Misooks Ring - Katharina Durrani - E-Book

Misooks Ring E-Book

Katharina Durrani

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Beschreibung

Simone Jaan, die Wiener Neustädter Hobbydetektivin, findet im Schlosspark von Pottendorf, Niederösterreich, einen abgetrenn-ten Finger. Die Spurensuche führt sie, gemeinsam mit ihrer Freundin Luise Winkler, zu einer jungen Südkoreanerin, die ihre geliebte Großmutter vermisst. Schon bald befindet sich Simone mitten in einem spannenden und rätselhaften Kriminalfall. Sie begibt sich auf die Suche nach einem wertvollen Artefakt, einem Ring der koreanischen Silla-Dynastie ...

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Seitenzahl: 303

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Über die Autorin:

Katharina Durrani, geboren 1971, absolvierte nach der Matura die Buchhandelslehre, danach den Lehrgang Grafikdesign an der Wiener Kunstschule.

Seit ihrer Jugend schreibt sie leidenschaftlich gerne, verfasst Gedichte und Geschichten. Sie liebt es, ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen, neue virtuelle Welten zu erschaffen. Auch in ihrer Kunst – sie malt in verschiedenen Techniken – wird das Fantastische hervorgehoben, spielen die kräftigen Farben eine große Rolle.

Katharina Durrani ist glücklich verheiratet und lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in Niederösterreich.

Von Katharina Durrani sind im medimont verlag bereits erschienen:

Der Corvinusbecher (Kriminalroman)

Kalt blütig (Kriminalroman)

Rachsüchtig (Kriminalroman)

Experiri: Sathorja (Fantasy-Roman)

Experiri: Der Schattentöter (Fantasy-Thriller)

Katharina Durrani

Misooks Ring

Kriminalroman

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieser Kriminalroman ist ein Produkt meiner Fantasie. Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Personen – lebenden oder toten – und Geschehnissen wäre reiner Zufall. Die örtlichen Gegebenheiten entsprechen weitgehend den tatsächlichen Gegebenheiten, doch habe ich mir die Freiheit genommen, hin und wieder die Realität den Erfordernissen der Geschichte anzupassen.

Originalausgabe, 1. Auflage

©2023 by medimont verlag gmbh, 86453 Dasing, Marienstr. 31

Lektorat und Redaktion: Wolfgang K. Ernst

Umschlaggestaltung: Amalie von Spreti, München

Umschlagabbildung: Anna-Bernadette Durrani

Gesetzt in Adobe InDesign im Verlag

Druck und Bindung: ScandinavianBook, Neustadt a. d. Aisch

Printed in the EU

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise - nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

eISBN: 978-3-911172-68-4

Sie finden uns im Internet unter:

www.medimont.deBestell-Nr.: 35018

Für Clemens & Fabien undCho Jeong Hwan

Inhalt

Über die Autorin

Pottendorf: Niederösterreich: Ende April

Schlosspark Pottendorf: Niederösterreich: zuvor

Einfamilienhaus Familie Winkler: Bad Sauerbrunn, Burgenland: gleicher Tag

Hyeonas Wohnung: Pottendorf: gleiche Zeit

Schlosspark Pottendorf: früher Sonntagmorgen: nächster Tag

Einfamilienhaus Familie Winkler: Bad Sauerbrunn: zwei Tage später, morgens

Schlosspark Pottendorf: nächster Tag: zeitig am Morgen

Hyeonas Wohnung: Pottendorf: nächster Tag, morgens

Einfamilienhaus Familie Winkler: Bad Sauerbrunn: ein paar Tage später, abends

Hyeonas Wohnung: Pottendorf: Sonntagnachmittag

Simones Wohnung: Wiener Neustadt: kurze Zeit später

Akademiebad, Wiener Neustadt: Niederösterreich: Anfang Mai

Mailand: Italien: einige Tage später

Einfamilienhaus Familie Winkler: Bad Sauerbrunn

Stadtpolizeikommando: Wiener Neustadt: Burgplatz

Hyeonas Wohnung: Pottendorf: Tage später

Pottendorf: nächster Tag

Einfamilienhaus Familie Winkler: Bad Sauerbrunn

Simones Wohnung: Wiener Neustadt: später

Simones Wohnung: Wiener Neustadt

Wiener Neustadt: irgendwann abends

Psychiatrische Klinik: Tage später

Wiener Neustadt: Innenstadt

Pottendorf: Samstag Vormittag

Klingfurth: zeitig am Morgen: Sonntag

Neufeldersee: Burgenland: früher Nachmittag

Simones Wohnung: Wiener Neustadt: später

Klingfurth: nächster Tag

Hyeonas Wohnung: Pottendorf: Tage später

Einfamilienhaus Familie Winkler: Bad Sauerbrunn

Mödling: Fußgängerzone: nächster Tag

Klingfurth: zwei Tage später

Ebreichsdorf: nächster Tag: abends

Fischauer Vorberge: Wolfsschlucht: nächster Tag, Abend

Hyeonas Wohnung: Pottendorf

Fischauer Vorberge: Höhenstraße: Bad Fischau-Brunn

Hyeonas Wohnung: Pottendorf: nächster Tag

Einfamilienhaus Familie Winkler: Bad Sauerbrunn

Simones Wohnung: Wiener Neustadt

Hyeonas Wohnung: Pottendorf: später Nachmittag

Simones Wohnung: gleiche Zeit

Stadtpolizeikommando: Wiener Neustadt

Irgendwo in der Buckligen Welt: Niederösterreich

Bucklige Welt: Niederösterreich: nächster Tag

Simones Wohnung: Wiener Neustadt: einige Stunden zuvor

Einfamilienhaus Familie Winkler: Bad Sauerbrunn: Vormittag

Simones Wohnung: Wiener Neustadt: früher Nachmittag

Kaiserstein: Bad Fischau-Brunn: Mitternacht

Einfamilienhaus Familie Winkler: Bad Sauerbrunn: nächster Tag, morgens

Simones Wohnung: Wiener Neustadt

Stadtpolizeikommando: Wiener Neustadt: Burgplatz

Einfamilienhaus Familie Winkler: Bad Sauerbrunn: Burgenland

Ein Waldweg: Wiesmath: Niederösterreich

Stadtpolizeikommando: Wiener Neustadt: Burgplatz

Simones Wohnung: Wiener Neustadt: spät am Abend

Schlosspark: Pottendorf

Inzwischen

Einfamilienhaus Familie Winkler: Bad Sauerbrunn: eine Woche später

Ende Oktober: N Seoul Tower: Seoul, Südkorea

Protagonisten

Ich bedanke mich bei …

Pottendorf NiederösterreichEnde April

Ein kleiner Hund saust über eine Wiese. Seine Ohren fliegen im Wind, sein Fell ist zottelig und schwarz mit einem weißen Brustfleck. Der Hund wirkt fröhlich und aufgeregt, als er auf sein Frauchen zuläuft.

