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Für August klingt es wie ein Traum: Als der junge Leutnant 1881 seinen Dienst bei der k. u. k. Armee Österreich-Ungarn quittiert, liegt ein ganzer langer Sommer in seiner Heimatstadt Wien vor ihm. Erst im Herbst soll er bei seinem Onkel, einem Schokoladenfabrikanten, seine neue Stelle antreten. Dann jedoch trifft er die selbstbewusste Elena Palffy, deren Mann erst kurz zuvor unter mysteriösen Umständen verschwunden ist, und die unter dem Verdacht steht, ihn umgebracht zu haben. Mit außergewöhnlichen Schokoladenkreationen wirbt August um sie und gewinnt schließlich ihr Herz. Doch nach einem Brand in der Wiener Oper bleibt Elena spurlos verschwunden ...
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Seitenzahl: 354
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Ewald Arenz
Der Duft von Schokolade
Roman
ars vivendi
Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (5. Auflage 2009)
© 2007 by ars vivendi verlag
GmbH & Co. KG, Cadolzburg
Alle Rechte vorbehalten
www.arsvivendi.com
Lektorat: Susanne Bartel
Korrektorat: Jürgen Stölzle, Margit Schwab
Umschlaggestaltung: Philipp Starke, Hamburg
Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag
eISBN 978-3-86913-324-9
I
1
Im Frühjahr 1881 quittierte der Leutnant August Liebeskind nach fast zehn Jahren den Dienst in der kaiserlichen und königlichen Armee Österreich-Ungarns. Es war ein regnerischer Tag, aber der Himmel war hell, und der Duft von Gras und Sonne lag schon als verwehter Hauch und wie ein Versprechen in der kühlen, grauen Luft, als August den Hof der Stiftskaserne durchquerte. Offiziell war er jetzt schon kein Soldat mehr, aber er grüßte die Wachhabenden am Tor wie gewohnt. Dann trat er auf die Mariahilfer Straße, blieb stehen und lächelte.
Das war alles. Er konnte stehen bleiben und weitergehen, wie es ihm gefiel. Es gab keinen Dienst mehr und keine Befehle. Er war frei. Hatte sich der Duft der Luft geändert? Er atmete tief ein und fand, dass sie wirklich anders roch. Sie roch frei. Ein klarer Geruch. Er schob die Mütze ein Stück aus der Stirn, und schon begann die Uniform, sich ein bisschen ungewohnter anzufühlen, so wie damals, als er sie das erste Mal getragen hatte.
Eigentlich war er nicht ungern Soldat gewesen, aber ein Schönwetterleutnant, dachte er, über sich selbst amüsiert, und grüßte noch ein letztes Mal, als ein kleiner Trupp durch das Tor kam und an ihm vorbei nach rechts abbog. Er war nie ein richtiger Soldat geworden. Ein Denker, hatten manche Kameraden spöttisch gemeint, ein Träumer, und dabei doch immer das Gefühl gehabt, dass die Beschreibung nicht traf. Er war nicht versponnen und nicht verträumt. Er war anders. Er konnte befehlen, tat es aber nur selten. Er konnte manchmal überraschend mutig sein, aber er war nie kühn wie die Kameraden. Er war in all den Jahren kein richtiger Soldat geworden.
Manches hatte ihm gefallen. Die Herbstmanöver. Wenn der Himmel über den Feldern hoch und blau war und es nach Rauch vom Kartoffelkraut roch und in den Wäldern nach Kastanien. Auch die frostigen Wintermorgen, an denen der Atem der Pferde und Reiter dampfte, das gefrorene Gras unter den Hufen knisterte und die Sonne so rot aufging wie im Sommer nie. Und in der Kaserne die Stunden, in denen Strategie gegeben wurde. Er mochte das Spiel mit Möglichkeiten, die Präzision, mit der eins aus dem anderen folgte und mit der sich alles berechnen ließ. Strategie war klar und genau, aber nur ein Spiel. Er war froh, dass es in diesen Jahren keinen großen Krieg gegeben hatte, auch wenn er das nie zu den Kameraden gesagt hätte. Er hatte sich nicht nach dem Abenteuer Krieg gesehnt, weil er zu viel Fantasie hatte, die ihm ungewollt ausmalte, wie sich eine Kugel anfühlen musste, wenn sie einschlug, oder ein Bajonett, wenn es traf. Ein Schönwettersoldat eben.
