Rachsüchtig - Katharina Durrani - E-Book

Rachsüchtig E-Book

Katharina Durrani

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Beschreibung

In der weltberühmten Klosterbibliothek des Stiftes Admont in der Steiermark wird ein Mann ermordet aufgefunden. Was hat eine antike Marienstatue aus der Sammlung Mayer mit dem Mord zu tun? Die Wiener Neustädter Hobbydetektivin Simone Jaan stolpert zufällig über den Toten und somit in ihren dritten spannenden Kriminalfall.

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Seitenzahl: 309

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Über die Autorin:

Katharina Durrani, geboren 1971, absolvierte nach der Matura die Buchhandelslehre, danach den Lehrgang Grafikdesign an der Wiener Kunstschule.

Seit ihrer Jugend schreibt sie leidenschaftlich gerne, verfasst Gedichte und Geschichten. Sie liebt es, ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen, neue virtuelle Welten zu erschaffen. Auch in ihrer Kunst – sie malt in verschiedenen Techniken – wird das Fantastische hervorgehoben, spielen die kräftigen Farben eine große Rolle.

Katharina Durrani ist glücklich verheiratet und lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in Niederösterreich.

Von Katharina Durrani sind im medimont verlag bereits erschienen:

Der Corvinusbecher (Thriller)

Kalt blütig (Thriller)

Experiri: Sathorja (Fantasy-Roman)

Experiri: Der Schattentöter (Fantasy-Thriller)

Katharina Durrani

rachsüchtig

Kriminalroman

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Originalausgabe, 1. Auflage

©2021 by medimont verlag gmbh, 81377 München, Waldgartenstr. 26

Umschlaggestaltung: Amalie von Spreti, München

Umschlagabbildung: Anna-Bernadette Durrani

Lektorat und Redaktion: Dr. Wolfgang K. Ernst

Gesetzt in Adobe InDesign im Verlag

Druck und Bindung: ScandinavianBook, DK-6300 Gravenstein

Printed in the EU

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise - nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

eISBN: 978-3-911172-58-5

Sie finden uns im Internet unter: www.medimont.de

Bestell-Nr.: 35008

Für Christian

Inhalt

Über die Autorin

Städtischer Friedhof, Wiener Neustadt, Anfang April

Einfamilienhaus Familie Urban, Katzelsdorf, nächster Tag, abends

Städtischer Friedhof, Wiener Neustadt, Nächster Tag, 8 Uhr

Admont, Steiermark, Ende April

Admont, nächster Tag

Eine Pension, Admont, Steiermark, nächster Tag

Haus von Familie Urban, Katzelsdorf, zwei Tage später

Wohnung von Simone und Markus, Wiener Neustadt, Abend des gleichen Tages

Bad Sauerbrunn, Einfamilienhaus Familie Winkler, einige Tage später, früh morgens

Haus der Familie Urban, Katzelsdorf

Baden bei Wien, Helenentalstraße, Villa Familie Huteis

Zentralfriedhof Wien, Samstag Nachmittag

Einfamilienhaus Familie Winkler, abends

Stift Admont, gleicher Tag

Irgendwo in Bad Sauerbrunn, nächster Tag

Einfamilienhaus Familie Urban, Katzelsdorf, zwei Tage später

Einfamilienhaus Familie Winkler, Bad Sauerbrunn, später Nachmittag, des nächsten Tages

Wienerwald, Nähe Purkersdorf, Niederösterreich, Vormittag des nächsten Tages

Villa des Ehepaars Huteis, Baden bei Wien, gleiche Zeit

Wohnung von Franz Urban, Wiener Neustadt

Hauptplatz Wiener Neustadt, Mariensäule, einen Tag darauf, später Nachmittag

Einfamilienhaus Familie Winkler, Bad Sauerbrunn, später

Wohnung von Simone, Wiener Neustadt, abends

Stift Admont, Samstag Nachmittag

Einfamilienhaus, Bad Fischau-Brunn

Wohnung von Simone Jaan, Wiener Neustadt

Fabians Wohnung, Wiener Neustadt, einige Tage später

Liebfrauendom, Wiener Neustadt, nächster Tag, spät abends

Simones Wohnung, Wiener Neustadt, gleicher Tag

Einfamilienhaus Familie Winkler, Bad Sauerbrunn, gleicher Abend

Einfamilienhaus Familie Urban, Katzelsdorf, zwei Tage später

Wiener Neustadt, zwei Tage später

Schaukraftwerk Ungarfeld, Wiener Neustadt

Stadtpolizeikommando Wiener Neustadt, Burgplatz, Stunden später

Labor, Wien

Einfamilienhaus Familie Winkler, Bad Sauerbrunn, einige Stunden später

Stadtpolizeikommando Wiener Neustadt, Burgplatz, Abend des nächsten Tages

Einfamilienhaus Familie Winkler, Bad Sauerbrunn, Tage später

Wohnung Franz Urban, Wiener Neustadt

Villa von Familie Huteis, Baden bei Wien, einen Tag später

Baden bei Wien, Innenstadt, zwei Tage später

Irgendwo in Bad Sauerbrunn, Burgenland

Burg Seebenstein, Bucklige Welt, Niederösterreich, einige Tage später

Einfamilienhaus Familie Winkler, Bad Sauerbrunn

Einfamilienhaus Familie Urban, Katzelsdorf

Aussichtsturm, Waldgebiet bei Bad Sauerbrunn, nächster Tag,

Polizeianhaltezentrum, Wiener Neustadt, nächster Tag

Einfamilienhaus von Familie Urban, Katzelsdorf, zwei Tage später

Bromberg, Bucklige Welt, Niederösterreich

Justizvollzugsanstalt, einige Stunden zuvor

Simones Wohnung, Wiener Neustadt, gleicher Tag, abends

Herwigs Waldhäuschen, irgendwo im Wald bei Bromberg, Niederösterreich

Stadtpolizeikommando, Wiener Neustadt

Krankenhaus, Wiener Neustadt

Stadtpolizeikommando, Wiener Neustadt, nächster Tag

Irgendwo im Wald, Bucklige Welt, Niederösterreich, einen Tag zuvor

Krankenhaus, Wiener Neustadt, zwei Tage später

Ich bedanke mich bei …

Städtischer Friedhof Wiener NeustadtAnfang April

Allmählich legt sich Dunkelheit über den Friedhof. Die alten Bäume gleichen finsteren, bedrohlichen Gestalten. Der alte gebückte Mann umklammert den Gehstock fester. Rasch geht er weiter. Der Kies knirscht unter seinen Schuhen. Einzelne Schneeflocken tanzen vom wolkenverhangenen Himmel.