Es ist ein schöner Abend, der Schlosspark in der kleinen Gemeinde Pottendorf ist trotzdem menschenleer. Vermutlich liegt es am launischen Aprilwetter. In den letzten Tagen hat es der April ganz schön wild getrieben. Ein abwechslungsreicheres Wetter gibt es kaum. Schneefall, Regengüsse, Sonnenfenster, Temperaturachterbahn. Ja, der April, der macht was er will.

Simone Jaan geht zum ersten Mal im wunderschönen Schlosspark spazieren. Natürlich begleitet von ihrer Bolonka-Zwetna-Hündin Rala. Es ist eine gute Idee gewesen, einmal etwas Neues zu erkunden. Nicht immer die gleichen Strecken zu gehen, auch einmal wegzufahren. Wiener Neustadt und Pottendorf liegen nur ein paar Kilometer auseinander, also für einen Ausflug immer gut. Außerdem möchte Simone bald heiraten und sucht eifrig nach Locations dafür. Und der Park wäre doch was! Er gehört zu einem romantischen, leider verfallenen Wasserschloss mit einer intakten Kapelle, die für Hochzeiten zur Verfügung steht. Wirklich. Einen schöneren Ort kann sich Simone nicht vorstellen. Ja, sie möchte Markus Heindl heiraten. Irgendwann im Herbst. Wieso? Weil es ihre Lieblingsjahreszeit ist und Markus ihr Traumpartner.

Simone schlendert gedankenverloren zurück zu ihrem Auto. Sie hat sich alles angesehen und ist fasziniert von der Schönheit des verwilderten Parks mit seinen Gewässern und dem charmanten baufälligen Wasserschloss. Sie wird Markus den Vorschlag machen, hier zu heiraten. Keine Ahnung, was ihr Verlobter davon halten wird …

»Was hast du da im Maul?«, fragt Simone ihre Hündin verwirrt, als ihr Blick auf das Tier fällt. Schon hat Rala den Gegenstand fallen gelassen und bellt sie an, als wollte sie sagen: »Los spielen wir! Wirf es!« Simone sieht sich das blasse längliche Ding genauer an, Sekunden später taumelt sie zurück und hält sich die Hand vor den Mund. Rala möchte abermals den Gegenstand ins Maul nehmen und damit spielen, aber Simone schreit ihre Hündin an. »Nein, Pfui, Rala! Lass den Finger liegen!«

Was soll die junge Frau jetzt machen? Zunächst hängt sie wieder ihre Hündin an die Leine, ohne auf Ralas Fund zu sehen. Wenn ihre Schoßhündin noch einmal den Finger ins Maul nimmt, würde sie sie nicht mehr bei sich im Bett schlafen lassen! Simone sieht sich um. Eiskalte Angst lässt sie erschaudern. Wo ist die Person, der der Finger fehlt? Wo jene, die ihn abgetrennt hat? Da sind zu viele Bäume! Überall kann sich jemand versteckt halten. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren, ruhig bleiben und nachdenken! Simone atmet einige Male tief durch, um sich zu beruhigen, aber es funktioniert nicht! Sie zieht ihre Hündin zu einer naheliegenden Parkbank und setzt sich. Ihr ist schwindelig und schlecht. Auch wenn sie bereits mit einigen Kriminalfällen zu tun hatte, ist es trotzdem immer wieder entsetzlich mit Leichen oder in diesem Fall mit Leichenteilen zu tun zu haben.

Was Simone von Beruf ist? Nein, sie arbeitet nicht bei der Polizei, sie ist kaufmännische Angestellte in einer Buchhandlung in Wiener Neustadt. Aber sie ist auch eine Hobbydetektivin. Unfreiwillig, wohlgemerkt. Einmal ging es um den sagenumwobenen Corvinusbecher, einem wertvollen Prunkbecher von Wiener Neustadt. Ein anderes Mal um ein Gemälde von Egon Schiele. Bei Simones letztem Fall hat sie sich in eine Geschichte rund um einen Kunstraub aus der Mayersammlung des Stifts Admont verstrickt. Ein Irrsinn. Fast hätte sie ihre Neugierde mit ihrem Leben bezahlt! Leichen pflastern den Weg der jungen Frau, im wahrsten Sinne des Wortes. Und jetzt hat sie mit einem abgetrennten Finger zu tun! Wieso nur? Sie wollte doch nur spazieren gehen!

Simone versucht, einen klaren Gedanken zu fassen. Überlegt, was sie machen soll. Nachhause fahren, und zwar schnell, meldet sich eine innere Stimme zu Wort. Und der Finger? Da lassen und vergessen! Er wird verrotten. Oder von einem Tier gefressen. Oder von anderen Spaziergängern gefunden. Nicht ihre Sache. Simones Blick wandert zu Rala, die sich soeben die Pfote leckt. Ekelhaft, ein Finger im Maul ihrer kleinen Schmusehündin. Eine Welle von Übelkeit überrollt sie noch einmal. Sie atmet durch und sieht in den Himmel. Allmählich wird ihr kalt. Es ist April und die Sonne ist hinter dicken grauen schweren Wolken verschwunden. Die junge Frau steht auf. Sie möchte gehen und vergessen. Aber es handelt sich hier mit Sicherheit um ein Verbrechen. Oder? Sollte sie nicht die Polizei über ihren Fund informieren? Und hier warten? Nein, dazu hat Simone im Augenblick keine Lust. Plötzlich hat sie eine Idee, das könnte die Lösung für ihr Debakel sein! Sie nimmt eine der Plastiktüten für den Hundekot aus ihrer Jackentasche, sucht nochmals die Stelle, an der der Finger liegt und packt ihn angeekelt ein. Rala sieht ihr verwundert zu. Was macht ihr Frauchen da? Ihr Spielzeug wegpacken?

