Der Dorfpfarrer - Honoré de Balzac - E-Book
SONDERANGEBOT

Der Dorfpfarrer E-Book

Honore de Balzac

0,0
1,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 0,00 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In "Der Dorfpfarrer", geschrieben von Honoré de Balzac, wird die Geschichte eines Dorfpfarrers erzählt, der mit den moralischen und ethischen Herausforderungen seines Berufs konfrontiert ist. Balzac, einer der bekanntesten Vertreter der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts, präsentiert seinen Roman in einem realistischen Stil, der die Leser in die Welt des französischen Landlebens eintauchen lässt. Das Buch zeigt Balzacs tiefes Verständnis für die menschliche Natur und seine Fähigkeit, komplexe Charaktere und Beziehungen zu porträtieren. Der Dorfpfarrer steht symmetrisch zu Balzacs Werk und ist ein bedeutender Beitrag zur literarischen Welt des 19. Jahrhunderts.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Honoré de Balzac

Der Dorfpfarrer

Books

- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung -
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-1362-7

Inhaltsverzeichnis

Honoré de Balzac
I: Véronique
II: Tascheron
III: Der Pfarrer von Montégnac
IV: Madame Graslin in Montégnac
V: Véronique am Grabesrande

Honoré de Balzac

Inhaltsverzeichnis

Die Balzacsche Familie stammte aus dem Süden, wie die so vieler französischen Schriftsteller und Redner dieses Jahrhunderts. Der Vater Honorés war 1746 in Languedoc geboren und unter Ludwig XVI. advocat au Conseil. Die Hilfe, die er alten Gönnern bei ihrer Flucht aus Frankreich leistete, lenkte unter der Schreckensherrschaft eine gefährliche Aufmerksamkeit auf ihn, und nur mit Mühe gelang es einem seiner Freunde, einem einflußreichen Konventmitgliede, ihn Robespierres Augen zu entziehen, indem er ihm im Norden Frankreichs eine Stelle in der Militärintendantur verschaffte. Hier blieb er bis zum Jahre 1797, wo er sich, schon einundfünfzigjährig, mit der jungen, hübschen und reichen Tochter eines seiner Vorgesetzten verheiratete, um bald darauf als Direktor des städtischen Krankenhauses nach Tours berufen zu werden. Dort ward Honoré de Balzac im Jahre 1799 geboren. Der Vater, ein fleißiger Arbeiter und trefflicher Verwalter, fühlte sich bald zu Hause in der neuen Heimat, nahm jedoch die Bürgermeisterstelle, die ihm nach etwa zehnjährigem Aufenthalte in der Stadt angeboten wurde, nicht an, weil er sich einer solchen Verdoppelung seiner Geschäfte nicht gewachsen fühlte. Er starb 83jährig (1829), ohne noch den Ruhm des Sohnes erlebt zu haben, und ohne diesem ein unabhängiges Vermögen zu hinterlassen, weil er noch als Junggeselle all sein Kapital als Leibrente angelegt hatte, wodurch denn bei seinem Tode eine ganz gewaltige Lücke in die Jahreseinkünfte der Familie kam. Die Mutter Honorés hatte, wie das ja vielen Müttern genialer Söhne nachgesagt wird, »eine große Lebhaftigkeit des Geistes und der Phantasie« und »eine unermüdliche Tätigkeit«. Sie hing leidenschaftlich an ihren Kindern, verursachte aber diesen, namentlich dem Aeltesten, durch ihre nervöse Reizbarkeit manche bittere Stunden. Es geht offenbar auf sie, wenn er einmal ausruft: »Wen ich am meisten bedaure nach den Nervösen, ja fast mehr als sie, ist ihre Umgebung.« Noch kurz vor seinem Tode, den sie um einige Jahre überlebte, brachte ein Ausbruch ihrer Empfindlichkeit einen Mißton in das Liebeskonzert, welches das Ende seines vielgeplagten Lebens beruhigend erfüllte. Von den Geschwistern stand die Zweitgeborene, Laure, Honoré am nächsten, wie in den Jahren so in der Gesinnung. Sie heiratete im Jahre 1820 einen Ingenieur, M. Surville, und zog mit diesem in die Normandie, blieb aber bis zu des Bruders Tode dessen Vertraute und eifrige Korrespondentin. Eine zweite Schwester, Laurence, heiratete im folgenden Jahre einen Herrn de Montzaigle. Sie starb schon nach wenigen Jahren der Ehe. Der jüngste Bruder, Henri, das Schoßkind der Mutter, verursachte dieser und dem Aeltesten viele Sorgen. Balzacs Anstrengungen, Geld zu erwerben, waren nicht zum wenigsten durch den Leichtsinn des jüngeren Bruders bedingt, der endlich in die Kolonien zog, wo wir ihn aus den Augen verlieren.

Honoré de Balzac verfolgte in seiner ersten Jugend den üblichen französischen Studiengang, ohne irgendwelche Frühreife an den Tag zu legen. Ja, in dem damals sehr angesehenen Gymnasium von Vendôme, wo er sieben Jahre nach französischem Brauch als Hausschüler zubrachte, galt er für eine langsame Intelligenz und einen schlechten Arbeiter. Als er mit fünfzehn Jahren wegen seines beunruhigenden Gesundheitszustandes aus dieser Anstalt, in welcher Ferien unbekannt waren, von seinen Eltern nach Hause gerufen ward, stellte sich's heraus, daß er auf seine Weise studiert hatte. Seine Krankheit war in der Tat eine Art Gehirnkrankheit – une congestion d'idées –, welche er sich durch eifriges und unausgesetztes Lesen historischer, juristischer, philosophischer und theologischer Werke zugezogen. Der Junge war nämlich bald hinter die reiche Bibliothek der Oratorier gekommen, welche jene berühmte Anstalt gegründet, und hatte sich so einzurichten gewußt, daß er täglich wegen irgendeiner Unart oder Nachlässigkeit ins Karzer geschickt wurde, wo er dann alle seine Stunden mit Lesen von Büchern zubrachte, die weit über die Fassungskraft seines Alters zu gehen schienen. Frische Luft, körperliche Uebungen und das Familienleben gaben dem Knaben bald sein geistiges und leibliches Gleichgewicht wieder. Als kurz darauf die Familie Balzac nach Paris übersiedelte, war Honoré wieder der alte heitere, lebendige Junge von früher.

Doch auch in Paris scheinen die Lehrer nicht viel von dem Jungen gehalten zu haben, und er verließ bald die Schule, um durch Privatunterricht und Besuch der Vorlesungen in der Sorbonne die Lücken seiner Bildung auszufüllen; denn seine Mutter war so streng als liebend und mochte den Knaben nicht unbeschäftigt sehen. Aber auch hier wieder sehen wir ihn mehr in den öffentlichen Büchereien als hinter seinem lateinischen Aufsatz und seinen lateinischen Versen, und schon jetzt begann er auf dem langen Wege vom Hause nach der bibliothèque royale, von da nach der Sorbonne den Grund zu seiner eigenen, nachmals so berühmt gewordenen Büchersammlung zu legen, den Geschmack für seltene und schöne Drucke, der ihm sein Leben über blieb, auszubilden. Wie viele solcher Liebhabereien und solcher ausgewählter Privatsammlungen sind nicht an jenen Seinekais entstanden, auf denen die Antiquare ihre Ware auszulegen und die jungen wie alten Bewohner des lateinischen Quartiers Spazier- und Arbeitsstunden zu verblättern pflegen! Man fühlt es Balzacs ganzer Geistesrichtung an, daß er sich der Université-Dressur zu entziehen gewußt: sein Gedanke hat eine Originalität, seine Gefühlsweise eine Zartheit, welche die gewöhnliche höhere Gymnasialbildung und Erziehung nicht duldet. Seiner Form andererseits mangelte es immer an dem Maße und dem Geschmack, die jene klassische Tradition ihren Nachfolgern einzuimpfen pflegt. Kein Wunder, wenn er wenig verstanden wurde. »Seine Eltern sahen in ihm wie seine Lehrer einen höchst gewöhnlichen Jungen, den man sogar treiben mußte, damit er seine lateinischen und griechischen Exerzitien mache. Seine Mutter, die sich besonders mit ihm abgab, ahnte so wenig, was ihr ältester Sohn schon war und was er einst werden würde, daß sie die scharfsinnigen Bemerkungen, die ihm manchmal entfuhren, dem Zufall zuschrieb. Du verstehst sicherlich nicht, was du sagst, Honoré, pflegte sie dann manchmal zu sagen. Er, statt aller Antwort, lächelte, mit jenem feinen, spöttischen, gutmütigen Lächeln, das ihm eigen war.« (Mad. Surville.)