Diese zehn Jahre Dienst waren eigentlich nur wie eine Fortsetzung der Schule gewesen. Es hatte große und kleine Regeln gegeben, Unangenehmes und Angenehmes und hinter allem immer einen Hauch Gemütlichkeit, der durch die Gewohnheit entstand. Ein Abschnitt, der eben zu durchleben war.
Aber jetzt, wurde ihm mit einer kleinen Überraschung klar, jetzt war er das erste Mal seit seiner Kindheit ganz und gar frei. Ein langer, leerer Sommer lag vor ihm. Ohne Pflichten und ohne Verbindlichkeiten. Er war sein eigener Herr. Er war frei. Es war ein Schülerglück, das ihn erfüllte, während er durch den grauen Morgen in die Stadt hineinging, und er hätte bei jedem Schritt lachen können, unbeschwert und einfach so, weil es schön war, alles hinter sich und nichts vor sich zu haben.
Es regnete jetzt tatsächlich, aber das machte nichts. Wenn es das tat, roch alles nur noch stärker, und August liebte die Gerüche. Wenn er die Augen schloss, konnte er sie sogar sehen. Jeder Duft hatte eine Farbe, für die es in der Sprache keine Wörter gab. Auch der Geruch von Frühlingsregen, er war wie ein blasses, unaufdringlich heiteres Lindgrün. Um ihn herum hasteten die Damen und Herren die Straße entlang, und es war ein Spaß, ganz unberührt und gelassen und vergnügt durch den Regen zu gehen. Heute konnte er nicht nass werden. Alle anderen schon, aber er nicht. Als er um die Hofburg herum war, zögerte er einen kleinen Augenblick und überlegte, wohin er sich wenden sollte. Dann sah er die Schaufenster der Konditorei Demel, ging quer über die Straße und trat ein. Er ging gern ins Kaffeehaus, weil er die Düfte dort liebte. Wie er die Gerüche draußen liebte, so liebte er auch die Aromen im Demel, die in Schleiern in der Luft lagen, sich gemächlich umeinander drehten und alle zusammen die Atmosphäre des Kaffeehauses ausmachten. Als Erstes und am stärksten kam einem, wie als Begrüßung, schon an der Tür der Geruch des frisch röstenden und aufgebrühten Kaffees entgegen. Dann der Zigarrenrauch, der einzige Duft, den man sehen konnte. Und dann, ganz zart und jeder unverwechselbar, die vielen kleinen Düfte. Bitter, von geraspelter Schokolade. Oder geschmolzen und süß, von den Schokoladen der Damen an kühlen Tagen wie heute, mit einem Hauch Vanille darin. Tragant, der einfache, süße Geruch, der von all den Zuckerfiguren ausging. Honig. Überall, wieder wie Farben, die unterschiedlichen Gerüche des Honigs: rosigsüß im Rachat-Lougoum, blütensüß im Halwa, walddunkel in den Nonnenkrapferln, durchsichtig fein im Akazienblütenkonfekt. Wunderbar und gefährlich schön der Bittermandelgeruch vom Rehrücken, dieser langen, glänzend schokolierten Torte. Einen Geruch gab es, den erkannte August nicht gleich. Er blieb einen Augenblick stehen und sah sich um, bis er entdeckte, woher er kam. Ja. Das war der schwache, aber unverkennbare Heimatgeruch von warmer Milch, bevor sie in den Kaffee gegossen wurde. Und alles zusammen mischte sich zum Duft von Freiheit, denn wenn man im Kaffeehaus war, war man ja dort, weil man sich freigemacht hatte. Alles andere blieb außen vor. August setzte sich nahe den Fenstern, bestellte und trank den starken Kaffee unter dem kühlen Schlagobers. Er hatte eine Zeitung unberührt auf dem Tisch liegen und sah hinaus. Er war glücklich, und weil er wusste, dass Glück nie lange dauerte, bewegte er sich sehr behutsam, um es nicht vorschnell zu verjagen.
