Vier.Zwei.Eins. - Erin Kelly - E-Book
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Vier.Zwei.Eins. E-Book

Erin Kelly

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Beschreibung

Am Anfang stand der Betrug. Es folgte die Lüge. Dann war es nur noch Feigheit. Und keiner hatte die leiseste Ahnung, in welche Katastrophe uns das alle führen würde. Im Sommer 1999 erleben Kit und Laura eine totale Sonnenfinsternis in Cornwall. Beide sind jung und verliebt, sie sind fest davon überzeugt, dass sie noch viele solche Naturereignisse gemeinsam beobachten werden. Im fahlen Dämmerlicht danach, als sich der Schatten auflöst, glaubt Laura etwas gesehen zu haben. Eine brutale Vergewaltigung. Doch der Mann bestreitet alles. Die Frau schweigt. Seine Aussage gegen die von Laura. Monate nach der Gerichtsverhandlung steht die Frau plötzlich vor Lauras und Kits Tür. Schleicht sich auf merkwürdige Weise in ihr Leben. Nur Kit scheint zu sehen, was Beth Taylor wirklich ist: eine Bedrohung. 15 Jahre später leben Laura und Kit unter falschem Namen an einem geheimen Ort. Keine Kontakte in die sozialen Medien, kein Eintrag im Telefonbuch, nur gelegentliche Telefonate. Etwas liegt noch immer im Dunklen, Laura fürchtet es, und sie ahnt, dass sie nur einen Teil des Bildes sieht. Doch dann steht Beth Taylor plötzlich vor Lauras Tür. Und jetzt drängt die Wahrheit mit aller Macht ans Licht…

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Seitenzahl: 574

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Erin Kelly

vier. zwei. eins.Vier Menschen. Zwei Wahrheiten. Eine Lüge.

Roman

Aus dem Englischen von Susanne Goga-Klinkenberg

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]Die fünf Phasen der SonnenfinsternisPrologErster Kontakt1 LAURA 18. März 20152 KIT 18. März 20153 LAURA 10. August 19994 LAURA 18. März 20155 LAURA 10. August 19996 KIT 18. März 20157 LAURA 11. August 19998 LAURA 18. März 20159 LAURA 11. August 199910 KIT 18. März 201511 LAURA 8. Mai 200012 LAURA 8. Mai 200013 KIT 18. März 201514 LAURA 18. März 201515 LAURA 9. Mai 200016 LAURA 9. Mai 200017 KIT 18. März 201518 LAURA 9. Mai 200019 LAURA 9. Mai 200020 KIT 18. März 201521 LAURA 9. Mai 2000Zweiter Kontakt22 LAURA 19. März 201523 LAURA 16. Mai 200024 KIT 19. März 201525 LAURA 18. Mai 200026 LAURA 19. März 201527 LAURA 19. Mai 200028 LAURA 20. Mai 200029 KIT 19. März 201530 LAURA 28. Mai 200031 LAURA 28. Mai 200032 KIT 20. März 201533 LAURA 25. Juni 200034 LAURA 30. Juli 200035 LAURA 20. März 201536 LAURA 29. August 200037 KIT 20. März 201538 LAURA 4. September 2000Totalität39 LAURA 28. September 200040 LAURA 20. März 201541 LAURA 20. Juni 200142 LAURA 15. November 200343 LAURA 20. März 2015Dritter Kontakt44 KIT 20. März 201545 LAURA 20. März 201546 LAURA 20. März 201547 KIT 20. März 201548 LAURA 20. März 201549 KIT 21. März 201550 KIT 9. August 199951 KIT 10. August 199952 LAURA 21. März 201553 KIT 11. August 199954 LAURA 21. März 201555 KIT 8. Mai 200056 KIT 31. Mai 200057 LAURA 21. März 201558 KIT 21. September 200059 KIT 21. März 201560 LAURA 21. März 201561 KIT 21. März 2015Vierter Kontakt62 LAURA 30. September 201563 LAURA 28. September 201564 LAURA 30. September 201565 LAURA 3. April 201566 LAURA 30. September 2015Danksagung

Für meine Schwester Shona

Eine totale Sonnenfinsternis besteht aus fünf Phasen.

 

ERSTER KONTAKT: Der Schatten des Mondes wird über der Sonnenscheibe sichtbar. Die Sonne sieht aus, als hätte man ein Stück aus ihr herausgebissen.

 

ZWEITER KONTAKT: Die Sonne ist fast gänzlich vom Mond verdeckt. Das letzte Sonnenlicht dringt durch die Spalten zwischen den Mondkratern und lässt die überlappenden Himmelskörper wie einen Diamantring aussehen.

 

TOTALITÄT: Der Mond verdeckt die Sonne nun vollständig. Dies ist die dramatischste und unheimlichste Phase einer totalen Sonnenfinsternis. Der Himmel verdunkelt sich, die Temperatur sinkt, Vögel und Tiere verstummen häufig.

 

DRITTER KONTAKT: Der Mondschatten entfernt sich, und die Sonne erscheint wieder.

 

VIERTER KONTAKT: Der Mond verdeckt die Sonne nicht mehr. Die Sonnenfinsternis ist vorbei.

Wir stehen nebeneinander vor dem fleckigen Spiegel. Unsere Spiegelbilder meiden jeden Blickkontakt. Sie trägt Schwarz, genau wie ich, und genau wie ich hat sie ihre Kleidung sorgfältig und respektvoll ausgewählt. Keine von uns beiden steht vor Gericht, jedenfalls nicht als Angeklagte, doch wir wissen beide, dass in solchen Fällen immer die Frau beurteilt wird.

Die Kabinen hinter uns sind leer, die Türen angelehnt. Vor Gericht zählt dies als Privatsphäre. Der Zeugenstand ist nicht der einzige Ort, an dem man aufpassen muss, was man sagt.

Ich räuspere mich, und das Geräusch hallt von den gefliesten Wänden wider, eine Miniaturkopie der perfekten Akustik, die in der Eingangshalle herrscht. Hier gibt es überall ein Echo. In den Korridoren erklingt bürokratisches Türenschlagen, schwere Akten werden auf quietschenden Rollwagen befördert. Was man sagt, fängt sich an den hohen Decken und wird in vielfältiger Form zurückgeworfen.

Im Gericht mit seinen gewaltigen Fluren und übergroßen Räumen verschieben sich die Maßstäbe. Das ist wohldurchdacht. Es soll einen an die eigene Bedeutungslosigkeit gegenüber der mächtigen Maschinerie der Strafjustiz erinnern und die gefährlich glimmende Macht des unter Eid gesprochenen Wortes dämpfen.

Auch Zeit und Geld sind hier verzerrt. Die Justiz verschlingt Gold; es kostet Zehntausende Pfund, einem Mann die Freiheit zu sichern. Sally Balcombe, die auf der Besuchergalerie sitzt, trägt Schmuck, von dem man sich in London eine kleine Wohnung leisten könnte. Selbst das Leder des Richtersessels stinkt nach Geld. Man kann es beinahe von hier aus riechen.