Auf den ausdrücklichen Wunsch seines Vaters, der keine Bildung für vollständig hielt, solange sie nicht mit gediegenen juristischen Kenntnissen verbunden, studierte Honoré Rechte, diesmal mit Eifer und Erfolg, und indem er schon die Praxis mit der Theorie verband; denn er wohnte und arbeitete die drei Jahre über bei einem Notar, dem er denn auch viel von der Sicherheit und der fast übertriebenen Genauigkeit zu danken hatte, mit der er in seinen Romanen juristische Verwicklungen zu schildern weiß. Mit zwanzig Jahren hatte Balzac seine Prüfungen bestanden und konnte in die ihm vom Vater in landesüblicher Weise bereitete, behäbige und gesicherte Stellung eintreten. In der Tat war ein alter Freund des Vaters, der eine ausgedehnte Klientel als Anwalt besaß, bereit, den jungen Mann in seinem Geschäft zu assoziieren, ihm dasselbe in wenigen Jahren gegen eine geringe Einlage ganz abzutreten. Eine gute Heirat in französischem Sinne sollte die Existenz des Jünglings noch glänzender gestalten. Der Vater war nicht wenig erstaunt, als sein Sohn sich entschieden weigerte, die ihm gebotene Stellung anzunehmen, und ebenso entschieden erklärte, die schriftstellerische Laufbahn ergreifen zu wollen. Nach lebhaften Erörterungen gab indes der Alte doch nach, obschon er gerade jetzt Verluste erlitten und obschon er seinem Sohne nicht das mindeste Talent zutraute. Auch ward seine Nachgiebigkeit im Freundeskreise nicht wenig getadelt. Vielleicht hoffte er, Honoré würde, nach kurzer Prüfung und rascher Enttäuschung, für immer von aller Großmannssucht geheilt, ins Nest zurückkehren. Es wurden ihm 1500 Franken jährlich für zwei Jahre Probezeit in Paris bewilligt, während die Familie ihrer verminderten Mittel wegen die teure Hauptstadt verlassen mußte. Seine ersten literarischen Versuche rechtfertigten alle schlimmen Prognostica der Familie. Ein Trauerspiel »Cromwell«, an dem er mit wahrer Begeisterung und unermüdlichem Fleiße gearbeitet, ward von dem befreundeten Auditorium, dem er es vorlas, mit beredtem Stillschweigen angehört; und als er es seinem Schwager mitteilte, war dieser aufrichtig genug, ihm zu erklären: »Der Verfasser möge treiben, was er wolle, nur von der Literatur solle er lassen.« Honoré antwortete ruhig: »Das Trauerspiel ist mein Genre nicht, das ist alles« und ergriff die Feder, um etwas anderes zu schreiben.

Indes verging die Zeit und mit ihr die Gesundheit des angehenden Schriftstellers. Schon im Jahre 1820 war man nicht reich in Paris mit 1500 Franken jährlich, inbesondere wenn man sich, wie der junge Balzac, sofort einen Diener mietete, um keinen Preis eine Aufführung des »Cinna« im Théâtre français versäumen wollte und der Versuchung nicht widerstehen konnte, eine Erstlingsmelone zu verspeisen oder einen schöngebundenen Lavater in seiner Mansarde aufzustellen; denn schon ist er der Mann, der, wie ein Zeitgenosse, Philarète Chasles, von ihm sagt: »sich in einer Marmorwanne badete, wenn er keine Stühle hatte, um sich und seine Freunde zu setzen, und in Meudon ein herrliches Haus baute, ohne Treppe«. Da galt's hernach sich Wochen lang krumm legen, den Magen zuschnüren und von Brot und Wasser leben, dabei angestrengt zu arbeiten, oft zwölf Stunden hintereinander; schon beginnt die fatale Notwendigkeit des schwarzen Kaffees, der ihm bekanntlich ein unentbehrlicher, aber keineswegs unschädlicher Lebensgefährte werden sollte. Die Briefe an Schwester und Mutter bleiben indes immer heiter und zuversichtlich wie zuvor: »Ich habe die Hoffnung, jeden Monat einen Roman für 600 Franken zu verkaufen, genug, um fertig zu werden, bis mein Vermögen gemacht ist, welches ich mit euch teilen werde; denn ich werde es machen, daran zweifelt nicht.« Dabei ist er stets zärtlich und liebevoll in den Briefen, wie's seine innerste Natur wollte, wenn auch die Mutter den Ueberarbeiteten oft unnütz genug reizte. Als diese aber den Zustand des Sohnes erfuhr, ließ sie ihm keine Ruhe mehr, bis er sich dazu verstand, zu den Seinigen nach dem benachbarten kleinen Städtchen Villeparisis zu ziehen, wo er dann drei Jahre lang, mitten in der Unruhe des Familienlebens, zwanzig Bände schlechter Romane unter angenommenem Namen schrieb, die er später sämtlich verleugnete und die in der Tat untergegangen zu sein scheinen.

Es war vorauszusehen, daß eine Natur wie Balzac dies literarische Tagelöhnerleben auf die Dauer nicht ertragen konnte: ihm war die literarische Produktion ein Priestertum, wie sollte er sie lange zum Handwerk herabwürdigen? Und er hatte die Freiheit gekostet, die Freiheit in der Armut, die Freiheit des Dachstübchens, aber immerhin die Freiheit, die ihm mit allen ihren Sorgen und Qualen zuträglicher war, als das Leben im summenden Familienkreise guter, gescheiter, liebevoller, aber reizbarer und unruhvoller Menschen. So entschloß er sich denn von neuem, in Paris sein Glück zu versuchen, diesmal selbst ohne die 1500 Franken, die ihm sein Vater beim Beginn seiner Laufbahn ausgesetzt. Er fühlte die Notwendigkeit pekuniärer Sicherheit und Unabhängigkeit, welche für den Künstler vielleicht ebenso zwingend wie für den Politiker, der ja ohne dieselbe für die öffentliche Tätigkeit geradezu unfähig ist. Wie die meisten Berufenen, denen das Glück nicht schon in der Wiege gelächelt, dachte er anfangs, indem er einen Teil seines Lebens der Sklavenarbeit opferte, die Freiheit zu erobern, die ihm nötig war, um der Muse sein Leben in freiem Dienste zu widmen; und erst als alle seine Mühe fruchtlos blieb, verstand er sich dazu, aus dem Zwecke auch das Mittel zu machen, vom Altar zu leben wie der Priester. »Mit 1500 Franken Rente, die mir gesichert wären,« meinte er in seinen naiven Anfängen, »könnte ich an meinem Ruhme arbeiten; aber für solche Arbeiten braucht's Zeit; und zuerst gilt's zu leben! Ich habe also nur dies ignoble Mittel, mich zu independentisieren. So lass denn die Presse seufzen, schlechter Autor! Nie ist das Wort so wahr gewesen. Schreiben, schreiben alle Tage, um eine Unabhängigkeit zu erobern, die man mir verweigert; versuchen, frei zu werden durch Romanschreiben! Und welche Romane! Ah, Laure, was für ein Gesunkensein von meinen Ruhmesplänen!« Das konnte er nicht ertragen und, da seine Spielernatur sich nie verleugnete, so verfiel er nun auf den Gedanken, das nötige Befreiungskapital durch eine kühne Spekulation in einem Wurfe zu erlangen. Es war die erste jener utopistischen Unternehmungen, deren Folgen ihn sein Leben über lähmten; denn leserlicher als irgendwo steht das Gesetz, wonach des Menschen Natur sein Schicksal ist, unter dem Bildnisse dieses seltenen Mannes.