Simone macht sich rasch auf den Heimweg. Sie hofft, dass sie den richtigen Pfad aus dem Park findet und zum Parkplatz gelangt. Der Schlosspark ist groß und Simone fehlt manchmal schlichtweg die Orientierung. Bäume, Wege, Wiesen …

Schlosspark Pottendorf Niederösterreichzuvor

Cho Jae-Sung ist höchstnervös. Wo ist die Großmutter seiner Freundin? Wohin ist sie gegangen? Er eilt die Allee entlang, ohne sie zu finden. Er ruft nach ihr, aber keine Antwort. Wie kann diese alte Frau so schnell sein? Misook hat Demenz und neigt dazu, einfach wegzugehen.

Er hätte sie begleiten sollen, aber er hat darauf vergessen. Jae-Sung wischt sich den Schweiß von der Stirn. Er hat versagt. Seine Freundin wird sich womöglich nach diesem Vorfall von ihm trennen. Aber er liebt sie, sie ist sein Ein und Alles.

Er muss die Großmutter finden! Seit einer Stunde sucht er den Park ab, aber ohne Erfolg. Er bleibt bei dem verfallenen Wasserschloss stehen, geht über die Brücke bis zur Absperrung, sieht auf das spiegelglatte Wasser im Wassergraben. Nichts. Er schaut durch die Gitterstäbe, sucht mit den Augen jeden sichtbaren Zentimeter des verwucherten Innenhofs des Schlosses ab.

Aber wie soll denn die alte Frau es geschafft haben, das eiserne Gitter auf der Brücke zu überwinden? Gar nicht! Jae-Sung geht rund um das Schloss, suchend, schweigend, verzweifelt. Das Licht der untergehenden Sonne, die sich für einen Augenblick zwischen dunklen Regenwolken hervorgekämpft hat, verfärbt das alte ehemals gelb angestrichene Gemäuer in mildes Orange.

Der junge Mann atmet durch, als sein Blick über die gemauerte Kapelle schweift. Ein schönes Bauwerk, renoviert. Das einzige Stück des Schlosses, das man betreten darf, aber nur bei Hochzeiten. Nein, Misook hätte den Wassergraben durchqueren müssen, um zur Kapelle zu gelangen. Ja, die Großmutter seiner Freundin ist Katholikin, aber wieso sollte sie das tun? Jae-Sung schüttelt den Kopf. Wohin jetzt? Abermals ruft er nach der Frau. Keine Antwort. Er wendet sich einem schmalen Pfad zu und setzt seine Suche fort.

Hyeona, seine Freundin wird bald aus Wien heimkommen und feststellen, dass niemand zuhause ist.

Hyeona ist vor einigen Jahren aus Seoul nach Österreich gekommen. Der Grund dafür war ein überraschendes Stipendium für ein Kunststudium. Misook, ihre geliebte Großmutter hat sie später zu sich nach Österreich geholt, um ihr ein angenehmes Leben zu bieten. Die beiden wohnen gemeinsam mit Hyeonas Lebensgefährten Cho Jae–Sung im kleinen Ort Pottendorf im südlichen Niederösterreich. Eine Gemeinde, die für seine Baumwollspinnerei bekannt ist, oder besser war. Das Gebäude steht noch, beherbergt jedoch mittlerweile das Gemeindeamt. Der Park mit dem Wasserschloss hingegen ist ein Juwel, auch wenn der Zahn der Zeit seine Spuren hinterlassen hat. Einer der beiden Türme ist verfallen, der andere wurde renoviert. Genauso wie die Schlosskapelle. Es steckt viel Arbeit dahinter und viel Geld …

Misook geht gerne im Park spazieren, kennt ihn wie ihre Westentasche, aber leider ist sie vergesslich geworden. Bereits zweimal hat die Polizei sie aufgegriffen und die alte Frau wieder heimgebracht. Es ist rapide gegangen. Hyeona hat sich an Ärzte gewandt, diese haben ihr geraten, ihre Oma in eine Pflegeeinrichtung zu geben, aber wer soll die Betreuung bezahlen? Ihre Mutter? Nein, diese lebt in Südkorea und hat genügend Ausgaben. Hyeona würde niemals ihre Mutter um Hilfe bitten …

Die junge Koreanerin arbeitet neben dem Studium als Kellnerin sowie als Aufsichtskraft eines renommierten Wiener Museums. Zudem wird sie auch von ihrem Freund finanziell unterstützt. Jae-Sung ist Vertreter einer großen koreanischen Firma. So geht sich sogar eine stundenweise Pflegekraft für ihre Großmutter aus. Das ist gut so.

Einfamilienhaus Familie Winkler Bad Sauerbrunn, Burgenlandgleicher Tag

Simone steht gegen 21 Uhr vor dem Gartenzaun des schmucken Einfamilienhauses und läutet. Sie hat sich nicht vorangekündigt, was ihr reichlich unangenehm ist. Der Grund hierfür ist einfach, Simones Handy hat wieder einmal keinen Akku. Es ist ein älteres Gerät und die Batterie schon schwach.

Simone hofft, dass Luise zuhause ist, ihre Freundin, genau für diese Art von Spezialfällen. Sie ist die jüngste Tochter von Peter und Elisabeth Winkler, einem Ärzteehepaar. Nicht ganz gewöhnlich, wie Simone vor einiger Zeit herausgefunden hat. Peter ist Gerichtsmediziner und Elisabeth praktische Ärztin. Luise selbst ist Medizinstudentin, weil sie einmal in die Fußstapfen ihres Vaters treten möchte. Aber egal, momentan braucht Simone eigentlich Luises Vater am dringendsten. Er weiß, was zu tun ist. Simone hält die dunkelgraue Plastiktüte weit von sich weg, während sie noch einmal die Glocke betätigt. Plötzlich surrt die Gartentüre und lässt Simone eintreten. Wurde auch Zeit! Es ist mittlerweile finster und kalt. Simone fröstelt, während sie zur Haustüre eilt. Rala ist auf ihrem Arm. Wo ist eigentlich Cody, der Bordercollie der Familie? Er bellt ja gar nicht.