Doch die Toiletten sind wie überall große Gleichmacher. Die Spülung auf dem Damenklo ist immer noch kaputt und der Seifenspender immer noch leer, und die Türschlösser funktionieren immer noch nicht richtig. Die leistungsschwachen Spülkästen tropfen geräuschvoll und verhindern jede diskrete Unterhaltung. Wenn ich etwas sagen wollte, müsste ich schreien.

Ich betrachte sie im Spiegel. Das Etuikleid umhüllt ihre Kurven. Ich habe meine Haare, die langen, leuchtenden Haare, die Kit sofort an mir geliebt hat, die Haare, die er angeblich im Dunkeln erkennen konnte, zu einem braven Knoten gesteckt. Wir beide sehen … sittsam aus, das ist wohl das richtige Wort, obwohl mich niemand jemals so beschrieben hat. Wir sind nicht mehr die Mädchen vom Festival: die Mädchen, die ihre Körper und Gesichter golden bemalten und heulend unter dem Mond tanzten. Diese Mädchen gibt es nicht mehr, beide sind auf ihre Weise tot.

Draußen schlägt eine schwere Tür zu, wir zucken zusammen. Sie ist ebenso nervös wie ich. Dann endlich schauen unsere Spiegelbilder einander an und stellen jene Fragen, die zu gewaltig – und zu gefährlich – sind, um sie laut auszusprechen.

Wie konnte es dazu kommen?

Wie sind wir hier gelandet?

Wie wird es enden?

Erster Kontakt

1LAURA18. März 2015

London ist die britische Stadt mit der höchsten Lichtverschmutzung, doch selbst hier in den nördlichen Vororten kann man um vier Uhr morgens immer noch die Sterne sehen. Im Arbeitszimmer brennt kein Licht, und ich brauche Kits Teleskop nicht, um die Venus zu entdecken; die Mondsichel trägt den blassblauen Planeten wie einen Ohrring.

Ich habe die Stadt im Rücken; von hier aus blickt man auf die Dächer der Vororte, die vom Alexandra Palace beherrscht werden. Tagsüber ist er eine viktorianische Monstrosität aus Gusseisen, Backstein und Glas, doch in den frühen Morgenstunden bohrt er sich wie ein Stachel in den Himmel, gekrönt von dem leuchtenden roten Punkt an der Antennenspitze. Ein Nachtbus, der die gleiche Farbe hat, saust über die verlassene Straße am Park. Dieses Viertel ist rund um die Uhr lebendiger als das Westend. Sobald der letzte Kebabladen schließt, nimmt die polnische Bäckerei die erste Lieferung entgegen. Ich habe mir die Gegend nicht ausgesucht, liebe sie jetzt aber. Im Gedränge bleibt man anonym.

Blinkend kreuzen sich die Wege zweier Flugzeuge. Eine Etage unter mir schläft Kit tief und fest. Er ist es, der verreisen wird, aber ich bin hellwach und nervös. Ich habe schon lange nicht mehr durchgeschlafen, doch diesmal hat es nichts mit den Babys zu tun, die einen Stepptanz auf meiner Blase aufführen und mich wach treten. Kit hat mal gesagt, das Leben, das seien die langweiligen Zeiten zwischen den Sonnenfinsternissen, doch für mich sind es die sicheren Zeiten. Beth hat zweimal die Welt durchquert, um uns zu finden. Sichtbar werden wir nur, wenn wir reisen. Vor einigen Jahren habe ich einen Privatdetektiv damit beauftragt, uns nur anhand der Papierspur unseres früheren Lebens zu finden. Es ist ihm nicht gelungen. Und erst recht nicht Beth und nicht einmal einem Mann wie Jamie, dem so viele Mittel zur Verfügung stehen. Es ist vierzehn Jahre her, seit einer seiner Briefe mich erreicht hat.

Zum ersten Mal seit seiner Jugend wird Kit eine totale Sonnenfinsternis ohne mich erleben. Selbst jene, die er verpasst hat, hat er mit mir zusammen und wegen mir verpasst. Es ist nicht ratsam, in meinem Zustand zu reisen, und ich bin so dankbar für diesen Zustand, dass ich Kit das Erlebnis gönne, selbst wenn ich mir Sorgen um ihn mache. Beth kennt mich. Sie kennt uns. Sie weiß, dass sie mich vernichtet, wenn sie ihm etwas antut.

Ich sehe zu, wie der Mond langsam untergeht. Indem ich seiner Bahn folge, übe ich mich bewusst in Achtsamkeit und lebe nur im Augenblick, um meine Panikattacken im Keim zu ersticken. Das verräterische erste Anzeichen ist da: Die Härchen auf meiner Haut richten sich auf, als würde jemand mit einem hauchdünnen Tuch über meine Unterarme streichen. Sie nennen es Somatisierung, das ist der körperliche Ausdruck einer psychischen Schädigung. Achtsamkeit soll mir helfen, Soma und Psyche voneinander zu trennen. Ich spiele mit den Sternen, verbinde sie zu Sternbildern. Da ist Orion, eine der wenigen Konstellationen, die jeder erkennt, und ein bisschen nördlich davon die Sieben Schwestern, denen ein naher Vorort seinen Namen verdankt.

Ich schaukle von den Fersen auf die Fußballen und zurück, konzentriere mich auf die Teppichfasern unter meinen nackten Zehen. Ich darf nicht zulassen, dass Kit mich so ängstlich erlebt. Es würde ihm die Reise verderben, und danach würde er wieder Psychotherapie vorschlagen, und damit bin ich so weit gekommen, wie es nur geht. Man kann nur begrenzt Erfolg haben, wenn man ein Geheimnis wie das meine hütet. Die Psychotherapeuten behaupten immer, die Sitzungen seien vertraulich, als wäre ihre Ikea-Couch ein Beichtstuhl. Aber ich müsste beichten, dass ich gegen das Gesetz verstoßen habe, und das kann ich niemandem anvertrauen. Was ich getan habe, verjährt weder in diesem Land noch in meinem Herzen.

Als mein Atem wieder ruhiger geht, wende ich mich vom Fenster ab. Das Licht reicht gerade aus, um Kits Landkarte zu erkennen. Natürlich nicht das Original, das wurde zerstört, aber eine minutiöse Kopie davon. Es ist eine riesige Reliefkarte der Welt, von roten und goldenen Fäden durchzogen, millimetergenau abgemessen und mit typischer Präzision aufgeklebt. Die goldenen Bögen markieren die Sonnenfinsternisse, die Kit miterlebt hat; die roten jene, die wir in unserem Leben noch erwarten können. Es gehört zum Ritual, rote Fäden durch goldene zu ersetzen, sobald wir von einer Reise heimkehren. (Da er nun einmal ist, wie er ist, hat Kit seine Lebenserwartung anhand von Familiengeschichte, Lebensstil und Statistiken errechnet und dabei berücksichtigt, dass er ab seinem neunzigsten Lebensjahr aus Gesundheitsgründen nicht mehr reisen kann. Demnach dürften wir unsere letzte Sonnenfinsternis im Jahr 2066 erleben.)