Die Gräberfelder scheinen unendlich. Welche Reihe? Wo ist die Grabstätte? Er hält inne, versucht, sich zu erinnern. Verdammt! Er hat keine Zeit. Er lauscht, aber alles bleibt still. Trotzdem ist er etwas nervös. Ist ihm jemand gefolgt? Er umklammert seinen Stock fester und geht einen schmalen Kiespfad entlang. Da muss es irgendwo sein!

Plötzlich bleibt er stehen und sieht auf eine hohe symmetrische Tanne, die sich hinter einem schönen gepflegten Grab gen Himmel reckt. »Urban« ist in goldenen Lettern in den Grabstein gemeißelt. Ja, da ist er richtig. Er atmet durch. Hier hat er es versteckt, ganz vorne beim Grabstein, wo niemand jemals die Erde aufgräbt. Unter einem naturbelassenen flachen Stein. Seit Jahren liegt sein Schatz hier vergraben. Er holt tief Luft, bückt sich ächzend, kramt eine kleine Schaufel aus seiner Umhängetasche und fängt kraftvoll und verbissen an zu graben.

Simone Jaan ist eine junge Frau Ende zwanzig, von zierlicher Gestalt, hat karottenrote Haare und Sommersprossen mit blassem Teint. Wenn man ihre Neugierde und Naivität bemerkt, ihre Fröhlichkeit, ihr offenes Wesen und die Unbeschwertheit, sollte man meinen, sie ist um zehn Jahre jünger. Simone hat schon oft ihren Ausweis zeigen müssen, weil ihr niemand ihre Volljährigkeit geglaubt hat.

Die junge Frau ist stets von Neugierde getrieben und steckt mit Vorliebe ihre Nase in fremde Angelegenheiten. Begonnen hat alles vor fast zwei Jahren mit dem Verschwinden des Wahrzeichens ihrer Heimatstadt Wiener Neustadt, dem Corvinusbecher. Ein kostbarer Prunkbecher, der sich mittlerweile wieder im Stadtmuseum befindet. Gott sei Dank, oder besser: Simone sei Dank. Sie hat damals einiges zum Auffinden des Bechers beigetragen. Oder die Sache mit dem Gemälde von Egon Schiele und dem Mord an einer jungen Frau? Ja, Simone hat bereits einiges erlebt und ein Gespür entwickelt, genauso wie eine unbändige Neugier, die jedoch ihr Freund Markus Heindl versucht, etwas auszubremsen.

Ihre ältere Schwester Melanie schätzt Simones Eigenschaft gar nicht. Schon mehrmals hat sich Simone in Unannehmlichkeiten, auch in Lebensgefahr begeben und ihre ganze Familie mit hineingezogen. Ihrer Meinung nach ist Simone unglaublich leichtsinnig im Gegensatz zu ihr selbst. Melanie ist Mutter von zwei halbwüchsigen Buben, Moritz und Lorenz, Ehefrau von Martin Urban und Schriftsachverständige. Sie hat viel Verantwortung und stets eine Menge zu tun. Ja, unterschiedlicher könnten die beiden Schwestern nicht sein. Melanie ist groß, etwas korpulent, hat brünette, kinnlange Haare und steht, im Gegensatz zu ihrer Schwester, voll im Leben. Denn Simone träumt gerne vor sich hin, ergeht sich sogar ab und zu in Fantasiegeschichten. Das ist eigentlich kein Wunder, denn Simone arbeitet in einer Buchhandlung und liest gezwungenermaßen viel. In ihrem Fall Jugendliteratur. Wann Simone endlich erwachsen wird? Vielleicht hilft ja die Verlobung mit Markus etwas? Markus Heindl hat Simone im letzten Frühjahr die Frage aller Fragen gestellt und sie hat eingewilligt. Wann sie heiraten, wissen die beiden nicht so recht, denn leider ist das hochansteckende Coronavirus dazwischen gekommen.

Seit dem Beginn der weltweiten Pandemie hangelt sich die Welt von einem Lockdown zum nächsten. Traurig aber wahr. Geschäfte und Schulen geschlossen, Gastronomie und Hotellerie ebenso. Über die Menschen ist eine schwierige Zeit hereingebrochen, aber alles geht vorbei. Irgendwann. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Simone nützt ihre freie Zeit mit Malen, ausgedehnten Spaziergängen, Kochen und Handarbeiten. Sie entdeckt tatsächlich neue Facetten an sich und das überrascht sie selbst.

Markus hingegen arbeitet im Krankenhaus und hat kaum Zeit. Umso mehr freut sich Simone auf ein paar freie Tage, ein Wochenende mit Markus. Sie fahren in die schöne Steiermark, denn dort ist die Coronasituation besser als in Niederösterreich und alles ist geöffnet. Tatsächlich. Aber das momentane Wetter lässt Simone kaum auf ein paar sonnige frühlingshafte Tage in Admont hoffen …

Ob es eine gute Idee ist, den Friedhof zu überqueren? Mit Sicherheit nicht. Simone bleibt unschlüssig stehen und wirft einen kurzen Blick auf ihre kleine schwarze Hündin zu ihren Füßen. Rala erwidert ihren Blick mit Schwanzwedeln. Danach sieht Simone wieder auf. Das Tor zum städtischen Friedhof steht offen, so wie immer um diese Zeit. Soll sie die Abkürzung nehmen? Simone schaut auf die Uhr. Es ist kurz nach 19 Uhr 30. Die Sonne ist im Untergehen. Simone sieht kurz in den schiefergrauen Himmel. Es fängt leicht zu Schneien an. Dieses Wetter ist für die Jahreszeit vollkommen normal. Ja der April, der macht was er will! Wie immer! Simone seufzt. Ein mulmiges Gefühl beschleicht sie. Keine Ahnung wieso. Sie hebt ihre Bolonkahündin Rala hoch und schleicht durch das schmiedeeiserne Tor des Städtischen Friedhofs. Die Leuchtreklame vom Burger King erhebt sich strahlend links von ihr. Wenn sie ihren Hund nicht dabei hätte, würde sie sich wahrscheinlich eine Packung Cheese Nuggets holen. Ein letzter sehnsüchtiger Blick auf die Leuchtreklame. Ihr Magen knurrt. Simone schüttelt den Kopf. Ungesundes Zeug, macht nur dick!

