Der ehrenwerte Mörder - Erin Kelly - E-Book

Der ehrenwerte Mörder E-Book

Erin Kelly

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Beschreibung

Luke Considine ist ein Reporter auf der Suche nach der großen Story. In Brighton scheint er sie gefunden zu haben: die Lebensgeschichte des ehemaligen Gangsters Joss Grand. Grand, mittlerweile über achtzig, herrschte mit seinem brutalen Handlanger Jacky Nye einst über Brightons Unterwelt. Bis Jacky 1968 tot am West Pier angespült wurde. Obwohl Grand ein Alibi für die Mordnacht vorweisen konnte, waren die Gerüchte nie verstummt. Nun will Luke den Fall neu aufrollen und Grand, der sich mittlerweile als Philanthrop inszeniert, der Tat überführen. Zumal er erfährt, es habe bei dem Mord eine Zeugin gegeben, eine Frau in einem roten Mantel, die vom Tatort floh. Luke ahnt nicht, dass seine Nachforschungen ihn in tödliche Gefahr bringen ...

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Buch

Luke Considine ist ein Reporter auf der Suche nach der großen Story. In Brighton scheint er sie gefunden zu haben: die Lebensgeschichte des ehemaligen Gangsters Joss Grand. Grand, mittlerweile über achtzig, herrschte mit seinem brutalen Handlanger Jacky Nye einst über Brightons Unterwelt. Bis Jacky 1968 tot am West Pier angespült wurde. Obwohl Grand ein Alibi für die Mordnacht vorweisen konnte, waren die Gerüchte nie verstummt. Nun will Luke den Fall neu aufrollen und Grand, der sich mittlerweile als Philanthrop inszeniert, der Tat überführen. Zumal er erfährt, es habe bei dem Mord eine Zeugin gegeben, eine Frau in einem roten Mantel, die vom Tatort floh. Luke ahnt nicht, dass seine Nachforschungen ihn in tödliche Gefahr bringen …

Autorin

Erin Kelly wurde 1976 in London geboren und ist in Essex aufgewachsen. Sie studierte englische Literaturwissenschaft an der Warwick University und arbeitet seit 1998 als Journalistin. Sie schrieb unter anderem für die Sunday Times, den Sunday Telegraph, die Daily Mail und für Zeitschriften wie Psychologies,Marie Claire, Elle und Cosmopolitan. Bereits mit ihrem Debütroman »Das Gift des Sommers« eroberte sie Kritik und Leser im Sturm. Erin Kelly lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in London.

Mehr zur Autorin und ihrem Werk finden Sie unter

www.erinkelly.co.uk

Von Erin Kelly außerdem bei Goldmann lieferbar:

Das Gift des Sommers. Thriller

Das Böse, das im Herzen schläft. Thriller

Beide Romane sind auch als E-Book erhältlich.

ERINKELLY

Der ehrenwerte Mörder

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Rainer Schmidt

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel

»The Ties That Bind« bei Hodder & Stoughton

An Hachette UK Company

Der Goldmann Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Buch

enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der

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1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Februar 2016

Copyright © der Originalausgabe 2014 by Erin Kelly

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagfoto: © FinePic®, München

Redaktion: Friederike Arnold

AB · Herstellung: Str.

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-16653-3V002

www.goldmann-verlag.de

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Und wieder für Michael

»Nahezu all unsere Beziehungen beginnen in Gestalt wechselseitiger Ausbeutung, und die meisten werden auch so weitergeführt – ein geistiger und körperlicher Tauschhandel, der endet, wenn einer der Parteien oder beiden die Ware ausgeht.«

W. H. Auden

»Brighton, meine Diebesbraut!«

Julie Burchill, Verdammt– ich hatte recht!

PROLOG

Als Luke zu sich kam, wusste er zwei Dinge. Erstens, er lebte noch, und zweitens, er war noch in Brighton. In den ersten Sekunden, als er das Bewusstsein wiedererlangte, war er sich über den zweiten Punkt sicherer als über den ersten. Es waren die abfallenden Schreie der Möwen, diese Küstenkonstante, die ihm sagten, wo er war. Und der Schmerz sagte ihm, dass er lebte.

Denk nach. Erinnere dich. Denk nach.

Zu viele Hindernisse zwischen ihm und dem Denken. Die versengte Haut an Hand- und Fußgelenken, der Durst, die Kälte, seine demnächst platzende Blase, die Muskelkrämpfe, der erstickende Druck des Stoffs, der um seinen Kopf gewickelt war, das trockene, raue Röcheln, weil ein Knebel zwischen Zunge und Gaumen klemmte. Lauter Qualen, die sich abwechselnd bemerkbar machten, endlos sich im Kreis drehend wie die Karussellpferde an der Strandpromenade. Er hatte einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen, aber die Wunde fühlte sich seltsam taub an. Lästiger war das Jucken, wo etwas Klebriges in seinen Nacken getropft und dort abgekühlt und getrocknet war.

Luke hatte viel über den Schmerz anderer Leute gelesen, gedacht und geschrieben, aber er selbst hatte nur flüchtige Erfahrungen damit gemacht. Es verblüffte ihn, wie viel Energie das Leiden verbrauchte, und er bemerkte bestürzt, dass die unentbehrlichen Kräfte von Logik, Vernunft und Erinnerungsvermögen einfach ausgeschaltet wurden.

Er war immer stolz auf sein Gedächtnis gewesen – für einen Schriftsteller ist die Erinnerung das A und O –, aber jetzt konnte er sich nicht einmal mehr erinnern, wo er zuletzt bei vollem Bewusstsein gewesen war. An die Wochen vor diesem Augenblick erinnerte er sich, aber nicht an die letzten Stunden. Er wusste nicht, was er am Tag davor getan hatte. Er erinnerte sich an die Menschen, die derzeit zu seinem Leben gehörten, aber er konnte nicht sagen, wann er einen von ihnen zuletzt gesehen hatte.

Denk nach. Erinnere dich. Versuch’s.

Wenn er nur wüsste, wo er war. Die Kälte und der durchdringende Geruch von Feuchtigkeit ließen vermuten, dass er sich unter der Erde befand, aber nicht einmal das wusste er mit Sicherheit. Also würde er sich auf das konzentrieren, was er wusste oder was er fühlen konnte – was so ziemlich das Gleiche war. Hand- und Fußgelenke waren mit grobem dünnem Strick gefesselt und hinter dem Rücken zusammengebunden, sodass seine Wirbelsäule sich wie ein C verbog. Sehen konnte er es nicht, aber er vermutete, dass es ein einzelner, dreifach verknoteter Strick war. Luke empfand ein perverses Behagen, weil er die Art der Fesselung genau bestimmen konnte. Joss Grand hatte dieses Knotengefängnis vor über fünfzig Jahren als Foltermethode entwickelt, aber er wäre jetzt nicht mehr in der Lage, es selbst anzuwenden, jedenfalls nicht allein. Selbst mit seinem beschränkten Erinnerungsvermögen wusste Luke genau, wer ihm geholfen haben dürfte.

Man hatte Luke davor gewarnt, dieses Buch zu schreiben, und ihm geraten, Grand in Ruhe zu lassen. Aber nein – er hatte es besser gewusst, er war besser. Das hatte er zumindest geglaubt. Aber warum machten sie das hier mit ihm? Besser gesagt, warum jetzt? Soweit Luke sich erinnern konnte, hatte das Buch endlich Form angenommen. Nach einem wackligen Anfang waren die Interviews gut gelaufen, und die letzte Session war die bisher beste gewesen. Hatte Grand es sich jetzt anders überlegt? War das hier seine Art zurückzunehmen, was er gesagt hatte? Aber wenn, dann war es Luke, der wütend auf Grand sein sollte – so wie er …

Oh Scheiße. Sandy. Wenn Grand von Lukes Verbindung zu Sandy Wind bekommen hatte, dann wäre er natürlich wütend. Stinkwütend. Luke bekam ein flaues Gefühl. Er hatte versprochen, sie zu beschützen, und er hatte versagt. Der Gedanke, wie sie sie bestrafen würden, war ihm unerträglich, und er hoffte verzweifelt, dass ein Rest von Ritterlichkeit sich durchsetzen würde, damit sie von einer Folter dieser Art verschont bliebe. Er würde die doppelte Qual auf sich nehmen, dachte Luke, wenn das bedeutete, dass sie davonkäme, und wie alle Atheisten in Zeiten der Krise sandte er dieses Angebot in Form eines Stoßgebets zum Himmel. Behutsam rollte er sich nach links, um zu sehen, ob das Handy in der Hosentasche drücken würde. Es war nicht mehr da, aber die Bewegung rief eine neue Welle von Schmerz hervor, die ihn auf die Seite warf, und er keuchte vor Schock.

Etwas Kostbares – eine Erinnerung – glitt durch die Lücke zwischen zwei Atemstößen. Grand war nicht der Einzige, der wusste, dass er hier gefesselt lag. Jem hatte die Zeichnungen gesehen, die Luke gemacht hatte, und mit Abscheu und Verwirrung reagiert. War Jem fähig, so etwas zu tun, nur um Luke eine Lektion zu erteilen? Früher hätte er nein gesagt, aber jetzt würde ihn nichts mehr überraschen. Jem hatte immer behauptet, Luke sei überfordert, und vielleicht war dies seine Art, es zu beweisen. Jem … Luke erkannte, dass er sich trotz allem danach sehnte, ihn zu sehen. Wenn Jem hinter der Sache steckte, bedeutete das zumindest, dass Sandy nicht in Gefahr war, und Luke selbst hätte eine Chance, sich mit zuckersüßen Lügen und hohlen Ausreden zu befreien. War es professionelle Gewalt oder eine persönliche Bestrafung? Und was war schlimmer?