»Simone?«, fragt Luise überrascht. »Was führt dich um diese Zeit zu uns?«

»Das da!« Sie hält die Plastiktüte Luise vors Gesicht.

»Iiiiih! Hundescheiße? Bist du verrückt? Ist es von deinem Köter?«

Luise macht eine abwehrende Geste und versperrt Simone die Türe. »Keinen Schritt weiter, du Irre!«, keift Luise. Sie schiebt sich eine dunkle Haarsträhne zurück hinter das Ohr und sieht Simone verärgert an. Rala knurrt.

»Luise, in diesem Säckchen ist ein abgetrennter Finger«, seufzt Simone kraftlos.

»Ein was? Sag das nochmal!«

»Ein Finger, Luise. Bitte, lass mich rein.«

Luise tritt sofort zur Seite und lässt Simone endlich ins Haus.

»Ist dein Vater da?«

»Meine Eltern müssen bald zurückkommen. Sie sind mit Cody spazieren. Du weißt schon, ihre Abendrunde. Heute sind sie etwas später unterwegs.«

Ja, Simone weiß genau, welche Runde Luise meint. Hat sie sie doch dort im Wald im tiefsten Winter getroffen, als sie den alten Welsh Corgi Rüden rettete …

Simone ist Luise in die Küche gefolgt. Rala ebenso. Noch immer trägt die junge Frau die Hundekottüte mit sich herum. »Luise, kann ich dir bitte das hier übergeben, ich möchte es endlich loswerden.«

»Oh ja, das verstehe ich«, grinst Luise. »Es geht sicher jedem Hundebesitzer so.«

Simone schüttelt den Kopf. »Es ist ein Finger«, erklärt sie ärgerlich.

»Schon gut. Ich glaube dir.« Luise nimmt das Behältnis aus Simones eiskalten Fingern und bringt es weg. Sekunden später ist sie wieder da. »Du kannst dir jetzt mal die Hände waschen, die Jacke ausziehen und dich an den Kamin setzen. Ich habe vorhin eingeheizt.«

»Danke«, meint Simone rasch, geht zurück in die Diele und hängt ihre Jacke auf. Die Schuhe hat sie zuvor schon abgestreift, dafür brauchte sie keine Hände. Danach eilt sie ins Badezimmer und anschließend zu Luise ins Kaminzimmer.

»Willst du was zu trinken, zu essen, Simone?«, fragt Luise ihren Gast nach einer Weile.

Simone schüttelt den Kopf.

»Es ist dir schon wieder schlecht, nicht wahr?«, fragt ihre Freundin. »Du verträgst gar nichts.«

Simone bleibt stumm. Sie wuselt nur durch ihre karottenroten langen dichten Haare, als würde ihr Kopf jucken.

»Alles in Ordnung?«, fragt Luise verwundert nach.

Simone nickt, sieht in die lodernden Flammen. Die Nächte sind noch ungewöhnlich kalt in diesem April. Hoffentlich wird der Mai freundlicher.

»Gut, wenn du dann so weit bist, erzähl mir bitte, was passiert ist«, meint Luise. »Bitte beeile dich. Es ist schon spät. Ich möchte bald schlafen gehen.«

»Du gehst doch sicher nicht vor 23 Uhr ins Bett.«

»Normalerweise nicht, aber heute bin ich müde, also leg los.«

»Ich war spazieren und …«

»Hallo Simone!«, ertönt Elisabeths Stimme unvermittelt, sodass die Freundinnen erschrocken aufsehen. »Ich habe dein Auto vor der Tür gesehen. Welcher Notfall führt dich um diese Zeit zu uns?« Kaum hat Elisabeth die Worte ausgesprochen, stürmt Cody, der Bordercollie an ihr vorbei auf Simone zu. Er begrüßt sie so überschwänglich, dass Rala sich ein Knurren nicht verkneifen kann.

»Cody!«, ruft Peter den Hund zurück. »Mal nicht so stürmisch, mein Freund.« Cody kehrt mit hängender Rute und angelegten Ohren zu seinem Herrchen zurück. Rala setzt sich demonstrativ auf Simones Schoß. Ihr Frauchen!

»Schön, dass du uns mal besuchen kommst, aber es ist etwas spät«, erklärt Peter und reicht Simone die Hand. Elisabeth ebenso. »Also?«, fragt sie. »Was ist passiert?«

Noch bevor Simone antworten kann, beginnt Luise mit einem Grinsen im Gesicht: »Simone hat euch etwas mitgebracht, eigentlich dir, Papa. Es ist draußen auf der Terrasse in einem Hundekotsackerl.«

Peter und Elisabeth werfen sich einen verwirrten Blick zu.

»Nicht von dem Behältnis abschrecken lassen, Simone wusste sich nicht anders zu helfen.«

Simone wird allmählich heiß. Ihre Wangen beginnen zu glühen. Liegt es an der Wärme vom Kamin oder an ihrer momentanen Situation? War es die richtige Idee gewesen, den Finger herzubringen? Peter wird ihr sicher eine Predigt halten, dass sie zur Polizei hätte gehen müssen.

»Also ich verstehe gar nichts mehr«, schnaubt Elisabeth.

»Ich habe einen Finger gefunden«, erklärt Simone endlich.

»Tatsächlich?« Peter ist nicht überrascht. Simone ist prädestiniert dafür.

Simone nickt.

»Und wo?«

»Im Pottendorfer Schlosspark.«

»Pottendorf hat ein Schloss?«, überlegt Luise. »Wo ist überhaupt Pottendorf?«

»Du musst bei der großen Kreuzung in Ebenfurth links abbiegen und über eine Brücke fahren«, erklärt ihre Freundin.

»Ebenfurth?«, fragt Luise verwirrt.

»Ja, der Ort, der nach Eggendorf folgt.«

»Ach so.«

»Das Wasserschloss ist verborgen in einem teils verwilderten Schlosspark.«

»Und dort hast du den Finger gefunden?« Elisabeth sieht Simone verwundert an. »Einfach so?«

»Es war eigentlich Rala. Ich habe sie frei laufen lassen und sie ist auf einer Wiese mit einem abgetrennten Finger zu mir zurückgekehrt und hat ihn vor mich hingelegt.«

»Braver Hund«, meint Peter nachdenklich. »Dann ist er hoffentlich nicht zerkaut oder so.«

Simone wird wieder übel.