Vor Jahren war Beth mit den Fingern über die erste Landkarte gefahren, worauf ich ihr von unseren Plänen erzählt hatte.

Ich frage mich, wo auf diesem Planeten sie jetzt sein mag. Manchmal frage ich mich auch, ob sie überhaupt noch lebt. Ich habe ihr nie den Tod gewünscht – trotz allem, was sie uns angetan hat, war sie auch ein Opfer –, wohl aber, dass sie … gelöscht werden könnte, was wohl das richtige Wort ist. Ich habe keine Möglichkeit, es herauszufinden. Wenn man »Elizabeth Taylor« sucht, landet man bei der Schauspielerin und der Schriftstellerin. Und wenn man den Kosenamen »Beth« googelt, ist es kaum besser. Sie scheint ebenso erfolgreich verschwunden zu sein wie wir.

Nach Jamie habe ich seit Jahren nicht gesucht. Es ist mir zu unangenehm angesichts der Rolle, die ich in alldem gespielt habe. Sein PR-Kreuzzug hat sich ausgezahlt, und wenn man heutzutage seinen Namen googelt, taucht das Verbrechen zwar noch auf, aber nur in dem von ihm festgelegten Kontext. Die ersten Ergebnisse beziehen sich immer auf seine Initiativen für fälschlich – und auch zu Recht – beschuldigte Männer, für die er Anonymität bis zum Augenblick der Verurteilung fordert. Mir wird schon nach den ersten Zeilen schlecht. Doch ich muss auf dem Laufenden bleiben und habe das Problem umgangen, indem ich einen Google-Alert angelegt habe, der seinen Namen mit dem einzigen Wort verbindet, das von Bedeutung ist. Es bringt nichts, nach ihm und Beth zu suchen; ihre lebenslange Anonymität ist gesichert. So schreibt es das Gesetz vor, und zwar ungeachtet des Prozessausgangs. Ich vermute, sie – und wir alle – können von Glück sagen, dass der Fall sich ereignete, bevor es soziale Medien und digitale Bürgerwehren gab, deren Blutsport darin besteht, andere öffentlich zu outen.

Auf dem Treppenabsatz geht das Licht an, Kit ist aufgewacht. Ich atme tief ein und noch länger aus und bin wieder ruhig. Ich habe die Attacke besiegt. Ich schiebe die Pulloverärmel hoch. Der Pullover gehört Kit und schmeichelt mir nicht gerade, aber er passt, und ich befinde mich seit Jahren in der Phase, in der alles möglichst bequem sein soll. Noch bevor ich schwanger wurde, verschafften mir die Steroide zum ersten Mal im Leben Hüften und Brüste, und ich weiß noch immer nicht genau, wie ich meine Kurven kleiden soll.

Ich gehe die Treppe hinunter, vorbei an den flachen Paketen mit den Babybetten, die auf dem Treppenabsatz stehen. Wenn Kit heimkommt, müssen wir das Zimmer von Juno und Piper als Kinderzimmer herrichten. Bisher hat mich der Aberglaube zögern lassen. Ich will warten, bis er die Reise überlebt hat.

Er sitzt im Bett, schaut schon im Handy nach der Wettervorhersage. Seine leuchtenden kupferroten Haare stehen in alle Richtungen ab. Die Worte Fahr nicht wollen mit aller Gewalt aus meinem Mund. Er würde hierbleiben, wenn ich ihn darum bäte, und genau das ist der Grund, aus dem ich ihn fahren lassen muss.

2KIT18. März 2015

Ich liege einige Sekunden wach, horche auf Lauras Schritte über mir und fühle mich ein bisschen wie am Weihnachtsmorgen. Es verliert nie seinen Reiz, wenn die abstrakten Zahlen auf dem Kalender zu wirklichen Tagen werden. Ich weiß seit Jahren, dass der Mond am 20. März 2015 die Sonne verdecken und eine schwarze Scheibe an den Himmel zeichnen wird. Totale Sonnenfinsternisse sind Punkte auf der Zeitachse meines Lebens, seit ich zum ersten Mal unter dem Schatten des Mondes gestanden habe. Chile 1991 war die Sonnenfinsternis des vergangenen Jahrhunderts; sieben Minuten und einundzwanzig Sekunden pure Totalität. Ich war zwölf Jahre alt und wusste, dass ich mein Leben lang versuchen würde, diese Erfahrung zu wiederholen. Eine totale Sonnenfinsternis an einem wolkenlosen Himmel ist unvergleichlich. Bis ich Laura kennenlernte, war ich dem Verständnis von Religion nie so nahe gekommen.

Das Bettlaken auf ihrer Seite ist kalt. Als sie hereinkommt, schiebt sich zuerst ihr Bauch ins Zimmer. Ihre Wangen sind ganz eingesunken, weil sie so müde ist. Sie hat die Haare aufgesteckt, die Ansätze sind zu erkennen, ein brauner Millimeter, der sich beinahe schwarz vom Platinblond abhebt. Sie trägt einen meiner alten Pullover, hat die Ärmel über die Ellbogen hochgeschoben. Sie war nie hübscher. Als wir uns anfangs um ein Baby bemühten, hatte ich befürchtet, ich könnte ihre feingliedrige Schlaksigkeit vermissen, die ich immer so geliebt hatte, doch nun bin ich stolz, dass sich Lauras Körper verändert, weil etwas von mir in ihm ist.

»Geh wieder ins Bett«, sage ich. »Es ist nicht gut, wenn du hier herumspringst.«

»Ach, ich bin jetzt wach. Ich lege mich wieder hin, wenn du weg bist.«

Unter der Dusche gehe ich ein letztes Mal den heutigen Zeitplan durch. Ich nehme um 5.26 Uhr die U-Bahn von Turnpike Lane, dann um 6.30 Uhr den Zug von King’s Cross nach Newcastle, wo ich mich um 9.42 Uhr mit Richard treffe. Von da aus bringt uns ein gemieteter Minibus zum Hafen, und um Punkt 11.00 Uhr gehen wir an Bord der Princess Celeste, eines Kreuzfahrtschiffs mit sechshundert Betten, das uns über die Nordsee an Schottland vorbei und in Richtung Island bis zu den Färöern bringt. Die Sonnenfinsternis am Freitag wird hauptsächlich über dem Meer stattfinden, aber selbst eine ruhige See ist nie ganz still, und man kann immer besser an Land fotografieren. Ich hatte die Wahl zwischen den Färöern und Spitzbergen nördlich des Polarkreises. (Laura wollte, dass ich auf die Färöer fahre. In Tórshavn auf Stremoy, der größten Insel, wird sich eine gewaltige Menschenmenge versammeln, was sie für sicherer hält.) In zwei Tagen wird der Mond morgens um 8.29 Uhr beginnen, sich vor die Sonne zu schieben, was in einer totalen Finsternis von zweieinhalb Minuten gipfelt.