Denk nach. Erinnere dich. Denk nach.

Er bemühte sich noch einmal, die Schritte, die er an diesem Tag getan hatte, zurückzuverfolgen, aber es ging nicht. Er hatte das Gefühl, dass da etwas Wichtiges sei, ein vergessener, aber unentbehrlicher Artikel auf einer Einkaufsliste, knapp außerhalb seiner Reichweite. Bilder von blinkendem Metall am Rand seines geistigen Gesichtsfelds schimmerten auf und verschwanden wieder wie im Licht einer Kerze. Ein matt glänzender Goldbarren, ein kreisendes Silberrad, entscheidend wichtige Bilder, aber er konnte keinen Zusammenhang herstellen. Je schneller sein Verstand diesen Gedanken nachjagte, desto mehr entfernten sie sich.

Er wurde mit jeder Sekunde schwächer. Selbst mit verbundenen Augen spürte er, dass seine Sehkraft schwand. Eine neue, tiefere Dunkelheit schien heranzukriechen. Angstvoll konzentrierte er sich auf den einen Sinn, der ihm noch zur Verfügung stand, und bemühte sich, durch den Stoff zu lauschen, der seine Ohren bedeckte. Keine Stimmen, keine Schritte, keine zuschlagenden Autotüren. Niemand war in der Nähe.

Die Geräusche der Zivilisation wichen eins nach dem anderen zurück. Irgendwo verstummte eine heulende Sirene. Aus der Tiefe des Bodens kam ein mattes Vibrieren wie von einem vorbeifahrenden Lastwagen oder Eisenbahnzug. Dann rüttelte nur noch der kreischende Wind an einem Fenster. Dann nur noch die langsamen, abfallenden Schreie der Möwen. Dann nicht einmal das.

EINE WOCHE ZUVOR

EINS

Von: [email protected]

An: [email protected]

Datum: Dienstag, 5. November 2013 15:52

Betreff: Neues Buch

Liebe Maggie,

dir geht’s hoffentlich gut. Wie gewünscht, schicke ich im Anhang die ersten Seiten der Story, an der ich hier unten in Brighton arbeite. Natürlich habe ich den eigentlichen Knüller noch nicht. In diesem Stadium ist es eigentlich noch ein »work in progress«. Aber es kann nur noch Tage dauern, bis ich ein Geständnis von ihm bekomme, das spüre ich. Wenn er geredet hat, können wir uns überlegen, wie wir es bei den Verlagen pitchen. Einstweilen warte ich begierig (nervös!) darauf zu hören, was du davon hältst.

Gruß

Luke

Anhang: Grand-Kap1

Joss Grand hat nichts zu tun mit Brightons angesehenstem Hotel, auch wenn er, wenn gelegentlich ein Zusammenhang vermutet wird, nicht viel unternimmt, um diese Vermutung zu zerstreuen. Das Grand Hotel steht seit langem für vieles von dem, was Joss Grand wertschätzt: Es ist vornehm, achtbar, zivilisiert, weltberühmt. Seine filigrane Regency-Fassade erinnert an weiße Handschuhe und Sonnenschirme, Nachmittagstee und Abendpromenaden. In jüngerer Zeit verbindet man damit auch Hochzeiten, Tagungen und Wellness-Wochenenden. Im Eingang stehen livrierte Portiers, und ein Steinway-Flügel schmiegt sich zwischen die Kübelpalmen im Atrium.

Hinter dem Hotel kriecht die Stadt vom Meer den Hang hinauf. Hier, in diesen ärmlichen Seitenstraßen, regierten Grand und sein Komplize Jacky Nye fast ein Jahrzehnt lang mit ungezügelter Faust und der Verheißung des Schreckens. Ihre Firma wurde zu Beginn der sechziger Jahre gegründet, und das Geschäft umfasste illegale Alkohol- und Glücksspielbuden, Schutzgelderpressung und Gewalt.

Der Alte ist jetzt im neunten Lebensjahrzehnt. Seit den Siebzigern ist er reicher, als viele es sich vorstellen können. Der König sitzt in seiner Schatzkammer und zählt sein Geld. Nachdem er sein Reich auf der geheuchelten Ehrerbietung erbaut hat, die in der Angst der anderen wurzelt, hat er den Rest seines Lebens darauf verwandt, sich den Respekt der Stadt zu erkaufen. Aber natürlich war Brighton hinter den Fassaden seiner Hotels noch nie respektabel. Ebenso wenig wie Joss Grand.

Redemption Row war wie die Straßen ringsum eine schäbige Reihenhaussiedlung. Cottages mit Flintsteinfassaden kauerten sich aneinander, als suchten sie Wärme. Überfüllung war hier an der Tagesordnung: In jedem Haus wohnten zwei oder drei Familien. Stangen ragten vor den Häusern wie Flaggenmasten auf, aber Flaggen wehten hier nie. In Ermangelung von Gärten gab es keinen Ort, um die Wäsche zu trocknen. Den Bewohnern blieb kaum etwas anderes übrig, als ihre schmutzige Wäsche– denn ganz sauber war sie nie– in aller Öffentlichkeit zu präsentieren.

Mädchen fuhren ihre kleineren Geschwister in von Generation zu Generation weitervererbten Kinderwagen umher, die auf dem uralten Kopfsteinpflaster zu Knochenrüttlern wurden, und Jungen spielten Fußball in Gassen, die so eng waren, dass nie mehr als ein schmaler Streifen Sonnenlicht bis auf den Boden gelangte. Rachitis war verbreitet, und die meisten Kinder hatten mindestens einen Bruder oder eine Schwester, die das fünfte Lebensjahr nicht erreichten. Von dieser Gegend sind nur wenige Fotos erhalten, und wenn, dann sind es natürlich Schwarz-Weiß-Bilder, aber man hat den Eindruck, wären sie in den Farben der damaligen Zeit koloriert, würde das an der monochromen Anmutung kaum etwas ändern.

In diesem Slum erblickten Jocelyn »Joss« Grand und Jacky Nye nacheinander im Abstand von einer Woche im Sommer des Jahres 1932 das Licht der Welt, und zwar in benachbarten Zimmern im oberen Stockwerk eines Vier-Zimmer-Häuschens in der Mitte der Straße. Joss Grands Vater war ein Heringsräucherer, dem es gelungen war, sich mit einer– echten oder vorgetäuschten– Erkrankung vor dem Militärdienst zu drücken, als 1939 der Krieg ausbrach. Jacky Nyes Vater, ein ungelernter Wanderarbeiter, war noch gerissener. Er hatte sich der endgültigen Dienstverpflichtung entzogen, indem er Ethel Parsons sitzen ließ, lange bevor man ihr die Schwangerschaft ansah, und dem gemeinsamen Sohn hatte er nichts als seinen Namen hinterlassen. Im September 1940 kam er auf einen kurzen Besuch zurück. Bei dieser Gelegenheit verbrachte er fünf Minuten mit seinem Sohn, bevor er mit Ethel ins Odeon an der London Road ging. Nach der Hälfte des ersten Films warf die deutsche Luftwaffe eine Bombe auf das Kino, und das Paar wurde auf der Stelle getötet.

Howard und Isabel Grand nahmen Jacky zu sich und zogen ihn groß wie ihren eigenen Sohn– mit anderen Worten, sie ließen ihn zusammen mit Joss verwahrlosen. Wenn die Straßen im alten Brighton schmal waren, so waren die Gassen, die das Labyrinth der Slum-Behausungen durchzogen, noch schmaler. In der Mundart von Sussex ist Twitten ein altes Wort für diese zahllosen Durchgänge, oft nicht breiter als die Schultern eines Mannes, die hier weit verbreitet waren, bevor die Stadtplaner die alten Cottages im Namen des Fortschritts abreißen ließen. Als Jungen konnten Joss Grand und Jacky Nye durch das Netz dieser Twittens von einem Ende der Altstadt von Brighton zum anderen gelangen, und es heißt, sie hätten es oft getan, um den Silberkram, oder was sie sonst gestohlen hatten, fortzuschaffen oder zu verstecken. Ihre dürren Gestalten schlüpften durch Gänge, in denen kein Polizist sich so flink fortbewegen konnte wie ein Kind. Jacky Nye wurde von seinen Lehrern in schulischer Hinsicht als unterentwickelt abgeschrieben. Ein Leben als Krimineller stand ihm jederzeit offen, aber ohne den Einfluss des ehrgeizigen Joss Grand mit seinem messerscharfen Verstand wäre das Dasein eines Ganoven auf unterster Ebene wahrscheinlich die Krönung seines Erfolgs gewesen.

Durch Boxen erwarben die Jungen sich Disziplin. In den Jugendclubs von Brighton lernten sie zu kämpfen, und sie waren in ihren Gewichtsklassen beide erfolgreich, traten aber im Ring nie gegeneinander an. Grands Vorteil als Weltergewicht lag in seiner kraftvollen Gelenkigkeit und seinen blitzschnellen Reflexen. Schwergewicht Nyes solide Körpermasse hatte ihren langen Weg zur Fettleibigkeit noch nicht angetreten. Berichte aus jener Zeit lassen vermuten, dass sein Erfolg als Boxer vor allem mit seiner Fähigkeit zu tun hatte, Schlag um Schlag einzustecken. Der Mann war ein Monolith, und es war fast unmöglich, ihn k. o. zu schlagen. Er konnte einen Kampf gewinnen, fast ohne auszuteilen.