Eine zwei Meter hohe Steinmauer, teils von Efeu überwuchert, gibt dem Friedhof seinen typischen Charakter. Grabsteine, Alleen, hohe einzelne Nadelbäume und Stille. Jeder von Simones Schritten knirscht laut, sodass sie versucht ist, auf Zehenspitzen zu gehen. Hie und da kann sie ein Auto in der Ferne hören, aber es ist Sonntag und nicht viel auf den Straßen los. Niemand möchte bei diesem Sauwetter spazierenfahren oder gehen.

Simone kennt sich auf dem Städtischen Friedhof aus. Sie wendet sich dem breiten Kiesweg zu und folgt ihm bis zur Kapelle.

Der Schneefall wird dichter, die Flocken tanzen vom mittlerweile dunklen Himmel. Mancherorts brennt eine Kerze auf einem Grab und gibt dem Friedhof etwas Mystisches. Zum Glück ist es nicht winterlich kalt, obwohl der lange Spaziergang durch die Stadt in Simone eine Sehnsucht nach Wärme und Frühling entfacht hat. Schnee? Wer braucht ihn schon knapp vor Ostern? Zu Weihnachten passt er ja, aber nein, er kam immer zu spät …

Simone erreicht nach wenigen Minuten die Kapelle. Gut, jetzt muss sie sich nach links wenden, wenn sie zu dem Tor in der Nähe der Pottendorfer Straße kommen will. Simone sieht sich um. Keine Menschenseele treibt sich um diese Uhrzeit und bei diesem Wetter auf dem Friedhof herum. Vorsichtig setzt die junge Frau ihre zappelnde zottelige Hündin auf den Kiesweg und streicht sich mit einer Handbewegung die karottenroten Haare aus dem Gesicht. Die Kapuze ihrer Jacke verrutscht und sie zieht sie wieder hoch. Rala knurrt just in dem Moment, als Simone ein seltsames Geräusch hört. War es ein tiefes Seufzen? Eine Katze, eine Krähe? Simone läuft Gänsehaut auf. »Was war das?«, flüstert Simone ihrer kleinen Hündin zu. Ist sie nicht alleine hier? Sie sieht sich in der Dunkelheit um. Wo ist das Geseufze hergekommen? Von vorne, von rechts? Simone lauscht in die Stille hinein. Vielleicht braucht ja jemand Hilfe. Rala zerrt an der Leine. Simone folgt ihr, ohne viel nachzudenken. Sie überqueren schmale Wege, steigen über Gräber hinweg, zwängen sich zwischen Bäumen hindurch bis zu einer hohen Tanne. Moment. Simone kennt diesen Platz. Das Grab dort vorne ist das von Melanies Schwiegermutter, Christine Urban. Die Mutter ihres Schwagers Martin wurde vor einigen Jahren hier beerdigt. Martin erzählt manchmal von seiner Kindheit, von Christine. Aber wenn seine Gedanken seinen Vater Franz Urban streifen, dann versteinert seine Miene und er verstummt. Simone weiß, dass er manchmal auf den Friedhof zum Grab seiner Mutter geht und Blumen bringt. Melanie begleitet ihn. Auch Lorenz und Moritz. Die Grabpflege macht Melanie, sie tut das gerne für ihren Mann. Ein paar Mal ist Simone ihrer Schwester zur Hand gegangen, deshalb kennt sie dieses Grab gut.

Aber irgendetwas stimmt da nicht. Simone presst die Lippen aufeinander und hält die Luft an, als sie einen dunklen Schatten zu erkennen glaubt. Kniet jemand auf dem Grab? Simone holt ihr Handy hervor und betätigt mutig die TaschenlampenApp. Niemand darf sich an fremden Gräbern zu schaffen machen und Martin wird es ja wohl nicht sein. Simone leuchtet zu dem Grab. Rala knurrt ihr tiefstes Knurren, dann beginnt sie wie verrückt zu bellen.

Ein alter Mann sieht erschrocken hoch. Er hält sich die Hand vor die Augen, denn der Lichtstrahl des Smartphones blendet ihn.

»Was machen Sie hier?«, fragt Simone geradewegs heraus.

»Verschwinden Sie und schalten Sie gefälligst das Licht aus, sonst …« Der alte Mann sieht sich um. »Machen Sie schon, was ich sage. Rasch!« Er packt einen glänzenden schweren Gegenstand in eine Umhängetasche.

Simone ist verwirrt. Sie versucht, sich zusammenzureimen, was es war, aber sie hat es nur einen flüchtigen Augenblick gesehen. Woher kommt dieses Artefakt? Doch nicht etwa aus dem Grab? Simone sieht einen Erdhaufen. Was um alles in der Welt macht der Alte da?

»Stopfen Sie ihrem Köter endlich das Maul«, keucht der Alte. Er nimmt seinen Gehstock und richtet sich auf. »Los jetzt, stehen Sie nicht dumm herum. Verschwinden Sie!« Er macht eine Handbewegung.

»Wieso?« Simone fühlt sich verunsichert. Der alte Mann hat eindeutig Angst.

»Keine Fragen«, flüstert der Mann, nachdem Rala endlich zu keifen aufgehört hat. »Tun Sie, was ich Ihnen sage, wenn Sie nicht hierbleiben wollen. Sehen Sie zu, dass sie von hier fortkommen!«

»Ich verstehe nicht«, stammelt Simone. Die Hündin in ihren Armen zittert. Der jungen Frau wird plötzlich eiskalt.