Ich rubble mir den Bart trocken, auf dem Laura bestanden hat, und ziehe die Sachen an, die ich gestern Abend sorgfältig bereitgelegt habe. Meine Arbeitskleidung hängt ordentlich im Kleiderschrank und macht mir ein schlechtes Gewissen. Einerseits freue ich mich, dass ich fünf Tage nicht ins Optiklabor muss. Andererseits hätte ich die Tage auch an meinen Vaterschaftsurlaub anhängen können. Dann aber denke ich an die Chemikalien, die ich schon so lange einatme, dass meine Lungen wie beschichtet sind, und an meinen steifen Nacken, der sich das ganze Jahr über Linsen beugt und sich nun endlich zum Himmel recken kann, und denke, scheiß drauf. Ich kann mein ganzes Leben lang den treusorgenden Vater spielen. Was sind da schon fünf Tage?

Ich ziehe ein langärmeliges Thermoshirt an und darüber mein Glücks-T-Shirt, ein Andenken an meine erste Sonnenfinsternis. Darauf steht Chile 91 – Länder beanspruchen eine Sonnenfinsternis für sich, selbst wenn der Schatten auf drei Kontinente fällt –, und es hat die Farben der chilenischen Flagge. Ein grober, schwarzer Kreis mitten auf der Brust steht für die verdeckte Sonne, umgeben von den Strahlen der Korona. Als mein Vater mir das Shirt bei einem Straßenhändler kaufte, konnte ich es als Kleid tragen. Mac weigerte sich, seins anzuziehen, aber ich wollte mich nicht mal zum Waschen davon trennen. Es ist eine Frage der Zeit, wie lange es mir noch passt, falls ich nicht wie Mac ins Fitnessstudio gehe. Am Ausschnitt hat es ein kleines Brandloch, wo Mac 1998 in Aruba während eines Streits einen brennenden Joint auf mich geschnippt hat. Über die beiden Schichten kommt dann noch der strahlende Höhepunkt, ein Kunstwerk aus dicker schwarzer und weißer Wolle. Richard und ich haben uns vor Monaten im Internet die gleichen färöischen Pullover gekauft. Und jetzt folgen wir unseren CO2-Fußabdrücken, indem wir die Pullover in das Land bringen, in dem die Schafe gegrast haben und die Wolle gesponnen und gestrickt wurde.

Ich schaue wieder auf mein Handy, ob sich die Wetterbedingungen in den letzten zehn Minuten geändert haben, aber die Vorhersage bleibt düster. Eine dichte Wolkendecke liegt über dem gesamten Archipel. Eine Sonnenfinsternis zu jagen mag sich falsch anhören – wie kann man ein Phänomen jagen, wenn man selbst derjenige ist, der sich bewegt, und das Phänomen stillsteht? –, aber ich habe im Laufe der Zeit gelernt, den Begriff zu verteidigen. Erstens: An einer Sonnenfinsternis ist nichts still; die Dunkelheit rauscht mit über 1600 Stundenkilometern heran. An den Koordinaten können wir nichts ändern, der Schatten fällt dorthin, wo er hinfällt, in einem Muster, das entstand, als wir noch Ursuppe waren. Aber Wolken sind bei weitem nicht so vorhersagbar. Ein unerwarteter Kumulus kann eine große Menschenmenge enttäuschen, die gerade eben noch zuversichtlich im Sonnenschein gestanden hat. Der Reiz besteht darin, das Wetter auszutricksen. Die schönste Erinnerung an meinen Vater ist Brasilien 94, als Mac und ich unangeschnallt auf dem Rücksitz von Dads VW saßen und über eine von Schlaglöchern übersäte Straße holperten, bis wir ein Fleckchen blauen Himmel gefunden hatten. (Zugegeben, er fuhr betrunken, aber darüber denke ich lieber nicht nach.)

Heutzutage gibt es natürlich Apps. Wolkenlücken lassen sich sehr viel genauer vorhersagen, und es ist nicht ungewöhnlich, dass ganze Busladungen ihr Ziel erst fünf Minuten vor dem ersten Kontakt erfahren. Ich lege mein Handy mit dem Display nach unten hin. Ich werde verrückt, wenn ich zu lange über das Wetter nachdenke. Zum Glück konnte ich schon immer gut Gedanken verdrängen, die mich ablenken oder beunruhigen würden. Wenn ich mir gestatte, an die Vergangenheit zu denken, was selten vorkommt – sie dringt nur in mein Bewusstsein, wenn eine Sonnenfinsternis ansteht und bei Laura eine Reaktion auslöst –, kommt es mir vor, als lebten wir seit Lizard Point im Schein einer kaputten Neonleuchte. Ein subtiler, aber stetig vibrierender Lichtimpuls, mit dem man zu leben lernt, obwohl man weiß, dass er irgendwann einen Anfall oder ein Aneurysma auslöst.

Der Duft von frischem Kaffee zieht nach oben. Laura ist in der Küche, die sich fünf Stufen tiefer auf der Rückseite des Hauses befindet. Unser verwildertes Gärtchen ist noch stockdunkel. Sie hat mir einen Becher eingeschüttet und wickelt gerade ein Sandwich in Folie. Ich küsse sie hinter das rechte Ohr und atme ihren buttrigen Geruch ein. »Endlich habe ich das Hausmütterchen, das ich mir immer gewünscht habe. Ich sollte dich öfter allein lassen.« Die Haut an ihrem Hals spannt sich, als sie lächelt.

»Das sind die Hormone. Gewöhn dich bloß nicht dran.«

»Versprich mir, wieder ins Bett zu gehen, wenn ich weg bin.«

»Versprochen«, sagt sie, aber ich kenne Laura. Ich hatte gehofft, die Schwangerschaft würde sie ein bisschen dämpfen, aber die Hormone scheinen sie nur noch weiter anzutreiben, und sie powert durch den Tag, bis sie gegen neun Uhr abends irgendwo in sich zusammensackt. Sie wischt die Arbeitsplatte mit einem Schwamm ab und wirft die leeren Kaffeekapseln in den Müll. Sie steht mit dem Rücken zu mir und vollzieht eine winzige Handlung, die für jeden anderen bedeutungslos wäre, mir aber einen Stich versetzt. Sie streicht zweimal über ihre nackten Unterarme, als würde sie imaginäre Spinnweben wegwischen. Es ist Monate, wenn nicht Jahre her, seit ich es zuletzt gesehen habe, und es bedeutet immer, dass sie an Beth denkt. Ich wünsche mir zum millionsten Mal, sie wäre ebenso diszipliniert wie ich, wenn es darum geht, wie die Vergangenheit unsere Zukunft beeinflussen kann. Warum Energie an etwas verschwenden, das vielleicht nie passiert? Und doch verhält sie sich so bei jeder Sonnenfinsternis, obwohl es neun Jahre her ist, dass wir überhaupt etwas von Beth gehört haben. Sie dreht sich um, lächelt zu breit, setzt ihr tapferes Gesicht für mich auf. Sie weiß nicht, dass ich die Bewegung an den Armen gesehen habe. Vielleicht hat sie es selbst nicht einmal bemerkt.