»Nein, glaube ich nicht«, murmelt sie. Die Vorstellung ist ja grauenhaft.

»Rala? Du machst Witze, Papa. Ich glaube nicht, dass sie so eine starke Beißkraft hat.«

»Unterschätze die Kleinen nicht«, erklärt Peter. »Hast du die Polizei geholt, Simone?«

Simone ist tiefrosa im Gesicht, sie schüttelt den Kopf.

»Also nicht«, überlegt Peter. »Hm. Und du willst, dass ich alles übernehme.«

Simone nickt.

»Ja, das wird super, endlich mal wieder Abwechslung«, freut sich Luise überschwänglich. »Wir fahren nach Pottendorf und suchen die zum Finger dazugehörige Person.«

»Ohne Polizei?« Elisabeth ist nicht erfreut. »Das kann deinen Vater den Job kosten.«

»Ich werde mir mal den Finger ansehen, dann werde ich entscheiden, wie es weiter geht«, stellt Peter sachlich fest. Er spürt ein Interesse an dem Fall. In letzter Zeit wurde er zu keinem kniffligen Verbrechen geholt und allmählich fühlt er sich unterfordert. »Luise, wo ist er noch mal?«

»Auf der Terrasse. Kühl gelagert. In so einer grauen Plastiktüte.«

»Das dir immer diese Dinge passieren müssen«, seufzt Elisabeth. Sie hat sich niedergesetzt und streckt die Füße in die behagliche Wärme des Raumes. »Was hat dich zu diesem Park geführt? Wieso warst du dort? Ich meine, in Wiener Neustadt und nächster Umgebung gibt es genügend Grün, findest du nicht auch?«

»Das möchte ich jetzt aber auch wissen«, stellt Luise neugierig fest. »Du gehst doch immer im Akademiepark spazieren, oder?«

»Ich habe von einer Kundin erfahren, dass im Pottendorfer Schlosspark geheiratet werden kann.«

»Oh, die Hochzeit. Natürlich. Wann ist es denn so weit?« Elisabeth schenkt Simone ein Lächeln.

»Im Herbst. Aber der Schlosspark kommt für mich nicht mehr in Frage.«

»Wegen des Fingers«, murmelt Luise. »Aber das ist doch kein Grund.«

»Wer weiß, was dahinter steckt«, meldet sich ihre Mutter erneut zu Wort.

Luise zuckt mit den Schultern. »Bis zum Herbst ist noch viel Zeit.«

»Hat dein Vater die Möglichkeit, sich den Finger hier im Haus anzusehen?«

»Denke schon«, erwidert Luise.

»Für die erste Analyse wird es reichen«, meint Elisabeth. »Er ist in meiner Ordination.«

»Ach so«, meint Simone. Langsam entspannt sie sich. Sie streicht gedankenverloren Rala übers weiche Fell. Eigentlich sollte sie sich jetzt auf den Heimweg machen. Sie sieht auf die Uhr. Es ist spät. Markus hat noch Nachtdienst im Krankenhaus. Er kommt erst morgen heim.

»Ich werde mich auf den Heimweg machen«, gähnt Simone.

»Du kannst jetzt nicht einfach verschwinden!« Luise sieht ihre Freundin verärgert an. »Wir stehen am Anfang eines neuen Falls und Papa wird uns sicher bald Einzelheiten verraten können. Außerdem wäre es unfair, einfach zu gehen und uns mit deinem Fundstück alleine zu lassen.«

»Okay«, seufzt Simone.

Wenige Augenblicke später kommt Peter ins Kaminzimmer und fordert alle auf, ihm in Elisabeths Ordination zu folgen. Luise kann man die Aufregung ansehen, Simone eher den Ekel.

»Du hast Neuigkeiten, Papa?«, fragt Luise erfreut.

»Ja«, erwidert Peter. »Simone, bringst du bitte Rala wieder zurück zu Cody?«

Simone nickt. Tatsächlich: Rala steht hinter ihr und sieht sie mit ihren braunen großen Hundeaugen an. Ja, die kleine schwarze Hündin hat die Eigenheit, ihrem Frauchen auf Schritt und Tritt zu folgen. Egal wohin diese möchte. Simone nimmt Rala auf den Arm und trägt sie zurück zu Cody ins Kaminzimmer. Sie schließt die Türe und eilt zu den anderen in die Arztpraxis. Sie bleibt hinten, möchte keinen einzigen Blick mehr auf das Corpus Delicti werfen.

»Also, der Finger gehört zu einer älteren Person, ich schätze mal zwischen siebzig und achtzig Jahre. Ich vermute, dass es sich um eine Frau handelt. Sie war bereits tot, als ihr der Finger abgetrennt wurde. Ach ja und es ist ein Ringfinger.«

»Wie kommst du darauf, dass es sich um eine Frau gehandelt haben muss?«

»Die Haut. Gepflegt, aber alt. Irren kann ich mich natürlich schon, ist aber eher unwahrscheinlich.«

Simone bleibt stumm, blickt zu Boden und hört zu.

»Also gibt es im Park irgendwo eine Leiche?«, schlussfolgert Luise.

»Womöglich. Oder sonst wo in Pottendorf und Umgebung.«

»Ist von einem Tötungsdelikt auszugehen?«

»Wahrscheinlich. Ich weiß auch, dass diese ältere Dame einen Ring getragen hat, und zwar ziemlich lange.«

»Heißt das, ihr wurde vielleicht der Finger abgetrennt, um an den Ring zu kommen?«

»Möglich wäre es. Aber das sind alles meine ersten Erkenntnisse. Jetzt werde ich mal die zuständigen Behörden informieren.«

»Ach komm«, seufzt Luise. »Gib Simone und mir noch einen Tag Zeit, etwas herauszufinden.«

»Kommt gar nicht in Frage. Die Polizei übernimmt alles Weitere.« Peter sieht seine Tochter verärgert an. Danach wandert sein Blick zu seiner Frau, die ihm sofort zustimmt.

