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Eine Liebe, so schwerelos und vergänglich wie ein heißer Sommertag ... Der atmosphärische Inselroman von SPIEGEL-Bestsellerautorin Sylvia Lott!
Norderney 1959. Ulla führt ein scheinbar sorgloses Leben. Sie ist jung und gutaussehend, mit einem wohlhabenden Hamburger Verleger verheiratet und verbringt die Sommermonate im schicken Nordseeheilbad. Doch ihr Aufenthalt dort hat einen ernsten Hintergrund: nach drei Jahren Ehe sind Ulla und ihr Mann noch immer kinderlos, das maritime Klima soll Ullas Gesundheit stärken. Fernab vom stickigen Hamburg flaniert sie auf der Strandpromenade, badet, feiert und genießt das ungewöhnlich heiße Wetter. Man spricht von einem Jahrhundertsommer, und alle spielen ein bisschen verrückt. Ulla lernt den mittellosen jungen Fotografen Hans kennen, der so anders ist als ihr Gatte. Bald entstehen zarte Gefühle zwischen den beiden und als das Ende des Sommers näher rückt, muss Ulla eine schwierige Entscheidung treffen …
Lesen Sie auch die anderen Romane von Sylvia Lott mit Inselflair! (Auswahl)
Die Inselfrauen
Die Fliederinsel
Die Inselgärtnerin
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Seitenzahl: 525
Das Buch
Norderney 1959. Ulla führt ein scheinbar sorgloses Leben. Sie ist jung und gut aussehend, mit einem wohlhabenden Hamburger Verleger verheiratet und verbringt die Sommermonate im schicken Nordseeheilbad. Doch ihr Aufenthalt dort hat einen ernsten Hintergrund: Nach drei Jahren Ehe sind Ulla und ihr Mann noch immer kinderlos, das maritime Klima soll Ullas Gesundheit stärken. Fernab vom stickigen Hamburg flaniert sie auf der Strandpromenade, badet, feiert und genießt das ungewöhnlich heiße Wetter. Man spricht von einem Jahrhundertsommer, und alle spielen ein bisschen verrückt. Ulla lernt den mittellosen jungen Fotografen Hans kennen, der so anders ist als ihr Gatte. Bald entstehen zarte Gefühle zwischen den beiden, und als das Ende des Sommers näher rückt, muss Ulla eine schwierige Entscheidung treffen …
Autorin
Die freie Journalistin und Autorin Sylvia Lott ist gebürtige Ostfriesin und lebt in Hamburg. Viele Jahre schrieb sie für verschiedene Frauen-, Lifestyle- und Reisemagazine, inzwischen konzentriert sie sich ganz auf ihre Romane. Mit »Die Inselfrauen«, »Die Fliederinsel«, »Die Inselgärtnerin« und »Die Rosengärtnerin« stand sie wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.
Von Sylvia Lott bei Blanvalet bereits erschienen
Die Rose von Darjeeling
Die Glücksbäckerin von Long Island
Die Lilie von Bela Vista
Die Inselfrauen
Die Fliederinsel
Die Inselgärtnerin
Die Rosengärtnerin
Der Dünensommer
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Sylvia Lott
Der Dünensommer
Roman
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Redaktion: Margit von Cossart
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Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-24138-4V002
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Himmlisch war’s, wenn ich bezwangMeine sündige Begier,Aber wenn’s mir nicht gelang,Hatt ich doch ein groß’ Pläsier.
Heinrich Heine
Kim saß im Café Marienhöhe oben auf einer der höchsten Dünen der Insel und blinzelte übers gleißende Meer, als sie die Stimme zum ersten Mal hörte. Sie bereitete ihr ein Wohlbehagen, das sie beinahe lähmte. In Resonanz auf den Klang – kultiviert, humorvoll – durchrieselte es sie wieder und wieder. Der Mann plauderte auf Englisch. Gelegentlich lag ein Zögern im Redefluss, als wöge der Sprechende ab oder überlegte noch, weil er auf keinen Fall etwas Falsches von sich geben wollte.
Kim schaute sich nicht sofort um. Sie genoss die Schauer, die ihr an den Oberarmen entlang und über den Rücken liefen – eine Welle prickelte noch unter den Haarwurzeln, da rollte schon die nächste bis in die Zehenspitzen. Sogar ihren Durst vergaß sie für eine Weile. Als sie schließlich doch nach dem Glas griff, um ein Schlückchen von ihrer Rhabarberschorle zu trinken, bewegte sie sich nur minimal. Bloß nicht das schöne Gefühl verscheuchen! Den Blick hielt sie weiter auf die Nordsee gerichtet. Kurz nahm ihr ein Pärchen, das über die umlaufende Terrasse des Pavillons schlenderte, die Sicht. Durch dessen Schatten spiegelte sich ihr ovales Gesicht in der Fensterscheibe, und sie sah, dass der Wind sie schon arg zerzaust hatte. Sie hatte das schulterlange dunkelblonde Haar zu einem lockeren Knoten hochgesteckt, doch jetzt hingen so viele Strähnen heraus, dass es nicht mehr lässig, sondern nur verwildert wirkte. Ach, egal! Sie blieb zurückgelehnt in den bequemen Kissen sitzen und genoss die unerwarteten Empfindungen.
Draußen auf den Wellen tanzten kleine Schaumkronen. Das Licht über dem Meer war einfach unglaublich. Was für ein Strahlen, überhaupt: Was für ein Tag! Warm, geradezu heiß. Sie hatte wirklich Glück gehabt. Normalerweise sorgte die Schafskälte um diese Zeit des Jahres für ungemütliches Wetter.
Dezente Barmusik lief im Hintergrund, Geschirr klapperte. Eine Fliege krabbelte kitzelnd über Kims nackte Wade. Unter halb gesenkten Lidern folgte ihr Blick den Schiffen am Horizont – Segelbooten, Containerriesen, Krabbenkuttern, Yachten. Jetzt lachten der Mann und seine Gesprächspartner, unter ihnen eine Frau.
Aus Kims Brustkorb löste sich ein Seufzer der Erleichterung. Darauf war sie nicht gefasst gewesen, als sie spontan beschlossen hatte, nach Norderney zu fahren, um das Internationale Filmfest zu besuchen. Seit Wochen schon fühlte sie sich nur gehetzt, ständig unter Druck. Gut, dass sie sich doch noch von Toska hatte überreden lassen.
Das Festival fand alljährlich um Pfingsten herum auf Norderney und in der nahen Hafenstadt Emden statt. Kim war gespannt auf die Uraufführungen neuer Filme und auf die Preisverleihungen, vor allem aber wollte, ja musste sie endlich Kontakte pflegen. Deshalb war sie hier. Sie wollte ein bisschen Konkurrenzbeobachtung betreiben, Kollegen treffen, mit Leuten von Produktionsfirmen und der Filmförderung reden …
Noch blieb etwas freie Zeit, es ging erst am Abend richtig los. Eigentlich hatte sie vorgehabt, im Café endlich das Festivalprogramm gründlicher zu studieren, doch stattdessen gab sie sich weiter dem Timbre der fremden Stimme hin, ließ ihren Blick wandern und die Gedanken fließen.
Das Café Marienhöhe, das bei genauer Betrachtung achteckig und nicht rund war, schien erst vor Kurzem renoviert worden zu sein. Edel, reduziert, in Grautönen gehalten. Ein gepflegtes Publikum verkehrte hier. Frauen mit auffallend gutem Haarschnitt, Männer mit Lederschuhen statt Sneakers, viele Best Ager. Dieses Lokal, das hatte Kim auf der Speisekarte gelesen, war nach der hannoverschen Königin Marie benannt worden. Die glühende Verehrerin Heinrich Heines hatte Mitte des 19. Jahrhunderts an dieser Stelle zu seinen Ehren einen hölzernen Pavillon für ihre Picknicks errichten lassen. Angeblich war der Dichter vor knapp zweihundert Jahren auf genau dieser Düne zu seinen Oden an die Nordsee – einschließlich ein paar Boshaftigkeiten über die Insulaner – inspiriert worden. Kim kannte die Texte nicht, aber sie mochte Heine und nahm sich vor, ihre Bildungslücke bald zu schließen.
Wieder vernahm sie die Stimme, und die Härchen an ihren Unterarmen richteten sich auf. Sie verstand nur Wortfetzen, keine Sätze. Merkwürdig – normalerweise konnte sie gleich erkennen, ob jemand aus England oder den USA kam, oft sogar, aus welcher Region. In diesem Fall jedoch schienen sich gebildetes Englisch und ein Amerikanisch, das mal auf New York, mal auf den Südwesten der Staaten deutete, zu vermischen.
Bestimmt war der Mann auch wegen des Filmfestes hier. Ein Schwerpunkt lag auf der Vorstellung neuer Produktionen aus Großbritannien und Irland. Kim freute sich schon auf Kostproben britischen Humors. Sie widerstand der Versuchung, sich umzudrehen. Vielleicht war die Person, zu der die schöne Stimme gehörte, abstoßend oder, schlimmer noch: langweilig, und das würde ihren Genuss sicher …
Ein Ausruf unterbrach ihren Gedanken.