Redemption Row entging dem großräumigen Slum-Sanierungsprogramm, das Brighton in den dreißiger Jahren dezimierte, aber zwanzig Jahre später wurde auch sie abgerissen, um Platz für ein Neubauprojekt zu schaffen. Grand und Nye bekamen die Bulldozer nicht zu Gesicht, denn sie wanderten 1957 beide ins Gefängnis, allerdings für sehr unterschiedliche Verbrechen, die unterschiedliche Persönlichkeiten und Gelüste widerspiegelten. Als sie 1960 freikamen, war es kein Problem, dass das Haus ihrer Kindheit nicht mehr existierte. Der Slum wäre nicht groß genug gewesen, um den Männern, zu denen sie geworden waren, Platz zu bieten.

Ihr Aufstieg zur Macht ging schnell vonstatten und überraschte die verschlafene Küstenstadt. Für Brighton entsprachen sie noch am ehesten einer Firma wie den Krays, wenn auch in einem viel kleineren Maßstab. Wie die berüchtigten Zwillinge aus East London operierten Grand und Nye Hand in Hand, und ihre bahnbrechende Kombination von Scharfsinn und Brutalität unterschied sie von anderen Gaunern. Sie waren mehr als die Summe ihrer Teile, und in jener Zeit waren sie die meistgefürchteten Männer an der Südküste.

Die Krays und ihre Rivalen, die Richardsons aus South London, waren schon zu Lebzeiten Legenden, und sie faszinieren noch heute. Aber bei den meisten Fans wahrer Kriminalfälle werden die Namen Joss Grand und Jacky Nye verständnislose Gesichter hervorrufen, und das ist nicht nur eine Frage der Größenordnung. Grands späterer Aufstieg zur Prominenz als Philanthrop hat die örtliche Überlieferung überdeckt, dass sein Talent die kreative Gewalttätigkeit war, während Nyes Rolle in der bösartigen Methodik der Ausführung bestand. Jacky Nye muss dem kleineren Mann eine entscheidende physische gravitas verliehen haben, die seine Drohungen unterstrich. Er mochte ein schwergewichtiger Beifahrer sein, aber Grand schien er nicht zu bremsen.

Ein Grund für ihr gemeinsames Auftreten, so hieß es, bestand darin, dass sie so vielen Leuten unrecht getan hatten und sie daher nicht nur Geschäftspartner waren, sondern einander auch als Leibwächter dienten. Aber obwohl es in Brighton und an der Südküste viele gab, die Anlass gehabt hätten, die beiden zu beseitigen, wurde niemals ein ernst zu nehmender Anschlag auf die beiden Männer verübt. Und so bleibt eine quälende Frage seit fast fünfzig Jahren unbeantwortet: Als Jacky Nye im Oktober 1968 auf dem inzwischen längst verschwundenen West Pier ermordet wurde, wo war da sein lebenslanger Freund und Partner? Warum war er nicht da, um ihn zu beschützen?

Schon immer haben manche gemunkelt, Nye habe den Tod nicht deshalb gefunden, weil Grand abwesend, sondern weil er da war.

Anhang: GRAND_Ch_Mario Zammit

Anhang: GRAND_Ch_Sandys Story

Von: [email protected]

An: [email protected]

Datum: Mittwoch, 6. November 2013 18:11

Betreff: Neues Buch

Luke!

Verdammt, das ist ja phantastisch! Ich muss sagen, es hat mich ein bisschen beunruhigt, dass du einen so obskuren Fall aus den Annalen zerrst, aber ich glaube tatsächlich, dass gerade diese Frische ein Verkaufsargument sein könnte. Heutzutage findet man so selten etwas, das nicht schon längst totgeritten worden ist. Mir fallen mindestens drei Lektoren ein, mit denen wir darüber sprechen können.

Aber du hast recht, wir sollten bei diesem Projekt nichts überstürzen. Ich werde abwarten, bis du seine Beichte auf Band hast oder anderes unterstützendes Beweismaterial vorlegen kannst – irgendetwas, das mir und einem potentiellen Verlag beweist, dass diese Story wirklich deine ist. Ich denke, nach dem, was wir beim letzten Mal erlebt haben, ist es so am besten.

Inzwischen bleib dran! Verjagen wir Earnshaw von Platz eins der Bestsellerlisten.

Maggie x

PS: Ich vergesse am Telefon immer, dich danach zu fragen: Hast du das Päckchen bekommen?

EIN JAHR ZUVOR

ZWEI

»Volles Haus«, sagte Viggo.

An diesem Abend wurden figurative Gemälde präsentiert und nicht die abstrakten Bilder und Installationen, die sonst in der Galerie angeboten wurden, und entsprechend war auch das Publikum anders als sonst. Die meisten Gäste kamen von den größeren Banken und Anwaltskanzleien aus Leeds – Männer in grauen Anzügen aus dem Finanzviertel und ihre Frauen mit glatter Stirn und orangefarbenen Beinen. Luke entdeckte nur zwei Leute unter fünfundzwanzig: einen Neuerwerb von Leeds United mit seiner C-prominenten Schauspielerfreundin. Billig angezogen war nur die Malerin, eine Frau mit ungeschminktem Gesicht in Jeans und Chucks. Und Luke und Viggo natürlich. Dennoch sah ihre Uniform – schwarzes Hemd, schwarze Hose, schwarze Krawatte – gut aus. Es waren die teuersten Kleidungsstücke, die Luke besaß, und die neuesten.

Vor der Auktion hatten sie die Aufgabe, mit Tabletts voll Champagner umherzugehen und sich zu bemühen, dass möglichst viel durch die Kehlen der Gäste floss, aber sobald die ersten Gebote abgegeben wurden, hatten sie hinter der Bar zu bleiben. Der Galerist hatte es gern so still, dass man ein Champagnerbläschen platzen hörte.

Die Malerin gab sich während der ganzen Veranstaltung gelassen und fummelte selbst dann noch an ihrem Telefon herum, als eins ihrer Bilder, eine Studie in Silber und Rotmit dem Titel Liegendermännlicher Akt, die Zwanzigtausend-Pfund-Marke durchbrach. Der Käufer, ein großer Mann mit dichtem hellgrauem Haar, war weniger cool. Er löste sich aus dem Gedränge und lehnte sich neben der Bar an die Wand, als könne er kaum glauben, was er da gerade getan hatte. Sein Haar umrahmte ein faltenloses Gesicht, in dem leuchtend blaue Augen glänzten, und jetzt sah man, dass er gut zwanzig Jahre jünger war, als er von hinten ausgesehen hatte. Älter als sie, aber sicher erst Ende dreißig, höchstens Anfang vierzig.

»Ein Silberfuchs«, sagte Viggo und grinste. »Welche Farbe haben wohl seine Scha… Gratuliere, Sir!« Er kriegte gerade rechtzeitig die Kurve, als der Silberfuchs an die Bar kam, und Luke biss sich auf die Unterlippe. »Ein wirklich schönes Stück.« Luke sah, wie Viggos Blick zu der schwarzen Amex-Karte zwischen den Fingern des Mannes huschte.

»Ich glaube, das verlangt förmlich nach Champagner«, sagte Viggo. »Glas oder Flasche?«

»Ich weiß es nicht«, sagte der Silberfuchs und legte seine Kreditkarte auf die Theke. Dann spreizte er die Hände. »Sehen Sie sich das an, ich zittere tatsächlich. Ich habe so etwas noch nie getan. Ich meine, ich habe Geld für Autos ausgegeben, für Immobilien und das Übliche, aber für Kunst … Mir schwirrt der Kopf.« Er sah Luke an. »Wenn ich eine Flasche nehme, helfen Sie mir, sie zu trinken?«

»Das tun wir gern«, sagte Viggo, bevor Luke ihn bremsen konnte. Viggo hatte bereits einmal eine schriftliche Verwarnung wegen unangemessener Vertraulichkeiten mit Kunden kassiert.

»Danke«, sage Luke mit Entschiedenheit. »Aber wir haben nicht vor halb zwölf Feierabend, und dann gehen wir woandershin.«

»Je mehr, desto besser«, sagte Viggo. »Ich gebe Ihnen jetzt ein Glas, und wir treffen uns um halb zwölf?«

»Ich, äh, ja. Danke. Ähm, ich bin Jeremy.«

Sein Akzent klang nach vornehmem Yorkshire: Queen’s English, interpunktiert durch ein gelegentliches flaches A. Viggo ergriff die Hand, bevor sie ganz ausgestreckt war.

»Viggo. Und das ist Luke. Nochmals Glückwunsch, Jeremy.« Er übertrieb seinen eigenen Akzent, obwohl er flüssiger Englisch sprach als viele ihrer Altersgenossen. Das tat er absichtlich, damit man ihn fragte, woher er kam. Er glaubte, man werde ihn attraktiver finden, wenn man wusste, dass er Schwede war. Ärgerlicherweise hatte er recht. Luke war stolz darauf, dass sein eigener Akzent – falls er einmal zu Wort kam – immer noch ganz unverfälscht nach Leeds klang, obwohl er seine letzten Jahre als Teenager in Australien verbracht hatte. Die Familie war nach Sydney ausgewandert, als er vierzehn gewesen war. Bei der ersten Gelegenheit war er nach Hause zurückgekommen, um zu studieren, und jetzt fuhr er nur noch auf Besuch nach Australien.