Wie die meisten späteren, war auch diese erste Unternehmung trefflich ausgedacht und wäre ohne Zweifel geglückt, wie sie und die folgenden in den Händen anderer wirklich glückten, hätte er nur das Wichtigste dazu mitgebracht: den Einsatz, den es zu verdoppeln und verdreifachen galt. Diesmal handelte es sich um eine jener Volksausgaben der französischen Klassiker, welche, damals noch unbekannt, seitdem so sehr vervielfältigt worden sind. Die Spekulation mißlang; er vermochte sich keine Publizität zu verschaffen, verkaufte keine zwanzig Exemplare und sah sich genötigt, um nur die Lagerkosten nicht bestreiten zu müssen, die ganze Auflage – es war ein Moliére und ein Lafontaine – als Makulatur zu veräußern. Der Buchhändler, der sie ihm abnahm, ward reich bei dem Geschäft. So trat er denn, anstatt mit dem erhofften Vorschuß und Rückhalt, seine zweite literarische Karriere mit Schulden an. Diesen zu begegnen wollte er nun, wie einst Richardson, als Buchdrucker ein Vermögen machen: der Freund und Gläubiger, der ihm das Geld zu seinem buchhändlerischen Unternehmen vorgeschossen, half ihm auch diesmal wieder, vielleicht in der Hoffnung, sein erstes Kapital wiederzuerlangen, indem er den Vater Balzacs zur Hergabe der Summe beredete. Ein Druckerpatent kostete 15000 Franken unter Karl X., der Associé verstand das Handwerk trefflich, war aber so wenig Geschäftsmann als Balzac selber; die jungen Leute übernahmen Arbeit für zahlungsunfähige Kunden; schon in Verlegenheit, glaubten sie durch vorteilhaften Ankauf einer Letterngießerei sich aus der Schlinge zu ziehen, die sie sich, wie vorauszusetzen gewesen war, nur noch enger um die Kehle schnürten. Umsonst halfen Balzacs Eltern wieder und wieder; umsonst suchte der Sohn jetzt die Druckerei loszuwerden, bis er endlich dieselbe um einen Spottpreis losschlagen mußte, der nicht hinreichte, die noch geschuldete Ankaufssumme der Gießerei, geschweige denn die früheren und die neu kontrahierten Schulden zu zahlen. Da nahm seine Mutter, der er schon soviel schuldete, alles übrige auf sich, indem sie den Rest ihres Vermögens opferte, wogegen er sich verpflichtete, ihr eine hinreichende jährliche Pension zu zahlen. Der einzige Gewinn, den er von seinem Wagnis einheimste, war die Bekanntschaft mit gewissen industriellen Verhältnissen: die Schilderung der Druckerei Davids in den »Illusions perdues« danken wir diesen Versuchen, wie wir die »Interdiction« seinen früheren Notariatserfahrungen, den »César Birotteau« aber den Erlebnissen danken, welche acht Jahre später den armen Balzac durch alle quälenden Vorstadien einer unvermeidlichen Faillite führten.

Balzac war achtundzwanzig Jahre alt, tief verschuldet, allein auf seine Feder angewiesen, als Schriftsteller unbeachtet, oder schlimmer als das, ungeachtet, als er gegen Ende der Restauration seine eigentlich künstlerische Tätigkeit begann. Das große Werk schwebte ihm von Anfang an als ein Ganzes vor, wie wir es aus seiner Korrespondenz erfahren, während man bis zu deren Veröffentlichung geneigt war anzunehmen, er habe erst später mit einem gemeinsamen Titel System und Plan in die Gesamtheit seiner Romane zu bringen gesucht. Die »Comédie humaine« sollte das ganze französische Leben des 19. Jahrhunderts schildern, das politische wie das militärische, das bureaukratische wie das literarische und künstlerische, das industrielle wie das kommerzielle, den Richterstand und die Geistlichkeit, die Aristokratie, das Bürgertum, das niedere Volk, die Provinz wie die Hauptstadt, die gesellschaftlichen Verwicklungen und Leidenschaften, wie die geheimen Gedanken der Zeit. Soviel der Aesthetiker daran auszusetzen haben mag, der Philosoph, der Geschichtsforscher, der Soziolog, wie man heute zu sagen pflegt, müssen zugeben, daß die Aufgabe vollständig gelöst, daß vielleicht keine Zeit, kein Land nach einer besseren Quelle studiert werden kann, als Frankreich unter Louis Philipp, und daß kein Schriftsteller dieses Jahrhunderts die menschlichen Leidenschaften und das menschliche Verhängnis, welches in diesen Leidenschaften besteht, tiefer ergründet, vollständiger geschildert hat, als er. Neben Balzac stand bei Beginn dieses Werkes, als seine Muse und Trösterin, eine Frau (Mme. de Berny), die wir nur nach ihrem Einfluß auf den Schriftsteller kennen, die aber durch ihren sicheren Geschmack, ihre Aufrichtigkeit, ihr lebhaftes Interesse für die Literatur, vor allem ihre aufopfernde Freundschaft für den Dichter, diesem eine Welt war. Ihr war er unbegrenzt ergeben, wie sie bis an ihren frühen Tod und während der fünf schwersten Jahre seines Daseins nur für den Jüngling-Mann gelebt zu haben scheint. Bis an sein Ende, und als längst eine andere, ihrer Würdige, ihre Stelle in seinem Herzen eingenommen hatte, blieb er ihrem Andenken treu und vergaß nie, was sie ihm gewesen. In seinem liebevollst gearbeiteten Werke, dem »Lys de la vallée«, hat er der Freundin in der Person der Heldin, Mme. de Mortsauf, ein rührendes und schönes Denkmal gesetzt.

Vor allem galt's die Anerkennung des Publikums zu erobern. Das erste Werk der »Comédie humaine«, das durchdrang, war die »Peau de chagrin« (1831). Die feineren Köpfe im Publikum, die doch am Ende immer das letzte Wort haben, wurden aufmerksam; scharfsichtige Verleger suchten den Vogel mit den goldenen Eiern in ihren Käfig einzufangen. Die liebe Geldnot zwang Balzac, seine zukünftige Arbeit unterm Preise zu verpfänden, um nur schnell Bares in der Hand zu haben, und so begann die Sklavenarbeit von neuem, durchschnittlich nicht unter sechzehn Stunden täglich, oft dreiundzwanzig Stunden hintereinander, ohne die geringste Rücksicht auf Tag und Nacht, so im Wachen wie im Schlafen. Was tat's ihm? Hatte er doch seine Bahn gefunden; konnte er doch leben mit den Gestalten seiner Einbildung, sich dem hohen Ziele immer mehr nähern, das er sich vorgesetzt. Auch hielt mit der unermüdlichen Arbeitskraft die unerschöpfliche Hoffnungsfähigkeit Schritt: »Briefschreiben,« heißt's in einem der Briefe an die Herzogin von Abrantès, welche ihm damals nach Mme. de Berny und der schönen Herzogin von Castries am nächsten stand, »Briefschreiben! ich kann's nicht. Die Ermüdung ist zu groß. Sie wissen nicht, was ich vor drei Jahren über mein Vermögen hinaus schuldete: ich hatte nur eine Feder, um zu leben, und 120000 Franken Schulden zu zahlen. In wenigen Monaten werde ich alles bezahlt ... meinen armen kleinen Haushalt eingerichtet haben; aber noch sechs Monate habe ich alle Qualen des Elends vor mir, und ich genieße sie als die letzten. Ich habe bei niemandem gebettelt, ich habe keine Hand ausgestreckt um eine Zeile (lobender Kritik) oder um einen Heller; ich habe meine Kümmernisse, meine Wunden verborgen. Und Sie, die wissen können, ob man mit seiner Feder leicht Geld verdienen kann, Sie können mit Ihrem Frauenblick den Abgrund ermessen, den ich Ihnen aufdecke und an dessen Rande ich gewandelt bin ohne hineinzustürzen. Ja, ich habe noch sechs gar schwere Monate durchzumachen, um so schwerer, als wie Napoleon des Krieges müde war, ich gestehen darf, daß der Kampf mit dem Unglück mich zu ermüden beginnt.« Der arme Balzac! Die sechs Monate sollten neunzehn Jahre werden und nur der Tod ihn von dem »Kampf mit dem Unglück« erlösen.