»Hallo, Frau Schröööder!« Eine dynamische Mittvierzigerin mit breitem gerötetem Gesicht und Sonnenbrille im blond gesträhnten Kurzhaar stürzte auf sie zu. »Sie auch hier?« Tina Baumann, ihre derzeit wichtigste Auftraggeberin. Schlagartig war Kim hellwach. Rasch fuhr sie sich mit beiden Händen übers Haar und setzte ein freudiges Lächeln auf. Doch ihr Magen zog sich zusammen. Gleich wird sie fragen, wie weit das Drehbuch ist, dachte Kim unbehaglich. Dieser Frau verdankte sie ihren ersten großen Auftrag ohne Jens-Ole. Fünf Jahre lang hatten sie beide gemeinsam Drehbücher, meist für Vorabendkrimiserien, geschrieben und als Dreamteam gegolten. Auch privat. Aber jetzt schien alle Welt zu glauben, dass er der Bessere oder Kreativere von ihnen war, was natürlich überhaupt nicht stimmte. Er hatte nur immer vor allem die Akquise gemacht, Aufträge reingeholt, die Kontakte gehalten. Manchen Kontakt leider zu intensiv, wie Kim irgendwann nicht mehr hatte ignorieren können. Mal ein Flirt hier, »nur aus geschäftlichen Gründen«, mal eine kleine Affäre dort, »doch bloß, um die Arbeitsatmosphäre zu verbessern«. Das Gemeine war: Jens-Ole hatte nach ihrer Trennung vor fast einem Jahr ihre Stammkunden behalten, sie selbst musste seitdem Klinken putzen. Dass sie sich in den Kopf gesetzt hatte, den Bruch auch beruflich in etwas Positives umzumünzen und nun Vorschläge in einem ganz anderen Genre als früher machte, erleichterte die Sache auch nicht gerade. Sie wollte nämlich endlich Komödien und Liebesgeschichten schreiben. Aber das schien ihr niemand so richtig zuzutrauen. Niemand, mit Ausnahme von Tina Baumann, der Ressortleiterin eines wichtigen Fernsehsenders, die ihr zumindest eine Chance gegeben hatte. Während sie sich mit Jens-Ole schon seit Jahren duzte, war sie mit ihr, Kim, noch per Sie. »I hätt ja g’wettet, dass Sie daheim eifrig am Drehbuch feiled.« Tina Baumann schwäbelte manchmal noch, obwohl sie schon lange in Hamburg lebte und auch anders konnte.
»Hallo, Frau Baumann«, erwiderte Kim mit möglichst viel Begeisterung. »Na, das kann ich doch überall! Leisten Sie mir Gesellschaft?« Sie klopfte auf den freien Sitzplatz neben sich.
»Danke, ich hab vorhin die ganze Zeit g’sessen, bin auf dem Weg ins Hotel.« Die Redakteurin schaltete in den Hochdeutschmodus. »Ich will mich noch kurz frischmachen vor der Retrospektive und Franzy abholen.« Sie nahm trotzdem Platz, setzte sich allerdings vorne auf die Stuhlkante, um zu zeigen, dass sie wirklich nur auf dem Sprung war. »Seit wann sind Sie denn hier, Frau Schröder?«
»Erst seit heute Mittag. Ist mein erstes Mal auf Norderney. Ich hab mich erst vorgestern spontan entschlossen, das Festival zu besuchen.«
»Sehr gute Idee«, pflichtete die Baumann ihr bei. »Irgendwas nimmt man ja immer mit. Erstaunlich, dass Sie so kurzfristig noch eine Unterkunft gefunden haben.«
»Ja, ich hatte Glück. In der Richthofenstraße war zufällig gerade ein kleines Einzimmerapartment frei geworden.« Kim lächelte. »Bei einer netten jungen Wirtin. Ihr Mann vermietet Fahrräder. Ich bin schon hierher geradelt.«
Tina Baumann schien eine Sekunde zu zögern. »Jens-Ole ist wohl nicht hier.« Es klang eher wie eine Feststellung, nicht wie eine Frage.
»Nö.« Kim lächelte ironisch. »Wäre ihm auch viel zu provinziell. Für ihn müsste es eher die Biennale sein oder etwas in der Größenordnung.«
»Jaja, es kann auch Cannes gewesen sein«, kalauerte Tina Baumann. Sie überlegte einen Augenblick, bevor sie fortfuhr. »Gut, dass Sie ihn ziehen lassen haben. Jetzt darf ich’s Ihnen ja sagen: Bei mir hat er’s auch mal versucht. Vor Jahren.«
Kim konnte sich gerade noch ein empörtes »Echt?« verkneifen. Doch eigentlich überraschte es sie nicht wirklich.
Sie tauschten einen ironischen Blick, der das ewige Mann-Frau-Dilemma ausreichend kommentierte. Vermutlich, damit es zwischen ihr und Kim nicht zu vertraulich wurde, gab die Redakteurin sich nun wieder geschäftlich.
»Ich hab mich mit dem Auftrag an Sie ganz schön aus dem Fenster gehängt, Frau Schröder. Das ist Ihnen doch klar, gell?«
»Tatsächlich?«, murmelte Kim leicht verlegen. »Ich will in dieser Richtung ja schon ewig was machen. Und wenn man richtig glüht für etwas, dann …«
Tina Baumann fiel ihr lächelnd, doch mit nachdrücklichem Blick ins Wort. »Liefern Sie uns was Gut’s. Leicht, aber nicht seicht. Ergreifend, unterhaltsam und amüsant.«
»Klar«, erwiderte Kim rasch, als wäre das eine ihrer leichtesten Übungen. Sie musste schleunigst von diesem heiklen Thema ablenken. Denn in Wirklichkeit wollte ihr für das Drehbuch partout nichts Originelles einfallen. Seit Wochen schon bastelte und verwarf sie, nichts zündete richtig. Alle Ideen drifteten früher oder später in Richtung Krimi oder Thriller ab – wobei das gemeuchelte Opfer stets eine auffallende Ähnlichkeit mit Jens-Ole aufwies. Natürlich hatte sie ein Treatment eingereicht, worauf sie den Auftrag erhalten hatte, doch ihr fehlte die Inspiration, die richtige Tonlage.
Dabei wollte sie unbedingt über Liebe schreiben. Etwas sommerlich Heiteres, nicht immer nur Geschichten über Mord und Totschlag. Leicht, aber nicht seicht – solche Filme liebte sie doch privat auch am meisten. Kim war überzeugt, dass eigentlich genau das ihr Genre war. Sie brauchte nur … Ja, was eigentlich? Vielleicht würde Norderney sie in die richtige Stimmung bringen.
Tina Baumann betastete sich die geröteten Wangen und verzog das Gesicht. »Sonnenbrand?«, fragte Kim mitfühlend. »Sind Sie denn schon länger auf der Insel?«
»Ja, meine Frau und ich, wir kombinieren den Pflichttermin mit dem Vergnügen. Wir hängen vorher und nachher ein paar Tage zur Erholung dran.«
»Das klingt gut«, sagte Kim. »Sie haben geheiratet?« Gerüchteweise war sie längst informiert, aber ohne offizielle Bestätigung hatte sie nicht gratulieren mögen. Als die Redakteurin stolz nickte, holte sie es nach. »Dann wünsche ich Ihnen und Ihrer Frau von Herzen ganz viel Glück!«
»Danke Ihnen! Wir haben übrigens auf Norderney gefeiert, im vergangenen Spätsommer. Es war traumhaft …« Die Redakteurin zückte ihr Smartphone und zeigte Kim das Displayfoto, auf dem zwei Frauen mit bräutlichen Blumenkränzen im Haar übermütig strahlten.
»Ach, wie schön!« Kim seufzte. »Sie sehen sehr glücklich aus …«
»Ja. Das war bei der Weißen Düne. Unvergesslich.« Tina Baumann steckte ihr Handy wieder weg. »Es ist nie zu spät, das weiß ich jetzt.« In erster Ehe war sie mit einem Mann verheiratet gewesen.
Das sollte wohl aufmunternd klingen, dachte Kim, doch es bewirkte bei ihr genau das Gegenteil. Sie selbst war Mitte dreißig, seit zehn Monaten Single, und alles in ihrem Leben schien derzeit am seidenen Faden zu hängen. Warum hatte sie allein Jens-Ole nicht gereicht? Hatte sie als Frau zu wenig zu bieten? Und auch wenn sie nie besonders intensiv von Heirat, Haus und Kindern geträumt hatte, irgendwie war sie doch stets davon überzeugt gewesen, all das würde sich eines Tages auch für sie ergeben. Kam das noch? Wann denn, bitte schön, und mit wem? Ihr lief die Zeit davon.
Wenn sie jetzt wenigstens beruflich erfolgreich wäre! Aber wie viele Exposés hatte sie im letzten Jahr rausgeschickt? Das schwache Echo darauf nagte zusätzlich an ihrem Selbstbewusstsein. Und dann war im Frühjahr auch noch ihre Katze überfahren worden.
»Apropos«, riss Tina Baumann sie aus ihren Gedanken. »Was macht denn Der Sommer meines Lebens?« So lautete der Arbeitstitel für das Drehbuch, das Kim bald abliefern musste. »Darf ich schon mal was lesen?«
»Oh.« Kim gab sich Mühe, munter zu klingen. Sie hatte erst dreißig Seiten fertig, bestimmt dreihundert lagen im virtuellen Papierkorb. »Es läuft … Wirklich. Ich bin nur ziemlich abergläubisch. So zarte Pflänzchen muss man schützen, finde ich, sie dürfen nicht zu früh raus …« O Gott, wenn die Baumann wüsste, dass ich noch nicht mal mit einer einzigen Szene richtig zufrieden bin, dachte sie. Aber ich werde es schon schaffen. Jetzt bloß keine Panik aufkommen lassen.
»Na dann …« Die Redakteurin erhob sich. »Ich muss los. Also denken Sie dran, ich lese immer gern schon zwischendurch. Schicken Sie was, wenn’s einigermaßen ausgereift ist.«
»Mach ich«, versprach Kim. »Und … wir sehen uns sicher noch heute Abend und in den nächsten Tagen.«
»Bestimmt. Man läuft sich ja auf der Insel ständig über den Weg.« Lächelnd winkte Tina Baumann ihr zum Abschied zu.
»Kann ich das mitnehmen?«, fragte eine cool gestylte Serviererin in schwarzen Leggings, weißer Bluse und Fliege freundlich. Sie wies auf die nicht ganz geleerte Schüssel, aus der Kim einen Salat gegessen hatte.
»Was? Ach, ja, das kann weg.«
Ihr Wohlgefühl war verflogen. Sie fühlte sich wieder gehetzt. Die angenehme Stimme ließ sich auch nicht mehr vernehmen. Kim wandte den Kopf und hielt Ausschau. Aber hinter ihr befand sich niemand, zu dem sie gepasst hätte. Zwei Servicekräfte räumten gerade einen großen Tisch ab, an dem der Unbekannte vermutlich gesessen hatte.