Der alte Mann dreht sich wortlos von Simone weg und stapft rasch davon. Simone leuchtet ihm nach. Seltsam, überlegt sie. Der Alte ist fein gekleidet, eher wie für eine Beerdigung, als für einen nächtlichen Diebeszug. Er verschwindet aus dem Lichtkegel. Simone schwenkt ihr Smartphone und leuchtet das Grab aus. Eine Schaufel liegt hinten auf der Steinkante. Simone legt sie gedankenverloren unter eine Tanne. Es ist wieder mucksmäuschenstill auf dem Friedhof. Der Schnee schluckt alle Geräusche. Sie wendet sich abermals der Grabstätte zu. Was hat der Fremde hier ausgegraben und warum? Eine Blumenzwiebel oder eine Pflanze war es jedenfalls nicht, sondern etwas Goldenes. Simone betrachtet den Erdhaufen, leuchtet ihn an. Ein Loch am Kopfende des Grabes. Das wird Martin nicht gefallen. Simone setzt ihren Hund ab und kniet sich am Grabstein nieder, fast so, als würde sie beten. Mit ihrem Handy leuchtet sie in das frische Loch. Nicht tiefer als einen halben Meter, trotzdem hat der Alte seine ganze Kraft aufwenden müssen, in der festen Erde zu graben.

Ein Geräusch durchbricht die abendliche Ruhe. Simone rappelt sich fröstelnd auf. Was war das jetzt? Ruhig bleiben! Sicher nur eine Eule! Simone atmet durch. Sie lauscht, aber es bleibt still. Die Frau hat keine Lust noch länger auf dem Friedhof zu bleiben. Nach einigen Umwegen findet sie endlich das Friedhofstor, das in die Stadt führt. Die Abkürzung, die im Grunde keine war, wie Simone enttäuscht feststellen muss …

Simone geht langsam nach Hause. Vor einigen Minuten hat sie Stimmen in der Ferne gehört, aber nichts verstanden. Nein, heute ist es ihr egal. Sie fühlt sich nur noch erfroren. Wie kann es im April nur so kalt sein? Gerne würde sie sich von ihrem Verlobten Markus abholen lassen, aber die TaschenlampenApp hat den Akku ihres Handys komplett verbraucht. Wann merkt sie sich endlich, ihr Smartphone stets vor dem Weggehen aufzuladen? Simone seufzt. Die Gassen und Straßen sind menschenleer, der Schneefall dicht und nass. Ihre Sneakers sind durch und durch feucht und machen bei jedem Schritt ein schmatzendes Geräusch. Auch ihre Winterjacke ist nass. Ihre Hündin sieht mittlerweile aus wie eine Ratte. Das schwarze Fell klebt an ihr. Eine Viertelstunde später erreicht Simone ihre Wohnung.

»Wie siehst du denn aus, Liebling?«, fragt Markus Simone, als diese endlich die Eingangstüre aufsperrt.

»Es schneit«, erwidert Simone. »Übernimmst du bitte Rala?«

»Klar. Föhnen oder?«

»Bitte.«

Markus holt ein Handtuch und hebt die zitternde Hündin hoch. »Schon gut«, flüstert er ihr zu, während er ihr das Fell abtrocknet. »Eines interessiert mich jetzt aber schon«, meint er zu Simone. »Wo warst du und wieso hast du dein Handy ausgeschaltet?«

»Ich war spazieren, Markus.« Simone entledigt sich der Jacke, der Schuhe, der Hose, der Socken und verschwindet ins Bad.

Markus folgt ihr, denn er benötigt für die Zottelhündin auf seinem Arm den Föhn. »Wo denn?«

»Was meinst du?«, fragt Simone verwirrt. Sie hat sich komplett ausgezogen und lässt sich die Badewanne ein.

»Na, wo du warst«, Markus setzt sich auf einen Hocker und föhnt Rala.

»Ich war auf dem Friedhof«, seufzt Simone.

»Wie bitte? Mit dem Hund?«

Simone prüft das Badewasser mit der Zehenspitze und zuckt zurück. Es ist viel zu heiß. Sie lässt etwas kaltes Wasser ein. Dann sieht sie Markus in die Augen. »Ich wollte meinen Spaziergang abkürzen, okay, und bin unerlaubterweise mit Rala über den Friedhof gegangen. Uns hat keiner gesehen.« Sie presst die Lippen aufeinander und wendet sich der Badewanne zu.

»Du warst aber lange weg.« Markus setzt Rala auf dem Badezimmerboden ab und legt den Föhn auf den Hocker. Danach wäscht er sich die Hände.

Simone zögert kurz, ob sie Markus die Geschichte erzählen soll. Egal, denkt sie und seufzt: »Ja, ich habe mich verspätet, weil ich einen alten Mann beim Grab von Martins Mutter gesehen habe.«

»Wie bitte?« Markus schaut sie ungläubig an.

Simone steigt in die Badewanne und schließt die Augen. Die Wärme kribbelt auf der Haut. Sie atmet durch und meint: »Er hat etwas ausgegraben und ist, als er mich gesehen hat, weggegangen.«

»Ein Grabräuber? Was du nicht sagst.« Markus setzt sich auf den Rand der Badewanne und hält seine Hand ins Wasser. »Verstehe nicht, wie du in diesem heißen Wasser baden kannst.«

»Ich liebe es.«

»Also, der Mann hat tatsächlich gegraben«, überlegt Markus. »Bist du ganz sicher?«

»Ja, ich habe die TaschenlampenApp eingeschaltet und ihn deutlich gesehen. Er hatte eine Schaufel dabei und eine Umhängetasche, in die er schnell etwas gestopft hat.«

»Einen Knochen«, murmelt Markus tonlos.

»Nein, du Dummkopf«, zischt Simone. »Ich konnte es nicht erkennen, aber es war schwer und glänzend. Wie Gold.«

»He, wieso glaubst du, dass es schwer war?« Markus streicht ihr über die Brüste.

»Na, weil er Schwierigkeiten hatte, die Tasche hochzuheben.«

»Ein Schatz im Grab der Urbans?« Markus Ton klingt spöttisch.

»Womöglich.«

Markus grinst Simone an. Die Sache klingt für ihn einfach zu komisch.

»Ziehe die Sache nicht ins Lächerliche«, seufzt Simone.

»Mache ich doch gar nicht. Meinst du, dass Martin da etwas versteckt hat? Oder seiner Mutter Grabbeigaben dazugegeben hat?« Markus lächelt vor sich hin.

»Nein, kann ich mir nicht vorstellen. Jetzt versuche doch einmal, die Sache etwas ernster zu nehmen.«, ärgert sich Simone. Als Markus versucht, Simone zwischen die Beine zu greifen, bekommt er einen Schwall Wasser ab. Rala bellt.