»Simone und ich …«, setzt Luise wieder an.

»Nein!«, rufen Elisabeth und Peter wie aus einem Mund.

Kurz bevor Simone sich auf den Heimweg machen möchte, wird sie von den Winklers noch auf ein Getränk eingeladen. »Das ist sehr nett, aber es ist schon spät«, meint Simone sofort abwehrend. Aber es wäre unhöflich gewesen, die Einladung auszuschlagen, zumal der nächste Tag ein Sonntag ist. Somit nimmt Simone nochmals im Kaminzimmer Platz und trinkt gemeinsam mit der Familie einen duftenden Kräutertee. Inzwischen ist es kurz vor 22 Uhr. Der Small Talk fällt Simone zunehmend schwer, denn der Tag ist anstrengend und aufregend gewesen.

»Wie geht es deiner Schwester?«, fragt Elisabeth sichtlich müde. Simone weiß, dass sie lieber zu Bett gehen würde, als noch zu plaudern. Aber Peter und Luise sind hellwach und genießen den abendlichen Trunk.

»Gut, denke ich«, erwidert Simone.

»Hat sie wieder mal einen interessanten Fall gehabt?«

»Keine Ahnung. Sie spricht mit mir nicht über ihre Arbeit.«

Simones Schwester, Melanie Urban ist Schriftsachverständige. Sie hat ab und zu mit Kriminalfällen zu tun. Auch Simone hat mehrmals die Hilfe ihrer älteren Schwester gebraucht. Melanie ist verheiratet mit Martin Urban, hat zwei Söhne, Moritz und Lorenz. Lorenz wird heuer maturieren. Er besucht die HTL in Mödling, in der Nähe von Wien. Moritz, sein jüngerer Bruder, geht in das Klemens-Maria-Hofbauer-Gymnasium in Katzelsdorf, nicht weit von seinem Zuhause entfernt.

»Wie geht es deinen Eltern, Simone. Alles okay?«, erkundigt sich Peter.

»Ja, sicher. Sie freuen sich schon sehr auf meine Hochzeit. Es gibt viel vorzubereiten.«

»Weißt du schon eine Destination?«

»Deshalb war ich ja in Pottendorf«, erwidert Simone. »Das Wasserschloss dort ist traumhaft schön, es ist verfallen bis auf die Türme. Es hat einen eigenen Reiz und bietet eine wahrlich tolle Kulisse.« Simones Augen leuchten.

»Du möchtest in einem verfallenen Schloss heiraten?«, fragt Peter wenig überrascht. »Das passt ja irgendwie zu dir. Was sagt Markus dazu?«

»Das Schloss hat eine intakte Kapelle«, fühlt sich Simone gemüßigt zu sagen. »Markus weiß noch nichts davon, ich wollte mir mal nur den Park ansehen.«

»Es hat sich für Simone ohnehin erübrigt«, stellt Luise fest.

»So?«

»Ein Finger, eine Leiche und Simone?«

»Passt doch gut zusammen«, bemerkt Peter heiter.

Elisabeth schüttelt den Kopf.

»Entschuldige Simone, aber du musst zugeben …«

»Schatz, hör damit auf. Ich verstehe Simone. Wieso möchtest du nicht in Wiener Neustadt heiraten?«

Simone zuckt mit den Schultern. »Nein, in Wiener Neustadt möchte ich nicht heiraten. Wenn dann außerhalb.«

»Es gibt gewiss viele schöne Orte dafür«, sinniert Elisabeth gähnend. »Burgen, Schlösser, Parks, Dorfkirchen.«

»Und lost places«, grinst Luise.

Als Simone endlich aufbricht, um nachhause zu fahren, schleicht sich Luise zu ihr hinaus. »Morgen schon was vor?«

»Nein, nicht dass ich wüsste«, erwidert Simone.

»Lust mit mir noch mal in den Park zu gehen? Mit Cody und Rala?«

»Du meinst doch nicht etwa nach Pottendorf?«

»Ja, klar! Wohin denn sonst?« Luise lächelt Simone breit an.

»Du spinnst ja!«, ruft Simone. »Keine zehn Pferde bringen mich dorthin zurück.«

»Unsinn. Du willst es doch auch wissen.«

»Was denn?«

»Na, wem der Finger gehört.«

»Nein.«

»Simone, sei nicht so eine Langweilerin!«

»Du hast deinen Eltern versprochen, nichts zu unternehmen.«

»Habe ich das?«

»Es ist Sache der Polizei.«

»Aber ja, sicher doch. Aber bis die eine Hundestaffel losschicken, haben wir bereits alles erledigt.«

»Du spinnst wirklich«, ärgert sich Simone. Es ist die falsche Entscheidung gewesen, den Finger herzubringen. Jawohl.

»Ich hole dich morgen um sieben Uhr von zuhause ab.«

»Morgens?«

»Klar.«

»Aber es ist Sonntag.«

»Was ist mit Markus?«, fragt Luise.

»Der hat Dienst. Er kommt erst am Vormittag nachhause und geht dann schlafen.«

»Sehr gut. Morgen, um sieben Uhr. Alles klar?«

Luise kehrt ins Haus zurück, ohne ihre Antwort abzuwarten.

Hyeonas Wohnung Pottendorfgleiche Zeit

»Du bist heute spät«, meint Jae–Sung zu seiner Freundin, als diese gegen 23 Uhr heimkommt.

»Ich war noch bei einer Vernissage einer Freundin, habe ich es dir nicht gesagt?«

»Ach ja, ich erinnere mich.« Jae weicht dem Blick seiner Freundin aus.

»Was ist los?«, fragt Hyeona ihren Freund. »Da stimmt doch was nicht.« Sie sieht sich um. »Wo ist Yumi?«

»Der Katze geht es gut.«

Jae-Sung wendet sich ab, geht wortlos in die Küche.

»He, was hast du? Weich mir nicht aus!«

»Setze dich erstmal hin«, fordert ihr Freund sie auf. Was soll er ihr sagen? Schweißperlen stehen auf seiner Stirn.

»Großmutter!«, keucht Hyeona entsetzt. »Wo ist sie?« Ihre Stimme ist laut und zittrig.