Viggo wartete wenigstens, bis Jeremy außer Hörweite war, bevor er sagte: »Bingo!«

»Wir wollten uns nach Feierabend mit Charlene auf einen Drink im Charmers treffen«, erinnerte Luke ihn.

»Wir können ihn mitnehmen. Er kann es sich bestimmt leisten, sie auch noch einzuladen.«

Luke überlegte. Wenn Jeremy ein, zwei Runden spendierte, hätten sie vielleicht immerhin noch genug für eine Taxifahrt nach Hause.

Er erwartete sie um halb zwölf am Ausgang, und sie machten sich auf den kurzen Fußweg am Fluss entlang zum Charmers. Im Schutz des Dämmerlichts konnte Luke sich an Jeremys Profil kaum sattsehen, an der klassischen geraden Nase, dem perfekten rechten Winkel seines Kiefers und der glattrasierten Haut.

»Ohne diese Uniformen seht ihr anders aus«, sagte Jem. »An Hipster bin ich nicht gewöhnt.«

Niemand, der wirklich wusste, was ein Hipster war, hätte Luke so bezeichnet. Seine Brille war das alte Kassengestell seines Vaters, keine Designer-Nachbildung, sein langes Haar war wild und lockig, weil er sich sonst den Schädel hätte rasieren müssen, und wenn er heute Abend überhaupt gut aussah, dann nur, weil Viggo sich geweigert hatte, sich draußen mit ihm in seiner Fleecejacke sehen zu lassen, und ihm schließlich eine schmal geschnittene Jacke geliehen hatte. Viggo fand es unglaublich, dass Luke über den bei den Gangstern der sechziger Jahre so beliebten klassischen Schnitt so viel wusste, ohne dass wenigstens ein bisschen von dieser Eleganz auf ihn abgefärbt hatte. Damit lag er nicht ganz falsch, aber immer wenn Luke sich bemühte, sah er sogar in seinen eigenen Augen aus, als habe er sich verkleidet. Schon vor langer Zeit hatte er deshalb beschlossen, Stilfragen Leuten wie Viggo – ja, oder Jeremy – zu überlassen, die dafür ein Talent hatten. Es war eine Sache, einen ästhetischen Aspekt zu schätzen, aber eine ganz andere, über das Engagement und die Mittel zu verfügen, ihn sich zu eigen zu machen.

Viggo kannte den Typen, der die Aufsicht über die VIP-Lounge führte, und er hob die Samtkordel hoch, um sie durchzulassen. Jeremy bestellte bei der Kellnerin eine Flasche Veuve Clicquot. Wenn ihm auffiel, dass er als Einziger in der Bar einen Anzug trug, so machte es ihn nicht befangen.

»Und wie lange seid ihr beide schon zusammen?«, fragte er. Es war lange her, dass jemand diese Annahme geäußert hatte.

»Wir sind nicht zusammen«, sagte Luke. »Wir waren es eine Zeitlang, aber das ist Jahre her. Jetzt teilen wir uns nur noch die Wohnung. Aber davor waren wir Kollegen. Erinnerst du dich an Coming Up? Das war so was wie ein schwules Lifestyle-Magazin für den Norden.«

Jeremy bekam einen panischen Gesichtsausdruck.

»Gibt keinen Grund, weshalb du es kennen solltest. Es war für …« Für junge Leute, hatte er sagen wollen, aber er korrigierte sich. »Eigentlich für Typen, die studieren. Ist inzwischen eingegangen.« Die letzten Worte murmelte er in sein Glas. Er sprach immer noch nicht gern darüber, dass die Zeitschrift, die er geliebt hatte, gegen das Internet nicht hatte konkurrieren können. Es hatte ihm das Herz gebrochen, als sie eingestellt worden war, nur um ein paar Monate später einen Relaunch als Website zu erleben, als Schatten seiner selbst, zusammengeschustert von Kids, die nicht mal schreiben konnten.

»Er hat Preise für seinen Journalismus gewonnen. Eines Tages kriegt er noch den Pulitzer.« Viggo trank seine Champagnerflöte in einem Zug aus und schenkte sich nach. Luke wusste, dass der Stolz aus ihm sprach, aber er konnte es trotzdem nicht ausstehen. Die Erfolge seiner frühen Karriere dienten nur noch dazu, den Trümmerhaufen zu beleuchten, den er später daraus gemacht hatte. »Stonewall Awards, zwei Jahre hintereinander. Er war undercover in einem dieser christlichen Bootcamps, die behaupten, sie könnten Homosexualität heilen.«

»Und, hat es geklappt?«

»Oh ja.« Luke zeigte auf die Kellnerin. »Sieh dir diese Titten an.«

Jeremy lachte und wurde dann ernst. »Und woran arbeitest du im Moment?«

Die furchtbare Wahrheit war, dass seine Karriere als freier Journalist durch einen spektakulären Akt der Selbstsabotage im Keim erstickt worden war. Aber das brauchte Jeremy nicht zu wissen. »Was mich wirklich interessiert, ist so was wie wahre Verbrechen. Alte Bandenkriege. Einen alten Gangster zu finden und seine Biographie zu schreiben. Ich habe eine Agentin, die sich dafür interessiert, und ich verfolge eine Spur, bei der das alles klappen könnte. Len Earnshaw? Er hat in den Sechzigern als Tresorknacker gearbeitet, aber sie haben ihn erst in den Achtzigern geschnappt. Er hat in jeder Stadt im Norden operiert, er kannte jeden, von der Quality-Street-Gang bis zu den Kray-Zwillingen – und er hat sich bis jetzt nie offiziell geäußert.«

»Klingt faszinierend«, sagte Jeremy, und es hörte sich an, als meinte er es ernst. Also zog Luke sein Notizbuch aus der Aktentasche, ohne darauf zu achten, dass Viggo die Augen verdrehte, und fand eine beleuchtete Stelle auf dem Tisch. Das Notizbuch war prall gefüllt mit eingeklebten Zeitungsausschnitten, fotokopierten Artikeln und ein paar handschriftlichen Notizen, abgeschrieben aus »True Crime«-Büchern. »Hier ist Earnshaw«, sagte er und zeigte auf ein flottes Polizeifoto. Jeremy musste sich herüberbeugen. Er roch wunderbar: sauber und moschusartig zugleich. Luke spürte, wie die ersten Regungen der Zuneigung sich verstärkten und zu Verlangen wurden.

»Wie kommt ein netter Junge wie du dazu, über solche Gewalttätigkeit zu schreiben?«, fragte Jeremy. Er flirtet mit mir, dachte Luke. Und nicht mit Viggo.

»Es fasziniert mich einfach. Meine Abschlussarbeit habe ich über Homosexualität und Bandenkultur in den Sechzigern geschrieben.«

»Ich meine über operative Ressourcen und Statistik«, sagte Jeremy. »Jetzt findest du mich sicher schrecklich langweilig.« Aber das fand Luke überhaupt nicht. Er handelte nach dem Naturgesetz, dass wir uns immer für die interessieren, die von uns fasziniert sind. Plötzlich wollte er Jeremys Meinung zu seinem »work in progress« hören und überlegte, ob er ihm das erste Kapitel zeigen sollte, das den Norden der Sechziger und den gesellschaftlichen Kontext sehr hübsch darstellte. Er wollte die Meinung eines anderen hören. Aber die Aufmerksamkeit seines neuen Freundes war weitergewandert.

»Kennt ihr den?« Mit einer Kopfbewegung deutete er über Lukes und Viggos Schulter hinweg zu Charlene, die auf der anderen Seite der Kordel gestikulierend vor dem Türsteher stand.

»Das ist kein Er, das ist Charlene«, sagte Viggo. Er winkte, und der Türsteher ließ sie durch.

»Warum könnt ihr nicht einfach an der Bar trinken wie normale Menschen?«, fragte sie.

»Jeremy, Charlene, Charlene, Jeremy«, sagte Luke.

»Alles klar?«, fragte Charlene.

»Hallo«, sagte Jeremy. Er starrte Charlene an, wie die Leute es beim ersten Mal oft taten, denn sie sah aus wie ein verstörend schöner minderjähriger Junge. Ihr Haar war hinten und an den Seiten kurz geschnitten, und eine Tolle fiel ihr in die Stirn. An diesem Abend trug sie ein Fünfziger-Jahre-Hawaiihemd und hochgeschlagene Jeans. Jeremy nickte, und ein weiteres Glas und eine neue Flasche erschienen auf dem Tisch.

»Wie geht’s deinem Dad?«, fragte Viggo und schenkte ihr ein. Dann sah er Jeremy an. »Charlene musste in den Süden zurückkommen, um für ihren Vater zu sorgen. Er ist nicht gesund.«

»Keine Lust, darüber zu reden. Hab eine Aushilfspflegerin, die bis übermorgen bei uns wohnt, und werde mich bis dahin durchtrinken.« Sie leerte ihr Glas. »Wer möchte tanzen?«

Luke und Jeremy schüttelten die Köpfe, aber Viggo ließ sich von ihr zur Tanzfläche und auf ein Podium schleppen. Luke beobachtete, wie Jeremy Viggo beobachtete. Sein Aussehen im Licht der Spots – golden das Haar und die Haut, muskulös die Arme – war nur einer der Gründe, weshalb Viggo selten allein nach Hause ging.

»Tanzt du gern, Jeremy?«, fragte Luke und hoffte auf ein Nein als Antwort.