Der ersten Katastrophe von 1827 folgte eine zweite im Jahre 1836, eine dritte im Jahre 1846, eine vierte endlich, dank der Februarrevolution, im Jahre 1848. Immer größer wurden, trotz der belgischen Nachdrucke, welche die Hälfte des Absatzes konfiszierten, die Einnahmen mit dem wachsenden Rufe des Schriftstellers, immer gewaltiger schwoll aber auch die Schuldenlast an: »Die 150000 Franken, die ich in diesem Jahr verdient« (184o), schreibt er an eine Freundin, »haben mir die Ruhe nicht gegeben«; und sie zu erlangen, hatte er sechzehn Bände und zwanzig Akte schreiben müssen! Jeder Versuch aber, seiner Lage durch eine glänzende Spekulation, statt durch die Feder, Herr zu werden, stürzte ihn nur noch tiefer hinein, wie wenn er nach Sardinien reiste, um dort die metallhaltigen Schlacken der Bergwerke aus der Römerzeit auszubeuten. Ein großer Teil seines Honorars geht auf die Druckkosten, wie eine ungeheure Zeit auf die Korrekturen verloren; jeden Druckbogen sah er fünf- bis sechsmal durch, und in der sechsten Revision war oft kaum noch eine Silbe so, wie sie auf dem ursprünglichen Manuskript gewesen. Dabei ist er der unpraktischste Haushalter. Er meint zu sparen, indem er sich ein Landhaus baut. »War's eigentlich in Wahrheit eine Wohnung zu nennen?« fragt sich L. Gozlan, »dieses Schweizerhäuschen mit grünen Läden, in das nie der Schatten einer Kommode gekommen, nie eine Ahnung von einem Vorhang aufgehängt worden war?« Natürlich sah es da drinnen nicht sehr gemütlich aus; da aber auch der Garten keinen Schatten hat, um darunter zu arbeiten, läßt er ausgewachsene Bäume hinverpflanzen, damals noch ein unerhörtes Unternehmen, und da er die Konstruktion des Hauses einem Architektendilettanten überlassen hat, ist's kein Wunder, daß es keine Fundamente hat, ihm fast überm Kopf zusammenstürzt, und er froh sein muß, es zum zehnten Teil der Kosten loszuwerden. »Sie fragen mich,« schreibt er an Gräfin Hanska, seine spätere Gemahlin, »wie es kommt, daß ich, der, wie Sie so nachsichtig sind zu sagen, alles kennt, alles beobachtet und durchschaut, so oft geprellt und getäuscht werde ... Wenn ein Mensch dazu kommt, ein Whistspieler ersten Ranges zu sein und bei der fünften ausgespielten Karte weiß, wo alle anderen Karten sind, glauben Sie nicht, daß er manchmal gerne seine Wissenschaft beiseite läßt, um zu sehen, wie das Spiel gehen wird, wenn er's den Gesetzen des Zufalles überläßt?« Doch hat er auch eine andere plausiblere Erklärung: »Wenn meine Kräfte und Fähigkeiten Tag und Nacht angespannt sind zu erfinden, zu schreiben, wiederzugeben, zu malen, mich zu erinnern, wenn ich, langsamen, oft verwundeten Flügels, daran bin, die geistigen Felder der literarischen Schöpfung zu durchziehen, wie kann ich da zugleich auf dem Boden der Materialitäten sein? Als Napoleon in Eßlingen war, war er nicht in Spanien. Um im Leben, in der Liebe, in der Freundschaft, in den Geschäften, in den Beziehungen jeder Art nicht betrogen zu werden, liebste, einsame und abgeschlossene Gräfin, muß man eben nur das eine treiben; muß einfach Finanzier, Weltmann, Geschäftsmann sein. Gewiß sehe ich sehr gut, daß man mich betrügt, daß man mich betrügen wird, daß der oder jener mich verrät oder verraten wird, oder sich mit einem Büschel meiner Wolle fortmacht; aber im Augenblick, wo ich es vorausfühle, voraussehe, wo ich's weiß, muß ich mich sonstwo schlagen; ich sehe es, wenn ich von der Notwendigkeit des Augenblicks fortgerissen bin, durch ein Werk, das drängt, durch eine Arbeit, die verloren wäre, wenn ich sie nicht beendigte. Ich vollende oft eine Hütte bei dem Lichte eines meiner brennenden Häuser. Ich habe weder Freunde noch Diener, alles flieht mich, ich weiß nicht warum, oder vielmehr, ich weiß es nur zu gut, weil man einen Mann nicht liebt und bedient, der Tag und Nacht arbeitet, der sich nicht für andere Leute zerstreut, der zu Hause bleibt, den man aufsuchen muß und dessen Macht – wenn er je welche haben sollte – erst in zwanzig Jahren zum Vorschein käme, weil der Mann die Persönlichkeit seiner Arbeiten hat, und jede Persönlichkeit verhaßt ist, wenn sie nicht zugleich eine Macht ist.« Und anderswo: »Man verbringt die zweite Hälfte seines Lebens damit, das abzumähen, was man während der ersten Hälfte in seinem Herzen hat wachsen lassen; das nennt man ›Erfahrung sammeln!‹«... »Schöne Seelen gelangen schwer dazu, an Bosheit, Verrat, Undank zu glauben. Wenn ihre Erziehung in der Hinsicht gemacht ist, erheben sie sich aber auch zu einer Nachsicht, die vielleicht der letzte Grad der Verachtung für die Menschheit ist.« Man glaubt Leopardi zu hören.

Nicht alle seine Verrechnungen sind der Prellerei derer zuzuschreiben, mit denen er sich einließ. Er betrog sich ebensooft selber, kaufte auf Spekulation Bilder großer Meister, seltene Gerätschäften, alte Möbel, teure Bücher, von denen er sich hernach nicht zu trennen vermochte; denn Balzac kann als der Vater der leidigen bric-à-brac-Manie unserer Zeit angesehen werden; nur war's bei ihm nicht Mode, sondern echtes künstlerisches Interesse. Die Rembrandtischen Salonbeschreibungen seiner Romane sind zum Teil nur Schilderungen seines eigenen großen Wohnzimmers in Chaillot, wo er, um dem Nationalgardendienst zu entgehen, unter dem Namen einer Witwe Durand wohnte. Durch eine unscheinbare Haustüre, über eine baufällige Treppe und nach einem dunklen Vorzimmer gelangte man plötzlich in diesen prächtigen Raum, dessen vier Fenster ganz Paris beherrschten, und wo er im Dominikanergewand allein mit den Geschöpfen seiner Phantasie wie mit wirklichen Wesen lebte. Das Zimmer war ein wahres Museum von kostbaren Kunstgegenständen (Nettement). Noch großartiger trieb er's später in seinem unbewohnten Hause in der Nähe des Triumphbogens. Hier führte er in Wirklichkeit aus, was er in den Jardies sich begnügt hatte, mit Kreide auf die Wände zu schreiben: »Hier eine Bekleidung in parischem Marmor; hier ein Stylobat in Cedernholz; hier ein Plafond von Delacroix; hier ein Kamin von Cipollin-Marmor.« (Gozlan.) Kein Wunder, wenn das schwerverdiente Geld schnell verschwand.

So gequält von Sorgen, gequält von seinen Verlegern, dem Gerichtsvollstrecker und den Druckerjungen vor der Türe, arbeitete er bei seiner Tasse Kaffee immer weiter an seiner imaginären Welt. »César Birotteau«, eines seiner Meisterwerke, wurde in fünfundzwanzig Tagen geschrieben, »die Füße im Senf, wie die ›Pajsans‹, den Kopf im Opium,« geschrieben worden. Das merkt man nun freilich seinen Romanen stark an: es fehlt ihnen ausnahmslos an Oekonomie: die kann eben nur aus langem Mitsichherumtragen eines Gegenstandes und ruhiger Ausführung hervorgehen. An Gedanken, an Beobachtungen, an Charakteren haben wir die Fülle, und sie beruhen auf tiefster Weltanschauung und psychologischer Einsicht, die Anlage aber ist stets außer Gleichgewicht: die Exposition nimmt fast immer die Hälfte jedes Werkes ein; und die Auflösung ist ebenso oft überstürzt, wenn sich die Geschichte nicht im Sande verliert. Auch der Stil litt unsäglich unter dieser fiebernden Arbeit. Nie ist Balzacs Satzbau auch nur fließend; der Ausdruck ist nur zu oft gesucht, unnötigerweise neologistisch. Man sieht, er tastet nach dem richtigen Wort, ringt mit der Sprache, häuft Adjektive auf Adjektive und findet erst im letzten das richtige. Umsonst korrigiert er dann auf dem Druckbogen wieder und wieder herum: er erschwert sich dadurch nur die Arbeit ohne Gewinn für diese: im Gegenteil fühlt man überall die Flickerei: dem Stil fehlt es an Einheit.

Noch verderblicher als für die Werke waren die Folgen dieser Lebensführung natürlich für den Schöpfer dieser Werke. Oft fühlte er sich geistig erschöpft und physisch unterliegend. So nach seiner zweiten finanziellen Katastrophe, welche eintrat, als er gerade das heißersehnte Ziel erlangt zu haben glaubte, und welche mit dem Tode Mme. de Bernys koinzidierte. Man kann nichts Tragischeres lesen als den langen Brief, den er im Oktober 1836 an diejenige schreibt, welche vierzehn Jahre später Mme. de Balzac werden sollte. »Ich bin niedergeschlagen, aber nicht überwältigt; mein Mut ist mir geblieben. Das Gefühl der Verlassenheit und der Einsamkeit, in der ich mich befinde, betrübt mich mehr als mein Unglück. In mir ist nichts Egoistisches; ich muß immer meine Gedanken, meine Anstrengungen, meine Gefühle auf ein Wesen beziehen, das nicht Ich ist; sonst habe ich keine Kraft. Ich möchte keine Krone, wenn ich niemanden hätte, zu dessen Füßen ich niederlegen könnte, was die Menschen auf mein Haupt gesetzt. Welch langes und trauriges Lebewohl habe ich diesen verlornen, auf immer dahingegangenen Jahren gesagt! Sie haben mir weder volles Glück, noch volles Unglück gegeben, sie haben mich leben lassen, erfroren auf der einen Seite, verbrannt auf der andern, und da wäre ich nun, nur durch das Pflichtgefühl im Leben zurückgehalten. Ich bin in das Dachstübchen eingezogen, wo ich jetzt bin, mit der Ueberzeugung, daß ich darin arbeiten und erschöpft sterben werde; ich glaubte es besser zu ertragen als ich's tue. Seit mehr als einem Monate stehe ich um Mitternacht auf und gehe um sechs Uhr morgens zu Bette, habe mir genau das Maß von Nahrung auferlegt, das nötig ist, um nicht Hungers zu sterben, damit das Gehirn nicht auch die Ermüdung habe, welche aus der Verdauung entsteht; und doch fühle ich nicht nur Schwächezustände, die ich nicht beschreiben kann, sondern auch soviel Leben im Gehirn, daß ich sonderbare Störungen darin verspüre. Manchmal verliere ich das Gefühl der Senkrechtheit, welches im kleinen Gehirn ist; selbst im Bette kommt es mir vor, als ob mein Kopf nach rechts oder links falle und, wenn ich aufstehe, ist mir's, als ob ein furchtbares Gewicht im Kopf mich vorwärtstreibe ...«