Vor den Fenstern blieben die Leute stehen. Ein kleiner Auflauf entstand. August sah neugierig hinaus. Die Leute standen mit dem Rücken zu ihm und blickten auf die Gasse. Durch sie hindurch konnte er sehen, wie auf einmal ein sehr großes Rad erschien, an ihnen vorbeifuhr, langsamer wurde und – für August außer Sicht – verschwand. Ein Hochrad. Er musste lächeln. Bisher hatte er immer nur Bilder davon gesehen. Als er gegen seine Neugier entschied, einfach sitzen zu bleiben, ging die Tür auf, und er sah das Rad an die Wand gelehnt stehen. Eine junge Frau mit einem sehr großen Hut trat ein; sie achtete nicht auf die milde Empörung, die sie in der kleinen Menge ausgelöst hatte, die noch immer vor dem Demel stand und Rad und Fahrerin begaffte. August sah ihr zu, wie sie sich setzte, ohne sich vom Ober einen Tisch zuweisen zu lassen. Seine Kameraden hatten sich manchmal über ihn lustig gemacht, weil er gerne im Demel war. Ein Kaffeehaus, in dem Frauen verkehren, hatten sie in gutmütigem Spott gegrinst, das schaut nach dem Liebeskind aus, nicht wahr?
August beobachtete die Frau und dann die Gäste – alle sahen zu ihr hinüber, bis auf den alten Herrn, der nur aus seinem Intelligenzblatt auftauchte, um pünktlich alle Stunde eine weitere Schale Kaffee zu bestellen – und war hin- und hergerissen zwischen dem Ärger über den Hochmut, mit dem sie hereingekommen war, und der Bewunderung für ihren Mut.
»Mazagran, bitte!«, bestellte sie schließlich, und das war wirklich maßlos arrogant. Mazagran war kalter Mokka mit Cognac. Man trank keinen Mazagran am Vormittag. Auf einmal ärgerte sich August doch. Über sich und über die Hochradfahrerin. Sein Glück von vorhin war verflogen, er hatte sich von ihr und seiner Neugier zurück in die Welt ziehen lassen. Und weil ihn ihr Hochmut reizte, sagte er wie nebenbei und nicht einmal bewusst an sie gerichtet:
»Ich dachte, in Wien sei das Hochradfahren verboten.«
Sie sah auf und ihn kühl an. Sie hob nicht einmal die Brauen. Plötzlich fühlte August sich dumm, aber gleichzeitig kam ihr Duft bei ihm an, ein Duft wie von fremden Gewürzen, farbig und voll, doch hinter diesem Parfum lag noch etwas Bitterschönes wie glimmendes Heu; ein Duft, den er sofort mochte, obwohl er die Frau nicht leiden konnte.
»Liegt das daran, dass die Wiener beim Hochradfahren zu oft stürzen, Herr Leutnant?«, fragte sie mit klarer und lauter Stimme, und ein paar Köpfe drehten sich zu ihr und ihm um. Sie hielt seinen Blick fest. August, der sonst im Gespräch nicht langsam war, fiel nicht sofort das Richtige ein.
»Sie sind keine Wienerin, nicht wahr?«, fragte er, aber was scharf klingen sollte, hörte sich nur stumpf an.
»Nein«, sagte sie und ließ seinen Blick immer noch nicht los, als sie mit Vorbedacht und effekthascherisch anfügte, »zum Glück nicht.«
An einem der anderen Tische murrte es in halbherziger Empörung. August konnte nichts sagen, obwohl er ihr gerne irgendwie über den Mund gefahren wäre. Aber ihm fiel einfach nichts ein. Immerhin hielt er ihren Blick aus, bis sie beide, fast gleichzeitig, den Kopf drehten. Er faltete die Zeitung auf, und sie trank ihren Mazagran. Die Gespräche an den anderen Tischen wurden wieder aufgenommen, die Kaffeemaschine summte, und aus der Küche hörte man gedämpft, wie der Lehrbub Obers aufschlug.
»Zahlen!«, rief August nach zehn Minuten, als es sich nicht mehr nach Rückzug oder Niederlage anhörte, beglich die Rechnung und ging an ihrem Tisch vorbei, ohne dass sie noch einmal herschaute oder er zu ihr. Als er aus der Tür trat, sah er das Hochrad noch immer an der Wand stehen, und er fragte sich unwillkürlich, wie sie ohne Hilfe aufsteigen konnte. Eine atemberaubende Überheblichkeit, dachte er, aber dann musste er über sich selbst lachen und sah nach oben. Der Regen hatte aufgehört, die Wolken waren hell geworden und trieben über einen immer blauer werdenden Himmel. Es lohnte nicht, sich zu ärgern. Augusts gute Laune kehrte zurück, etwas nachdenklicher zwar, aber sie war wieder da, und auf einmal hatte er Lust zu gehen, den ganzen Weg bis zu seiner Wohnung zu gehen und auf einen Fiaker zu verzichten.