»Lass das«, faucht ihn Simone an.

»Ich höre ja schon auf damit. Aber du musst zugeben, es klingt wirklich seltsam, nein, verrückt.« Markus steht auf, trocknet sich ab und verlässt gemeinsam mit der Hündin das Badezimmer.

Simone schließt wieder die Augen und lässt ihren Gedanken rund um den alten Mann freien Lauf. Wer ist er? Wieso hat er im Grab der Urbans gegraben? Was lag dort versteckt? War er es gewesen, der geschrien hat oder doch nur ein Käuzchen? Lebt der Alte noch oder liegt er inzwischen tot auf dem Friedhof?

Morgen wird Simone zu ihrer Schwester fahren und mit ihrem Schwager sprechen. Martin muss davon erfahren, auch wenn sie sich etwas vor dem Gespräch mit ihm fürchtet. Martin ist auf sie nicht so gut zu sprechen, weil sie seine Familie schon mehrmals in haarsträubende Situationen gebracht hat. Die Entführung von Melanie und Moritz, zum Beispiel. Aber sie ist stets unschuldig an den Entwicklungen. Das ist aber Martin nicht klar. Für ihn ist sie die Verursacherin allen Unglücks.

Einfamilienhaus Familie Urban Katzelsdorfnächster Tag, abends

»Nicht schon wieder«, seufzt Martin, Simones Schwager, nachdem er sich Simones Geschichte angehört hat. Seine Frau Melanie und seine beiden Söhne Moritz und Lorenz haben sich um Simone im Wohnzimmer versammelt und hören ihr zu.

»Du bist dir wirklich sicher?«, möchte Melanie von ihrer Schwester wissen. »Urban gibt es ja viele, es hat geschneit und war finster.«

»Ich kenne Christines Grab«, erklärt Simone felsenfest. Sie sieht kurz zu Rumo, dem Welsh CorgiRüden. Er hat sich zu ihren Füßen gesetzt und wärmt sie mit seinem dichten Fell. Rala jedoch hat sich auf ihren Schoß gekuschelt, so wie sie es immer macht …

»Aber ich verstehe das nicht. Wer soll denn in Mutters Grab herumbuddeln?« Martin Urban verschränkt die Arme vor seinem Körper und wirft Simone einen langen ungläubigen Blick zu. »Da gibt es keine Schätze.«

»Außer Oma«, meint Moritz leise. »Vielleicht hat irgendjemand dort einmal etwas versteckt und Omas Grab ist markant, ich meine, leicht zu merken und auch wiederzufinden. Muss ja nichts mit Oma zu tun haben.«

»Da gibt es genügend andere Gräber. Das kann es nicht sein«, erklärt Lorenz, Moritz‘ älterer Bruder.

»Oder der Grabräuber hat sich getäuscht und das Grab verwechselt, als er etwas versteckt hat.«

»Nein, das glaube ich nicht«, mischt sich abermals Lorenz ein. »Simone hat sich einfach geirrt. Ist doch egal.«

»Nein, ganz so ist es nicht«, überlegt nun Martin. »Ich möchte eigentlich schon gerne wissen, warum sich jemand am Grab meiner Mutter zu schaffen gemacht hat. Wo hat er nochmals gegraben, Simone?«

»Ganz hinten beim Grabstein. Genau unter dem großen flachen Stein, neben dem links und rechts die Rosenstöcke stehen. Das Loch war keinen halben Meter tief.«

Martin kann sich einfach keinen Reim darauf machen.

»Hatte Oma Freunde, Bekannte?«, fragt Moritz. »Oder war es gar Opa?«

»Den hätte ich erkannt«, meint Simone.

»Ja, zu ihm würde so eine Aktion passen«, seufzt Martin. Franz Urban, sein ungeliebter Vater, der es geschafft hat, seine Frau, Martins Mutter Christine, durch seine anstrengende Art krank zu machen.

»Bist du dir sicher, Simone?« Melanie sieht zu ihrer Schwester. Sie ist müde und dieses Gespräch kostet ihr Zeit. Zeit, die sie anders nützen könnte. Oh, was hat sie doch alles zu tun! Den Haushalt, eine Expertise für das Gericht, ein Anruf bei ihren Eltern.

»Ja, bin ich. Ich habe dem alten Mann direkt ins Gesicht geleuchtet. Ich hätte Franz erkannt.«

»Aber wie oft hast du ihn denn gesehen?« Melanie wünscht sich, dass der mysteriöse Fremde einfach nur ihr Schwiegervater war und die Sache sich damit erledigt.

»Zuletzt vor einigen Monaten mit dir. Erinnerst du dich nicht? Wir waren mit Lorenz und Moritz bei ihm in der Wohnung und haben ihn besucht.«

»Ach ja, stimmt. Danke, dass du mit warst.« Melanie seufzt.

»Könntest du ihn beschreiben?«, möchte Martin von seiner Schwägerin wissen.

»Opa?«, fragt Moritz mit einem Grinsen im Gesicht.

Martin wirft seinem Sohn einen verärgerten Blick zu.

»Sehr witzig!«, faucht Lorenz seinen Bruder an und schüttelt den Kopf. Was für ein Baby!

»Simone?«, fragt Martin seine Schwägerin, »hast du dir den Fremden gemerkt?«

»Womöglich. Ich habe mir sein Gesicht, seine Gestalt eingeprägt. Er war wirklich ein stattlicher Herr. Gut angezogen, mit einem außergewöhnlichen Gehstock.«

»Nein, das kann nicht Opa gewesen sein«, seufzt Lorenz.

»Er hatte wohl das falsche Outfit für seine Grabarbeiten am Friedhof an«, überlegt Moritz ungerührt.

»Ja, das hat nicht wirklich gepasst.« Simone sieht in die Runde.

»Hatte deine Mutter Freunde?«, erkundigt sich nun Melanie bei Martin.

»Bekannte, Freunde, ja sicher. Aber wer sollte etwas in ihrem Grab verstecken, um es Jahre später wieder auszugraben?«

»Hm, wenn ihr mich fragt, ist so eine Idee als Versteck gar nicht so übel.« Lorenz grinst die anderen an. »Wer sucht schon dort. Niemand!«

»Und wenn wir das Grab neugestaltet hätten?« Melanie sieht zu ihrem Sohn. »Wir hätten den Schatz gefunden.«

»Er muss sich sicher gewesen sein, dass wir das nicht tun«, erwidert Martin.