Das Kino war kein Kino, sondern ein Theater – und was für eines! Nachdem sich das Publikum durch ein modernes lichtdurchflutetes Foyer mit lässigem Beach-Club-Ambiente an den Kartenabreißern vorbeigeschoben hatte, öffneten sich die Türen in ein herrlich plüschiges Kurtheater, das einer Residenzstadt würdig war. Kim entdeckte hier und da im Getümmel bekannte Gesichter – eine Schauspielerin, Regisseure, Kollegen –, sie nickte und winkte. Dann traf sie auf Toska, die wie sie selbst in Hamburg lebte und dieses Jahr zur Jury für den Emder Drehbuchpreis gehörte. Sie kannte die Dozentin mit den kinnlangen kupferroten Haaren und den braunen Augen aus gemeinsamen Studienzeiten, sie begrüßten sich freudig.
»Und? Wie ist dein erster Eindruck von Norderney?«
»Na, bei dem Wetter … genial!« Kim lächelte breit. »Allein die Luft! Allerdings finde ich den Ort städtischer als erwartet.«
»Ist doch sogar eine Stadt, ganz offiziell.« Die spottlustige Toska brachte Dinge gern auf den Punkt. »Seien wir ehrlich: Vieles ist hier ziemlich verbaut.«
Kim zuckte mit den Schultern, musste ihr aber recht geben. »Ich hab vorhin Apartmentblocks an der Seefront gesehen, die mich ein bisschen an Mümmelmannsberg erinnern.«
»Ja«, Toska verzog angewidert ihre Miene, »diese klobigen Bausünden aus den Sechziger- und Siebzigerjahren sind ein Jammer! Aber die fallen in eine ganz andere Preiskategorie als Wohnungen in Mümmelmannsberg, das ist nix für Hartz-IV-Empfänger.«
»Wenn man darin wohnt und den freien Blick auf die Nordsee genießt, ist es wahrscheinlich sogar wunderbar …«, gab Kim zurück. Toska rollte nur mit den Augen. »Vorhin beim Radfahren hab ich aber auch ein paar süße Häuser gesehen. Diese weißen klassizistischen Gebäude, die sind doch echt schön!«
Toska nickte. »Warst du schon in der legendären Milchbar?«, fragte sie.
»Nö, ich kenn nur die Loungemusik von Blank & Jones«, antwortete Kim. Sie war so etwas wie das deutsche Gegenstück zum Café-del-Mar-Sound von Ibiza. Jedes Jahr gab’s ein neues Seaside-Seasons-Album, zu dem sich die beiden Discjockeys beim Auflegen in der Milchbar inspirieren ließen. »Die hör ich gern mal, wenn ich runterkommen und mich entspannen will.«
»Ja, Chillout-Musik vom Feinsten! Wir müssen da in den nächsten Tagen unbedingt noch einen Sundowner trinken.« Die Frauen ließen sich gemeinsam weitertreiben. Kim spitzte die Ohren, weil sie hoffte, wieder die Streichelstimme zu hören, sie musterte die anderen Besucher aufmerksam.
Das Filmfest Emden-Norderney war kein reines Insiderfestival, auch normales Publikum strömte dorthin. Cineasten, Urlauber, Stammgäste der Insel und, wie man den Gesprächen entnehmen konnte, etliche Einwohner. Die meisten Kinogänger waren sommerlich gekleidet und wirkten, als kämen sie direkt vom Strandspaziergang, einige gingen barfuß. Besonders gestylt hatte sich niemand. Kim war froh, dass sie sich nicht mehr aufgebrezelt hatte, sie trug nur eine sandfarbene Caprihose und eine luftige hellblaue Tunika. Sie benötigte nicht mal den Leinenblazer, den sie mitgenommen hatte, für den Fall, dass eine Klimaanlage den Saal zu sehr herunterkühlen würde, denn das Kurtheater war angenehm temperiert. Es herrschte freie Platzwahl, sie und Toska machten es sich vorne in einer der goldverschnörkelten Logen mit liebevoll restauriertem Zierrat an Balustraden und Säulen bequem. Jetzt wurde das Licht gedimmt, und das allgemeine Gemurmel wich einer erwartungsvollen Stille.
Kim hatte noch immer keinen Blick ins Programm geworfen. Ein Mitglied des Festivalkomitees begrüßte das Publikum. »Ihnen allen dürfte der Kameramann Hans J. Ehrlich ein Begriff sein. Eine Würdigung, eine Retrospektive seiner Werke war überfällig«, leitete der Mann zum Thema des Abends über. »Ehrlichs Bildsprache hat den Hollywoodfilm seit den späten Sechzigerjahren maßgeblich verändert.« Ach, um den ging es! Kim war der verstorbene Kameramann zwar ein Begriff, sie kannte ein paar Filme von ihm, die sie auch ganz gut gefunden hatte, aber viel wusste sie nicht über ihn. »Wir zeigen in den nächsten Tagen seine wichtigsten Filme und im Conversationshaus eine Ausstellung mit ausgewählten Originalfotos. Mehr und mehr wird Hans J. Ehrlich inzwischen ja auch für das geschätzt, was er vor seiner großen Karriere gemacht hat – nämlich für seine Fotografien. Damit hat er schon früh seinen Blick geschult. Hans J. Ehrlichs Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus den späten Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren sind unter Sammlern heiß begehrt, bei Fotokunstversteigerungen erzielen sie Höchstpreise.«
»Hast du das gewusst?«, flüsterte Kim.
Toska nickte. »Neulich hat ’ne Aufnahme von ihm bei Sotheby’s in Paris sechzehntausend Euro gebracht.«
»Ehrlich?«, fragte Kim erstaunt.
»Ja, ein Originalabzug, Silver Print, signiert und mit Datum versehen«, flüsterte Toska zurück. Ihr Mann schrieb für den Kulturteil einer großen Wochenzeitung, wahrscheinlich kannte sie sich deshalb so gut aus.
Beeindruckt lehnte sich Kim zurück, um weiter zuzuhören. »Was vielen von Ihnen aber nicht bekannt sein dürfte«, fuhr der Redner fort, »ist, dass dieser legendäre Kameramann in den Fünfzigerjahren als Fotograf auf Norderney gearbeitet hat.«
Das war auch Kim neu. »Naja, vielleicht hat er nur mal während eines Urlaubs hier fotografiert«, raunte sie Toska zu.
Die zwinkerte zurück. »Und sie blasen das jetzt aus PR-Gründen groß auf.« Eine Frau, die hinter ihnen saß, zischte ärgerlich, und sie sprachen nicht weiter.
»Wir beginnen unsere Würdigung mit einem Dokumentarfilm über ›Das Auge‹, wie Ehrlich genannt wird. Gedreht hat ihn sein jüngster Sohn Julian, den Sie anschließend ab zirka dreiundzwanzig Uhr beim Mitternachtstalk im Foyer des Kurtheaters näher kennenlernen können.« Er wies auf einen Mann, der in der ersten Reihe saß. »Julian, we are so glad to have you here!«
Ein Mann erhob sich, drehte sich zum Publikum um, lächelte, offenbar verlegen, doch – soweit es im gedämpften Licht zu erkennen war – liebenswürdig und machte eine ungeschickte Verbeugung. Er war groß, schlaksig und trug eine Brille. Das könnte er sein, schoss es Kim durch den Kopf. Es war ein bisschen irrational. Trotzdem dachte sie: Wenn der es wäre, das würde mir gefallen. Sag doch mal was! Aber er nahm wortlos umständlich wieder Platz.
»Der ist ja süß!«, flüsterte Toska.
»Ein bisschen tapsig«, gab Kim zurück. Wenn sie da an Jens-Ole dachte – der verhielt sich als Obercharmeur vom Dienst in jeder Lebenslage sicher und weltgewandt. Ach, warum denkst du schon wieder an ihn?, schimpfte sie gleich darauf mit sich selbst. Vergiss den Idioten endlich!
»Na eben«, erwiderte Toska. »Das Tapsige find ich ja gerade so süß. Er hat Ähnlichkeit mit Hugh Grant, findest du nicht?«
»Vielleicht, aber dann mit dem Hugh Grant von vor zwanzig Jahren.«
»Man versteht nichts, wenn Sie die ganze Zeit quatschen!«, fauchte die Frau hinter ihnen.
»Oh, sorry«, murmelte Kim und sank tiefer in ihren roten Plüschklappstuhl.
Nun begann der Dokumentarfilm. Die Texte aus dem Off sprach ein deutscher Schauspieler, den sie gleich erkannte, weil er in einem ihrer Krimis mitgespielt hatte. Zunehmend fasziniert, folgte sie Ehrlichs Werdegang vom blutjungen Soldaten in russischer Kriegsgefangenschaft bis zum Kameramann, der in Hollywood von Weltklasseregisseuren umworben wurde.
Charakterlich schien er schwer zu fassen zu sein. Mal wirkte er offen, sympathisch, ansteckend unbeschwert – mal sehr in sich zurückgezogen und unnahbar. Ist das nur mein persönlicher Eindruck, fragte sich Kim, oder zeigt der Dokumentarfilm absichtlich Widersprüche auf, die typisch für den Mann waren? Vielleicht verriet sich darin ja auch eine schwierige Vater-Sohn-Beziehung …
Bevor sie weiter überlegen konnte, fesselte eine Schwarz-Weiß-Fotoserie des Meisters ihre Aufmerksamkeit. Private Filmaufnahmen aus den Sechzigerjahren zeigten eine Vernissage in einer Galerie in Kalifornien. Langsam wanderte die Kamera von einem schwarz gerahmten Foto zum nächsten. Wie elektrisiert beugte Kim sich vor, damit ihr nur ja kein Detail entging. Dann kam ein Schnitt, und man sah den erwachsenen Sohn Julian in der Jetztzeit beim Sichten von Negativen und Abzügen für die aktuelle Ausstellung. Das kannte sie doch! Nicht direkt ein bestimmtes dieser Fotos, aber die Stimmung und die Linien von Meer, Wellen, Sand, die grafisch, fast abstrakt wirkten. Die Art, mit Licht und Schatten zu spielen, und jetzt, von hinten aufgenommen, diese Frau im weißen Badeanzug.