»Sie ist spazieren gegangen«, flüstert Jae. »Es tut mir so leid. Ich war einkaufen und habe vergessen, dass ich Misook hätte begleiten sollen.«

»Vergessen?« Hyeona ist wütend.

»Sie ist ohne mich weg«, erklärt der junge Koreaner. Er versucht, ruhig zu klingen.

»Hast du die Wohnung nicht abgesperrt?«

»Wahrscheinlich habe ich darauf vergessen«, stottert er.

»Oh mein Gott. Wie lange ist es schon her?« Hyeona ist außer sich.

»Einige Stunden. Es war später Nachmittag. Ich habe nach ihr gesucht, Hyeona.« Er wendet sich wieder von seiner Freundin ab, wischt sich über die Stirn.

»Wo?«

»Im Park, ihre Lieblingsrunde.«

»Großmutter ist vergesslich«, schnaubt Hyeona. »Sie würde nicht mehr zurückfinden. Auch nicht mehr ihre Runde gehen können.«

»Es tut mir so leid!«

»Was sollen wir nur machen? Wie konntest du nur so dumm sein?« Hyeona wischt sich die Tränen von den Wangen.

»Hyeona, Ich kann meinen Fehler nicht mehr rückgängig machen. Wir müssen zur Polizei.« Ja, unbedingt. Oder?

Plötzlich hat Hyeona eine Idee. »Welche Jacke hat Großmutter angezogen?«

»Keine Ahnung. Wieso möchtest du das wissen?« Jae ist verwirrt.

»In der gemusterten Winterjacke hat sie in der Tasche ein Airtracking, verstehst du?«

»Oh, du könntest Misook orten?« Jae weiß nicht, was er tun soll. Er versucht, das Zittern zu unterdrücken und cool zu bleiben. Hoffentlich merkt ihm Hyeona nichts an.

»Ja, habe ich ihr untergejubelt. Zur Sicherheit«, ruft Hyeona aus dem Zimmer der Großmutter. »Mist«, ertönt es wenig später. »Sie hat die schwarze Jacke angezogen.«

Hyeona setzt sich an den Küchentisch und starrt auf ihre Hände. Jae bringt ihr ein Glas mit Wasser, bleibt stumm und hilflos mit seinen Gedanken.

»Jae, glaubst du, dass …« Sie hält inne.

»Was denn?«

»Dass sie Großmutter entdeckt und entführt haben?«

»Wie bitte, das denkst du?«

Hyeona nickt. »Es hat uns niemand angerufen, obwohl Großmutter im Ort bekannt ist und die Nachbarn wissen, dass sie vergesslich ist.«

»Du meinst doch nicht die Geschichte von damals. Es ist über zwei Jahre her, dass du sie nach Österreich geholt hast«, überlegt Jae.

»Das alles hätte nicht passieren dürfen, Jae.«

»Wieso glaubst du, dass diese Leute sie gefunden haben?«

Hyeona steht auf und geht zum Fenster. »Weißt du, seit Tagen habe ich das Gefühl, mir folgt jemand.« Hyeona wendet sich um, sieht Jae in die Augen.

»Wie bitte? Aber das ist doch unmöglich! Wir sind in Österreich nicht in Südkorea!«

»Ich weiß auch nicht«, seufzt Hyeona. »Jae, ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Großmutter ist verschwunden und …« Sie bricht in Tränen aus. Jae-Sung nimmt seine Freundin in die Arme und versucht sie zu trösten. Doch in seinem Innersten ist Kälte, eisige Kälte gemischt mit Panik und Wut.

»Wir müssen nach ihr suchen!« Hyeona löst sich aus der Umarmung und verlässt ohne ein weiteres Wort die Küche. »Was? Jetzt?«, ruft Jae ihr entsetzt nach. »Wäre es nicht besser, die Polizei zu informieren?«

»Wir suchen sie jetzt!« Hyeona schlüpft in Jacke und Schuhe. »Komm schon, wir haben keine Zeit!« Jae folgt ihr. Doch die Suche verläuft ergebnislos. Misook bleibt verschwunden. Hyeona gibt auf. Vielleicht wurde ihre Großmutter ja inzwischen gefunden und in ein Heim gebracht oder zur Polizei. Kaum zuhause angekommen, ruft sie die zuständigen Behörden an, wird aber auf den nächsten Tag vertröstet. Hyeona ist verzweifelt, macht kein Auge zu, denkt nach.

Zeitig am Morgen geht sie wieder durch den Park, diesmal ohne Jae, denn er hat einen Termin.

Schlosspark Pottendorf früher Sonntagmorgennächster Tag

»Sag nicht, du bist noch müde«, meint Luise zu ihrer Freundin. »Du könntest ruhig etwas schneller gehen. Wir haben nicht viel Zeit.«

»Wieso, ist der Park noch nicht für Spaziergänger gesperrt?«, wundert sich Simone gähnend.

»Weil die Polizei noch nicht da ist.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher. Es gibt einen Parkplatz, der näher beim Schloss ist, glaube ich. Der Haupteingang in den Park.«

»Das sagst du mir jetzt?«, ärgert sich Luise. Cody zieht ruckartig an der Leine. Rala läuft im Trippelschritt hinter Simone her.

Es ist ruhig im Park. Nur Vogelgezwitscher, keine Menschenseele. Die beiden jungen Frauen gehen kreuz und quer den Hunden nach. Ohne System. Was nicht wirklich schlau ist, denn bald darauf haben sie sich verirrt.

»Wo sind wir eigentlich, Simone?«, fragt Luise nachdenklich. Sie dreht sich einmal im Kreis. Sie stehen mitten in einem Laubwald. Bis jetzt haben sie nichts gefunden, die Hunde haben die beiden in die Irre geführt. Sie sind den Spuren von allerlei Tieren gefolgt.

»Wie soll ich das wissen«, stöhnt Simone. Über eine halbe Stunde sind sie herumspaziert, ohne etwas zu erreichen.

»Du warst schon mal da. Ich kenne diesen Park nicht, nicht einmal die Gemeinde Pottendorf. Verstehst du?«

»Ich war einmal hier und bin auf den Hauptwegen geblieben. Ich wusste ja gar nicht, wie groß dieser Park eigentlich ist.«

»Na super!«

»Wir gehen einfach an diesem Bach hier entlang. Dann werden wir schon zur Parkmauer kommen.«

»Ist er überall von einer Mauer umgeben?«

»Ich denke schon.«

»Was weißt du eigentlich, Simone?«

Simone erwidert nichts. Sie zieht Rala weiter und folgt dem Bachlauf.