»Was steht heute bei dir an?«, frage ich, um ihre Stimmung auszutesten.

»Einen Klienten anrufen. Und heute Nachmittag wollte ich mich an die Einkommensteuer machen. Was steht heute bei dir an?«

Der Scherz macht mir Mut. Wenn sie vor einem Zusammenbruch steht, verliert sie als Erstes ihren Sinn für Humor.

Mein Rucksack ist seit drei Tagen gepackt. Die Kameraausrüstung, Objektive, Ladegeräte und Stativ, Batterien und wasserdichte Hüllen machen die Hälfte des Gewichts aus. Die Kamera steckt in einer eigenen Tasche, sie ist zu kostbar, um sie in irgendeinem Gepäckfach zu lassen. Das Handy stecke ich in die Brusttasche meiner orangefarbenen Windjacke.

»Sehr schick«, sagt Laura trocken. »Hast du alles, was du brauchst?« Ich stecke das Sandwich in die andere Tasche, taste nach meiner Oyster-Card und hieve dann den Rucksack auf den Rücken. Sein Gewicht zieht mich beinahe nach hinten.

Ohne Vorwarnung verschwindet Lauras Lächeln, und sie streicht zweimal hintereinander über ihre Unterarme. Diesmal schauen wir einander in die Augen, und sie kann es weder abstreiten noch erklären. Und ich kann nur versuchen, sie zu beruhigen.

»Ich habe mir die Passagierliste angesehen. Keine Beth Taylor. Überhaupt keine Taylors. Keine Elizabeth. Keine Frau, deren Name mit B oder E beginnt.«

»Du weißt, dass das gar nichts zu bedeuten hat.«

In der Tat. Laura vermutet, dass Beth ihren Namen geändert hat. In meinen Augen zeugt es nur von Lauras Paranoia. Mit einem solchen Namen kann man sich vor aller Augen verstecken. Das war auch der Gedanke, als wir unseren neuen Namen wählten. Warum eine Nadel im Heuhaufen verstecken, wenn man einen Heuhalm verstecken kann? »Und selbst wenn es stimmt«, drängt Laura, »heißt das nur, dass sie nicht auf deinem Schiff ist. Wenn sie nun an Land wartet?«

Ich spreche bewusst langsam. »Wenn sie dort ist, hält sie Ausschau nach einem Festival, einem Ort mit Lautsprechern und jeder Menge Bongos. Ich hingegen reise mit einem Haufen pensionierter Amerikaner. Und selbst wenn sie mich durchschaut, ist Tórshavn groß genug und voller Touristen, die erwarten elftausend Menschen.« Ich streiche mir über den Bart. »Und da wäre noch meine clevere Verkleidung. Ich halte Ausschau, laufe mit einem Periskop herum und spähe in jede Ecke.« Ich tue, als würde ich durch meine Finger lugen, aber sie lacht nicht. »Mac ist gleich um die Ecke, Ling zwei Straßen weiter, meine Mutter eine Stunde entfernt, dein Vater immer telefonisch zu erreichen, wenn du ihn brauchst.«

»Ich kann einfach nicht anders, Kit.« Sie hasst sich für ihre Tränen. Das erkenne ich daran, dass sie sich fest auf die Lippe beißt. Ich ziehe sie an mich und löse mit der anderen Hand ihre Haare aus dem Knoten, fahre mit den Fingern hindurch, wie sie es gerne hat. Eine Träne rollt über meine wasserdichte Jacke. Ich hole tief Luft und sage das Einzige, was sie jetzt hören muss.

»Wenn du möchtest, bleibe ich hier.«

Sie löst sich aus der Umarmung, und einen furchtbaren Moment lang glaube ich, sie wolle mir den Rucksack abnehmen. Doch sie holt nur meine Kameratasche und hängt sie mir feierlich um den Hals, als würde sie mir eine olympische Medaille verliehen. Damit erteilt sie mir ihren Segen, und ich sehe genau, wie schwer es ihr fällt.

»Pass auf dich auf.«

»Du auch. Auf euch«, korrigiere ich mich und knie mich spontan hin, um ihren Bauch zu küssen. Als ich aufstehe, zieht es mir gewaltig in den Oberschenkeln.

»Es könnte schlimmer sein. Ich könnte nach Spitzbergen fahren. Erst letzte Woche wurde dort jemand von einem Eisbären getötet.«

»Ha«, sagt sie, ist aber nicht mit dem Herzen dabei. Für Laura ist Beth Taylor angsteinflößender als jeder fleischfressende Bär.

Draußen dämmert es noch nicht einmal, und die Straßenlaternen werfen orangefarbene Flecken auf den Asphalt. Von unserer Haustür führen zwei Stufen hinunter. Auf dem Gehweg drehe ich mich zu Laura um. Sie hat die Ärmel über die Handgelenke geschoben und hält ihren Babybauch umfangen. Ich erlebe einen Augenblick der Klarheit, wie Mac es nennen würde. Ich bin dabei, meine schwangere, labile, ängstliche Frau zu verlassen, um übers Meer in ein Land zu reisen, in dem ich auf die Frau treffen könnte, die uns beinahe zerstört hat.

»Ich fahre nicht«, sage ich und meine es ernst. Laura runzelt die Stirn.

»Und ob du das tust. Die Reise hat mehr als einen Tausender gekostet. Na los.« Sie scheucht mich davon. »Ich wünsche dir eine tolle Zeit. Mach ein paar Bilder. Und bring schöne Geschichten für unsere Babys mit.«

Ich schaue ein letztes Mal auf meine Füße; der Gehweg hier ist trügerisch genug, auch ohne offene Schnürsenkel. »Die Chance, mich zu finden, ist verschwindend gering«, sage ich, doch Laura hat die Tür schon zugemacht, und mir wird klar, dass ich ohnehin nur mit mir selbst gesprochen habe.

 

Es sind fünf Minuten von unserem Haus in der Wilbraham Road bis zur Turnpike Lane Station, noch weniger, wenn ich die Abkürzung durch die Harringay Passage nehme, eine düstere Dickens-Gasse, die der Länge nach durch unsere Nachbarschaft verläuft. Ich überquere Duckett’s Common mit den Schaukeln und Rutschen, auf denen die Kinder unserer Freunde spielen. Zerbrochenes Glas knirscht unter meinen Füßen.