»Nenn mich Jem. Jeremy klingt so nach Buchhalter.«

»Okay, Jem. Was machst du beruflich?«

»Ich bin Buchhalter.« Jeremy verzog keine Miene, und Luke musste lachen. »Aktuar, genau genommen.« Er nahm eine geprägte blassgrüne Visitenkarte aus seiner Brieftasche. Darauf stand: »Jeremy Gilchrist, Partner, Gilchrist Fonseca, Actuarial Consultants«.

»Ja, aber was ist das?« Luke bog die Karte zwischen den Fingern. »Ich weiß, es ist ein Spezialgebiet der Versicherungsbuchhaltung, aber …«

»Es geht dabei um Risiken, um Bewertungen. Angenommen, ein multinationaler Konzern will irgendwo eine neue Niederlassung aufmachen. Ich muss dann prüfen, ob sie sich das leisten können.«

Während Luke noch überlegte, wie er das Gespräch wieder auf ein Thema mit höherem erotischen Potential bringen könnte, kamen Charlene und Viggo zurück und stürzten sich auf den spendierten Champagner, als könnte er jeden Augenblick wieder abgeräumt werden.

»Die Tanzfläche ist voller Kinder«, sagte Charlene. »Ich werde anscheinend alt.«

»Wollen wir nicht zu mir nach Hause gehen?«, fragte Jem. »Ist gleich um die Ecke.« Die Einladung war an alle gerichtet.

»Nee«, sagte Charlene. »Mein Bedarf an Zuhause ist für dieses Jahr gedeckt. Ich glaube, ich bleibe hier. Mal sehen, ob noch jemand kommt.«

Luke starrte Viggo eindringlich an und hoffte, er werde den Wink mitbekommen. Aber Viggo merkte nichts.

DREI

Jems Wohnung lag ein Stück weiter unten am River Aire an der gepflasterten Uferstraße, wo das Royal Armories Museum zwischen alten Backsteinfabriken und -werkstätten stand, die jetzt als Apartments und Büros dienten. Die Gegend war erst halb gentrifiziert. Kaffeebars und Pilates-Studios hatten die Imbissläden und Tattoo-Salons noch nicht völlig verdrängt.

Sie bogen in eine Straße am Kai ein, wo altertümliche Lastkähne vor einem nagelneuen Apartmentgebäude aus Chrom und Glas festgemacht lagen. Das Penthouse, das man mit einem schimmernden Stahlaufzug erreichte, erstreckte sich über die gesamte Grundfläche.

»Was für eine Aussicht«, sagte Viggo, der vor einem großen Panoramafenster stand. Es hatte angefangen zu nieseln, und die Lichter der Stadt verwandelten sich in leuchtende Luftschlangen.

Als Jem hinter Viggo trat, empfand Luke ein banges Kribbeln und klopfte zweimal an die Scheibe. Sofort wurde sie undurchsichtig.

»Das gibt’s nicht!« Viggo machte einen Satz rückwärts und lachte. »Jem, dürfen wir rauchen?«

Das Zögern war kaum merklich. »Natürlich«, sagte Jem. Er drückte einen unsichtbaren Knopf, und das Fenster glitt auf und offenbarte einen Balkon.

Jem verschwand in der Küche, und sie hörten, wie Eiswürfel klirrend in Gläser fielen. Die Wände im Wohnzimmer waren kahl, die Regale leer bis auf eine Dockingstation von Bose. Noch nie hatte Luke eine Wohnung gesehen, die so unbewohnt aussah. Als die ersten eBook-Reader herausgekommen waren, hatte er im Scherz zu Viggo gesagt, jetzt, da die Bücher der Leute in digitaler Form nicht mehr in den Regalen stünden, sei es viel schwieriger zu wissen, ob man mit ihnen ins Bett gehen wolle. Er war nicht auf den Gedanken gekommen, er könne mit jemandem schlafen wollen, der gar keine Bücher hatte.

Jem kam mit einem Eiskübel, drei Gläsern und einer Flasche Champagner zurück – Laurent Perrier diesmal –, an der das Kondenswasser herunterlief. Luke kannte nicht viele Leute, die Champagnerflaschen zu vierzig Pfund im Kühlschrank stehen hatten wie Viggo und er Milch.

»Ihr seht, warum ich ein bisschen Kunst kaufen musste. Bin gerade erst eingezogen. Er wird da hängen.« Er deutete auf die größte der kahlen Wände.

»Wo hast du vorher gewohnt?«, fragte Viggo.

»In Headingley«, sagte Jem und errötete leicht. »Mit meiner Frau. Demnächst Exfrau.« Seine Stimme nahm einen schuldbewussten Ton an. »Mein Coming-out liegt noch nicht lange zurück. Sechs Monate. Für mich ist es immer noch neu, in eine Bar zu gehen, ohne vorher den Trauring abzunehmen.«

Es war einen Augenblick lang still, während Luke und Viggo diese Information verdauten.

»Ich glaube, ein Coming-out war bei mir nie nötig«, sagte Viggo. »Meine Mum sagt, sie wusste es, als ich drei war.«

»Und du?« Jem sah Luke an.

»Auf der Highschool in Sydney. Ungefähr mit siebzehn.«

»In der Schule? Ich hab’s nicht mal mir selbst gegenüber zugegeben, bevor ich dreißig war. Und da war ich schon acht Jahre verheiratet.«

»Klingt einsam«, sagte Luke. Viggo hatte das Interesse verloren. Er beugte sich über die Dockingstation und scrollte durch Jems iPod.

»War es auch, für uns beide. Ich bedauere es sehr, dass ich nicht den Mut hatte, Serena schon vor zehn Jahren zu verlassen, und dass ich sie hintergangen habe. Ich habe sie sehr geliebt, auf platonische Weise. Das tue ich immer noch. Ich vermisse sie sehr.« Er schaute auf seine linke Hand hinunter, als wolle er kontrollieren, ob er noch seinen Ehering trug. »Aber ich habe nichts investiert, nichts riskiert. Ich habe nichts gegeben, das ich hätte verlieren können. Und das war unfair uns beiden gegenüber. Eine Ironie des Schicksals, wenn man bedenkt, was mein Beruf ist, nicht wahr? Ich habe die besten Jahre ihres Lebens verschwendet, wie alle ihre Freunde mir sagten, bevor sie beschlossen, nie wieder mit mir zu sprechen. Ich kann es ihnen nicht verdenken.«

»Wo ist sie jetzt?«

»Immer noch in unserem alten Haus in Headingley. Sie lebt unser altes Leben ohne mich weiter.« Er sah sehr traurig aus.

Endlich hatte Viggo eine Musik ausfindig gemacht, die seine Billigung fand – Jazz, den Luke nicht kannte –, und bewegte sich tänzelnd zur Toilette. Luke und Jem blieben allein zurück. Als er verschwand, war es, als sei das Licht heruntergeregelt worden.

Jem lehnte sich herüber, drückte einen Finger auf Lukes Schlüsselbein und sog die Unterlippe zwischen die Zähne. Luke dachte erst wieder an Viggo, als die Wohnungstür laut zugeschlagen wurde. Erschrocken fuhren sie auseinander.

»Sorry«, sagte Jem. »Ich bringe dich in Verlegenheit mit deinem Freund. Ich konnte nicht anders. Weil … sieh dich nur an.« Er strich mit seiner warmen Handfläche über Lukes Brust, über den Bauch und die Gürtelschnalle. »Was machst du, damit dein Bauch so flach bleibt?«

»Ich bin achtundzwanzig und arm«, scherzte Luke, um die Nervosität zu überspielen, die plötzlich wie ein Schmetterling in seinem Körper herumflatterte. Aber Jem scherzte nicht. Er sah so ernst und konzentriert aus, wie Luke es noch nie bei jemandem gesehen hatte. Luke fühlte sich nackt, bevor er sich ausgezogen hatte.

Im Schlafzimmer flackerte das Bewusstsein seiner eigenen Unvollkommenheit kurz auf und drohte alles zu verderben. Er spürte jede seiner Sommersprossen, jede widerspenstige Haarsträhne. Jems Körper war so kunstvoll geformt, dass er in jeder Galerie einen Platz gefunden hätte. Glatte, gleichmäßige Haut umschloss solide Muskeln. Die Erregung triumphierte über die Unsicherheit, und Luke überließ sich und verlor sich in diesem Mann, der wie warmer Samt war, wie teures Leder und wie – ja! – hartes Holz.

Als Luke aufwachte, saß Jem im Bett neben ihm und las in seinem Notizbuch.

»Morgen«, sagte Jem. »Ich war hin- und hergerissen. Sollte ich das hier lesen oder dich anschauen? Du siehst sehr hübsch aus, wenn du schläfst. Aber ich weiß nicht, wie cool du jetzt bist. Kannst du immer noch Hipster sein, wenn du nichts anhast?«

»Hm«, sagte Luke.

»Tja, ich hab mich gerade um fünfzig Jahre ins Manchester der Sechziger zurückversetzen lassen. Ich wollte da nicht reingucken, aber dann konnte ich nicht mehr aufhören«, sagte Jem. »Es ist gut. Als du von True Crime gesprochen hast, dachte ich an Bilder von Pistolen und Handschellen, aber das hier ist … einfach phantastisch.«

Luke fühlte sich geschmeichelt und war auf einmal hellwach. »Ich dachte an so etwas wie Kaltblütig«, sagte er. »Kennst du das?« Jem schüttelte den Kopf. »Truman Capote. Ein Bericht über einen echten Mord in Kansas, aber es ist … seriös. Und literarisch.«

»Oo…kay.« Jem wedelte mit dem Notizbuch. »Tja, die Exemplare wirst du signieren, ehe du dich’s versiehst. Ich hoffe, du hast dein Autogramm schon geübt.«

Auf dem Nachttisch lag ein Stift. Luke zog die Kappe ab und schrieb schwungvoll seinen Namen auf Jems Brustseite. Jem stand auf und bewunderte die Signatur im Spiegel der Kleiderschranktür.

