwei Personen heute in der Burg ihr Leben gelassen haben. Wo sind die Leichen?

Simone zittert, hat das Gefühl für immer in dieser verfluchten Burgruine bleiben zu müssen, ohne Rückkehr. Obwohl sie nicht wirklich gläubig ist, beginnt sie zu beten. »Bitte, lieber Gott, lass mich einen Weg hinaus finden. Bitte! Ich weiß, dass ich eine Zweiflerin bin, aber bitte hilf mir. Ich werde auch in die Kirche gehen, versprochen!« Klingt wie die Bitte eines kleinen Kindes, aber egal.

Simone humpelt den leichten Abhang hinunter in Richtung Turm. Obwohl sie alleine ist, versucht sie, in Deckung zu bleiben, bleibt oft stehen und schaut sich um. Sie ist nervös, ihr ist entsetzlich kalt, sie verspürt Panik, zugleich Hunger und Durst. Schmerzen überall, Übelkeit und Schwindel.

Schritt für Schritt tragen sie ihre müden Beine weiter. Inzwischen steht die Sonne knapp über dem Horizont, die Schatten werden länger und Simone irrt noch immer durch die Ruine. Mehrmals hat sie sich hingesetzt, geheult, gezittert, gebetet und ist im Kreis gegangen, ohne aus dem Labyrinth aus Gängen und Steinen zu finden.

In der Ferne bellt ein Hund, als Simone endlich durch ein Loch in der Wehrmauer klettert, dankbar. Draußen entdeckt sie den altbekannten Pfad, der in die Forststraße mündet. Überglücklich stolpert sie trotz großer Erschöpfung weiter und purzelt regelrecht auf die Forststraße, auf der sie liegen bleibt. Sie hat es geschafft, aber jetzt kann sie nicht mehr weiter. Ihr Körper streikt. Nichts geht mehr.

Irgendwo unterhalb der Burgruine Emmerberg

Was ist mit Rex los? Seit wann zieht er wie verrückt und hört auf kein Kommando? Robert kann den Schäferhund fast nicht zurückhalten. Er hat eine Fährte. Wieso hat er diesen Hund von seinem Freund übernehmen müssen? Einen Polizeihund! Was hat er sich erwartet? Robert umfasst die Taschenlampe fester. Er hetzt keuchend hinauf zur Burgruine.

Die Forststraße macht einige sanfte Kehren und endet direkt bei der Wehrmauer der Burg. Schnaufend steht Robert unter der Ruine und blickt gen Himmel. Ein Blitz aus der Ferne erhellt die Wolken. Rex bellt wie verrückt und zieht den Mann weiter. »Stopp!«, schreit dieser. Doch der Rüde zerrt an der Leine. Unwillig und langsam folgt ihm sein Herrchen. Plötzlich hält er abrupt inne. Was ist das? Wer ist das? Im Strahl seiner Taschenlampe liegt eine Gestalt am Boden.

Hundegebell weckt Simone aus ihrem Dämmerzustand.

»Was tun Sie hier?«, fragt jemand. Eine Taschenlampe blendet sie, blinzelnd und immer noch total benommen setzt sich die Frau auf.

Sie kann ihre Umgebung fast nicht ausmachen. Wieso ist es schon finster? Wie lange hatte sie dagelegen?

»Wie spät ist es?«, stammelt Simone und starrt auf den Riesenschäferhund, der im Schein der Taschenlampe vor ihr sitzt und sie beobachtet. Ist er überhaupt angeleint? Simone beschleicht Angst. Ihr Blick wandert zu der Gestalt, die sie unentwegt anleuchtet.

»Kurz nach 22 Uhr. Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet!« Die Stimme ihres Gegenübers wird lauter. Simones Kopf dröhnt, als die Erinnerungen der letzten Stunden in ihren Gedanken aufblitzen.

»Waren Sie da drinnen?«, fragt der Mann schneidend, sodass der Hund laut bellt.

»Ruhig, Rex!«, befiehlt er. Wann wird er lernen, mit diesem Tier umzugehen? So ein großer Hund passt nicht zu ihm.

Rex? Simone wundert sich. Den Namen hat sie schon einmal gehört. Schäferhund, Rex. Das schönbrunngelbe Haus am Fuße der Ruine.

»Wissen Sie, dass es verboten ist, die Burg zu betreten?« Ja, das war der richtige Tonfall für diese dumme Göre. Sich in der Nacht bei der Ruine herumzutreiben. Wie verrückt muss man dafür sein? Er betrachtet sie genauer. Wie alt mag sie wohl sein, zwanzig? Schmutzig, zerkratzt von den Dornen und vollkommen fertig. Hm, denkt Robert. Irgendwie kann sie einem ja leidtun …

Simone versucht, etwas mehr Abstand zwischen sich und den Hund zu bringen. Die Kraft aufzustehen und den Berg hinunterzugehen, fehlt ihr allerdings.

»Ihnen gehört auch wohl das kleine rote Auto an der Bundesstraße, nicht wahr?« Robert versucht es mit Konversation. Diese Frau hat Angst, er kann es in ihrem schmalen Gesicht erkennen.

Simone schaut an der massigen Gestalt hoch und nickt kurz.