Mir läuft schon der Schweiß herunter und kühlt in meinem Bart ab. Obwohl ich Salz auf den Lippen spüre, schmeckt meine Lüge bitter. Natürlich konnte ich die Passagierlisten nicht überprüfen, sie unterliegen dem Datenschutz. Das müsste Laura eigentlich wissen. Wenn sie unter Angstzuständen leidet, ist ihre Wahrnehmung besonders scharf. Die Paranoia zeigt ihr die winzigsten Veränderungen in meiner Körpersprache, die leichteste Verdünnung der Wahrheit.

Ich halte immer nur Dinge vor ihr geheim, die sie beunruhigen würden.

Die U-Bahn-Station Turnpike Lane ist noch geschlossen, ihr Art-déco-Glanz von schäbigen Plakatwänden getrübt. Um Punkt 5.20 Uhr öffnet ein Arbeiter in königsblauer Fleecejacke das eiserne Gittertor. Der einzige Fahrgast außer mir ist eine müde aussehende schwarze Frau im Arbeitskittel, die vermutlich irgendwo in der City putzen geht.

Ich fahre gedankenverloren die Rolltreppe hinunter. Es ist unwahrscheinlich, dass Beth auf meinem Schiff ist, aber nicht unmöglich, dass sie sich irgendwo auf den Färöern aufhält. Ich bin froh, dass ich allein reise und nicht an Lauras Sicherheit denken muss. Ich beschütze meine Frau schon so lange vor dem, was am Lizard Point geschehen ist. Und ich werde alles tun, damit es so bleibt.

3LAURA10. August 1999

Der National Express-Bus stand kurz vor Stonehenge auf der A303. Anscheinend reiste die halbe Welt wegen der Sonnenfinsternis ins West Country. Der Himmel war ebenso grau wie der Steinkreis, die uralte Uhr auf dem sanften, grünen Hügel. Wenn ich schon im Stau stehen musste, schien dies ein angemessener Ort zu sein; viele Menschen wissen nicht, dass man in Stonehenge nicht nur die Sommersonnenwende feierte, sondern auch Sonnenfinsternisse vorhersagte. Doch nachdem ich eine Stunde lang den heiligen Ort angestarrt hatte, fiel es selbst mir schwer, Ehrfurcht zu wahren.

Wann immer im Radio des Fahrers der Wetterbericht lief, stand ein spindeldürrer Mann mit zerzaustem Druidenbart auf, klatschte in die Hände und brachte uns auf den neuesten Stand. Es sah aus, als wären die Wolken gegen uns. Meine Mitreisenden jauchzten und jubelten trotzdem in einer jüngeren, cooleren Version des berühmten britischen Gleichmuts, dank dem unsere Großeltern den Luftkrieg und unsere Eltern Campingurlaube überstanden hatten. Die Sonnenfinsternis bot ihnen die Chance, ein Festival zu besuchen; wenn sie die Sonnenfinsternis beobachten konnten, umso besser, wenn nicht, blieb ihnen immer noch die Musik. Kit hingegen lag viel an der Sonnenfinsternis, und ich wusste, dass seine Stimmung ähnlich düster sein würde wie der Himmel.

Er, Mac und Ling waren schon seit zwei Tagen auf dem Festivalgelände und bauten den Verkaufsstand auf, der hoffentlich ein bisschen Profit abwerfen würde. Ich hatte seit meinem Frühstückstermin bei dem Mann von der Personalvermittlung nichts gegessen und mich anschließend am Busbahnhof auf der Toilette umgezogen. Die Kleidung, die ich beim Vorstellungsgespräch getragen hatte, steckte in meinem Rucksack. Ich drückte die Armeestiefel auf den Boden, als träte ich ein Gaspedal durch, und fragte mich, ob ich es noch vor der Dunkelheit bis zum Lizard Point schaffen würde.

Irgendwann zwängte sich der Bus durch den Flaschenhals, der von Autofahrern verursacht wurde, die auf die Trümmer eines Auffahrunfalls glotzten. Bald verließen wir Wiltshire und erreichten die Kreidepferde von Dorset. Mittags waren wir in Somerset. In Devon war dann irgendwann die chemische Toilette verstopft. Als wir die Grenze nach Cornwall überquerten, jubelte der ganze Bus. Die Schornsteine stillgelegter Zinnminen schienen aus den Hügeln zu sprießen, hier und da flatterte stolz die unverkennbare Flagge der Grafschaft, schwarz mit weißem Kreuz. Das Meer drängte von beiden Seiten gegen das Land, wo England sich zu einer Halbinsel verjüngte. Ich spürte das vertraute Gewicht in der Brust, weil dort, an der südlichsten Spitze des Landes, Kit auf mich wartete.

 

Wir waren seit sechs Monaten zusammen, die sich weniger wie Flitterwochen als wie ein permanenter Dämmerzustand angefühlt hatten. Er hätte unsere Abschlussprüfung an der Uni torpedieren können, aber Kit erntete die Früchte lebenslangen Lernens und eines fotografischen Gedächtnisses. Ich hatte Glück und bekam eine Frage zu dem einzigen Text, mit dem ich mich wirklich beschäftigt hatte. Ansonsten verließ ich mich auf meinen Vorrat an Amphetaminen. Kit behauptet, es sei Liebe auf den ersten Blick gewesen; ich glaube eher, es dauerte zwölf Stunden. Wir haben uns darauf geeinigt, uns nicht einig zu sein.

Ling und ich studierten im dritten Jahr am King’s College London, als sie Mac McCall kennenlernte, der Medienwissenschaft studierte (nicht einmal seine eigene Mutter nannte ihn Jonathan). Bis zu einem gewissen Grad mochte ich Mac – er sah ganz gut aus, wenn man auf Rostbraun stand, war witzig und aufregend und großzügig mit seinen Drogen, riss aber auch alles an sich, sobald er einen Raum betrat, und ich nahm es ihm ein bisschen übel, dass er sich in meine Freundschaft mit Ling gedrängt hatte. Ich hatte es nicht eilig, seinen Zwillingsbruder kennenzulernen, der in Oxford theoretische Astrophysik studierte. Unterschiedlich wie Tag und Nacht, dachte ich und sollte recht behalten. Mac ist ausgesprochen extrovertiert – er bezieht seine Energie aus Menschen, aus Menschenmengen –, während Kit der Prototyp des Introvertierten ist. Gespräche erschöpfen ihn; Ideen laden ihn auf.

Wir kamen sozusagen durch eine Sonnenfinsternis zusammen. Als ganz junge Frau war ich auf jede Erfahrung aus, die sich authentisch gab oder eine Alternative zur Mainstreamkultur bot, die ich verachtete. Ich mochte nur schäbige Clubs und neue Bands, von denen niemand je gehört hatte, und ging oft mit Jungs aus, die wie Jesus aussahen. Auf einem Feld zu stehen und einem Stern beim Verschwinden zuzusehen erschien mir als der ultimative Höhepunkt des ultimativen Raves, als Spezialeffekt, der jede Vorstellungskraft und das Budget jedes Clubbesitzers überstieg. Als Ling sagte, sie und Mac hätten eine Möglichkeit gefunden, um die bevorstehende totale Sonnenfinsternis in Cornwall anzusehen und auch noch daran zu verdienen, war ich dabei.