Immer mehr zog er sich, ohne gerade ein Menschenfeind zu werden, von der Welt zurück, die er »haßte, weil sie das Herz verletzt und den Geist einengt«; aber nur zu sehr blieb er in Interessenberührung mit ihr; doch auch diese vermochte seiner durchaus edlen Natur nichts anzuhaben. Würdiger, vornehmer als er, mitten in seinen Bedrängnissen, gegenüber den Verlegern und Zeitungsdirektionen war, konnte man nicht sein; so in seinem Verhältnisse zu Emile de Girardin, dessen Gemahlin, die ihm nahe befreundet war, er den feinsten Ablehnungsbrief schreibt, der wohl je der geachteten Gattin eines wenig geachteten Mannes geschrieben worden; so gegen Buloz, den er sich zum Feinde machte, und dessen einflußreiche »Revue des deux Mondes« er sich verschloß, weil er auf seinem Rechte bestand. »Einst wird man wissen,« sagt er zur Gräfin Hanska, die die Verleumdungen, welche ja nie ausbleiben, ernster nahm als er, »einst wird man wissen, daß, wenn ich von meiner Feder gelebt habe, nie zwei Centimes in meine Börse gekommen sind, die ich nicht hart und mühsam verdient habe; daß Lob und Tadel mir höchst gleichgültig gewesen, daß ich meine Werke mitten unter dem Haßgeschrei, dem literarischen Musketenfeuer aufgebaut habe und daß ich fester und unbeirrter Hand vorwärtsging.«

So ging der Mann auch an der höchsten und gesuchtesten Ehre, die einem Franzosen zuteil werden kann, an der Wahl in die Akademie, ruhig vorüber. Balzac hatte ein unglaubliches Selbstgefühl, er spricht von sich selber wie von Napoleon, glaubt an seinen Ruhm bei der Nachwelt so sicher wie an einen vorausberechneten Kometen, aber er ist, wie ohne Hochmut, so ohne alle Eitelkeit. Er wußte die Akademie zu ehren als ein Stück der großen französischen Tradition, aber nie opferte er seine Würde, um diese Auszeichnung zu erbetteln, wie er nie sein literarisches Gewissen opferte, um Geld zu erlangen. Wohl wußte er, daß seine zerrütteten Vermögensverhältnisse ihm den Weg in die Akademie versperrten, welche auch in dieser Hinsicht die französische Respektabilität vertritt. »Wenn ich«, schrieb er dem väterlichen Freunde, der seine Wahl betrieb, »wegen der achtungswertesten Armut nicht in die Akademie gelangen kann, so werde ich mich nie bewerben, wenn mir einst das Glück seine Gunst zuwenden wird.« Und daß es ihm seine Gunst zuwenden werde, daran zweifelt er nie; denn er hat eine unbegrenzte Zuversicht zu sich selbst: »Nie ist der Strom, der mich fortzieht, reißender gewesen,« schreibt er 1836 von seinem Bankerotte; »nie hat ein furchtbarer majestätisches Werk ein menschliches Gehirn in Bewegung gesetzt. Ich gehe und gehe zur Arbeit wie ein Spieler ans Spiel. Ich schlafe nur noch fünf Stunden; ich arbeite achtzehn, ich werde tot ankommen; aber Ihr Andenken erfrischt mich zuweilen. Ich kaufe die Grenadière (ein Landgut), zahle meine Schulden. Ich brauche noch so ziemlich ein Jahr, um zu einer vollständigen Liquidation zu gelangen; aber das Glück, nichts schuldig zu sein, das ich unmöglich glaubte, ist jetzt keine Chimäre mehr.«

Man hat Balzac aus diesem hohen Selbstgefühle ein Verbrechen gemacht; die Kritiker namentlich haben ihm nie verziehen, daß er sie verachtete; aber man muß nie vergessen, welcher Art die Kritik war, die damals das Mittelmäßigste in den Himmel hob und sich so unendlich überlegen glaubte, weil sie in dem großen Werke Balzacs die nur allzuleicht auffindbaren Fehler zu entdecken verstand. Wie groß der poetische Fond von Schöpfungen sein muß, die trotz so augenfälliger Mängel ihre Macht bewahrten, fiel ihnen nie ein. »Denke nicht soviel an die Kritiker,« schreibt er schon früh an seine Schwester; »das sind gute Vorzeichen; die Mittelmäßigkeit diskutiert man nicht«; und später an seine Geliebte, welche ihn auf eine, von ihm wie gewöhnlich ignorierte, hämische Rezension aufmerksam machte: »Sie wissen ja, wie gleichgültig ich für den Tadel wie das Lob der Leute bin, die nicht die Erwählten meines Herzens sind, namentlich aber für die Meinung des Journalismus und im allgemeinen dessen, was man das Publikum nennt.« Er hatte neben seiner naivunbändigen Ruhmsucht doch auch eine Art jungfräulicher Scheu vor der Publizität und vor allem einen Abscheu vor unrechten Mitteln, um zum Ruhm zu gelangen, die in dem damaligen Frankreich ganz einzig waren. Er wollte seinen Ruhm wirklich verdienen, nicht erschleichen: der innere, bleibende Wert seiner Werke sollte ihn ihm erobern, nicht die Kamaraderie und die Reklame. Und wie vollständig gelang ihm dies! Während man in Frankreich noch seinen Wert in Frage stellte, war er schon in ganz Europa populär und lebte das Personal seiner Romane, die Rastignacs und die Maufrigneuse, schon als wirkliche Figuren, wie sie für ihn selber lebten, für die Gesellschaft von Venedig und St. Petersburg. Sainte Beuve erzählt, daß einst im innersten Rußland eine Dame beinahe in Ohnmacht gefallen wäre, als sie gehört, der große Balzac sei in Fleisch und Blut gegenwärtig. Der Grund dieser auswärtigen Berühmtheit liegt, wie bei Bulwer, wohl hauptsächlich darin, daß Balzac wie Bulwern, im guten wie im schlimmen, gewisse nationale Eigenschaften und Traditionen fehlten, welche man daheim nicht gerne mißt, die nach außen aber immer als Schranke wirken; zum Teil auch in der Eitelkeit der vornehmen Gesellschaft Osteuropas, welche doch immer noch nach den älteren westeuropäischen Salondamen und -herren, als nach ihren Mustern blickt und diese in Balzacs Romanen getreu geschildert zu finden glaubte. Ihm war beides eine unendliche Genugtuung: der weitverbreitete Ruhm seines Namens und die Autorität als Kenner vornehmer und eleganter Kreise.

So mächtig übrigens auch seine Ruhmsucht war, sie trat vor seinem Liebesbedürfnis zurück. »Im Grunde«, schreibt er 1844, als er schon, trotz der Kritik, seine literarische Stellung erobert hatte, an seine künftige Gattin, »ist das Spiel, das ich spiele, dies: vier Menschen werden in diesem halben Jahrhundert einen ungeheuren Einfluß ausgeübt haben: Napoleon, Cuvier, O'Connell. Ich möchte der vierte werden. Der erste hat vom Blute Europas gelebt..., der zweite hat sich dem Erdreich vermählt; der dritte hat ein Volk in sich verkörpert; ich werde eine ganze Gesellschaft in meinem Kopfe getragen haben. Ist's nicht ebensogut so zu leben, als alle Abende zu sagen: Pique, Trumpf, Coeur... oder nachzuforschen, warum Mme. Soundso dieses oder jenes getan? Aber es lebt in mir auch ein anderes Wesen, das viel größer ist als der Schriftsteller und viel glücklicher als er; das ist Ihr Sklave. Mein Gefühl ist schöner, größer, vollständiger als alle Befriedungen der Eitelkeit oder des Ruhmes. Ohne diese Fülle des Herzens hätte ich nicht den zehnten Teil meines Werkes vollendet, ich hätte den nötigen Mut dazu nicht gehabt.« Der ganze Balzac ist in diesen Zeilen, sein kindischer Ehrgeiz und sein kindliches Gemüt; auch sein Schicksal des ewigen Hoffens und Jagens nach einem Ziel, das ihm immer wieder entgeht und das er erst im Tode erreichen sollte: äußere Unabhängigkeit, inneres Glück.