»Jetzt hast du dein Mal auf mir hinterlassen«, sagte er und strich sanft mit den Fingerspitzen über den Namenszug.

»Wie spät ist es?« Luke fragte sich, wie viel Zeit sie noch hatten, bis der Kater einsetzte.

»Halb acht.«

»Verdammt, das ist doch noch mitten in der Nacht.« Luke zog sich die Decke über den Kopf. »Geh nicht zur Arbeit. Sag, du bist krank, und bleib mit mir im Bett.«

»Das kann ich nicht«, sagte Jem vergnügt. Als er telefonierte, hinterließ er offenkundig einer Sekretärin und nicht dem Chef eine Nachricht. »Ich hab kein Frühstück im Haus«, sagte er. »Meistens frühstücke ich im Fitness-Studio. Ich gehe mal los und besorge Kaffee, frischen Orangensaft und ein paar prätentiöse Kohlenhydrate mit einem französischen Namen. Vielleicht ein paar Zeitungen.«

»Okay«, sagte Luke. Er rollte sich auf die Seite und fing sofort an zu träumen. Sie waren in einem unterirdischen Club mit weißen Backsteinbogen. Jem war gekleidet wie ein Gangster aus den Sechzigern, er trank und verglich Pistolen mit Len Earnshaw. Truman Capote saß in einer Ecke und hielt Hof, und auf einer winzigen Bühne sang Judy Garland im Scheinwerferlicht vor einem glitzernden Vorhang. Der Traum schien ewig zu dauern, aber anscheinend war es ein Mikroschlaf, von dem man manchmal hörte, denn als Luke aufwachte und Jems Namen rief, war er noch nicht wieder da.

Er ging unter die Dusche und benutzte Jems Caviar-Shampoo für silbernes Haar und eine Duschlotion, auf deren Preisschild mehr stand, als er an einem Abend in der Galerie verdiente. Er frottierte sich ab, ging ins Wohnzimmer und klopfte an die Scheibe, und plötzlich stand er splitterfasernackt vor der Kaianlage, die von Büroangestellten und Einkaufsbummlern wimmelte. Hastig zog er sich an und erkundete das Apartment. Viel zu sehen gab es nicht. Alle Flächen waren so kahl wie die Bücherregale. Der einzige Hinweis darauf, dass hier jemand wohnte, war eine kleine Schale neben der Eingangstür mit einem Autoschlüssel, etwas Kleingeld und Jems Führerschein, in dem stand, dass er neununddreißig war. Die Adresse war noch die alte in Headingley.

Endlich kündigte das leise Summen des Aufzugs Jems Rückkehr an. Als Erstes stieg Luke der Duft von Kaffee und Gebäck in die Nase. Aber Jems Gesicht hatte die gleiche Farbe wie sein Haar. Lukes Blick wanderte nach unten, und er sah einen dünnen Blutfleck, der sich auf dem weißen Hemd ausbreitete.

»Oh Gott, Jem. Ist das ein Messerstich?« Er schaute aus dem Fenster, als könnte er den Messerstecher noch sehen, wie er im Gewimmel verschwand. Jem schob den Baumwollstoff hoch und nahm behutsam eine Mullkompresse von seinen Rippen. Darunter erschien Lukes Unterschrift – erhaben, geschwollen und blutend.

»Ich war im Tattoo-Studio«, sagte er. »Ich wollte dir zeigen, dass ich Vertrauen in dein Schreiben habe. Jetzt bin ich eine signierte Erstausgabe.«

VIER

Als Luke zur Arbeit in der Galerie erschien, hatte er immer noch das Gefühl zu leuchten, wo Jem ihn berührt hatte. Seine Haut glühte erwartungsvoll bei dem Gedanken an das, was später am Abend noch kommen würde, und er fragte sich, ob er vielleicht eine Stunde früher würde gehen können. Schon jetzt bekümmerte es ihn, dass er Spätschichten schob und Jem früh ins Büro ging. Hatte er je zuvor in so praktischen, auf Dauerhaftigkeit ausgerichteten Kategorien über eine Beziehung nachgedacht, die aus einer einzigen Begegnung bestand?

Viggo verspätete sich. Luke räumte die Gläser aus der Spülmaschine und hoffte, dass er die Niederlage der vergangenen Nacht mit Anstand akzeptiert hatte. Wie oft hatte er schließlich selbst schon dasitzen und sich die Geschichten über Viggos Eroberungen anhören müssen? Aber als er schließlich eine halbe Stunde zu spät aufkreuzte, schmollte er nicht, sondern hopste herum wie Tigger.

»Ich werde Autor!«, krähte er und verpasste Luke einen regelrechten Kopfstoß. »Aminah will, dass ich ihre Bücher für sie schreibe!«

»Was!?« Luke wusste natürlich, wer Aminah war. Allerdings rechnete man nicht damit, ihren Namen in einem Satz mit dem Wort »Bücher« zu hören. Sie war ein Mädchen aus einem Problemviertel in Bradford, das sich seinen Ruhm durch eine Talentshow, eine ätzende Single auf Platz eins, ein Drogenproblem, ein Sexvideo, einen Entzug und eine Realityshow über ihr Comeback erworben hatte. Jetzt führte sie ein sauberes Leben mit Workout-DVDs und schrillem Designer-Luxus, wodurch sie für Luke sehr viel weniger interessant war. Glamour war in seinen Augen nichts Glanzvolles, sondern ein Makel. Viggo betete sie natürlich an und sie ihn. Luke hatte sie mal als »Kylie für Arme« bezeichnet. Das war herabsetzend gemeint, aber Viggo hatte den Ausdruck als Überschrift für ein Interview benutzt, und er war hängen geblieben. Aminah hatte ihn sogar als Titel für ihre Twitter-Biographie genommen. Auf dem Cover von Coming Up war sie dreimal gewesen – öfter als irgendjemand sonst.

»Ich weiß!«, rief Viggo. »Sie schreibt Memoiren und zwei Romane, und sie will mich als Ghostwriter für alle drei.«

Luke konnte sich nicht erinnern, dass Viggo jemals etwas Umfangreicheres geschrieben hätte als ein dreiseitiges Interview. Er war von einem kleinen Reporterneuling zum Feature-Redakteur aufgestiegen, aber während seiner gesamten Laufbahn bei Coming Up hatte er immer nur über Entertainment-Themen geschrieben.

»Du hast einen Verlagsvertrag über dreiBücher? Du!?«

»Sei nicht verbittert«, sagte Viggo vergnügt.

»Bin ich nicht.« Luke war so grün vor Neid, dass er kaum sprechen konnte. »Ich freue mich aufrichtig für dich. Es ist bloß … Ist das nicht ein bisschen … kommerziell? Willst du nicht abwarten, bis sich etwas mit mehr, sagen wir, Integrität ergibt?«

»Ich glaube, sogar du würdest deine literarische Integrität für fünfundzwanzig Riesen ins Klo spülen. Ich kann all meine Kreditkartenrechnungen bezahlen. Und es wird mir Spaß machen. Du weißt, wie sehr mich Trash auf einem gerade noch akzeptablen Niveau reizt.«

»Wie schön für dich. Dann hast du ja endlich dein Metier gefunden.«

Viggo schlug mit einem Küchentuch nach ihm. Luke starrte seinen Freund an und fragte sich, ob er immer schon heimlich von diesem brennenden literarischen Ehrgeiz erfüllt gewesen war. Er hatte nie erlebt, dass Viggo etwas gelesen hatte, das länger war als tausend Wörter. Tatsächlich sollte er derjenige sein, der den ersten Buchvertrag bekam, und … Er musste das Thema wechseln.

»Und du hast kein Problem wegen Jem?«

»Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt«, sagte Viggo ohne jede Spitze. »Wie war’s denn überhaupt?«

»Na ja. Gut. Anders. Intensiv.«

Die Geschichte von dem Tattoo lag ihm schon den ganzen Tag auf der Zunge, aber er brachte es nicht über sich, sie zu erzählen, nicht einmal Viggo. Es war, als liege seine Loyalität plötzlich seltsamerweise eindeutig bei Jem.

Es gab eine Bedingung: Wenn sie zusammenbleiben sollten, musste Luke mit dem Rauchen aufhören. Jem konnte den Geruch in seinem Haus nicht ausstehen, er ertrug den Gedanken nicht, dass Luke seinen schönen Körper vergiftete, und vor allem wollte er ihn schmecken und keinen Aschenbecher.

»Kein Problem«, sagte Luke. »Ich bin gut im Aufhören. Hab’s schon oft getan.«

Anscheinend trat die Vereinbarung sofort in Kraft. Mit einer Fürsorglichkeit, die nur wenige gezeigt hätten, war Jem bereits in der Apotheke gewesen und hatte genug Nikotinpflaster geholt, um Luke über die erste Woche zu bringen.