Abends, als er am Fenster stand und in den kühlen, aber immer noch hellen Abend hineinsah, wehte der Rauch aus den Kaminen zu ihm, und auf einmal war der Duft der Hochradfahrerin wieder da, voll und farbig und hinter ihm, bitterschön, der Hauch von glimmendem Heu. Er wartete eine Weile und atmete mit halb geschlossenen Augen, aber die verwehten Farben des Duftes – wie die Farben, die nach dem Sonnenuntergang noch am Horizont standen – fügten sich zu keinem Bild zusammen. Da zuckte er mit den Schultern, ging zu Bett und schlief traumlos in einen hellen Frühlingsmorgen.
2
Natürlich gab es auch in diesen Tagen Verpflichtungen. Sein Pferd musste aus der Kaserne geholt und untergebracht werden. Im Amt waren Entlassungspapiere zu unterzeichnen. Es waren Besuche zu machen, die er aufgeschoben hatte, und er musste auch im Büro des Onkel Josef vorsprechen, für dessen Fabrik er ab dem Herbst als Einkäufer reisen sollte. Aber das alles empfand August nicht als Einschränkung. Es waren nur wenige Termine und die meist nur lose vereinbart; nichts hatte Eile, und er konnte hingehen, wie und wann er wollte. Er hatte das Gefühl noch nicht verloren, das er auch als Schüler zu Beginn der großen Ferien immer gehabt hatte: Ein unabsehbar langer Sommer lag vor einem, ein Meer von Zeit. So schlenderte er durch die Tage, besuchte am Sonntag die Eltern, ging ins Kaffeehaus und traf Bekannte, holte einen Nachmittag seinen Neffen ab und ging mit ihm in den Prater. Eine Woche, zehn Tage, man merkte wohl, dass man auf diesem großen Meer der Zeit Fahrt machte, aber es gab keinen Horizont und keine andere Küste.
Am Montag der darauffolgenden Woche ließ sich August bei seinem Onkel anmelden. Josef war das, was man einen Ringstraßenbaron nannte. Als die große Demolierpolka angefangen hatte und der Kaiser die Basteien und Befestigungen rings um die Stadt hatte schleifen lassen, um Platz für den Ring zu schaffen, als eine Aktiengesellschaft nach der anderen gegründet wurde, weil man nicht wusste, wohin mit dem Geld, und alle, von der Büglerin bis hin zum Grafen, Aktien kauften, war auch Augusts Onkel reich geworden. Eigentlich war er ja nur ein Kolonialwarenhändler gewesen, aber für August war schon dieser kleine Laden als Kind ein Paradies gewesen: getrocknete Feigen und Zuckerhüte und Datteln ... Josef hatte immer nur lachend zugesehen, wie die Kinder sich die Taschen vollstopften.
»Viel Spaß auf dem Häuserl!«, hatte er dann gesagt und noch mehr gelacht, gutmütig und schon damals dick.
Reich aber war er mit dem Grundstück am Ring geworden, das er zurückhielt, bis man ihm das Hundertfache dessen bot, was es vorher wert gewesen war. Josef verkaufte, kaufte Aktien, spielte um Boden und Preise, gewann immer und immer wieder, und schließlich war aus dem Kolonialwarengeschäft die erste Schokoladenfabrik Wiens geworden.
»Der Herr Leutnant«, empfing er August in seinem Büro, das so von Kristall und seidenen Blumen überladen war, dass es mehr wie ein Salon aussah, »nimm Platz.«
»Nicht mehr, Onkel«, sagte August und sah sich um. Er war lange nicht mehr hier gewesen. Es roch schwül nach Veilchen und Staub. »Ich bin jetzt Zivilist«, sagte er lächelnd und setzte sich.