Von Jugend auf hatte er von einer hohen Liebe geträumt. »Mich dem Glück einer Frau zu widmen, ist mein ewiger Traum, und ich bin verzweifelt, ihn nicht zu verwirklichen.« »Aber«, fügt er charakteristisch hinzu, »ich begreife Ehe und Liebe nicht in der Armut.« Denn nur das vornehme, müßige Weib, das seinen Körper pflegen kann wie seinen Geist und sein Gemüt, war ihm Weib, obschon er reizende Frauencharaktere aus der niederen und Mittelklasse geschildert hat: in der Wirklichkeit aber hörte eine Frau mit verarbeiteten Händen auf, eine Frau für ihn zu sein. Diejenige, die er fand, verwirklichte auch in dieser Hinsicht seine kühnsten Träume; und die Bewunderung, die er ihrer hohen Geburt, ihrem vornehmen Wesen, ihrem Reichtum, ihren großartigen Lebensgewohnheiten zollt, wie sie nur von denen gezollt wird, die derlei stets nur aus der Ferne gesehen, diese Bewunderung war ein Stück seiner Liebe, und nur die werden ihm das verargen, welche von der Komplexität menschlicher Leidenschaften keinen Begriff haben.

Schon vor dem Tode der Freundin und Gönnerin seiner Jugend hatte er im Jahre 1833 die Frau kennengelernt, die ihm mehr als Freundin und Schwester sein sollte und sein Herz bis zu seinem Tode ausfüllte. Gräfin Hanska war eine Polin aus altem, fast souveränem Geschlecht, von damals noch gewaltigem Reichtum, verheiratet an einen russischen Edelmann, dem Balzac selber noch befreundet war und den er hochschätzte. Erst nach dessen Tode nahm das Verhältnis einen mehr als freundschaftlichen Charakter an; doch versprach Gräfin Hanska nicht vorm Jahre 1846 dem drängenden Freunde ihre Hand, und die Ehe selbst ward erst wenige Monate vor Balzacs Tode im Frühling 1850 abgeschlossen: beide waren bereits Fünfziger, er schon der furchtbaren Krankheit anheimgefallen, die ihn wegraffen sollte; sie fast unfähig, sich zu bewegen, kaum vermögend, mit ihrer zitternden Hand den Heiratskontrakt zu unterschreiben. Siebzehn Jahre lang sahen sich die alternden Geliebten nur von Zeit zu Zeit, in Italien, Deutschland, Rußland. Um ihre Gegenwart nur ein paar Tage zu genießen, schien ihm ja eine zehntägige Reise nicht zu beschwerlich, und die Tage, welche er auf der einsamen »Insel im Meere« – das Meer waren die Kornfelder, die Insel der Park, in dessen Mitte sich das fürstliche Schloß seiner Geliebten erhob – waren die glücklichsten seines Lebens. Ihr schrieb er täglich, und diese langen Briefe sind unstreitig die interessantesten der Correspondance. Leider fehlen wenigstens drei Viertel derselben, welche die Gräfin bei einem Brande ihres Schlosses einbüßte.

Das Verhältnis war ein merkwürdiges, im neuen Frankreich geradezu unerhörtes: es erinnerte an die lange Liebe des Chevalier de Boufflers und Mme. de Sabrans, deren reizende Briefe uns vor nicht langer Zeit einen so schönen Einblick in die Gemütstiefe des vorigen Jahrhunderts erlaubt, dem ja zu allen seinen großen Reizen auch dieser nicht fehlte. Die Tochter Gräfin Hanskas, eine reizende jugendliche Erscheinung, und ihr Gatte, ein feiner, gebildeter junger Edelmann in des Wortes schönstem Sinne, hingen fast ebenso an Balzac wie die Mutter, und für ihn bildeten alle drei im Rahmen des großartig vornehmen Schloßlebens im Herzen Rußlands ein Einziges. Jeder hatte einen Spitznamen. Balzac selber hieß Bilboquet in dieser Truppe der Saltimbanques (Seiltänzer), wie er sie nach einem damals unglaublich populären Boulevardstücke getauft hatte. Familienverhältnisse, vielleicht auch eine kleine Scheu vor der wirren, verschuldeten Lage Balzacs, schoben die eheliche Verbindung immer wieder hinaus, während Balzac jahrelang liebevoll und wie immer verschwenderisch an dem Neste baute, das in einem Winkel der Champs-Elysées seine Geliebte aufnehmen und alles Raffinement des abendländischen Luxus mit aller Fülle des morgenländischen vereinigen sollte. Derselbe Mann, der (in den Contes drolatiques) die Rabelaissche Zote aufs kühnste erneuert, der (in der Fille aux yeux d'or, in der Cousine Bette) die abscheulichsten Verirrungen der Hyperzivilisation und verderbter Sinnlichkeit geschildert hat, erscheint uns hier, wie auch bei allen Zeitgenossen, die ihn persönlich gekannt, wie beseelt und ausgefüllt von reinster, fast mädchenhafter Liebe für eine einzige, der er Altäre baut, ein Widerspruch, der tief durch die idealbedürftige, sinnlich erregbare Nation geht, schon im mittelalterlichen Rittertum und seiner Dichtung hervortritt, sich in Pascals, in Abbé de Rancés Leben bis zur Tragik steigert. Balzac hat ähnliche Gedanken wie der merkwürdige Stifter des schweigenden Trappistenordens – eines Ordens, der nur in Frankreich Wurzel gefaßt hat –, man weiß, daß Rancé erst nach dem Tode seiner Geliebten auf immer dem weltlichen Leben entsagte. An seine erkrankte Geliebte schreibt Balzac im Jahr 1844: »Wenn die Hoffnung meines ganzen Lebens mir schwände, wenn ich Sie verlöre, würde ich mich nicht töten, würde ich kein Priester werden; aber ich ginge in einen unbekannten Winkel, in der Arriege oder den Pyrenäen, um dort langsam zu sterben, ohne mich weiter um irgendwas in der Welt zu kümmern; alle zwei Jahre ginge ich zu Anna, (Gräfin Hanskas Tochter) und spräche von Ihnen. Ich schriebe auch nicht mehr. Wozu sollte ich schreiben? Sind Sie nicht die ganze Welt für mich?« Nachdem er Lauzuns, des bekannten Wüstlings, Memoiren gelesen, ruft er aus: »Wie glücklich ist man doch, wenn man nur eine Frau liebt!«

Wer war französischer, Rabelais oder Pascal, Rancé oder Lauzun? Es sind zwei Seiten einer selben, dem Schreiber dieses trotz so langer Lebensgemeinschaft unbegreiflichen, unergründlichen Natur. »In Frankreich«, sagt Balzac selber in einem Briefe an die Freundin, »sind wir heiter und witzig und lieben; wir sind heiter und witzig und sterben; wir sind heiter und witzig und schaffen; wir sind heiter und witzig und dabei konstitutionell; wir sind heiter und witzig und vollbringen erhabene und tiefe Dinge. Wir hassen die Langeweile, aber wir haben darum nicht weniger Gemüt, wir gehen an alles heiter und witzig, frisiert, pommadiert, lächelnd ... Man hält uns für ein leichtsinniges Volk. ... Wir leichtsinnig! unter der Herrschaft des 1000-Frankensackes und Sr. Maj. Louis Philipps. Sagen Sie Ihrer lieben Fürstin, daß Frankreich auch zu lieben weiß. Sagen Sie ihr, daß ich Sie seit 1833 kenne und daß ich im Jahre 1845 bereit bin, von Paris nach Dresden zu reisen (es gab noch keine Eisenbahn), um Sie einen Tag zu sehen!« Und am 1. Januar 1846: »Ein Jahr mehr, Teuerste, und ich nehme es mit Freuden hin; denn diese Jahre, diese dreizehn Jahre, die im Februar voll sein werden, an dem glücklichen, tausendmal gebenedeiten Tage, wo ich jenen angebeteten Brief erhalten, der mir Glück und Hoffnung eröffnete, scheinen mir ewige unzerbrechliche Bande. Das vierzehnte beginnt in zwei Monaten; und jeder Tag dieses Jahres hat meine Bewunderung, meine Anhänglichkeit, meine Pudeltreue vermehrt.« Und als er endlich den Preis errungen (November 1849), der Trauungstag festgesetzt ist, kann er seiner Schwester schreiben: »Das Geschenk ihrer Neigung erklärt mir alle meine Kümmernisse, meine Schmerzen, meine Mühen: ich bezahle im voraus ans Unglück den Preis eines solchen Schatzes... . Ich finde sogar, daß ich sehr wenig gezahlt habe. Was sind fünfundzwanzig Jahre Arbeit und Kampf, um eine so herrliche, so glänzende, so volle Liebe zu erobern? Seit vierzehn Monaten bin ich nun hier (auf dem Schlosse Mme. Hanskas) in dieser Wüste, denn es ist eine Wüste, und es kommt mir vor, als wären sie wie ein Traum verflogen, ohne eine Stunde Langeweile, ohne eine Wolke, und das nach fünf Reisejahren und sechzehn Jahren beständiger Freundschaft.«

Endlich am 14. März 1850 fand die Trauung in der Dorfkirche von Vierzschovnia statt. »Diese Verbindung ist«, so schrieb er am nächsten Tage an eine seiner ältesten Freundinnen, »eine Belohnung, die Gott mir aufgespart hatte für soviel Widerwärtigkeiten, Arbeitsjahre und überstandene Qualen. Ich habe keine glückliche Jugend gehabt, keinen blühenden Frühling; aber ich werde den glänzendsten Sommer, den süßesten Herbst haben.« Zwei Monate später verschied der Dichter in den Armen seiner Gemahlin, wenige Tage nachdem er mit ihr den schönen Freihof am Arc de l'Etoile erreicht, den er gebaut, sie und sein Glück zu beherbergen.