Das Zwanzigtausend-Pfund-Gemälde hatte jetzt einen Ehrenplatz an der Wand, und die Bücherregale füllten sich langsam. Angefangen hatte es mit einer Paperback-Ausgabe von Kaltblütig, und jetzt brauchte Luke einen Autor nur noch beiläufig zu erwähnen, und Jem ging in der Mittagspause in die große Buchhandlung in der Nähe seines Büros und kaufte seine Bücher, sodass die wachsende Bibliothek sich zu einem Abbild von Lukes eigener entwickelte: Auden und Isherwood, Hollinghurst und Arnott (den Jem tatsächlich schon gelesen hatte), aber auch eine Handvoll Gangster-Memoiren und »True Crime«-Klassiker wie The Profession of Violence (das allerdings jungfräulich im Regal stehen blieb).

Jem und Viggo hatten nicht viel füreinander übrig. Jem war eifersüchtig auf Lukes und Viggos gemeinsame Vergangenheit, auch wenn Luke immer wieder beruhigend erklärte, dass die zehntägige Affäre, die sie zusammengeführt habe, das Uninteressanteste an ihrer Beziehung sei. »Wir sind jetzt eher wie Brüder«, versuchte er zu erläutern. »Wir haben beide keine Familie in Großbritannien, und deshalb betrachten wir uns gegenseitig als Ersatzfamilie. Er war für mich da, als es sonst niemand gab.« Aber Jem wollte nichts davon hören.

Die Atmosphäre daheim kühlte sich dementsprechend ab, zumal Viggos Buchvertrag den Reiz des Neuen bald verlor und ihm klar wurde, was für ein Arbeitsmarathon vor ihm lag. Als Luke erwähnte, dass Viggos expandierendes Ghostwriter-Imperium nach und nach die kleine Wohnung ausfüllte, hatte Jem ihm einen Schlüssel zum Penthouse gegeben und gesagt, er solle dort arbeiten, wann immer er Lust habe. Jem war entzückt von der Vorstellung, dass sein Heim dazu benutzt wurde, Kunst zu schaffen, während er im Büro war. Er habe das Gefühl, sagte er, dass sein Geld endlich einem guten Zweck zugeführt werde, und er gab Luke das Gefühl, als sei er derjenige, der ihm einen Gefallen tat, weil er das Apartment mit seiner Anwesenheit beglückte.

Luke hatte sich nie vorstellen können, mit jemandem wie Jem zusammen zu sein – er hatte nie an einen Partner aus der Unternehmenskultur gedacht, sondern immer an einen anderen Autor oder Künstler oder zumindest an jemanden, der etwas mit Medien zu tun hatte –, und jetzt war ihm klar, warum er es nie länger als ein paar Monate mit demselben Mann ausgehalten hatte. Wenn eine Beziehung eng sein sollte, gab es nicht genug Platz für zwei Leute, die einander glichen.

Es war Teil der Anziehung – Jems vollkommen rätselhafter Job, die Geheimlehre von Gewinn und Verlust, dieses Wissen, das jedem anderen verwehrt war, den Luke kannte. Nicht dass Jem Arbeit mit nach Hause brachte. Wenn er keinen Anzug trug, vergaß man, was er tagsüber tat. Er mochte auf die vierzig zugehen, aber sein Feuereifer erinnerte Luke daran, wie er selbst mit siebzehn gewesen war: außerstande, bei dem ersten Jungen, der sein Interesse erwiderte, cool zu bleiben. Jem schickte ihm unzählige SMS, er folgte ihm von einem Zimmer ins andere, spielte immer wieder denselben Song in Endlosschleife und zwang Luke, sich hinzusetzen und auf den Text zu achten. Gelegentlich redete er dummes Zeug. Dann staunte er über die seltsamen kosmischen Mächte, die ihn dazu getrieben hätten, an jenem Abend die Galerie zu besuchen, und sinnierte über Schicksal und Bestimmung – Konzepte, die Luke als schmerzhaft peinlich empfand.

»Ich kann nicht fassen, wie selbstsicher du bist, wie entspannt«, sagte er einmal. »Ich bin so froh, dass ich dich habe und dass du mir zeigst, wo es langgeht.«

»Es geht nirgends lang«, hatte Luke gefaucht. »Wir sind nicht bei den Freimaurern.« Er bemühte sich, über seine Verärgerung erhaben zu sein. Es war offenkundig eine natürliche Folge davon, dass Jem seine Neigung so lange verheimlicht hatte. Luke musste sich in Erinnerung rufen, dass er in Schwulenjahren der Erwachsene war.

Trotzdem legte er unversehens Verhaltensweisen an den Tag, die er von sich gar nicht kannte. Er hätte sich zu Tode geschämt, wenn seine Freunde die Nachrichten gesehen hätten, die er abschickte, wenn er sich tagsüber langweilte.

Darling Jem, komm zum Lunch nach Hause. ALI, Luke

ALI bedeutete »Alles Liebe Immer«. Das Akronym war einer dieser kleinen Geheimcodes, den Paare benutzten und bei denen man höhnisch das Gesicht verzog, wenn man sie zu Gesicht bekam, aber jetzt stellte Luke fest, dass diese Dinge sie miteinander verbanden.

Auch mit der Arbeit lief es gut. Er konnte nicht sagen, ob es an der friedlichen häuslichen Umgebung lag, am motivierenden Neid auf Viggos Verlagsvertrag oder an der Zuversicht, die Jem ihm einflößte, aber er war in den paar Wochen, seit sie einander kannten, mit seinem Buch weiter vorangekommen als in den sechs Monaten davor. Aus einer schriftlichen Korrespondenz mit Len Earnshaw waren Telefongespräche geworden, und zum ersten Mal hatten sie ein Treffen vereinbart.

Ihr Ein-Monats-Jubiläum verbrachten er und Jem im Penthouse, demonstrativ entspannt in Frotteemänteln nach einem ausgiebigen gemeinsamen Bad. Jem blickte von den Einrichtungsseiten der Zeitung auf, die er gerade las.

»Wie könnte man diese leere Wand unkonventionell gestalten?«, fragte er. »Ich brauche ein Gegengewicht für das Gemälde. Hier steht, Themenwände sind die Lösung.«

Er zeigte Luke die Zeitungsseite. Ein Zimmer war teilweise mit einer Tapete ausgekleidet, die aussah wie alte Bücherregale, in einem anderen war eine Wand mit Strahlenspiegeln bedeckt, und in einem dritten waren es lauter Kuckucksuhren. Alle sahen furchtbar aus, und Luke hielt sich zurück, denn er wusste, wenn er irgendetwas davon auch nur beiläufig guthieß, würde er es demnächst hier vorfinden.

»Es ist deine Wohnung«, sagte er.

»Und wenn es auch deine wäre?«

Das Blut schoss Luke in die Wangen.

»Erinnerst du dich an den Abend, als wir uns kennengelernt und gleich so erstaunlich gut verstanden haben? Und weißt du noch, was ich über Serena gesagt habe – dass ich sie geliebt, aber nichts investiert habe? Na, ich möchte etwas in dich investieren, Luke. Ich habe mich in dich verliebt. Es hat keinen Sinn, das zu leugnen. Ich weiß, du fühlst genauso. Du hast mir die Augen geöffnet, und ich erkenne jetzt, was mir gefehlt hat. Dass du in einer anständigen Wohnung lebst, ist das Mindeste, was ich für dich tun kann. Gib den Job in der Galerie auf, der uns die ganze Woche voneinander trennt, und arbeite nur noch als Autor. Ich habe mehr als genug Geld für uns beide.«

Natürlich sagte er ja, aber obwohl ihn bei dem Gedanken, unbegrenzten Zugang zu Jem zu haben, ein erregender Schauder ergriff, huschte plötzlich das Wort Transaktion durch seinen Kopf.

Es Viggo zu sagen würde kein Problem sein. Luke war sicher, er würde es kaum zur Kenntnis nehmen.

In der Maisonette saß er wie üblich im Lotossitz auf dem Sofa und balancierte seinen Laptop auf den Knien. Das Wohnzimmer war übersät mit Klatschzeitschriften und Bestseller-Romanen.

»Kannst du dir die Miete jetzt allein leisten? Jem hat mich gefragt, ob ich zu ihm ziehe.«

»Wow, das ging aber schnell«, sagte Viggo und zwinkerte. »Ja, mit der Miete komme ich zurecht. Das Geld von dir ist eigentlich nur noch ein Sahnehäubchen. Aber kannst du dir das leisten? Eine Hypothek auf so eine Bude kostet doch sicher zwei, drei Riesen im Monat. Da kannst du niemals mithalten.«

Lukes Stimme wurde zu einem Murmeln. »Er sagt, ich brauche nichts zu bezahlen, und er wird mir ein Taschengeld geben.«

Viggos Brauen verschwanden unter seinen Haaren. »Wie ein Freier«, sagte er. »Das macht dich zu was?«

»Ich weiß, wie es sich anhört, aber es ist eine fabelhafte Gelegenheit für mich, endlich etwas zu tun, das wirklich der Mühe wert ist.« Er hatte nicht sticheln wollen, jedenfalls nicht bewusst, aber Viggo deutete es so und rutschte entrüstet auf dem Sofa hin und her.

»Ich finde«, sagte er spröde, »du bist nicht mehr in der Position, in der du Predigten darüber halten kannst, dass jemand sich verkauft. Ich bin eine Nutte, weil dir meine Arbeit nicht gefällt, obwohl ich sechzehn Stunden am Tag arbeite. Aber du lebst mit jemandem nur für Geld zusammen, damit du dir aussuchen kannst, was du schreibst. Du kannst die Arbeit behandeln wie ein Hobby und glaubst immer noch, du hast mehr Integrität als ich?«

»Was ist los, Vig?« Luke war verblüfft. »Ich hatte gehofft, du freust dich für mich.«

»Das tue ich auch«, sagte Viggo, ohne von seinem Computer aufzublicken.