»Das Bild kenn ich«, stieß Kim hervor. »Echt, Toska, so ein Foto hing bei meinen Großeltern! Es war ziemlich groß, auch schwarz gerahmt, mit weißem Passepartout. Die Linien, das Flair, das Model … Na gut, ein bisschen anders. Aber das MUSS vom selben Fotografen sein.«
»Echt?« Toska schaute sie überrascht an. Die Frau hinter ihnen stand demonstrativ auf und ging, wohl, um sich ein ruhigeres Plätzchen zu suchen.
Dass sie sich so gestört fühlte, tat Kim leid, aber was sie gerade beobachtete, war einfach zu spannend. »Hundertpro«, flüsterte sie.
Das Foto, an das sie sich erinnert fühlte, hatte einen weiblichen Rückenakt in den Dünen mit Durchblick aufs Meer gezeigt. Mit sehr schönen Konturen, ästhetisch und erotisch – für die damalige Zeit wahrscheinlich ziemlich gewagt.
»Existiert das Foto noch?«, flüsterte Toska zurück.
Kims Augen hafteten an der Leinwand, es dauerte einen Moment, bis sie auf Toskas Frage antwortete. »Ehrlich gesagt, ich hab keine Ahnung.«
Ihre Großeltern lebten nicht mehr, die Villa war längst verkauft. Vielleicht hortete ihre Mutter das Bild noch irgendwo. In deren Wohnung hing es allerdings nicht. Bis zum Ende des Films googelte Kim nebenbei per Smartphone nach Ehrlich-Fotografien im Internet. Doch ausgerechnet das Motiv, das sie aus ihrer Kindheit zu kennen glaubte, tauchte nirgendwo auf. Sie schickte Links zu anderen, der Öffentlichkeit zugänglichen Ehrlich-Fotografien und zu einem Bericht über die Auktion an ihre Mutter. Guck mal!, tippte sie nach einem staunenden Smiley ein. Kommt dir das nicht auch bekannt vor? Ich ruf dich später noch an.
Als der Dokumentarfilm zu Ende war und das Publikum den Saal verließ, bat Kim Toska, für sie einen Sitzplatz im Foyer frei zu halten. Den Mitternachtstalk wollten sich beide auf keinen Fall entgehen lassen.
»Ich muss mal kurz mit meiner Ma telefonieren und komme dann nach.«
»Okay.« Toska lächelte. »Was möchtest du trinken? Ich bestell uns schon was.«
»Ach, egal«, erwiderte Kim. »Einen trockenen Weißwein, wenn sie haben. Sonst ein Pils.«
Sie ging vor die Tür und musste ein ganzes Stück über die Terrasse der Lounge hinausgehen, um ungestört telefonieren zu können. In einer weitläufigen Outdoor-Möbellandschaft aus Paletten mit schwarzen Polsterauflagen fläzten sich bereits angeregt plaudernde Raucher.
Ihre Mutter hatte den Link erhalten und sich die Fotos schon angesehen. »Hallo, Kimmy! Was für eine Überraschung«, sagte sie aufgekratzt. »Ja, das kommt mir sehr bekannt vor. Unser Dünenfoto wird wohl vom selben Fotografen stammen, das nehm ich stark an.«
»Wo ist es eigentlich geblieben?«
Kim dachte an Sotheby’s. Ihre Großeltern hatten zwar recht wohlhabend gelebt, doch im Laufe der Jahrzehnte war das Verlagsimperium ihres Großvaters durch verschiedene Umstände immer weiter geschrumpft, bis es schließlich, zum Glück erst nach seinem Tod, von einem Großverlag geschluckt worden war. Kim erinnerte sich, wie schwer es ihrer Mutter gefallen war, den Hausstand ihrer Eltern aufzulösen, nachdem auch die Großmutter gestorben war. Von vielen Möbeln und Bildern hatte sie sich nicht trennen können, obwohl sie nicht zu ihrer eigenen Einrichtung gepasst hätten. So waren einige Erinnerungsstücke auf dem Dachboden gelandet. Nur ab und zu, wenn eine größere Anschaffung fällig wurde, ging Kims Mutter nach oben ins »Depot«, wählte ein Kunstwerk aus und verkaufte es. Manchmal lebe ich von der Wand in den Mund, pflegte sie zu scherzen.
»Ich hatte keine Ahnung, dass eine Fotografie aus der Nachkriegszeit so viel Geld bringen kann«, gab ihre Mutter zu. »Das Dünenfoto müsste eigentlich noch auf dem Dachboden sein. Zusammen mit den Gemälden, für die keiner von uns Platz hat.«
Kim atmete auf. »Weißt du mehr über die Aufnahme?« Sie hörte, wie ihre Mutter sich eine Zigarette anzündete.
»Das Dünenfoto war immer schon da, solange ich mich erinnern kann.«
Ihre Mutter war im Juni 1960 geboren. Kim überlegte. »Haben Oma und Opa mal Urlaub auf Norderney gemacht?«
»Weiß ich nicht, mag sein. Eigentlich ist unsere Familie schon vor dem Krieg immer nach Sylt gereist, in das Keitumer Kapitänshäuschen«, entgegnete ihre Mutter. Auch das hatte leider nach dem Tod der Großeltern verkauft werden müssen. Ihre Mutter hatte noch zwei Halbschwestern, die in Süddeutschland lebten und damals lieber ausbezahlt werden wollten. Immerhin hatte es für Claudia Schröder, gelernte Juristin und von Kims Vater geschieden, für eine komfortable Eigentumswohnung in Alsternähe gereicht. Sie arbeitete nur noch mit halber Stundenzahl in einer Kanzlei, weil sie mehr Zeit für die angenehmen Dinge des Lebens haben wollte. »In meiner Kindheit jedenfalls ging es immer nach Sylt. Die Insel, vor allem Keitum, kam ja in den Sechzigern so richtig in Mode. Das war für Opa als Verleger gesellschaftlich und geschäftlich wichtig.«
»Aber bist du sicher, dass die beiden nicht auf Norderney gewesen sind?«
»Nein, natürlich nicht. Keine Ahnung, wo überall sie mal gewesen sind.« Sie inhalierte hörbar. »Opa konnte ja nie richtig Urlaub machen. Nach drei Tagen Nichtstun wurde er unruhig und musste zurück in den Verlag. Aber irgendwas klingelt da bei mir, wenn ich Norderney höre. Ruf mich morgen noch mal an. Ich hab gerade Besuch von meiner Nachbarin.«
»In Ordnung«, erwiderte Kim. »Ich glaub, die Talkrunde geht auch gerade los. Dann bis morgen. Grüß die Nachbarin von mir. Schlaf gut, Mama!«
»Danke. Viel Spaß auf der Insel!«
Toska hob den Arm, es war ihr gelungen, einen Platz auf einem bequemen Vintage-Sofa für sie frei zu halten. Dahinter standen einige Leute, die ganz offensichtlich scharf auf den Sitzplatz waren, die Talkrunde lief auch bereits. Möglichst unauffällig drängte sich Kim zum Sofa durch, ließ sich erleichtert neben Toska plumpsen. Ihr Wein stand schon auf einem Tischchen aus gestapelten Büchern bereit. Kaum hatten die Frauen lächelnd miteinander angestoßen, fragte eine Moderatorin den Sohn von Hans J. Ehrlich nach seiner Kindheit.
»Sie sind in Kalifornien zur Welt gekommen, als jüngster Sohn. Ihr Vater hatte vier Kinder von drei Frauen, er ist viel durch die Welt gereist und starb schon im Alter von dreiundsiebzig Jahren. Da waren Sie erst dreiundzwanzig. Wie gut kannten Sie eigentlich Ihren Vater?«
Fehler, dachte Kim. Eine derart intime Frage würde ich erst zum Schluss des Gesprächs stellen, wenn der Interviewpartner mehr aufgetaut ist. Sie wunderte sich, dass die Moderatorin Julian Ehrlich auf Deutsch ansprach. Bei dieser Beleuchtung konnte sie sein schmales Gesicht besser studieren als vorher im Kino. Sie schätzte ihn auf Anfang vierzig. Ein attraktiver Mann mit hellen Augen hinter einer Brille, die cool und geschmackvoll wirkte. Mittelgroße Nase, volles braunes Haar, helles Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln. Er zögerte einen Moment, dann lächelte er charmant, eine Spur ironisch. Die Brauen hoben sich über der Nasenwurzel.
Als er den Mund öffnete, um zu antworten, stellte Kim ihr Weinglas ab und schloss die Augen. Sie hoffte, dass er der Mann mit der schönen Stimme war. Ob sich das kribbelige Wohlgefühl gleich wieder einstellen würde?
1959
Ulla Michels zog sich hinter dem Paravent wieder an. Während sie die hautfarbenen Nylons geschickt an den Strumpfbändern ihres Hüftgürtels befestigte, fragte sie sich mit einem mulmigen Gefühl, was der Professor ihr wohl gleich verkünden würde. Der renommierte Frauenarzt Professor Meyer hatte bei der Untersuchung nicht mehr als ein »Hm-hm« von sich gegeben. Eigentlich war es ja auch klar. Es musste an ihr liegen, dass sie nach gut drei Jahren Ehe noch immer keinen Nachwuchs erwarteten. Denn ihr Mann Wilfried, den sie wie seine Freunde meist Will nannte – so hatte ihn ein britischer Presseoffizier in der Besatzungszeit erstmals gerufen –, konnte auf die Zeugung von zwei inzwischen fast erwachsenen Töchtern aus erster Ehe verweisen. Die achtzehnjährige Christine und die zwei Jahre jüngere Elisabeth lebten seit dem frühen Tod ihrer Mutter in einem Internat am Bodensee. Die Frage für Ulla lautete also: Konnte ihre Unfruchtbarkeit geheilt werden oder nicht? In der vergangenen Woche hatte sie bereits eine Blut- und eine Urinprobe abgeben müssen, aber die Laborergebnisse kannte sie noch nicht.
Ulla schlüpfte in ihre Pumps, griff nach der Handtasche und nahm mit Herzklopfen auf dem Besucherstuhl vor einem ausladenden Schreibtisch Platz.