»Oder er war einfach naiv«, erklärt Lorenz achselzuckend.

»Simone, vor wem hatte eigentlich der alte Mann Angst?«, fragt Moritz nach einer kurzen Stille.

»Ich weiß es nicht. Ich habe niemanden am Friedhof gesehen. Wir waren alleine.« Simone hält kurz inne, denkt an den schaurigen Ruf des Käuzchens. »Glaube ich jedenfalls.«

»Aber du hattest den Eindruck, der alte Mann wurde verfolgt?«

»Ja, schon. Aber vielleicht war er ja paranoid und ich habe ihn fast zu Tode erschreckt. Ich kann es wirklich nicht sagen.«

»Ich werde mir das ansehen«, bemerkt plötzlich Martin felsenfest. »Simone, du hast gesagt, dass du die Schaufel unter die Tanne gelegt hast?«

»Ja.« Simone nickt.

»Gut, wir treffen uns morgen in der Früh beim Haupttor des Friedhofs. Sagen wir um acht Uhr?«

»Musst du nicht arbeiten?«, erkundigt sich Melanie verwundert bei ihrem Mann.

»Dafür muss Zeit sein. Ich komme eben etwas später ins Büro. Das geht schon. Coronabedingt läuft doch ohnehin nichts wie sonst.«

»Ja, die Zeit passt für mich.«

»Ich komme mit«, erklärt Moritz. »Homeschooling.«

»Hast du morgen keinen OnlineUnterricht?«

»Nö.«

»Ich bleibe zuhause«, meint Lorenz rasch. »Ich bin doch nicht blöd und stehe früh auf. Ohne mich.«

»Du wirst aber mit dem Hund gehen«, bemerkt seine Mutter.

»Ist nicht dein Ernst!«

»Doch, ich habe keine Zeit und Papa und Moritz fahren nach Wiener Neustadt.«

Lorenz steht wortlos auf und geht auf sein Zimmer.

»Nichts kann man von ihm haben«, stöhnt Melanie. »Dieses Alter ist furchtbar. Ich hoffe nur, dass Jenny ihn endlich positiv beeinflusst.« Jenny ist Lorenz‘ Freundin. Sie sind seit einem knappen Jahr zusammen. Ein nettes Mädchen aus gutem Hause. Melanie und Martin mögen Jenny. Sie passt gut zu ihrem Sohn. Sie ist ehrgeizig, zielstrebig und energiegeladen. Ja und obendrein hübsch. Aber wer weiß, wie lange es halten wird. Lorenz ist erst 17 Jahre alt und Jenny ein Jahr jünger.

Melanie steht auf.

»Also Simone morgen um acht Uhr. Pünktlich.«

Simone nickt, setzt ihre Hündin auf den Boden und macht sich auf den Heimweg. War ja gar nicht so schlimm mit Martin. Er glaubt ihr. Das ist schon einmal ganz gut. Nicht so wie Markus. Simone spürt eine Welle der Erleichterung.

Städtischer Friedhof Wiener NeustadtNächster Tag, 8 Uhr

Simone spaziert durch die Stadt bis zum Friedhof. Die Sonne scheint, der Schnee ist verschwunden und die Vögel zwitschern. Es ist ein schöner Morgen und es riecht nach Frühling. Die Ruhe in der Stadt ist ungewohnt. Vereinzelt fahren Autos auf den leeren Straßen.

Simone fühlt sich wohl. Der Schrecken, den ihr der alte Mann auf dem Friedhof eingejagt hat, ist verschwunden. In wenigen Tagen wird sie mit Markus nach Admont in die wunderschöne Steiermark fahren. Er möchte ihr das weltberühmte Stift mit seinen Museen zeigen und vielleicht noch einen kleinen Spaziergang im Gesäuse machen. Simone freut sich. Die Sonnenstrahlen beleuchten die Gitterstäbe des Friedhofs und die Steinsäulen. Das große schmiedeeiserne Tor ragt vor ihr empor. Sie hat ihr Ziel just in dem Moment erreicht, als Martin und Moritz aus dem Auto steigen. Ihr Neffe winkt ihr freudig zu. »Tante Simone! Los, auf ins Abenteuer!«

»Bist du etwa zu Fuß gekommen?«, erkundigt sich Martin bei Simone, als sie sich begrüßen. Simone nickt. »Ein schöner Morgenspaziergang.« Simone deutet in den Himmel.

»Also, ich wäre dafür zu müde«, murmelt Moritz. Rasch haben sie die Grabstätte von Christine Urban erreicht. Simone bleibt ruckartig stehen und starrt auf das unversehrte Grab. Kein Loch, kein Erdhaufen sind sichtbar. Auch der flache Schieferstein ist genau dort, wo er immer liegt. Simone wird heiß. Ihre Wangen glühen. Das gibt es nicht! Sofort geht sie auf die Knie und sieht unter die Tanne. Keine Schaufel!? Verdammt! Was soll sie Martin erzählen?

»Und du hast dich nicht geirrt?«, fragt Martin mit gerunzelter Stirn.

»Ich bin mir sicher, dass es hier war«, flüstert Simone in die belastende Stille hinein. Moritz blickt ratlos auf das Grab seiner Oma.

»Er war hier und hat dort vorne gegraben«, erwidert Simone verzweifelt. Ihre Glaubhaftigkeit ist in Gefahr. Wieder einmal. Und ausgerechnet bei ihrem Schwager. Sie schüttelt verdrießlich den Kopf. Das ist alles ein böser Scherz.

»Die Sache ist doch sonnenklar. Der alte Mann hat das Grab wieder in Ordnung gebracht«, erklärt Moritz leise.

»Oder er ist niemals hier gewesen«, bemerkt Martin bitter. Er bekreuzigt sich und geht zurück zum Auto.

»Kommst du?«, fragt Moritz seine Tante.

»Ich bleibe noch hier«, seufzt Simone unglücklich.