»Nun, ich werde von einer Anzeige absehen, wenn Sie mir versprechen, dass Sie sich nie mehr hier blicken lassen.« Er streckt ihr die Hand entgegen. »Kommen Sie, ich helfe Ihnen auf.« Seine Stimme klingt sanfter. Er wartet. Trotzdem zögert die junge Frau und wispert: »Ich komm schon klar.« Der Schäferhund bellt unheilvoll, sodass Simone die Ohren schmerzen und sie noch ein Stück wegrückt.

»Jetzt haben Sie sich nicht so!«, knurrt die Gestalt mit einem Mal ungeduldig. Robert verspürt einen leichten Anflug von Ärger. Durchatmen! »So wie Sie aussehen, kommen Sie den Hügel nicht ohne Hilfe hinunter.« Er nestelt in seiner Hosentasche und holt ein Handy hervor. Robert wendet sich ab, der Lichtstrahl der Taschenlampe beleuchtet ein Stück der Wehrmauer. In der Ferne donnert es und Simone läuft ein eiskalter Schauder über den Rücken. Noch ein Gewitter möchte sie hier draußen nicht erleben! Schon gar nicht bei Nacht! Simone mobilisiert ihre letzten Kräfte und stemmt sich hoch. Ihre Knie sind weich und schmerzen, leichter Schwindel überkommt sie und auch Übelkeit macht sich bemerkbar, als sie erneut an die Vorfälle in der Burgruine denkt.

»Meine Frau kommt mit dem Auto her.« Robert sieht sich überrascht um. Wo ist sie? »Hallo!«, ruft er in den Wald hinein. Der Schäferhund zerrt an der Leine und jault. Robert leuchtet in die Richtung, in die der Hund zieht und findet Simone, die leichenblass am Stamm einer Föhre lehnt.

»Karin kommt in Kürze. Warten Sie. Wir bringen Sie hinunter.« Robert richtet die Taschenlampe auf den Boden zu ihren Füßen, blendet ihr diesmal nicht ins Gesicht. »Wie heißen Sie?«, fragt er vorsichtig.

Simone hat nicht vor, ihm ihren Namen zu verraten. Sie bleibt stumm. Robert setzt sich seufzend auf einen Baumstamm und wartet. Rex legt sich gehorsam zu seinen Füßen. Simone kauert sich in das hohe Gras, als die ersten schweren Tropfen fallen.

Normalerweise macht es ihr nichts aus, nass zu werden, oder des Nachts draußen zu sein, aber heute ist alles anders. Der Schock sitzt ihr tief in den Knochen. Ein vermeintlicher Doppelmord?! In ihrer Gegenwart? Sie ist eine Zeugin! Zur Polizei, natürlich! Sie muss es melden, aber soll sie zugeben, dass sie sich in der Burg aufgehalten hat? Hm, sie könnte sich an Christoph Reutters wenden, der arbeitet doch bei der Kripo, aber der nervt nur. Nein, sie will sich nicht mit diesem Typen treffen. Er würde sie nach Thomas fragen und sich einmischen. Ja, Christoph will nur helfen, aber er erwartet sich zu viel, er interpretiert Dinge in jede ihrer Gesten und glaubt tatsächlich, dass sie auf ihn steht! Von Männern hat sie für die nächste Zeit erst einmal genug!

Ein Motorengeräusch wird stetig lauter. Simone sieht zwei leuchtende Scheinwerfer eines Geländewagens. Das Auto zuckelt mit immer wieder aufheulendem Motor die Forststraße herauf. Inzwischen hat leichter Regen eingesetzt. Die Föhre bietet wenig Schutz. Hie und da erleuchten Blitze den finsteren Wald. Vorboten eines schlimmen Unwetters.

Der Wagen hält vor ihr auf der Straße. »Danke Schatz!«, seufzt Robert, als seine Frau das Fenster herunterkurbelt und hinausschaut.

»Wo ist sie?«, fragt Karin und lässt den Blick suchend umherschweifen.

»Dort drüben, unter der alten Föhre.« Robert deutet mit der Taschenlampe auf den Baum. Karin muss zweimal hinsehen, um die Frau zu erkennen, die sich unter dem Baum duckt. »Hilfst du mir einmal, die Kleine dazu zu überreden, mitzukommen, bevor dieses verdammte Unwetter wieder einsetzt?«

Karin nickt, stellt den Motor ab, zieht die Handbremse an und steigt aus dem Auto.

Simone schaut auf, als die Frau sich vor ihr hinkniet. »Ich bin Karin. Und wer sind Sie?« Eine Stille entsteht. Simone antwortet nicht. »Begleiten Sie uns bitte.« Karins Stimme klingt mild und freundlich. »Sie sollten nicht mutterseelenalleine im Wald bleiben, schon gar nicht bei diesem Wetter. Wenn Sie wollen, können Sie bei uns das Gewitter abwarten.« Simone rührt sich nicht von der Stelle. »Ich habe auch etwas zu essen für Sie, oder ich koche Ihnen schnell eine Suppe. Oder einen Tee? Kekse hätte ich auch.« Karin steht leichtfüßig auf. »Was sagen Sie zu diesem Angebot, hm?« Sie streckt Simone die Hand entgegen, just in dem Augenblick, als grollender tiefer Donner die Luft vibrieren lässt. Rex knurrt. Robert greift die Leine und zieht den Hund Richtung Auto. »Keine Zeit mehr!«, ruft er seiner Frau zu.

»Ja, ich komm mit«, flüstert Simone. Endlich! Karin greift nach ihrer Hand und führt sie zum Geländewagen. Robert öffnet die Hintertüre und Simone klettert auf die Rückbank.