»Meine liebe Frau Michels«, begann der weißhaarige Mediziner in jovialem Tonfall, »es ist alles da, alles dran und drin, wenn ich’s mal so salopp ausdrücken darf – alles, was eine Frau braucht, um ein Kind auszutragen.« Während er lächelte, zog sich sein gepflegter Schnauzbart in die Breite. »Sie sind immer noch jung, gerade erst achtundzwanzig, da besteht Grund zur Hoffnung.«
Erleichtert atmete Ulla aus. »Aber … warum klappt es dann nicht? Was kann ich tun?«
»Nun, ich rate Ihnen dringend, eine Kur zu machen.«
»Eine Kur?«
»Ja, zur allgemeinen Stärkung des Nervensystems und zur Regulierung der Hormone. Sie brauchen eine Umstimmungstherapie.«
»Umstimmungstherapie?«, wiederholte Ulla überrascht. »Davon hab ich noch nie gehört. Wie funktioniert so was? Glauben Sie im Ernst, ich müsste erst noch zu einer Schwangerschaft überredet werden?« Sie versuchte, witzig zu sein.
Der Arzt lächelte. »Am besten hilft ein Klimawechsel. Durch Reize wie Wetter, Luft und Wasser wird das vegetative Nervensystem auf Trab gebracht.«
»Oje«, entfuhr es der Patientin.
Vor ihrem geistigen Auge sah sie sich inmitten vornehm tuender siecher Menschen im Kurgarten von Bad Kissingen Heilwasser aus Schnabeltassen trinken – … in Zimmertemperatur schluckweise, möglichst sich in frischer Luft ergehend … –, so wie es auf den Fachinger-Flaschen stand. Unwillkürlich schüttelte Ulla den Kopf. Das wäre nichts für sie.
»Sie sollten mindestens sechs Wochen, besser zwei Monate dafür einplanen«, fuhr der Arzt fort und hielt ihr dann einen kleinen Vortrag über den günstigen Einfluss von Meerwasser- und Schlickbädern auf Frauenleiden, die, wie er sich ausdrückte, »mit der hormonalen Unterfunktion der Eierstöcke« zusammenhingen. »Fahren Sie in ein schönes Seeheilbad. Da nutzen Sie die Anwendungen im Kurmittelhaus, und nebenbei machen Sie Urlaub. Gehen Sie barfuß am Strand, setzen Sie sich den Elementen aus. Wind, Wetter, heiß, kalt … Sie können es sich doch leisten, gnädige Frau.«
»Nein«, widersprach Ulla spontan. »Ich kann und will meinen Mann nicht so lange allein lassen.« Dann jedoch huschte eine Idee durch ihren Kopf. »Ja, wenn er mitkäme …«
Aber sofort winkte sie ab. Das würde Will niemals tun. Sein Zeitschriftenimperium expandierte. Er war einer der erfolgreichsten Verleger des Landes, mit seinen dreiundvierzig Jahren im allerbesten Alter, im Aufbaufieber wie alle Erfolgreichen und nicht zu bremsen. Einer, der gern den Spruch »Schlafen kann ich, wenn ich tot bin« zitierte. Gerade beschäftigten ihn die Pläne für eine neue Frauenzeitschrift. Sie sollte sämtliche Bereiche des Konsums von Mode über Kochen bis zu Wohnen und Schönheitspflege behandeln, praktisch und handfest sein – ein Blatt für die junge freche Frauengeneration. Will versprach sich viel davon. »Kein Feuilleton mehr, keine Erbauungsliteratur. Das ideale Umfeld für Anzeigenkunden«, lautete seine Kurzformel.
Zu gerne hätte Ulla selbst am redaktionellen Konzept mitgewirkt. Sie konnte ihrer Generation aus der Seele sprechen. Die Anzeigen interessierten sie nicht. Schließlich war sie gelernte Journalistin. So hatte sie Will ja überhaupt kennengelernt, als hoffnungsvolle Jungredakteurin, die für eine seiner allgemein unterhaltenden Frauenillustrierten arbeitete. Anette schlendert um den Globus hatte ihre feste Rubrik geheißen. Durch ihre witzigen Texte zu Fotos, die auf der vorletzten Seite jeder Ausgabe amüsante Geschichten aus aller Welt illustrierten, war er auf sie aufmerksam geworden.
Sie hatte sich sofort in ihren fünfzehn Jahre älteren, verwitweten Chef verliebt. Sie mochte alles an ihm – sein Auftreten und sein Aussehen, sogar das feste kleine Wohlstandsbäuchlein. Sie mochte seine große Nase, sein Lachen, die gütigen blaugrünen Augen unter leichten Schlupflidern, das kräftige braune Haar mit den grauen Schläfen. Wilfried Michels, Spross einer angesehenen Senatorenfamilie aus Blankenese, war nur mittelgroß und trotzdem eine Erscheinung. Wenn er einen Raum betrat, veränderte sich das Klima. Es wurde wärmer, energiegeladener, ein bisschen aufregender – als wäre nun mehr möglich als zuvor. Will Michels galt als einfallsreicher Verleger, der Mitarbeiter begeistern konnte. Seinen Chefredakteuren gewährte er weitgehend freie Hand. Hauptsache, es stimmt, was ihr schreibt, pflegte er zu sagen. Ich kümmere mich um Anzeigen und Vertrieb. Dass seine Zeitschriften unpolitisch im Sinne von Parteiinteressen sein sollten, verstand sich von selbst, sie alle hatten die Nase voll von Politik. Die Macher wollten sich ebenso wie die Leserschaft den schönen Seiten des Lebens zuwenden. Ulla bewunderte Will Michels’ Sicherheit, seine Männlichkeit und Erfahrung. Der Altersunterschied störte sie kein bisschen, im Gegenteil.
Die Sprechstundenhilfe kam ins Besprechungszimmer und flüsterte dem Arzt etwas ins Ohr. »Entschuldigen Sie mich bitte eine Minute.« Ulla nickte, er verließ den Raum.
Auf einem Betriebsfest hatte es auch bei Will gefunkt. Sie hatte sich kurz zuvor das brünette, leicht gewellte Haar zu einer flotten Kurzhaarfrisur schneiden lassen. Einige Kollegen meinten, sie hätte jetzt noch mehr Ähnlichkeit mit Ruth Leuwerik, was Ulla gar nicht gefiel, weil sie deren Sprechweise nicht mochte, andere verglichen sie mit Lilli Palmer, was ihr etwas sympathischer war. Vielleicht glichen sich die Gesichtsformen, die vollen Lippen und die großen Augen, obwohl Ullas braun und nicht blau waren. Aber sie wollte überhaupt niemandem ähneln, niemanden nachmachen, sondern nur sie selbst sein. Allein sie selbst – nur gern noch mit etwas mehr Mut als bislang.
In Gedanken an ihr erstes Rendezvous musste sie lächeln. Will hatte ihr angeboten, sie mit seiner Borgward Isabella TS Deluxe nach Hause zu fahren. Nicht dass er groß mit dem Auto angegeben hätte. Aber alle Kollegen sprachen über die hochmotorisierte Limousine, sogar die Frauen, denen die Kombination der dunkelroten Lackierung mit den zweifarbigen Skai-Sitzen, oben beige, der Rest in Rot, dazu elfenbeinfarbenes Cockpit und Lenkrad, als Gipfel des exquisiten Geschmacks erschien. Doch zweimal hatte Ulla abgelehnt. Sie würde ebenso gern Straßenbahn fahren, hatte sie geantwortet. »Wenn das so viel Spaß macht, komme ich mit«, hatte er geantwortet und war tatsächlich mitgefahren. Sie hatten nur gelacht während der Tour, anschließend in Barmbek noch ein Bier getrunken.
Eine herrliche Zeit voll aufregender geheimer Treffen war gefolgt. Niemand hatte etwas erfahren sollen, sie hatten ihr Glück unbelastet von Gerede und Verpflichtungen genießen wollen. Er fand sie »süß und frech«, nannte sie aufgeweckt und natürlich, bescheinigte ihr Esprit: »Mit dir ist das Leben wieder unkompliziert und unbeschwert!« Natürlich spielte auch die körperliche Anziehungskraft eine große Rolle. Aber darüber sprach man nicht. Das passierte einfach.
Lange hatte ihre Verbindung nicht verborgen bleiben können. Es fiel auf, dass der Witwer endlich wieder strahlte, dass Ulla immer hübscher wurde und vor Energie zu platzen schien. Ihrer besten Freundin Inge hatte sie sowieso nicht lange etwas vormachen können. »Sei bloß vorsichtig«, hatte die sie allerdings gewarnt, »vielleicht ist er einer dieser Chefs, der seine hübschen weiblichen Angestellten der Reihe nach vernascht. Am Ende stehst du dumm da. Oder schwanger und dumm.« Inge kannte sich aus mit solchen Chefs. »Nein«, hatte Ulla entschieden geantwortet, »bei uns ist das etwas anderes, unsere Seelen verstehen sich.«
Nachdem sie trotz aller Diskretion gemeinsam gesehen worden waren, einmal bei einem Elbspaziergang am Falkensteiner Ufer und einmal bei einem Autoausflug nach Lüneburg, hatte Will nicht länger gezögert. »Lass uns Nägel mit Köpfen machen«, hatte er gesagt. Das war oben auf dem Wilseder Berg gewesen, nach einer Wanderung durch die wildromantische Heidelandschaft des Totengrunds. »Wir heiraten, kleiner Bär!« Typisch Will, es war keine Frage gewesen, sondern eine Feststellung. Und Ulla war ihm glücklich um den Hals gefallen.
»Entschuldigung, jetzt bin ich wieder ganz für Sie da.« Professor Meyer kehrte zurück und nahm hinter dem Schreibtisch Platz. »Soll ich mit Ihrem Gatten reden?« Seine Frage holte Ulla zurück in die Gegenwart. »Ihm täte es auch gut, mal etwas kürzer zu treten.«
»Nein, bitte nicht«, antwortete Ulla schnell. Eine direkte Aufforderung würde bei ihrem Mann eher das Gegenteil bewirken.