I

Véronique

Inhaltsverzeichnis

Im unteren Teil von Limoges, an der Ecke der Rue de la Vieille-Poste und der Rue de la Cité befand sich vor dreißig Jahren einer jener Kramladen, an denen sich seit dem Mittelalter nichts geändert zu haben scheint. Große, an tausend Stellen zerbrochene Fliesen, die in einen Boden eingelassen sind, der sich stellenweise als feucht erweist, würden jeden zu Fall gebracht haben, der die Höhlungen und Erhebungen dieses seltsamen Pflasters nicht beachtet hätte. Die staubgrauen Mauern wiesen ein seltsames Mosaik von Holz und Ziegeln, von Steinen und Eisen auf, die mit einer Festigkeit zusammengeschichtet worden waren, welche man der Zeit, vielleicht dem Zufall verdankte. Seit mehr als hundert Jahren senkte sich der aus kolossalen Balken gefügte Fußboden, ohne unter der Last der oberen Stockwerke zu brechen. Als Ständerwerk gebaut waren diese Stockwerke außen mit Schiefern bedeckt, die solcherart eingenagelt worden waren, daß sie geometrische Figuren bildeten, und bewahrten ein naives Bild bürgerlicher Bauwerke aus alter Zeit. Keines der Fenster, die mit Holz eingerahmt waren, das ehedem mit nunmehr durch Witterungseinflüsse zerstörten Skulpturen verziert war, stand heutigentags gerade: einige hingen nach vorn, andere traten zurück, wieder andere wollten aus den Fugen gehen. Alle waren mit Erdreich versehen, das, man weiß nicht wie, durch Regen in die klaffenden Spalten gebracht worden war, in welchen im Frühjahr einige zarte Blumen, kraftlose Kletterpflanzen und schlanke Kräuter wuchsen. Moos lag wie Sammet auf den Dächern und Fensterlehnen. Der Eckpfeiler, obwohl er aus Mischwerk, das heißt, aus Quadern bestand, die ein Gemenge aus Kieseln und Ziegelbrocken darstellten, erschreckte das Auge durch seine Krümmung: er schien eines Tages unter dem Gewicht des Hauses, dessen Giebel einen halben Fuß etwa aus dem Lot heraustrat, weichen zu müssen. Auch ließen die Stadtverwaltung und das Hauptwegeamt das Haus, nachdem sie es gekauft hatten, niederreißen, um die Straßenecke zu verbreitern. Dieser an der Ecke der beiden Straßen stehende Pfeiler empfahl sich den Liebhabern Limousiner Altertümer durch eine hübsche skulpierte Nische, worin man eine während der Revolution verstümmelte Jungfrau sah. Bürger mit archäologischen Prätentionen bemerkten Spuren des steinernen Randes daran, der dazu bestimmt war, die Leuchter aufzunehmen, worin die allgemeine Frömmigkeit Kerzen anzündete, wohin sie ihre Ex-voto und Blumen stellte. Im Hintergrunde des Kramladens führte eine wurmstichige Treppe in die beiden oberen Stockwerke, über denen sich ein Speicher befand. Das sich an zwei Nachbarhäuser lehnende Haus besaß keine Tiefe und erhielt sein Licht nur durch Fenster. Jedes Stockwerk enthielt nur zwei kleine Zimmer, deren jedes durch ein Fenster erhellt wurde; eines ging nach der Rue de la Cité, das andere nach der Rue de la Vieille-Poste hinaus. Besser hauste im Mittelalter ein Handwerker nicht. Augenscheinlich hatte das Haus ehemals Panzerhemdenmachern und Messerschmieden, irgendwelchen Handwerksmeistern gehört, deren Beruf das Tageslicht nicht scheute; unmöglich konnte man dort deutlich sehen, ohne daß die eisenbeschlagenen Fensterläden nach jeder Front hin aufgestoßen wurden, wo sich auf jeder Pfeilerseite wie bei vielen, an Straßenecken gelegenen Kramläden eine Tür befand. Bei jeder Türe begann nach einer schönen, im Laufe der Jahrhunderte abgenutzten Steinschwelle eine kleine Mauer in Brusthöhe, in der sich ein im Balken oben wiederholter Einschnitt befand, auf dem die Mauer jeder Fassade ruhte. Seit Menschengedenken schob man plumpe Fensterläden in diesen Einschnitt und befestigte sie mit übergroßen eisenverbolzten Bändern; dann befanden sich, nachdem beide Türen durch einen ähnlichen Mechanismus einmal geschlossen worden waren, die Kaufleute in ihren Häusern wie in einer Festung. Bei der Untersuchung des Inneren, das die Limousiner die ersten zwanzig Jahre dieses Jahrhunderts über mit altem Eisen, Kupfer, Spiralfedern, Radbändern, Glocken und allen Metallarten, welche Hausabbrüche liefern, vollgestopft sahen, bemerkten Leute, welche dies Ueberbleibsel der alten Stadt interessierte, den Platz eines Schmiederohrs, das durch einen langen Rußstreifen angezeigt wurde, eine Einzelheit, welche die Vermutungen der Archäologen über die anfängliche Bestimmung des Ladens bekräftigte. Im ersten Stock lagen ein Zimmer und eine Küche, im zweiten gab's zwei Kammern. Der Speicher diente als Lagerraum der Gegenstände, die sorgfältiger gearbeitet worden waren als die im Laden durcheinandergeworfenen.

Dies zuerst vermietete Haus wurde später von einem Manne namens Sauviat gekauft, einem Jahrmarktshändler, der von 1792 bis 1796 die Landstriche der Auvergne in einem Umkreis von fünfzig Meilen durchzog, wo er Töpfe, Schüsseln, Teller, Gläser, kurz alle für die ärmsten Haushalte notwendigen Sachen gegen altes Eisen, Kupfer, Blei, gegen alles Metall, unter welcher Form es sich verbarg, eintauschte. Der Auvergnate gab eine irdene Pfanne zu zwei Sous für ein Pfund Blei, oder für zwei Pfund Eisen, zerbrochene Spaten, zerschlagene Hacken, alte zerspaltene Fleischtöpfe her; und immer Richter in seiner eigenen Sache, wog er selber seinen Eisenkram ab. Vom dritten Jahre an verband Sauviat mit diesem Handel noch den mit Keßlerarbeit. 1793 konnte er ein auf Befehl der Nation zu verkaufendes Schloß erstehen und riß es nieder; den Gewinst, den er machte, wiederholte er zweifelsohne in mehreren Orten des Bereiches, in welchem er operierte; später brachten ihn diese Versuche auf den Gedanken, einem seiner Landsleute in Paris ein Geschäft großen Stils vorzuschlagen. So entsprang die durch ihre Verwüstungen so berüchtigte »schwarze Bande« in des alten Sauviats, des Jahrmarktshändlers, Gehirn, den ganz Limoges siebenundzwanzig Jahre über in jenem alten Kramladen inmitten seiner zerbrochenen Glocken, seiner eisernen Griffe, seiner Ketten, seiner Träger, seiner Dachrinnen aus gewundenem Blei, seines Alteisenkrams jeglicher Art gesehen hat. Man muß ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß er niemals weder die Berüchtigung noch die Ausdehnung dieser Gesellschaft kannte; er benutzte sie nur im Verhältnis zu den Kapitalien, die er dem berühmten Hause Brézac anvertraut hatte. Als er es müde war, auf die Jahrmärkte und in die Dörfer zu ziehen, ließ er sich in Limoges nieder, wo er 1797 die Tochter eines verwitweten Kesselschmieds namens Champagnac geheiratet hatte. Als der Schwiegervater starb, kaufte er das Haus, wo er seinen Alteisenhandel festlegte, nachdem er ihn noch drei Jahre über in Gesellschaft seines Weibes im Herumziehen ausgeübt hatte. Sauviat näherte sich seinem fünfzigsten Lebensjahre, als er die Tochter des alten Champagnac heiratete, die ihrerseits nicht weniger als dreißig Jahre alt war. Weder schön noch hübsch war die Champagnac in der Auvergne geboren und das Platt brachte sie einander um vieles näher; dann hatte sie jene derbe Figur, die Frauen den härtesten Arbeiten zu widerstehen erlaubt; auch begleitete sie Sauviat auf seinen Wegen. Sie trug Eisen oder Blei auf ihrem Rücken und fuhr den elenden Packwagen voll Töpfereien, mit denen ihr Ehemann einen heimlichen Wucher trieb. Braun, sonnenverbrannt, bei bester Gesundheit wie sie war, zeigte die Champagnac beim Lachen weiße, wie Mandeln lange und breite Zähne; endlich besaß sie den Oberkörper und die Hüften jener Frauen, welche die Natur dazu geschaffen hat, Mütter zu sein.