»Offizier bleibt man immer«, behauptete Onkel Josef, kramte in einem Kästchen nach Zigarren und bot ihm eine an, »Zivilisten sind gar keine richtigen Menschen.«
»Danke«, sagte August, musste lachen und lehnte die Zigarre ab, »nicht am Morgen.«
»Rauchen«, sagte Josef selbstzufrieden und zündete seine Zigarre an, »rauchen, trinken und essen kann ich immer. Dafür gibt’s keine Tageszeiten. Kannst du eigentlich Französisch?«, fragte er übergangslos. »Wir kaufen viel über Kairo, da musst du Französisch können oder wenigstens Englisch.«
»Ich weiß doch noch gar nicht, ob ich zum Einkäufer tauge«, sagte August dann, »ich verstehe nicht viel von Spezereien.«
»Schmarrn«, sagte der Onkel, »das braucht es alles nicht. Das lernt man von allein. Was es braucht, ist eine gute Nase. Mehr nicht. Und dass du eine gute Nase hast, das habe ich schon gemerkt, als du noch nicht mal zur Schule gegangen bist. Dich hat man ja aus der Küche prügeln müssen!«
August musste wieder lächeln. Er hatte Josef immer gut leiden können.
»Vielleicht«, gab er zu, »aber du wirst am Anfang mit mir geduldig sein müssen. Ich will ja eigentlich nur eintreten, weil ich dann freie Schokolade bekomme. Wenn ich nur deine Fabrik nicht ruiniere ... Und wann fange ich an?«
»Wenn du mit dem Nichtstun fertig bist!« Josef schrie fast vor Vergnügen. »Wenn du es satt hast, das Herumscharwenzeln, dann! Und meine Fabrik – da kannst du lange falsch einkaufen, die richtet mir niemand zugrund!« Er schlug August auf die Schultern. »Auf den Herbst kommst du, im Oktober. Und davor kommst du noch einmal heraus und schaust dir die Fabrik an ... An der Pforte musst du nur sagen, wer du bist, kannst immer kommen, jederzeit.«
August konnte nur nicken, denn das war schon alles. Das Geschäftliche war damit besprochen, und Josef fragte nach der Familie, ließ sich Klatsch aus der Kaserne berichten und lud August schließlich zum Essen ein. Es war früher Nachmittag, als er endlich die Villa verließ und sich auf den Weg zurück aus der Vorstadt machte.
Die Regentage schienen vorbei zu sein, der Frühling war wirklich gekommen. Der Fluss sah nicht mehr kalt aus, und die Bäume wirkten, als hätte man in ihre Zweige lichtgrüne Schleier geworfen. Wie gut, dachte August, dass ich kein Soldat mehr bin ... Schleier! Er ging weiter und lächelte über sich selbst, aber der Tag war eben einfach zu schön. Auf den Kieswegen entlang des Flusses waren die Kinderfrauen in Scharen unterwegs. Weil es der erste warme Tag war, hatten sie den Kleinen in ungewohnter Nachgiebigkeit Eiscreme gekauft oder Himbeerkracherln, und als August das sah, fühlte er sich unwillkürlich an Lenjas Küche erinnert. Josef hatte recht, als Kind war er immer gern in der Küche gewesen.
Die Küche in dem großen Bürgerhaus war ein Zauberland gewesen. Wenn er das Märchen von Zwerg Nase vorgelesen bekam, dann konnte die Küche der alten Hexe, in der die Eichhörnchen auf Walnusshälften Schlittschuh liefen, keine andere sein als die im eigenen Haus. Er stellte sich vor, wie sie auf den altweißen Fliesen, in die jeweils in der Mitte ein dunkelrotes Karo eingelegt war, hin- und herschossen, in den Pfoten Gewürzsäckchen und Abtropfgitter und Gäbelchen und Fässchen trugen. Die Küche hatte zwei Kreuzgewölbe, unter denen an langen Eisenstangen auf der einen Seite über dem großen gemauerten Herd das Kupfergeschirr hing, vom kleinsten Tiegel bis zum Kessel. Im Herd selbst brannte Feuer, wann immer August auch nach unten kam, manchmal leuchtete es durch die Spalten der gusseisernen Herdringe. An der anderen Stange hingen die Küchentücher. Und am Herd und der Esse hingen die Löffel, die Schneeruten, die Schaumlöffel und Kellen. Aber das war es nicht, was die Küche für den kleinen August zum Zauberland machte. Es waren die Düfte, die immer anders waren und ihn immer wieder hinunterzogen. Weil er dann immer um die Köchin strich, hatte sie es irgendwann aufgegeben, ihn hinauszuscheuchen, und so blieb er oft für Stunden. Dann stellte er sich vor, Lenja sei die Hexe, und er sei der schöne Junge, der die Kohlköpfe für sie nach Hause hatte tragen müssen.