»Wir sehen uns doch morgen beim Konzert der Callas«, fuhr Professor Meyer fort. »Sie wissen sicher, dass ich das Vergnügen habe, Ihre Frau Schwiegermutter zu begleiten. Bei der Gelegenheit könnte ich ganz …«
»Nein, nein! Bitte erwähnen Sie auch meinen Besuch in Ihrer Praxis weder meinem Mann noch meiner Schwiegermutter gegenüber.«
Ulla wollte den richtigen Augenblick abpassen, um selbst mit Will zu sprechen – falls sie es denn überhaupt tun würde. Sie musste noch einmal ganz in Ruhe darüber nachdenken.
Einen Tag nach dem Arztbesuch bei Professor Meyer gab es in der Blankeneser Michels-Villa wie üblich Nachmittagstee im Wintergarten mit Elbblick. Nur mit der Schwiegermutter, sie und Ulla hatten keine Gesellschaft wie sonst zumeist. Ein großer Frachter glitt unten auf dem Fluss in Richtung Nordsee, er tutete, um ein Segelschiff zu warnen. Die Sonne warf durch das Tiffanyglas-Bild, das eines der Verandafenster schmückte, farbige Kringel auf Ullas sandfarbenes Sommerkleid. Gedankenverloren lockerte sie den Stoffgürtel. Sie grübelte. Eine Kur. Sie zwei Monate ohne ihren Mann, Will so lange ohne sie … Wie sollte das gehen? Sie würde es nicht ertragen. Und vielleicht wäre es sogar gefährlich. Mit leise aufkeimender Eifersucht dachte sie an die neue Redaktionsassistentin Susanne Stamps, eine rheinische Frohnatur, klug und hübsch. Blonde Hochsteckfrisur, tolle Figur, meist mit Bleistiftrock und schicken Pumps zur Geltung gebracht. Sie war die rechte Hand von Macki Moser, dem künftigen Chefredakteur der neuen Frauenzeitschrift, kümmerte sich um Redaktionelles und Organisatorisches. Ulla war nicht entgangen, dass Will und die Redaktionsassistentin gut miteinander konnten. Meist beendete ein kleiner Scherz ihre Telefongespräche.
»Antje!« Agathe Michels rief nach dem Hausmädchen.
»Antje ist oben, Schwiegermutter, sie hört dich nicht«, sagte Ulla. »Kann ich etwas für dich tun?«
»Ich hätte gern einen Apfel.«
Ulla stand auf und holte aus der Küche ein schönes Stück Obst. Sie legte es auf einen Kuchenteller, daneben ein Messer, denn, das hatte sie inzwischen gelernt, man biss in diesem Hause nicht einfach so in einen Apfel.
»Das ist kein Obstmesser«, monierte Agathe. Wortlos nahm Ulla das Schälmesser, um es gegen ein zierliches Obstmesser mit lackiertem Bambusgriff zu tauschen. »Und die Serviette? Soll ich mir die Finger etwa ablecken?« Ulla lächelte wie über einen Scherz, innerlich ärgerte sie sich, doch sie besorgte ihr auch noch eine Stoffserviette, bevor sie wieder Platz nahm. Während ihre Schwiegermutter den Apfel viertelte und schälte, tunkte sie schnell einen Keks in den Tee, was natürlich genauso verboten war. Die Köchin hatte Ulla zuliebe einige Kekse etwas brauner werden lassen. Mit dem Geschmack köstlicher Röstaromen auf der Zunge, rührte sie ihren Tee um und beobachtete die Schiffe auf dem Strom. Dieser Anblick war tatsächlich jeden Tag, zu jeder Stunde, neu und faszinierend. »Du ziehst das grüne Cocktailkleid an?«, fragte Agathe.
Ulla fuhr zusammen, hüstelte. Ihr fiel auf, dass sie beim Umrühren ihres Tees mit dem Löffelchen zu laut gegen die dünne Porzellanwand der Tasse schlug. Sie nickte. »Ja, das mit dem Bolerojäckchen.«
Wenigstens hatten sie an diesem Tag ein unverfängliches Gesprächsthema. Schon seit Wochen nämlich war das Konzert in der Hamburger Musikhalle, das erste der weltberühmten Sopranistin Maria Callas in Deutschland überhaupt, komplett ausverkauft. Sogar Agathe, die stets hanseatische Gelassenheit bewahrte, wirkte etwas aufgeregt.
»Sämtliche Vertreter des konsularischen Korps werden anwesend sein«, sagte sie jetzt. Ihre Fingerspitzen prüften, ob die frisch ondulierte Frisur auch wirklich akkurat saß. Mit einem Wimpernschlag bedeutete sie Ulla, dass sie ihr Tee nachschenken dürfe. »Der Bürgermeister, der Kultursenator – ganz Hamburg wird kommen.«
Vorsichtig schenkte Ulla aus der Silberkanne nach, sie bemühte sich, nur den Ebenholzgriff zu berühren, denn schon öfter hatte sie sich am heißen Metall die Finger verbrannt. »Louis Ferdinand von Hohenzollern wird auch erwartet«, gab sie wieder, was sie vormittags im Reitstall gehört hatte. Ihr war es egal, ob der Prinz von Preußen und Chef des Hauses Hohenzollern kam oder nicht, aber sie hoffte, ihre Schwiegermutter mit dieser Information beeindrucken zu können.
»Pah! Wir Hanseaten halten nicht viel von Blaublütern.« Die Seniorin mit den herben Zügen lüpfte eine Augenbraue. »Weißt du denn nicht, dass es Adligen früher sogar verboten war, in Hamburg Grundbesitz zu erwerben?« Ulla schüttelte den Kopf. In verächtlichem Ton fuhr Agathe fort: »Mein Großvater hat es ja noch abgelehnt, ein Graf zu werden.«
»Aber warum?«, fragte Ulla verständnislos. Es ärgerte sie, dass Agathe schon wieder so tat, als wäre sie keine richtige Hanseatin, nur weil sie im Hamburger Arbeiterviertel Barmbek aufgewachsen war.
Die alte Dame unterdrückte ein Seufzen, das ebenso gut Ullas Unwissenheit wie dem offenbar fast unanständigen Ansinnen irgendeiner Majestät gelten mochte. »›Ich will nicht der Diener zweier Herren sein‹, begründete er seine Ablehnung. Er hätte sich nicht gleichzeitig zum Besten der Krone und des Stadtstaates Hamburg einsetzen können. Irgendwann wäre es zu einem Interessenskonflikt gekommen.«
»Ah …«, Ulla schluckte, wieder einmal kam sie sich dumm vor, »ich verstehe.«
Agathe, die manchmal doch über ein feines Gespür verfügte, versuchte nun, sie aufzumuntern. »Du kannst heute Abend meine Kette mit dem Smaragdanhänger tragen, wenn du möchtest, Kind.«
»Das ist sehr großzügig, Schwiegermutter.« Sicher wollte Agathe sie dem Anlass entsprechend repräsentativ aufpolieren. Vor dem Konzert, in der Pause und anschließend würde es jede Menge Begegnungen mit wichtigen Persönlichkeiten geben. »Ich habe mich schon für die Perlenkette entschieden, die Will mir zum Hochzeitstag geschenkt hat. Dazu passen auch die Ohrringe, die ich am liebsten trage.«
»Nun gut«, erwiderte ihre Schwiegermutter. »Ich wollte es dir nur angeboten haben. Die Farbe hätte sicher hervorragend zu deinem Kleid gepasst.« Dann lächelte sie versöhnlich. »Aber die Perlenkette ist auch sehr kleidsam.«
Erleichtert lächelte Ulla zurück. »Ja, das stimmt. Und Will wird sich freuen, wenn ich sie trage.«
»Perlen schmeicheln immer dem Teint.« Ein prüfender Blick begleitete Agathes Nicken. »Du siehst heute recht farblos aus.«
Ulla holte nur etwas tiefer Luft, statt zu antworten.
Antje, das Hausmädchen, erschien und sagte, dass die junge Frau Michels am Telefon verlangt werde. »Fräulein Schmidt möchte Sie sprechen.«
»Danke, Antje, ich komme.«
Während Ulla sich erhob, spürte sie Agathes missbilligenden Blick. Ihre Schwiegermutter hieß es nicht gut, dass sie immer noch Umgang mit ihrer Barmbeker Freundin Inge pflegte, die doch eindeutig nicht »in unsere Kreise« passte. Sie war anderthalb Jahre jünger als Ulla und nach einer aufgelösten Verlobung wieder ungebunden. Inge, die eigentlich Ingeborg hieß, sah gut aus, machte sich gern schön zurecht, lockte damit allerdings oft die falschen Männer an. Auch ihr Chef, der verheiratete Abteilungsleiter des Kaufhauses, in dem sie Miederwaren und Dessous verkaufte, wollte ihr an die Wäsche. Vielleicht rief Inge deshalb an, vielleicht war es zum Eklat gekommen. Um nichts in der Welt hätte Ulla diese Freundschaft dem Standesdünkel der Michels-Frauen geopfert. Nur ein Wort gegen Inge, und sie würde alle Höflichkeit vergessen! Entschlossen blickte Ulla ihre Schwiegermutter an.
Deren feine Antennen funktionierten gut. »Sicher möchtest du dich in Ruhe zurechtmachen«, sagte sie. »Geh dann gern schon nach oben, Kind, ich trinke meinen Tee allein zu Ende. Ich wollte ohnehin noch etwas lesen. Unser Lesekreis trifft sich nächste Woche.«
Demonstrativ legte sie eine Hand auf ein gebundenes Exemplar von Doktor Faustus. Ulla empfand die Anmerkung als Vorwurf, weil sie nicht mitmachte. Sie las lieber Romane von Françoise Sagan oder Utta Danella.
»Danke, Schwiegermutter.«
Gemäßigten Schrittes ging Ulla bis zum Flur, aber kaum hatte sie die Flügeltür hinter sich geschlossen, stieß sie den zurückgehaltenen Atem heftig aus und eilte dann zum Telefon. Erleichtert, der Teestunde entronnen zu sein, griff sie nach dem Hörer, der in der Eingangshalle auf einem antiken Tischchen lag.
»Hallo, Inge, wie geht’s dir?«, fragte sie im Stehen.