FÜNF

»Bist du sicher, dass es eine gute Idee ist?« Es war der Tag, an dem Luke sich zum ersten Mal mit Len Earnshaw treffen würde, und Jem trommelte schon den ganzen Morgen mit den Fingern. »Ich mache mir Sorgen um dich, wenn du jetzt losziehst und mit Verbrechern fraternisierst.«

»Herrgott noch mal, Jem. Das wird schon gut gehen.«

»Woher willst du das wissen?«

»Ich weiß es eben.« Luke sammelte Schlüssel und Brieftasche ein. »Es ist noch immer gut gegangen. Vertraust du mir?« Jem nickte, nahm Lukes Hand und drückte sie so fest, dass es wehtat. Um ihn zu beruhigen, erwiderte Luke den Druck. Dann zog er die Finger weg, die unangenehm brannten, und ging.

Aber Jems Besorgnis war ansteckend, und Luke ließ sich das Gespräch immer wieder durch den Kopf gehen, als er auf den Bus wartete. Undercover zu arbeiten war eine Sache; bei früheren journalistischen Aufträgen hatte Luke immer das Gefühl gehabt, weil er ein Stück weit abseits der Realität operierte, trenne ihn auch eine gleichermaßen isolierende Schicht von jedem Risiko. Dieses irrationale Gefühl der Unbesiegbarkeit war in der Vergangenheit außerdem durch die Anwesenheit eines Redakteurs gestützt worden, einer Person, die anrief und sich nach den Fortschritten erkundigte und die notfalls die Ressourcen der auftraggebenden Publikation mobilisieren konnte. Aber bei einem Buch war es anders. Er hatte nicht einmal einen Verlag im Hintergrund, und das bedeutete, er arbeitete zum ersten Mal ohne Sicherheitsnetz. Während der Busfahrt durch die Stadt versuchte er sich zu erinnern, ob er sich jemals durch einen Interviewpartner ernsthaft bedroht gefühlt hatte, und zu seiner Genugtuung fiel ihm nicht ein einziger Fall ein. Zuversicht trat an die Stelle der Bangigkeit, die Jem geweckt hatte, und Luke spürte, wie die beschützende Luftblase sich um ihn herum wieder bildete.

Der Len Earnshaw aus Fleisch und Blut war eine Enttäuschung. Fleisch zumindest umgab ihn in mächtigen überlappenden Rollen. Er verspeiste eine Packung Chips mit Scampi-Geschmack, und sein Kropf quoll über den Kragen seines Jogginganzugs. Als Luke ihn so sah, wurde ihm klar, dass er einen schnittigen Gangster im dreiteiligen Anzug erwartet hatte, eingehüllt in eine Wolke von Zigarettenrauch. Dabei durfte man im Pub längst nicht mehr rauchen, was zeigte, wie weit sich seine Phantasie von der Realität entfernt hatte.

Earnshaw kippte drei Pints Bitter, während Luke eins trank. Sollte er versuchen, sich seinem Tempo anzupassen, um seinen Respekt zu gewinnen? Schließlich hatte er das Treffen heruntergespielt und so getan, als gingen da nur zwei Kerle ein Bier trinken. Notizbuch und Telefon waren tief in seinen Taschen verborgen. Sollte Earnshaw etwas Wichtiges sagen, würde er es sich einfach merken müssen. Truman Capote hatte sich damit gebrüstet, vierundneunzig Prozent jedes Gesprächs, das er geführt hatte, im Gedächtnis behalten zu haben, und Luke trainierte, um das ebenfalls zu schaffen.

Dialogpassagen würden kein Problem sein. Earnshaw blieb einsilbig und weigerte sich, ein Gespräch über seine Vergangenheit auch nur zu beginnen, wenn nicht vorher Geld über den Tisch ginge. Luke versuchte geduldig, ihm die Zwickmühle zu erklären, in der er sich befand. Er könne einen Vorschuss erst bekommen, wenn er sicher sei, dass Earnshaw kooperieren werde. In seiner Verzweiflung versprach er ihm die Hälfte dessen, was er herausholen könne. (Das war nicht so waghalsig wie noch vor ein paar Monaten. Dank der Unterstützung, die er von Jem bekam, war die finanzielle Motivation, dieses Buch zu schreiben, nicht mehr so drängend wie zuvor. Jem gab ihm ein großzügiges Taschengeld, aber er bestand nichtsdestoweniger darauf, alles zu bezahlen, von neuen Kleidern für Luke bis zu dem schnellen leichten Laptop, an dem er jetzt arbeitete, und der ziegenledernen Tasche, in der er ihn transportierte. Lukes Konto füllte sich zusehends, obwohl er nicht mal versuchte zu sparen.)

Jetzt verlegte er sich darauf, Tacheles mit Earnshaw zu reden. Er zeigte ihm sein Notizbuch mit den Ausschnitten, um zu demonstrieren, dass er die Vorarbeiten erledigt hatte, und erzählte ihm, aus welchem Winkel er das Buch angehen wollte. »Ich finde, die Unterwelt von Leeds ist weitgehend vernachlässigt worden«, sagte er. »Ihre Vergangenheit ist verbunden mit ein paar Gesichtern aus Manchester und Liverpool, von denen die Leute wohl gehört haben, und natürlich kannten Sie die Zwillinge. Die Leute sind immer versessen auf eine neue Verbindung zu den Zwillingen.« Am Ende kam es ihm so vor, als könne er in diesen toten Augen ein Funkeln erkennen, und als er ging, hatte er das Gefühl, er habe sein Anliegen vorangebracht.

Er wollte Jem anrufen und ihm erzählen, wie es gelaufen war, aber der war den ganzen Tag im Gespräch mit Kunden. Die Heimfahrt würde ihn an der alten Maisonette-Wohnung vorbeiführen, und so rief er Viggo an und fragte, ob er Lust auf eine Teepause habe. Er war erfreut, als Viggo sagte, er setze gleich das Wasser auf. Nach dem Telefonat war der Akku leer. Auch gut. Er würde rasch ein Tässchen Tee trinken und hätte immer noch Zeit, um in den Supermarkt zu gehen und etwas Schönes für heute Abend zu kaufen. Inzwischen hatte, er gelernt, nicht mehr Abendbrot, sondern Abendessen zu sagen.

Lukes altes Zimmer war jetzt ein richtiges Arbeitszimmer und das Wohnzimmer so ordentlich wie schon seit Jahren nicht mehr.

»Macht die Arbeit Spaß?«, fragte er.

»Mm-hm. Aminah ist ziemlich wartungsintensiv. Sie weiß nicht, was sie will. Ihre Geschichte verändert sich dauernd, und jedes Mal muss das ganze Ding von einem riesigen Team von Anwälten genehmigt werden. Und sie kennt ein paar grässliche Leute. Sie ist mit Drogendealern und Zuhältern aufgewachsen. Ich weiß nicht, was du an diesem ganzen Bandenkram so reizvoll findest. Mir jagt das eine Scheißangst ein. Aber genug von mir und meiner abwärtsgerichteten gesellschaftlichen Spirale. Wie geht’s dem Liebestraum der mittleren Jahre?«

»Gut« , antwortete Luke. Irgendwie klang diese Frage wie ein Vorwurf.

»Warum kommt er nie raus? Warum kommst du nie mehr raus? Oder gehst du jetzt mit seinen Freunden aus?« Viggo machte ein entsetztes Gesicht und legte sich die gespreizte Hand auf die Brust. »Luke, triffst du dich etwa mit anderen Leuten?«

Luke lachte und schüttelte den Kopf, aber er wollte nicht daran erinnert werden, dass Jem anscheinend außer ihm nicht einen einzigen Freund hatte. Vermutlich führten seine alten Freunde immer noch ein gemütliches Hetero-Leben in Headingley und trösteten Serena. Er hatte das Thema nur ein einziges Mal erwähnt, und Jem hatte ihn angefahren: »Ich hatte eine beste Freundin, und ich lasse mich von ihr scheiden.« Die Stimmung hatte sich so abrupt geändert, dass Luke nie wieder davon angefangen hatte.

»Nein, meistens sind wir nur zu zweit. Wir bleiben zu Hause, trinken was, sehen uns Filme an.« Viggo verschränkte die Arme und starrte ihn ungläubig an. »Was denn? Ich bin gern zu Hause.«

»Klar, bist du. Wahrscheinlich hast du keine Lust auf ein schnelles Gläschen im Charmers?«

Einen Kebap in der Hand, torkelte Luke um ein Uhr früh auf der Penthouse-Etage aus dem Aufzug. Hoffentlich würde er daran denken, früh genug aufzustehen, um die Chilisauce im Lift aufzuwischen, der jetzt aussah wie in der Mordszene in The Untouchables. Der Schlüssel drehte sich lautlos im Schloss, und er zog die Schuhe aus und ging auf Zehenspitzen hinein.

Jem saß im Dunkeln auf dem Sofa. Das einzige Licht im Raum kam von seinem Telefon, das er in der Hand hielt, als habe er es wie besessen angestarrt.

»Ich hoffe, du hast einen guten Grund«, sagte er.

»Sorry, Baby, mein Akku war leer.« Vorsichtig legte Luke sein Kebap auf die Corian-Arbeitsplatte. »Weiter war nichts. Das Interview ist wirklich gut gelaufen, und vielen