»Na schön, ich gehe aber jetzt dort lang.« Luise eilt mit Cody in eine andere Richtung. Sie ist stur und möchte sich nicht eingestehen, dass sie keine Ahnung hat, wie sie wieder zum Auto gelangt.

Simone schlendert alleine mit Rala weiter. Sie ist froh, dass sich Luise von ihr getrennt hat und anders geht. In der Früh mit einer Freundin spazieren zu gehen, die voll Tatendrang ist, ist anstrengend und lästig. Simone hat es jetzt nicht mehr eilig. Sie genießt die Natur, bleibt hie und da stehen, sieht sich um, bummelt weiter. Schön ist es hier, so zeitig am Morgen. Plötzlich hält sie inne, reibt sich die Augen. Wieso sitzt dort vorne auf der Bank eine Frau, einsam und regungslos? Simone sieht auf die Uhr. Es ist kurz vor acht Uhr dreißig morgens. Sie betrachtet die Gestalt aus der Ferne. Oh mein Gott! Ist es etwa jene Person, der ein Finger fehlt? Sie schleicht sich mit Rala näher. Die Frau auf der Bank ist jung. Aber was ist, wenn sich Peter geirrt hat? Unmöglich! Simone nähert sich auf leisen Sohlen, betrachtet die Hände der Person.

Es ist mucksmäuschenstill im Wald. Die Vögel scheinen ihren Gesang unterbrochen zu haben – oder empfindet es nur Simone so. Alle Finger da. Gut, endlich kann sie durchatmen. Aber wieso regt sich diese junge Frau gar nicht, schläft sie oder ist sie etwa tot? Simone läuft ein Schauder über den Rücken. Rala jedoch wird die ganze Sache zu dumm, sie beginnt nach einem möglichst tiefen Knurren laut und gellend zu bellen.

Die Frau ist sofort wach und starrt entsetzt auf Rala, danach auf Simone. Sie hat braune schmale Augen, schwarze glänzende lange Haare, ihre Haut ist dunkler als Simones, was aber nicht schwierig ist, denn Simone hat karottenrote Haare und dementsprechend einen blassen Teint mit Sommersprossen.

»Entschuldigung«, stammelt Simone, als Rala endlich zu bellen aufhört. »Ich wollte Sie nicht stören.«

»Oh, ich bin wohl eingeschlafen«, sagt die junge Frau verlegen.

»Ach so«, erwidert Simone und möchte weitergehen.

»Warten Sie bitte. Haben Sie vielleicht eine ältere Dame gesehen?«, fragt die junge Asiatin in tadellosem Deutsch.

»Nein«, erwidert Simone, während ihr ein eiskalter Schauder über den Rücken läuft. Alte Frau?

»Ich suche meine Großmutter. Sie ist seit gestern Nachmittag abgängig.« Sie wischt sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. »Sie heißt Kim Misook.«

Simone sieht sie verständnislos an. Was für ein Name. »Ich bin Yun Hyeona und komme aus Seoul, Südkorea. Ich habe meine Großmutter vor zwei Jahren hergeholt und sie ist meine Familie. Verstehen Sie?« Ihre Stimme wird lauter.

Simone nickt. »Ich habe sie nicht gesehen. Es tut mir leid.« Rala knurrt.

»Wie heißen Sie?« Hyeona sieht Simone auffordernd an.

»Simone Jaan«, antwortet diese automatisch, ohne viel nachzudenken.

»Ich gebe Ihnen rasch meine Handynummer, falls Sie meine Großmutter sehen sollten.«

»Ich weiß aber nicht, wie sie aussieht.«

»Oh, Entschuldigung.« Hyeona zeigt Simone ein Foto.

Eine alte Dame, asiatischer Herkunft, lächelt freundlich in die Kamera. Simone starrt auf die Hände der Frau und entdeckt einen Ring auf ihrem Ringfinger. »Sie trägt einen Ring«, stottert Simone entsetzt.

»Ja, natürlich. Wieso?« Hyeona ist verwirrt.

Was soll Simone jetzt nur machen? Eine abgängige Frau mit einem Ring! Was ist, wenn der Ring wertvoll ist und man dafür einen Mord begehen würde?

»Was haben Sie, Simone?«, fragt Hyeona unangenehm berührt. »Sie wissen doch etwas!«

Simone wagt es nicht, ihre Gesprächspartnerin anzusehen. Sie möchte weggehen, die junge Koreanerin unwissend zurücklassen. Die Polizei wird ihr ohnehin bald alles erklären. Aber nicht sie. Nicht Simone!

»Sagen Sie es mir!«, schreit Hyeona plötzlich. »Ich möchte es wissen!« Sie packt Simone am Handgelenk. »Es geht um meine Großmutter! Reden Sie endlich!«

Simone presst die Lippen aufeinander, schüttelt den Kopf, schaut zu Hyeona, sieht die Tränen, die ihr über die Wangen laufen, die Verzweiflung.

»Bitte!«, fleht die junge Koreanerin. Sie lässt Simone los, setzt sich auf die Bank und verbirgt ihr Gesicht in den Händen.

»Rala, meine Hündin, hat gestern einen Finger gefunden. Einen Ringfinger.«

»Wie bitte?«

»Mehr weiß ich nicht.« Simone schüttelt den Kopf.

»Wo ist der Finger?«

»In der Gerichtsmedizin.«

»Haben Sie die Polizei informiert?«

Simone nickt. »Sie wird bald hier sein.«

Hyeona springt auf. »Wo ist sie? Wo sind die Beamten?«

»Wahrscheinlich beim Schloss«, wispert Simone. »Rala hat dort auf einer Lichtung den Finger gefunden.« Hyeona wirft Simones Hündchen einen angewiderten Blick zu. Danach wendet sie sich wort- und grußlos ab und sprintet davon. Simone sieht der Frau nach. Sie sollte wirklich aus dem Park raus, um nicht in Schwierigkeiten zu geraten! Aber wo ist Luise?