»Ich hab gekündigt!« Die Freundin fiel gleich mit der Tür ins Haus. »Ich hab diesem Lustmolch alles vor die Füße geschmissen.«
»Gratuliere! Das wurde auch wirklich Zeit.« Ulla war ehrlich froh. Sie hatte Inge angeboten, sie im Notfall auch finanziell zu unterstützen. Von dem Taschengeld, das Will ihr jeden Monatsanfang in einem Briefumschlag zusteckte, hatte sie etwas zur Seite gelegt. Sie brauchte ja nicht viel. In den meisten Geschäften, etwa im Modehaus, beim Schneider oder Weinhändler, kaufte sie auf Rechnung, die direkt an Will ging. »Ich steh zu dem, was ich versprochen hab.«
»Nicht nötig«, antwortete Inge. »Ich hab nämlich noch ’ne tolle Nachricht!«
»Spuck’s aus!«
»Nein, nicht jetzt. Nicht am Telefon.«
»Hast du etwa schon eine neue Anstellung? Spann mich nicht auf die Folter!«
»Das verrat ich dir, wenn wir uns sehen«, antwortete Inge vergnügt. »So viel jetzt schon: Mein Sommer ist gerettet. Kannst du Montag um vier Uhr in den Alsterpavillon kommen?« Sie kicherte. »Meinst du, bis dahin hast du dich von deinem gesellschaftlichen Großereignis erholt?«
»Lass es uns hoffen!«, erwiderte Ulla. »Also gut, Montag kaffeesieren wir am Jungfernstieg.« Sie flüsterte nun. »Ich hab übrigens auch Neuigkeiten. Ich bin endlich beim Frauenarzt gewesen.«
»Ach! Aber doch nicht???«
»Nein! Das nicht.«
»Also raus damit! Was sagt er?«
»Das verrat ich dir, wenn wir uns sehen!«
»Du bist gemein. Das ist mein Spruch!«
Ulla lachte. »Bis dahin, Ingelein! Tschühüss!«
»Tschüss!«
Leichtfüßig lief Ulla die Treppe hinauf. Die erste Etage bewohnten Will und sie. Schlafzimmer und Salon ihrer Schwiegermutter befanden sich in einem Anbau im Erdgeschoss. Die Küche, das große Wohnzimmer, die Bibliothek sowie den Wintergarten teilten sie sich allerdings. Und das bedeutete, dass sie selten wirklich ungezwungen sein konnten wie andere Paare, die vielleicht nur eine winzige Wohnung besaßen. Wie sie die beneidete!
Ulla rief sich in Gedanken zur Ordnung. Es ging ihr so viel besser als den meisten Deutschen. Vor zehn Jahren hatte sie selbst noch in einer Nissenhütte gehaust. Sie sollte dankbarer sein.
Antje hatte ihr das Cocktailkleid auf die Couch im Ankleidezimmer gelegt. Durch das geöffnete Fenster strömte Fliederduft herein. Er vermischte sich mit den würzigen Nadelwaldaromen eines Schaumbads, das schon nebenan halb eingelassen war.
Nach dem Bad ließ Ulla sich von Antje beim Reißverschlussschließen des eng taillierten smaragdgrünen Seidenkleides helfen. Es war nach ihren Wünschen geschneidert worden, mit einem trägerlosen gerafften Oberteil, weitem wadenlangen Rock und passendem Bolerojäckchen.
»Im Radio haben sie gesagt, dass die Callas mit ihrem Lieblingspudel vom Flughafen herchauffiert worden ist. Der heißt Toy«, gab Antje in breitem Hamburgisch zum Besten, »das bedeutet übersetzt S-pielzeug. Und das Hotel Atlantic ist seit gestern von Autogrammjägern belagert.« Ihre Stimme bekam einen schwärmerischen Ton. »Das wird bes-timmt wie im Kino, da, wo Sie heute Abend sind!« Eine Windbö wirbelte die Gardinen halb aus dem Fenster.
Ulla lächelte zerstreut. »Ja, bestimmt.« Sie verspürte eher Bauchgrummeln als Vorfreude. Hoffentlich unterlief ihr kein Fauxpas. Doch nun hörte sie, dass Wills Limousine den Kiesweg herauffuhr, und ihr Herz machte einen Freudenhüpfer, wie immer noch jedes Mal, wenn er kam. Sie wandte sich um. »Ich komme jetzt allein zurecht. Danke, Antje.«
»Ich bereite schnell noch das Badezimmer für Ihren Mann vor«, sagte das Hausmädchen eifrig.
Ulla nickte und ging ans Fenster, um es zu schließen. Agathe war, was Zugluft anging, wie ein Seismograf. Sie würde es unten noch spüren und schimpfen, im schlimmsten Fall sogar hochkommen. Von Ullas Ankleidezimmer aus hatte man einen weiten Blick über das parkähnliche Grundstück. Will war schon ausgestiegen. Sicher berichtete er gerade im Wintergarten seiner Mutter, was tagsüber im Verlag los gewesen war.
Die Druckerei hatte er geerbt, sie war ursprünglich nur ein Nebengeschäft des Handelshauses Michels gewesen, bis Will mit Lizenz der britischen Besatzungsbehörde gleich nach der Währungsreform eine erfolgreiche Zeitschrift gegründet hatte. Weitere waren bald nach Aufhebung der Lizenzpflicht gefolgt. Das alte Handelshaus – beziehungsweise das, was die Kriegs- und Nachkriegsjahre davon übrig gelassen hatten – führte der mit Wills Schwester Christa verheiratete Eilerich Posen. Auch die Posens nannten seit Generationen eine Villa in Blankenese ihr Eigen. Sie war recht ansehnlich, obwohl sie nur auf der Margarineseite der Elbchaussee lag und weniger Platz bot als die Michels-Villa. Christa erwartete derzeit ihr fünftes Kind. Eilerich entstammte einer Kaufmannsfamilie. Vernünftig, berechnend und berechenbar verkörperte er für Agathe den idealen Schwiegersohn.
Ullas Blick schweifte über die Rhododendron- und Fliederbüsche, die gerade in schönster Blüte standen. Die weiße Säulenvilla der Michels erhob sich, zurückgesetzt in einem Park fern vom Straßenverkehr an einer Nebenstraße, die auf der Butterseite der Chaussee zum Elbhang in Blankenese führte. Es könnte traumhaft sein, hier zu leben, dachte sie zum wiederholten Mal. Wenn nicht ihre Schwiegermutter mit im Haus wohnen würde. Agathe Michels wohnte ja nicht einfach, sie residierte.
Ulla mochte sie durchaus, manchmal jedenfalls, immer dann, wenn ihr trockener Humor durchblitzte. Die Patriarchin konnte aber auch verletzend direkt sein. Dann bemühte Ulla sich, ihr zugutezuhalten, dass sie einige Verluste hatte verkraften müssen. Ihr Mann, der Senator, war früh von einer Tropenkrankheit dahingerafft worden, schon vor dem Zweiten Weltkrieg, ihr jüngster Sohn war als Kind an einer Hirnhautentzündung gestorben und der älteste bei einem Schiffsunglück ertrunken. Ihr gebührte Respekt für die Haltung, mit der sie die Schicksalsschläge trug.
Ulla mochte ihre Schwiegermutter nur nicht ständig um sich herum haben. Einmal in der Woche zu einem Teenachmittag, besser alle zwei Wochen, das würde ihr völlig reichen. Oder alle zwei Monate, das wäre auch in Ordnung. Ulla freute sich schon auf den Sommer. Denn einmal im Jahr entschwand Agathe mit Tochter Christa und den Enkelkindern für einige Wochen nach Keitum auf Sylt. Dann fand das gesellschaftliche Leben der besseren hanseatischen Kreise auf der Insel statt.
Ulla wusste, dass sie nicht den richtigen Stallgeruch mitbrachte. Sie war nicht gebildet, sondern in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen. Was sie über Manieren wusste, verdankte sie der Lektüre von Erna Horns Benimmbuch Die hohe Schule der Lebenskunst. Ihr fehlte der Schliff – und der Hochmut – einer strengen, bürgerstolzen Erziehung. Obgleich sie keine Nietenhosen mehr anzog, sich die Fingernägel nicht mehr lackierte und keine hohen Absätze mehr trug, machte sie immer wieder irgendetwas verkehrt. Ulla hatte Namen und Geschäftszweige der führenden Hamburger Familien gepaukt wie einst das kleine Einmaleins. Sie hatte sich bemüht, das Bridgespiel zu erlernen und gepflegte, sprich langweilige Konversation mit anderen Gattinnen des Blankeneser Geldadels zu betreiben. Zu dunkelblauen Faltenröcken allerdings konnte sie sich beim besten Willen nicht durchringen, sie behielt auch ihre freche Frisur bei. Jede Woche las sie den Spiegel von vorne bis hinten, sie hörte lieber Rock ’n’ Roll, Swing oder Chansons als klassische Musik. Opern- und Hausmusikabende waren ihr ein Graus. Zum Glück hatte sie schon seit Kindertagen auf dem kleinen Bauernhof ihrer Großeltern im Holsteinischen reiten gelernt. Will hatte ihr erst Unterricht bei einem sehr guten Reitlehrer geschenkt, dann eine schöne Oldenburger Stute namens Luna, die im Blankeneser Reitstall auf sie wartete. Ohne das Reiten, bei dem sie ihren unterdrückten Ärger loswerden konnte, wäre Ulla wohl schon manches Mal schreiend aus der Villa gerannt.
Wenn die feinen Teegesellschaften oder Kaffeekränzchen ihrer Schwiegermutter zusammenkamen, oft für einen wohltätigen Zweck, was ja prinzipiell sehr lobenswert war, kübelten die Damen über sie ihre Weisheiten aus. Die Wiederholungen und Plattitüden setzten ihr am meisten zu, beleidigten ihren Geist. Sie saß dann mit durchgedrücktem Rücken da, die Beine auf keinen Fall übereinandergeschlagen, sondern sittsam schräg nebeneinandergestellt in der Biedermeiersitzgruppe, spreizte beim Heben der Teetasse den kleinen Finger leicht ab und verkniff sich witzige Zwischenbemerkungen. Immer angespannt, weil sie fürchtete, wieder gegen irgendein ungeschriebenes Gesetz zu verstoßen, nickte sie zustimmend und sehnte sich nach jenen unbeschwerten Tagen zurück, da sie noch als arme berufstätige Junggesellin inmitten der quirligen Stadt gelebt hatte. Eigentlich verrückt, dachte sie, wenn sie damals Menschen mit Rang und Namen interviewen sollte, hatte ihr das nie Schwierigkeiten bereitet, weil das Wissen um die Bekanntheit der Redaktion ihr den Rücken gestärkt hatte. Aber in der Rolle der jungen Verlegersgattin fühlte sie sich in der feinen Gesellschaft auch nach mehr als drei Jahren noch jedes Mal unwohl wie bei einer Prüfung.