Mac wohnte in Kennington in einer ehemaligen Sozialwohnung mit niedrigen Decken, deren Wände mit bunten, fluoreszierenden Fraktal-Postern tapeziert waren. Der Boden war mit aufgerissenen Rizla-Päckchen übersät. Die Glühbirne im Wohnzimmer war durchgebrannt, die Wohnung mit Kerzen in Marmeladengläsern beleuchtet. Kit, der übers Wochenende aus Oxford gekommen war, hatte sich in einer Ecke zusammengerollt, das Gesicht hinter einem überlangen, rotblonden Pony verborgen. Er hatte den schwarzen Wollpullover über die Handgelenke gezogen und wirkte in jeder Hinsicht blasser als Mac.

»Meine Lieben«, begann Mac, während sich seine Hände mit einem Klümpchen Hasch und einem Feuerzeug beschäftigten (er konnte reden und dabei einen Joint drehen, wie andere reden und mit den Augen zwinkern können). »Wir haben uns heute hier versammelt, um herauszufinden, wie wir ein Festival besuchen können, ohne dafür zu bezahlen. Heiße Getränke bieten meines Erachtens die beste Gewinnspanne, und wenn wir in Schichten arbeiten, sollte ein netter Profit dabei herausspringen.« Für einen selbsterklärten Anarchisten dachte Mac erstaunlich unternehmerisch. Er trug T-Shirts von Amnesty und predigte Frieden und Liebe, aber nur für jene, die seine eigenen Wertvorstellungen teilten. Er begrüßte einen mit dem Friedenszeichen, dachte sich aber nichts dabei, seine Nachbarn die ganze Nacht mit ohrenbetäubendem Techno zu beschallen.

»Also.« Er zündete den Joint an. Die Flamme des Feuerzeugs fiel einen Moment lang auf Kits eckiges Gesicht: Augenbrauen wie ein Lineal, eine pfeilspitze Nase, die auf den festen Mund deutete. »In dieser Woche finden im West Country etwa zehn Festivals statt. Alle sind noch im Planungsstadium, aber ich habe so viele Informationen wie möglich gesammelt, damit wir entscheiden können, welches sich am besten mit unserem Ethos verträgt.«

Ich suchte den Blickkontakt mit Ling, wollte über Macs hochtrabende Art grinsen, doch sie schaute ihn hingerissen an. Wieder einmal fühlte ich mich ausgeschlossen.

»Das größte Festival findet in der Türkei statt, übersteigt unser Budget aber bei weitem. Außerdem, wie oft kann man das schon im eigenen Land erleben?«

»Weniger als einmal im Leben«, meldete sich Kit aus seiner Ecke. Seine Stimme klang gebildet, Home Counties, wie die von Mac ohne das aufgesetzte Cockney. »Eine totale Sonnenfinsternis erfordert eine wirklich präzise Ausrichtung. Es ist nicht leicht, einen Durchschnitt zu berechnen, aber die letzte hatten wir hier 1927, und die nächste wird nicht vor 2090 stattfinden. Zwischen 1724 und 1925 gab es keine einzige totale Sonnenfinsternis in England.«

»Na schön, Rain Man«, sagte Mac und wandte sich wieder seiner Liste zu. Er schloss drei Festivals aus, bei denen die Musik »zu mainstream«, und ein weiteres, weil der Sponsor »zu kapitalistisch« sei. Ling, der die erwarteten Zuschauerzahlen vorlagen, schloss eine winzige Versammlung aus, die sich für uns nicht lohnen würde. Also blieben ein Festival in North Devon und eins auf der Lizard-Halbinsel in Cornwall. »Schwer zu entscheiden«, sagte sie.

»Bro?«, fragte Mac. Kit stand auf, ohne sich mit den Händen abzustützen. Er ist größer als ich, dachte ich. Wenn ich die Größe eines Mannes mit meinen ein Meter fünfundsiebzig verglich, war es der erste Indikator, dass ich ihn attraktiv fand. Er holte einen Stapel Computerausdrucke aus einem Sperrholzregal, bei dem die Hälfte der Böden fehlte.

»Das Problem an Cornwall, eigentlich am ganzen West Country, besteht darin, dass es dort das eine oder andere Mikroklima gibt. Die Wetterbedingungen können sich mit jedem Kilometer verändern. Also habe ich durchschnittliche Sonnenstunden und Regenmengen für alle Festivals abgeglichen und das dann wiederum mit dem Weg der Totalität. Nach meiner Schätzung hat man hier die größten Chancen, die Sonne zu sehen.« Er faltete eine ramponierte Generalstabskarte von Cornwall auseinander und deutete auf die Lizard-Halbinsel.

»Dann also das Lizard-Point-Festival«, verkündete Mac, und Kit lächelte nicht mehr zaghaft, sondern übers ganze Gesicht. »Das müssen wir feiern.«

Die Feier bestand darin, eine Flasche Jack Daniels herumgehen zu lassen, während Mac den DJ spielte und Kit seine Papiere ordnete. Ich war es gewohnt, dass Mac und Ling ihre Zuneigung öffentlich zur Schau stellten, und ging davon aus, dass dies auch für Kit galt. Doch als sie anfingen, auf dem Sofa herumzumachen, wirkte er zutiefst beschämt, lief dunkelrot an und schaute überallhin außer zu mir. Irgendwann verschwand er in der Küche. Ich räusperte mich laut.

»Tut mir leid«, sagte Mac und strich sein T-Shirt glatt. »Wir gehen nach nebenan.«

»Wie soll ich nach Hause kommen?« Der letzte Bus war weg, der Fußweg bis zu unserer kleinen Wohnung in Stockwell lang und dunkel. Ich hatte nicht genug getrunken, um das zu riskieren, und wäre damals auch nicht auf die Idee gekommen, ein Taxi zu nehmen.

»Kit bringt dich nach Hause«, sagte Ling und stand schwankend auf. Ihr BH war schon geöffnet. Sie zwinkerte mir über die Schulter zu. »Aber nicht mit ihm bumsen. Dann könnte es in Cornwall ziemlich peinlich werden.«

Selbst wenn ich bis jetzt noch nicht daran gedacht hatte, beschloss ich nun, mit Kit zu bumsen, nur um sie zu ärgern.

»Oh«, sagte er, als er mich allein vorfand, zog sich wieder im Schneidersitz in seine Ecke zurück und trommelte mit den Fingern perfekt im Rhythmus der Musik.

»Was du mit den Diagrammen gemacht hast, war wirklich clever«, sagte ich schließlich, um das Schweigen zu brechen.

»Das ist nur Mathe«, meinte er achselzuckend, doch seine Finger hielten inne.