»Tante Simone, ich glaube dir«, meint Moritz zum Trost. Er gibt ihr kurz die Hand, dann läuft er seinem Vater nach. Simone seufzt laut. Sie wandert ohne Ziel über den Wiener Neustädter Friedhof, hört den Vögeln beim Singen zu, spürt den kühlen leichten Wind im Gesicht. Sie hat diesen Mann gesehen, es war doch keine Einbildung und das Grab stimmt auch. Hundertprozentig! Was geht hier vor? Simone bleibt kurz vor dem Kriegerdenkmal stehen und schaut die steinernen züngelnden hohen Flammen mit den verzweifelten Gesichtern der gefallenen Soldaten an. Ein schauriges Denkmal, das sie schon immer in seinen Bann gezogen hat. Irgendwann wendet Simone sich ab und macht sich auf den Heimweg. Ihre kleine BolonkaHündin wartet schon auf sie. Markus ist, wie immer, im Dienst. Admont! Ein wahrer Lichtblick. Schade, dass sie Rala bei ihren Eltern lassen muss. Aber ein Kloster ist sicher kein guter Ort für einen kleinen Hund …

Admont SteiermarkEnde April

Ein schöner warmer Frühlingstag geht in einen kühlen Abend über. Die Amseln haben ihren Abendgesang angestimmt, die untergehende Sonne zaubert ein wunderschönes Farbspiel auf den dunkelblauen Himmel.

Auf dem Admonter Bahnhof kommt ein Zug mit Quietschen zum Stillstand. Unter den Passagieren ist ein älterer gut gekleideter Herr mit Gehstock. Er steigt aus dem Waggon, verabschiedet sich vom Schaffner und zieht seinen Trolley über den Bahnsteig. Es ist ein gutes Gefühl, wieder einmal in Admont, einer kleinen steirischen Gemeinde, zu sein! Eigentlich wollte er bereits vor zwei Wochen in die Steiermark fahren, aber das Reisen ist aufgrund des Coronavirus etwas komplizierter geworden. Wie lange ist er nicht mehr hier gewesen? Noch heute möchte er sich mit dem Abt des Stiftes und einem Kunstsammler treffen, um etwas Dringliches zu erledigen, was er schon längst hätte tun wollen. Lange Telefonate sind der Zusammenkunft vorangegangen, aber jetzt passt soweit alles. Der alte Mann lächelt, während er den Weg zu seiner Unterkunft fortsetzt.

Joseph Honzig ist nicht nur überaus kunstinteressiert, sondern auch pensionierter Kunstkurator, Kunsthistoriker und Kolumnist einer bekannten Tageszeitung. Mit seinen fast achtzig Jahren schreibt er noch immer Kolumnen, besucht gerne Museen und Ausstellungen. Mittlerweile lebt er alleine, ist frei, das zu machen, was er möchte. Seine Frau ist vor vielen Jahren verstorben, seine einzige Tochter möchte von ihm nichts wissen. Wieso? Das ist ihm selbst nicht so ganz klar. Joseph schüttelt den Kopf und geht weiter. Kraftvoll öffnet er die Tür zu seiner Pension und checkt ein.

Eine halbe Stunde später ist er bereits unterwegs zum Benediktinerstift. Das Treffen. Seine Umhängetasche lastet schwer auf seinen Schultern.

Zufrieden kehrt Joseph Honzig nach einer guten Stunde zurück und sucht sich eine nette Gaststätte. Die Aufregung ist vorbei und er sehnt sich nach einer guten Mahlzeit. Ja, er ist zufrieden mit sich. Er hat vollkommen richtig gehandelt und es ist auch gut gegangen. Hm, den Verfolger auf dem Friedhof muss er sich wohl eingebildet haben. Da war niemand. Nur diese junge Frau mit dem rattenähnlichen Hund. Sie hat ihn beobachtet und sie kennt das Grab. Aber egal. Er hat wieder alles in Ordnung gebracht und falls sie nochmal auf den Friedhof geht, wird sie glauben, sich getäuscht zu haben. Es gibt keinen Beweis, dass er da war und das ist gut, sehr gut sogar.

Admont nächster Tag

»Wow, das ist echt schön hier!«, ruft Simone Markus zu. Gemeinsam flanieren sie durch den Ort.

»Du hast sicher noch nie etwas von Admont gehört?«, erkundigt sich Markus verwundert. »Ich meine, das Benediktinerstift ist weltberühmt.«

»Nein. Ist wohl eine Bildungslücke.«

»Siehst du, dort vorne ist das Kloster.« Markus deutet auf die beiden hohen Kirchtürme. »Wohin möchtest du zuerst?«

»Das bestimmst du.«

»Dann schlage ich vor, wir machen heute Vormittag die Museen, danach suchen wir uns ein schönes Restaurant, am Nachmittag zeige ich dir den Nationalpark Gesäuse und morgen in der Früh, noch bevor die Massen kommen, zeige ich dir das Herzstück des Klosters: Die berühmte Stiftsbibliothek. Der Höhepunkt unserer kleinen Reise.«

Für zwei Tage ist das ganz schön viel, überlegt Simone.

»Wieso ist die Bibliothek so berühmt? Weißt du, ich bin ja kein Kulturbanause. Du wirst es nicht glauben, aber ich habe schon einige Klosterbibliotheken gesehen.«

»Das ist die größte Bibliothek Europas, Simone. Ein wahrer Schatz für jeden Buchhändler.« Er grinst Simone ins Gesicht. »Und danach gehen wir noch in die Kirche. Absolut sehenswert.«

»Also womit fangen wir an?«

»Na, mit den Museen. Vier sind es.«

»Das ist aber viel. Schaffen wir das an einem Vormittag?«

»Lass dich überraschen. Wir nehmen uns so viel Zeit, wie wir wollen.« Markus nimmt Simone bei der Hand und führt sie rechts an der Stiftskirche vorbei zum Eingang des Museumskomplexes.

»Es wird dir gefallen«, freut sich Markus. »Ich war zuletzt vor drei Jahren hier und habe mir geschworen, wenn ich mich wieder verliebe, muss meine Freundin oder Verlobte mit mir herkommen.«

»So?«, meint Simone. »Wie vielen Frauen hast du bereits Admont gezeigt, hm?«

»Nur dir.«

»He, du hast doch …«

In diesem Moment stehen sie vor der Museumskasse. Markus bezahlt rasch die Tickets und erkundigt sich, ob eine Tragepflicht für Masken in Innenräumen besteht. Nein, da kaum Touristen vor Ort sind und der Sicherheitsabstand gewahrt werden kann, ist die Vorsichtsmaßnahme nicht von Nöten.