Wenn dies kräftige Mädchen sich nicht eher verheiratet hatte, mußte man ihr Zölibat Harpagons »mitgiftlos« zuschreiben, dem ihr Vater nacheiferte, ohne Moliére je gelesen zu haben. Sauviat erschrak vor dem »mitgiftlos« nicht; außerdem durfte ein fünfzigjähriger Mann keine Schwierigkeiten machen, da sein Weib ihm die Kosten einer Magd ersparen sollte. Er fügte nichts zu dem Hausrat seines Zimmers hinzu, wo es von seinem Hochzeitstage an bis zu seinem Auszuge immer nur ein Himmelbett, das mit einem ausgeschlagenen Himmel und mit grünen Sergevorhängen geschmückt war, eine Truhe, eine Kommode, einen Sessel, einen Tisch und einen Spiegel gab, alles aus verschiedenen Räumlichkeiten zusammengetragen. Die Truhe enthielt in ihrer oberen Hälfte ein Zinngeschirr, dessen sämtliche Stücke untereinander verschieden waren. Nach dem Schlafzimmer kann jedweder sich die Küche vorstellen. Weder der Ehemann noch seine Frau konnten lesen, ein leichter Erziehungsfehler, der sie nicht hinderte, wunderbar zu rechnen und den blühendsten Handel zu treiben. Denn Sauviat kaufte keinen Gegenstand ohne die Gewißheit, ihn mit hundert Prozent Nutzen wieder verkaufen zu können. Um keine Bücher und keine Kasse führen zu müssen, bezahlte und verkaufte er alles gegen bar. Im übrigen hatte er ein so wunderbares Gedächtnis, daß seine Frau und er sich jedes Gegenstandes, mochte er auch fünf Jahre in seinem Laden bleiben, und bis auf den Heller auch seines Einkaufspreises zuzüglich der jährlichen Zinsen erinnerten. Außer der Zeit, wo sie sich um die Sorgen des Haushaltes kümmerte, saß die Sauviat immer auf einem schlechten Holzstuhl, an den Pfeiler ihres Kramladens gelehnt; die Vorübergehenden musternd, strickte sie, wachte über ihr altes Eisen und verkaufte, wog und lieferte es selbst ab, wenn Sauviat der Ankäufe wegen unterwegs war. Bei Tagesanbruch hörte man den Alteisenhändler seine Fensterläden öffnen, der Hund lief schnell in die Straßen, und bald erschien die Sauviat und half ihrem Manne auf die natürlichen Stützen, welche die kleinen Mauern auf der Rue de la Vieille-Poste und der Rue de la Cite bildeten, Glocken, alte Sprungfedern, Schellen, zerbrochene Gewehrläufe, den Lumpenkram ihres Handels stellen, die als Verkaufsschild dienten und dem Laden, in welchem es oft für zwanzigtausend Franken Blei, Stahl und Glocken gab, ein ziemlich klägliches Aussehen verliehen. Niemals sprachen weder der ehemalige Jahrmarktströdler noch seine Frau von ihrem Vermögen; lange Zeit über vermutete man, daß sie die Gold- und Talerstücke beschnitten. Als Champagnac starb, machten die Sauviat kein Inventar, mit Rattenklugheit durchwühlten sie alle Winkel seines Hauses, ließen es nackt wie einen Kadaver und verkauften selber die Keßlerarbeiten in ihrem Laden. Einmal jährlich, im Dezember, reiste Sauviat nach Paris und bediente sich dann der öffentlichen Post. Auch vermuteten die Aufpasser im Viertel, daß der Alteisenhändler, um seine Vermögensverhältnisse zu verbergen, sein Geld selber in Paris anlege. Später erfuhr man, daß er, der seit seiner Jugend mit einem der berühmtesten Metallhändler in Paris, Auvergnate wie er, verbunden war, seine Gelder in der Kasse des Hauses Brézac arbeiten ließ, der Hauptstütze jener berüchtigten, die »schwarze Bande« genannten Gesellschaft, die sich, wie gesagt wurde, nach Sauviats, eines der Teilhaber Rate dort bildete.

Sauviat war ein kleiner dicker Mann mit müdem Gesicht, das mit einer rechtschaffenen Miene begabt worden war, welche die Käufer verführte, und dies Aussehen diente ihm dazu, vorteilhaft einzuhandeln. Die Trockenheit seiner Versicherungen, und die vollkommene Gleichgültigkeit seines Verhaltens kamen seinen Forderungen zugute. Seine dunkle Hautfarbe ließ sich unter dem metallischen und schwarzen Staube, mit dem seine krausen Haare und sein pockennarbiges Gesicht bestreut waren, nur schwer erraten. Seine Stirne entbehrte des Adels nicht, sie glich der klassischen Stirn, die von allen Malern dem heiligen Petrus, dem rauhesten, populärsten und auch listigsten der Apostel, verliehen wird. Seine Hände waren die eines unermüdlichen Arbeiters, breit, dick, viereckig und durch alle Arten von kräftigen Rissen gefurcht. Sein Brustkorb wies eine unzerstörbare Muskulatur auf. Nie gab er seinen Jahrmarktströdleranzug auf: derbe eisenbeschlagene Schuhe, blaue Strümpfe, die von seiner Frau gestrickt worden waren und unter Ledergamaschen verborgen wurden, eine flaschengrüne Sammethose, eine karierte Weste, an welcher der Kupferschlüssel seiner silbernen Uhr an einer eisernen Kette hing, welche der Gebrauch glänzend und poliert wie Stahl gemacht hatte, einen kurzen Schoßrock aus ähnlichem Sammet wie dem der Hose; dann um den Hals eine durch das Scheuern des Bartes abgenutzte bunte Rouener Baumwollkrawatte. An Sonn- und Feiertagen trug Sauviat einen kastanienbraunen Ueberrock, der so geschont wurde, daß er ihn in zwanzig Jahren nur zweimal zu erneuern brauchte. Das Leben der Zuchthäusler kann man mit dem der Sauviat verglichen, luxuriös nennen: nur an hohen Festtagen aßen sie Fleisch. Ehe die Sauviat das für das tägliche Leben notwendige Geld ausgab, wühlte sie in ihren beiden zwischen Rock und Unterrock versteckten Taschen herum und kriegte nur schlechte beschnittene Sechs-Livresoder Fünfzig-Sous-Stücke heraus, die sie verzweiflungsvoll betrachtete, ehe sie eins wechselte. Die meiste Zeit über begnügten die Sauviat sich mit Heringen, roten Erbsen, Käse, harten, unter Salat gemengten Eiern und Gemüsen, die auf die am wenigsten kostspielige Art gewürzt wurden. Niemals kauften sie Vorräte außer einigen Butten Knoblauch und Zwiebeln, bei denen man nichts zu befürchten hatte und die nicht viel kosteten. Das bißchen Holz, das sie im Winter verbrauchten, kaufte die Sauviat vorüberziehenden Reisholzbindern und immer von Tag zu Tage ab. Um sieben Uhr im Winter, Sommer um neun Uhr lag die Familie im Bett, war der Laden geschlossen und von ihrem riesigen Hunde bewacht, der seinen Lebensunterhalt in den Küchen des Stadtteils suchte. Mutter Sauviat gebrauchte für keine drei Franken Kerzen im Jahr.

Das nüchterne und arbeitsame Leben dieser Leute wurde durch eine Freude, aber eine natürliche Freude belebt, für die sie ihre einzigen, bekannt gewordenen Ausgaben machten. Im Mai 1802 hatte die Sauviat eine Tochter. Sie kam ganz allein nieder und nahm fünf Tage später die Sorge für den Haushalt wieder auf sich. Sie nährte ihr Kind selber auf dem Stuhle mitten im Winde und fuhr fort, Alteisen zu verkaufen, während sie ihre Kleine stillte. Da ihre Milch nichts kostete, ließ sie ihre Tochter, die sich nicht schlecht dabei befand, zwei Jahre über trinken.