Nachdenklich tupfte Ulla je einen Tropfen des Balmain-Parfüms Vent Vert, ein Geschenk von Will, aufs Handgelenk, hinters Ohr und ans Dekolleté. Sie liebte den kostbaren blumig-grünen Duft, der sich nun entfaltete.
Wie teuer würde wohl eine sechs- oder achtwöchige Kur sein? Noch immer konnte sie Wills finanzielle Situation nicht richtig einschätzen. Er selbst war großzügig. Zum Beispiel unterstützte er ohne viel Aufhebens ihren jüngeren Bruder, der Ingenieur werden wollte, mit einem nicht unbeträchtlichen monatlichen Betrag. Will konnte auch durchaus mal schlemmen, schwelgen und genießen. Ihre Schwiegermutter dagegen predigte stets Disziplin in der ökonomischen Haushaltsführung. Geld haben kommt von Geld behalten, lautete einer der beliebtesten Sprüche in Blankenese. Gerade den alten Kaufmannsfamilien, die angeblich nichts mehr fürchteten als nasse Füße, Zugluft und Sozialdemokraten, galt Sparsamkeit neben Pünktlichkeit und Fleiß immer noch als wichtigste Tugend. Das hatte sich Ulla vor ihrer Heirat ganz anders vorgestellt. In Saus und Braus lebte hier kaum jemand.
»Was dem Geschäft schadet, schadet der Familie«, besagte eine andere Erkenntnis, an der Agathe sie immer wieder gern teilhaben ließ, »und was der Familie schadet, schadet dem Geschäft.« Daraus folgte in logischer Konsequenz: Ehen waren Geschäftssache. Dass Will, ihr nunmehr einziger Sohn, ein junges Ding geheiratet hatte, das nicht aus besseren Kreisen stammte und bislang noch nicht einmal einen Stammhalter zur Welt gebracht hatte, musste in Agathes Augen ein schlechtes Geschäft sein. Ein Risiko auf jeden Fall.
Ulla rechnete es ihrer Schwiegermutter hoch an, dass sie versuchte, sich mit der Situation zu arrangieren. Aber manchmal reichten ein Blick oder eine kleine Bemerkung, um den Konflikt zwischen ihnen wieder schmerzhaft bewusst zu machen. So wie neulich, als Agathes Freundin, die Reedersgattin Lieselotte, ihr zum bald fünften Enkelkind gratuliert und ihre Schwiegermutter laut seufzend geantwortet hatte: »Alles schön und gut, aber was nützt es? Im Mannesstamm wird unsere Familie noch aussterben!«
Es klopfte an die Tür des Ankleidezimmers. Will kam eilig herein. Er gab Ulla einen Kuss auf die Wange, seine Augen leuchteten bewundernd auf. »Oh, là, là«, sagte er, ging aber gleich weiter, wobei er seine Krawatte löste. »Ich spring schnell noch unter die Dusche.«
»Schön, dass du heute früher da bist!« Ulla setzte sich zum Schminken an ihr Spiegeltischchen. »Ist die Post denn schon raus?«
»Nein, aber Fräulein Stamps kommt später noch mit der Unterschriftenmappe vorbei«, rief er aus dem Badezimmer. »Unser Kurier fährt sie.«
Ulla unterdrückte ein kleines Grummeln. Sie malte sich einen schwarzen Lidstrich und zeichnete die schön geschwungenen, gebürsteten Augenbrauen nach. In den Seitenflügeln des Spiegels begutachtete sie ihre Frisur von hinten. Das kräftige Haar, nach unten hin immer kürzer werdend durchgestuft und im Nacken frisch ausrasiert, war zur Feier des Tages in glänzende Wellen gelegt. Sonst ließ Ulla es einfach an der Luft trocknen. Sie beugte den Kopf vornüber, bürstete es ein paarmal durch und brachte es nur mit etwas Frisiercreme in Form.
Während sie einen dunkelrosafarbenen Lippenstift auftrug, hörte sie Will unter der Dusche laut und falsch O sole mio schmettern. Sie musste lächeln, das Herz ging ihr auf. Ach, wie sie ihn liebte! Sie war gern seine Frau.
Manchmal konnte Ulla es gar nicht fassen, dass sich in diesem engen geistigen Klima ein so großartiger, weitblickender und offenherziger Mensch wie ihr Mann hatte entwickeln können. Vielleicht kam bei ihm das französische Erbe durch. Die Michels stammten wie viele stolze Hanseaten von eingewanderten Hugenotten ab. Und wahrscheinlich hatte der Krieg Will noch ein paar andere prägende Einblicke ins Leben beschert, die ihn vor Hochmut bewahrten.
»Du siehst umwerfend aus!« Will kam nur mit einem Handtuch um die Hüften aus dem Bad. Er neigte sich zu Ulla herunter und küsste ihren Hals. Dann schaute er sie im Spiegel an. »Dagegen verblasst ja selbst die Callas.«
Ulla lächelte in den Spiegel zurück. Alle Überlegungen, eventuell den Arztbesuch gar nicht zu erwähnen, schmolzen dahin. Sie musste ihm die gute Nachricht mitteilen.
»Ich war heute bei Professor Meyer.«
»Ach ja?« Will zog den ovalen Wäschepuff näher, um sich daraufzusetzen.
»Er ist zuversichtlich.« Sie berichtete, was der Frauenarzt ihr eröffnet hatte.
Aufmerksam hörte Will zu. »Das hab ich doch immer gesagt«, behauptete er schließlich im Brustton der Überzeugung. »Das wird schon!« Eine gewisse Erleichterung konnte Ulla ihm trotzdem anmerken. Liebevoll umfasste er ihre Hände. »Es kommt doch auf einen Monat früher oder später nicht an, Ulla. Wir haben noch so viel Zeit.« Will lächelte das Wo-wir-sind-da-ist-oben-Lächeln, das sie so liebte. Und gleich entwickelte er einen Plan. »Das passt ja sogar ganz ausgezeichnet. Du machst diese Kur, diese … diese Umstimmungstherapie, und währenddessen stürze ich mich ganz in die Vorbereitung der neuen Zeitschrift. Wenn du dann zurückkehrst, läuft das Ding.«
»Aber warum kann ich nicht daran mitarbeiten?«, fragte Ulla. »Das wär für mich, ehrlich gesagt, die allerbeste Umstimmung! Ich würde furchtbar gern wieder etwas schreiben.« Sie hatte sich ihre Argumente sorgfältig zurechtgelegt. »Und ihr braucht doch auch die Expertise einer Frau.«
»Das hab ich dir schon öfter erklärt, Ulla«, erwiderte Will. »Im Verlag würde jeder versuchen, über dich auf mich Einfluss zu nehmen. Du bist jetzt die Frau des Chefs. Das ist eben der Preis. Es kann für dich in der Redaktion nicht mehr so sein wie früher.«
»Aber ich hab mich in der Redaktion immer wohlgefühlt wie ein Fisch im Wasser. Unter Journalisten, da herrscht meine Art von Witz, während hier …« Ulla biss sich auf die Unterlippe. Sie wollte ihrem Mann nichts vorjammern. »Ich brauche keine große Villa. Könnten wir nicht in die Stadt ziehen? In eine Wohnung an die Alster? Dann hättest du es auch nicht mehr so weit in den Verlag.«
Will brauchte jeden Tag eine Dreiviertelstunde über die Elbchaussee bis in die Innenstadt. Der Verlag lag in der Neustadt, fünf Minuten Fußweg von der Mönckebergstraße entfernt.
»Liebling, wir können meine Mutter nicht allein lassen in diesem großen Haus.«
Ulla kannte seine Haltung, deshalb hatte sie keine andere Antwort erwartet. »Dann lass mich doch wenigstens am Konzept mitarbeiten! Ich bin wie die Leserinnen, die ihr ansprechen wollt. Jung, modern, konsumfreudig.« Sie lächelte gewinnend. »Das wäre von Vorteil für das Blatt. Du und Moser, ihr seid schon älter, und ihr seid Männer.«
»Willst du etwa sagen, dass ich ein alter Mann bin?«, fragte Will scherzhaft.
»Nein, natürlich nicht! Aber euch fehlt die weibliche Intuition, das Bauchgefühl … Und manchmal vielleicht auch unser moderner Geschmack.«
Ihr Mann machte eine wegwischende Geste. »Na, dafür haben wir ja Fräulein Stamps. Und außerdem will Moser noch die eine oder andere freie Mitarbeiterin mobilisieren. Wir machen eine Probenummer. Die zeig ich dir, sobald sie gedruckt ist.«
Ulla sprang auf. Ihre braunen Augen sprühten vor Entrüstung. »Und dann darf ich ein paar Worte dazu sagen? Ach, Will, versteh mich doch, ich brauch ein eigenes Leben! Ich möchte wieder arbeiten.«
»Und wenn wir ein Kind hätten?«
Will war klug. Ulla durchschaute seine Strategie und fühlte sich in die Enge getrieben.
»Na, dann wäre natürlich das mein Leben. Und du, unsere Familie. Aber bis dahin …«
»Ursula, kleiner Bär … Wir wünschen uns doch beide ein Baby. Sei vernünftig. Sei geduldig. Fahr erst mal zur Kur, lass dich von der Nordsee umstimmen.« Er lächelte verschmitzt. »Ich verdiene das Geld für unsere Bärenhöhle, und alles wird gut.« Er stand auf, um sie in die Arme zu ziehen. »Andere träumen davon, ein paar Wochen an der Nordsee verbringen zu können.«