»Du bist die Hexe, Lenja!«, schrie er manchmal, um sie zu ärgern. »Du musst mich kochen lehren!« Dann rannte er der Köchin mit seinem Schemel hinterher und stellte sich schnell darauf, um zu sehen, was sie tat.
Lenja war alterslos und dünn. Augusts Mutter mochte keine dicken Frauen. Die waren ihr zu gemütlich. Lenja war also nicht dick. Und sie war eine wunderbare Köchin. Sie redete nicht mit August, sondern mit sich selbst, die ganze Zeit, während sie kochte. Auf Böhmisch und auf Deutsch. Aber August hörte sowieso nicht zu. Er beobachtete und roch.
Der Kupfertiegel wurde ohne hinzusehen von der Stange genommen und trocken auf den Herd gestellt. Lenja griff ins Wasserfass, in dem die Butter schwamm, schnitt ein genau bemessenes Stück ab und warf die Butter zurück. Das andere Stück zerging schon im Tiegel. Sechs Deka Zucker wurden aus dem Schub gelöffelt, gewogen und in die Butter gesiebt. August sah zu, wie die Kristalle zu Glas und dann zu nichts zergingen. Zwei Suppenlöffel heller Sirup, und Lenja rührte, rührte, rührte, zog den Tiegel einen Augenblick über das offene Feuer, und schon duftete es, aber dann puderte sie Mehl hinein, der Tiegel rutschte in exaktem Schwung vom Herd hinüber auf den Marmor und kam zwei Fingerbreit vor dem Brett zum Stehen, auf dem Lenja schon die Zitronen presste. Sie goss den Saft durch ein Sieb dazu, dann murmelte sie etwas und fuhr mit dem Finger das lange Gewürzregal ab, bis sie ein hellgelbes Pulver gefunden hatte, das August so scharf süß in die Nase stieg wie das Kräutlein Niesmitlust, das er aus dem Märchen kannte. Ingwer, buchstabierte er viel später einmal. Das Blech segelte aus dem Ofenloch. Zischend mit dem Pinsel Butter darauf. Zehn, zwölf Kleckse des flüssigen Teigs auf das Blech, und dann war die Klappe des Ofens schon wieder zu. August blieb davor stehen und sah Lenja zu, wie sie blecherne Spitztüten aus einer Lade zog. Dann – Lenja ließ nie etwas verbrennen, nie – zog sie schon wieder das Blech heraus, und darauf lagen, goldbraun und träge Blasen werfend, zwölf runde Plätzchen. Sie wartete die Blasen ab, dann züngelte schon das lange, biegsame Messer unter die Plätzchen und hob sie ab, eines nach dem anderen fing Lenja sie aus der Luft und schlug sie in einer einzigen fließenden Bewegung um das blecherne Spitztütchen. Und wieder eine Minute später zog sie die blechernen Förmchen heraus, und da lagen zwölf Ingwerzuckertüten. Wo kamen das blaue Schlagobers her und die in Honig gestampften Blaubeeren? Wann hatte sie die gemacht? August sah nie alles. Immer blieb da etwas, das er übersah, das zu schnell für ihn war. Lenja drehte ein Tütchen aus Papier, eine Tülle flog in den papiernen Trichter, und dann spritzte sie die blaue Sahne in die goldenen Tütchen, und manche Tüten knisterten, weil sie noch ein wenig warm waren. Da kam Onkel Josef in die Küche, er war komisch, nie kam er durch die Haustür –, sagte zu Lenja etwas auf Böhmisch, nahm eines der Spitztütchen und warf es August zu.
»Da«, sagte er lachend, »und raus aus der Küche! Kinder gehören in den Keller zum Kohleschaufeln!«
Damals wusste August noch nicht, wann Onkel Josef ernst war und wann nicht. Das Tütchen aber behielt er immer in der Hand.
»Hast du Eichhörnchen, Lenja?«, hatte August einmal gefragt und sich vorgestellt, dass sie herauskamen, wenn er nicht in der Küche war.
Ausnahmsweise musste Lenja lachen.