Simone atmet durch. Sie hasst es, schon allein von der Arbeit, diese doofen FFP2-Masken ununterbrochen im Gesicht zu haben. Kein freies unbeschwertes Atmen mehr. Aber das Coronavirus macht leider vor keinem Halt. Somit gilt es, auf der Hut zu sein. Markus hatte bereits als Arzt im Krankenhaus mit genügend schweren Covid 19-Verläufen zu tun gehabt …

Zunächst wandeln die beiden durch das Naturhistorische Museum, eine Sammlung erstaunlicher Exponate. Besonders der Raum mit den verschiedenen Apfelsorten, jede aus Wachs gegossen, fasziniert Simone. So viele Äpfel, zum Anbeißen. Aber nur reine Modelle.

Ein anderer Raum ist dem Nationalpark Gesäuse gewidmet. Er ist interaktiv, mit Geräuschen und Wissenswertem. Die eingelegten Schlangen, ausgestopften Vögel und anderes Getier interessieren Simone weniger, sie kennt das alles vom Naturhistorischen Museum in Wien, das ja weitaus umfangreicher ist.

Weiter geht es ins Museum für Gegenwartskunst mit Fotografien und seltsamen Werken. Simone steht lange vor einem Stillleben und betrachtet es intensiv. Teilweise kann sie die Künstler nicht verstehen. Weitere großflächige Gemälde verwirren sie.

»Normalerweise gibt es hier auch Sonderausstellungen. Aber du weißt schon, Corona und so.«

»Es reicht mir auch so.«

»Aber ein Museum hätte ich noch«, meint Markus. »Bitte, ich finde es absolut sehenswert.«

»Das ist ganz schön anstrengend. Ich wusste gar nicht, dass du so kunstinteressiert bist.«

Markus bleibt abrupt stehen. »Ist das ein Manko?«, fragt er gespielt beleidigt.

»Nein, natürlich nicht.« Simone küsst ihn auf die Wange.

Im Erdgeschoss des Gebäudekomplexes geht das junge Paar Hand in Hand in eine Säulenhalle, die die Sammlung Mayer beherbergt. Eine wunderbare gotische sakrale Ausstellung, die faszinierende Einblicke in die mittelalterliche Kunst ermöglicht. Das wundervolle gotische Ambiente im Kloster passt einfach perfekt zu den Exponaten.

»Wieso heißt diese Sammlung Mayer?«, wundert sich Simone, während sie zwischen den zahlreichen Vitrinen spaziert.

»Das steht vorne auf einer Tafel«, meint Markus in Gedanken. »Aber, wenn du sie nicht lesen möchtest, dann erzähle ich es dir. Sie beruht auf einer Schenkung von Kuno Erich Mayer aus dem Jahre 2016 und ist seit 2017 zugänglich.«

»Aha«, meint Simone. Der Raum ist verdunkelt. Nur die Statuen und Skulpturen sind beleuchtet. Auch Tafelbilder und Glasmalereien sind zu finden. Simone sieht eine Gestalt vor einer Vitrine stehen und irgendetwas an ihr fesselt ihre Aufmerksamkeit. Sie ist verwirrt, kann ihren Blick nicht abwenden.

»Schatz? Alles in Ordnung?«, flüstert Markus irritiert in ihr Ohr. Er folgt ihrem Blick zu dem anderen Besucher.

Simone schüttelt den Kopf. »Ja, alles bestens«, murmelt sie und wendet sich von der Gestalt ab. Sie kann sich den Schauder, der ihr über den Rücken gelaufen ist, nicht erklären. Joseph Honzig achtet nicht auf die jungen Leute. Was interessieren sie ihn? Nein, sein Interesse gilt der goldenen Marien-Statue mit Kind in der Glasvitrine. Wie gut sie sich macht, wie schön sie beleuchtet ist! Joseph ist zufrieden. Ja, das war sein Ziel.

Die Marien-Statue ist ein Familienerbstück. Sie wurde von Generation zu Generation in seiner Familie weitergegeben und in Zeiten der Not gut versteckt. Ein Juwel.

Als Kind hat er mit der Figur gesprochen, sie um Hilfe gebeten. Sie ist ihm so vertraut und trotzdem hat er sich gestern von ihr getrennt und sie der Sammlung Mayer geschenkt. Nein, so eine schöne Arbeit darf nicht unentdeckt, ungesehen bleiben.

Der Friedhof war nur eine Notlösung, weil er Angst hatte, dass er bestohlen werden könnte, hätte er sie in seiner Wohnung behalten. Er hat mittlerweile seit einiger Zeit eine Haushaltshilfe und muss deshalb fremde Personen in sein Zuhause lassen. Nein, niemals wollte er, dass diese Statue bei ihm gesehen wird. Deshalb hat er sie vor einigen Jahren vergraben.

Joseph sieht der Figur in die schönen glänzenden Augen. Plötzlich erinnert er sich an seine Jugend. Er lächelt die Muttergottes-Statue an. Immer war sie bei ihm gewesen, eine stille Fürbitterin. Auch als seine Frau starb, ist sie im Schlafzimmer in einer Vitrine gestanden. Das ist jetzt Jahre her.

Er vermisst seine Frau. Auch seine Tochter Bernadette. Er weiß nicht mehr viel von ihr. Sie haben sich auseinandergelebt. Leider. Sein Enkel Fabian ist sein einziger Kontakt. Aber auch nur sporadisch. Ein fleißiger junger Mann.

Eine Pension Admont, Steiermarknächster Tag

»Aufstehen«, flüstert eine Stimme in Simones Traum. Sie ist augenblicklich wach und seufzt, als sie die Uhrzeit sieht. »Was willst du so früh?«, fragt sie ihren Verlobten gähnend. »Wir haben Urlaub.«

»Die Bibliothek wartet«, meint Markus gut gelaunt. »Und die Sonne lacht.«

»Aber ich nicht, wenn du mich so früh weckst«, jammert Simone und dreht sich im Bett zur Seite.

»Komm schon, Liebling.« Markus streicht ihr übers Haar. »Ich will dir wirklich etwas Besonderes zeigen.«

»Es ist Sonntag«, flüstert Simone unwillig.