»Eichhörnchen?«, fragte sie in ihrem schweren böh-mischen Dialekt. »Nein, August. Nicht mal wir Böhmen essen Eichhörnchen.«
Wenn August dann aus der Küche nach oben kam, stellte er sich manchmal vor, seine Mutter würde ihn nicht wiedererkennen, weil er sieben Jahre in der Küche verbracht hatte und nun aussah wie ein hässlicher Zwerg. Und dass er in der Zeit zum Meisterkoch geworden war ...
Während er auf die Allee zur Rotundenbrücke einbog, dachte er noch einen Augenblick darüber nach, was das Kindsein wohl ausmachte, warum die Träume der Kindheit so anders waren als die, denen man als Erwachsener nachhing. Er wollte kein Meisterkoch mehr werden. Und Einkäufer, fragte er sich dann aber fast im gleichen Moment, wollte er denn Einkäufer werden? Und es war hier, mitten auf dem Weg und im hellen Licht der Frühlingssonne, dass August stehen blieb, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand gerannt. Was wollte er eigentlich? Was war aus dem Jungen seiner Kindheit geworden? Er konnte sich erinnern, wie unglaublich voll die Küche von Düften gewesen war, wie aufgeregt er jeden neuen Geruch aufgenommen hatte, wie er ganz, von oben bis unten, von Aromen erfüllt gewesen war. Wo war das hin? Er wusste, dass man ihn ein andermal gefragt hatte, was er denn mal werden wollte, und er dann voller Sicherheit und selbstbewusst gesagt hatte: Prinz vom Morgenland.
Auf einmal sah er klar. Es war, als ob er jahrelang einfach nicht hingesehen hatte. Er war Soldat geworden, weil es sich eben so gehörte, und er war Soldat geblieben, weil man eben so lange diente, und er wurde Einkäufer für die Fabrik seines Onkels, weil sich das eben so eingerichtet hatte.
Um ihn herum rannten die Kinder vor ihren Kinderfrauen davon und trieben ihre Reifen quer über die Wiese. Sie schrien und lachten beim Stürzen, es war ein fröhlicher Lärm. August sah ihnen zu und hatte plötzlich ein Gefühl von Scham, als hätte er einen Freund für Geld verraten. War das alles? Der Lateinschüler Liebeskind und der Leutnant Liebeskind, der Einkäufer und irgendwann der Gatte Liebeskind? Die Freiheit, das große Meer Zeit zwischen heute und Oktober, war auf einmal nur noch ein Karpfenteich, auf dem man mit dem Fischerkahn große Fahrt spielte. Noch schlimmer: Der Kahn trieb nur, und er saß darin und ließ sich treiben. Auf einmal war sein Leben klein wie Spielzeug. Kleine Abenteuer: einmal quer durch die Donau geschwommen. Mit dem Regiment in Istrien gewesen und einen entgleisten Zug erlebt. Kleine Liebschaften, die mit einem Bedauern geendet hatten und manchmal sogar mit ein paar melancholischen Tagen und wenigen, längst vergessenen Gedichten in der Schublade, die schon beim Schreiben nicht wahr gewesen waren. Freundschaften, die nie auf die Probe gestellt worden waren. Ein farblos freundliches, ein kleines Leben.
Das alte Laub vom letzten Jahr unter den Bäumen der Rotundenallee roch modrig nach Herbst. Als August endlich weiterging, war die Heiterkeit, die er nach dem Kaffeehausbesuch wieder aufgebaut hatte, fort.
»Gewogen«, sagte er vor sich hin, »gewogen und für zu leicht befunden.«
Das war es. Sein Leben hatte kein Gewicht.
3
In den folgenden Tagen blieb dieses Gefühl einer eigenartigen, einer stärker werdenden Gewichtslosigkeit. Dieses Gefühl, zu leicht zu sein. Das Gefühl, in seinem Leben könne es gar keine Tiefe geben, weil er dazu nicht gemacht war. Vielleicht eignete er sich nicht für etwas Großes. Aber das Verlangen danach blieb.
Wie aus Trotz beschloss er, zum großen Derby auf der Bahn der Freudenau zu gehen. Wieder eine der Zerstreuungen, die eigentlich nichts bedeuteten. Aber immerhin Leben. Er hatte jahrelang nicht mehr das Rennen gesehen; immer hatte er entweder Dienst gehabt oder war sonst verhindert. Als Kind war er noch jedes Jahr dort, es war schöner als das Volksfest, vielleicht, weil es nur einen Tag dauerte, und damals war es noch ein Abenteuer gewesen.
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