»Ich hatte echte Probleme mit Mathe. Auf dem Gymnasium hatte ich eine Geometrielehrerin, die Formen an die Tafel zeichnete, sich an die Brust griff und sagte: ›Der Kreis ist natürlich die schönste Form von allen‹, und ich kam mir ausgeschlossen vor, als würde man mir ein Geheimnis vorenthalten. Oder eine Geschichte erzählen, die ich nicht verstand.«

Kit neigte den Kopf zur Seite und sah mich forschend an. »Das ist besser als das, was die meisten Leute sagen. Die sind stolz darauf, dass sie schlecht in Mathe waren, eine Art umgekehrter Snobismus, ihnen fehlt es einfach an Respekt. Keine Ahnung, ob das ein Verteidigungsmechanismus ist, aber es macht mich wahnsinnig. Die begreifen einfach nicht, wie wunderschön Mathe ist. Hier, hör dir mal die Musik an.« Ich versuchte, mich darauf zu konzentrieren, was nicht leicht war, da in den Offbeats nebenan das quietschende Bett zu hören war.

»Sie sind jetzt wie lange zusammen, sechs Monate?«, fragte Kit und ließ die Augen zu der Wand wandern, hinter der die Geräusche erklangen. »Diesmal sollte er es lieber nicht versauen.«

Mein Kopf war plötzlich klar. »Moment, was heißt das?« Ling und ich waren es gewohnt, füreinander einzustehen. »Betrügt er sie?«

»Gott, nein!«, ruderte Kit unbeholfen zurück. Während Mac unglaublich charmant war, fehlte es dem armen Kit am grundlegenden Taktgefühl. »Es ist nur … seine Erfolgsbilanz ist nicht die beste. Du weißt schon. Mit Mädchen. Frauen. Aber diesmal ist es sicher in Ordnung. Mit Ling.« Er setzte die Flasche an die Lippen, kippte sie und stellte missbilligend fest, dass sie leer war.

»Ich merke schon, wer im Mutterleib das ganze Moralempfinden abbekommen hat«, sagte ich beschwichtigend.

»Wohl kaum. Mac ist doch derjenige, der auf Demos geht.«

»Weil er sich der Welt so zeigen will. Glaubst du nicht, es ist wichtiger, wie du die Leute um dich herum behandelst?«

Kit lächelte, und ich las in seinem Lächeln eine stille Integrität. Es war so anders als die Jungen, die ich vor ihm gekannt hatte und die ebenso unbeständig waren wie die politischen Slogans auf ihren T-Shirts.

»Nun ja, ich …« Was immer er sagen wollte, ging in einem lauten Knurren aus dem Nebenzimmer unter, das man keiner Person zuordnen konnte.

»Egal«, sagte ich, verzweifelt bemüht, den Lärm zu übertönen, »du wolltest mir doch erklären, was diese Musik mit Mathe zu tun hat.«

Kit nahm das als Stichwort, um die Musik lauter zu drehen. Ein Sitar-Riff umtanzte einen hämmernden Bass. Er runzelte konzentriert die Stirn. »Leibniz hat gesagt: ›Musik ist eine verborgene Rechenkunst des seines Zählens unbewussten Geistes.‹ Eine Sonnenfinsternis ist Mathematik, die schönste Mathematik, die man sich nur vorstellen kann.« Da mir angesichts dieser Intensität die Worte fehlten, bemühte ich mich, ihn ermutigend anzuschauen. »Der Durchmesser des Mondes beträgt nur ein Vierhundertstel vom Durchmesser der Sonne, aber er ist vierhundertmal näher an der Erde, daher sehen beide gleich groß aus.«

Vermutlich hätte ich ein animiertes Diagramm benötigt, um es zu verstehen, wollte aber um keinen Preis ignorant wirken. »Wie viele Sonnenfinsternisse hast du schon gesehen?«, fragte ich, um das Gespräch nicht auf die Erde, aber doch näher an meine eigene Umlaufbahn zu lenken, und dann legte er los. Er erzählte, wie er mit seinem Vater durch Amerika gefahren war und in Indien mit seinem Vater, seinem Bruder und einer »Herde reichlich verstörter Ziegen«, die sich an der Wand eines zerstörten Tempels entlangdrückten, die Sonne hatte verschwinden sehen. Er erzählte von Aruba, wo sie im Sand gestanden hatten, der so heiß war, dass Plastik schmolz, und Venus und Jupiter »klar und rund wie Stecknadeln auf einer Pinnwand« gesehen hatten. Wie die Planeten und Sterne immer aus ihren Verstecken kamen, als wollten sie die Sonnenfinsternis nicht versäumen. »Wenn du das siehst, wenn du darunter stehst, ist es keine Wissenschaft mehr. Die wird dann bedeutungslos.« Seine Wangen wurden rot, als er wieder technisch daherredete, mir die Phasen einer Sonnenfinsternis erklärte, den flammenden Feuerring der Korona beschrieb und wie die Sonnenfinsternis von 1919 Beweise für Einsteins Relativitätstheorie geliefert hatte, weil man sehen konnte, dass die Masse der Sonne das Licht ferner Himmelskörper krümmte. Ich hörte ihm interessiert zu, beobachtete ihn aber auch beim Reden; wie sich sein Gesicht ganz und gar veränderte, wenn er lebhaft wurde, wie seine Augen umherzuckten, schüchtern und nach Erinnerungen forschend. Ich bezweifelte, dass Mac so lange über etwas anderes als sich selber reden konnte, und musste unwillkürlich lächeln. »Ach, ich langweile dich«, sagte Kit.

»Ganz und gar nicht.«

»Mac sagt, ich würde zu viel reden. Was ist mit dir? Du studierst mit Ling zusammen, oder? Was hast du nach dem Abschluss vor?«

Ich berichtete von meinem großen Plan, für einige Jahre in der City zu arbeiten, bis meine Referenzen ausreichten, um in den karitativen Sektor zu entfliehen. Ich kannte zu viele Freunde meines Vaters, die ernsthaft und dilettantisch ihre Sammelbüchsen schüttelten und am Abend nur ein paar jämmerliche Münzen vorzuweisen hatten.

»Es gibt nur einen Weg, um etwas zu verändern, und das ist Geld. Und wenn man Geld braucht, muss man da hingehen, wo es eine Menge davon gibt.«

»Robin Hood mit Tabellenkalkulation und Hedgefonds-Managern?«

»Das hast du sehr gut gesagt.«

Während die Kerzen herunterbrannten, tauschten wir vorgefertigte Biographien aus, wie man es tut, wenn man jung ist und über Plattensammlungen und Studium hinaus nichts anderes zu bieten hat als die Menschen, mit denen man aufgewachsen ist. In jener Nacht hatte ich das Gefühl, es sei wichtig, mit Kit darüber zu sprechen, einander zu sagen, worauf man sich einließ. Und zu sehen, ob der andere immer noch interessiert war.

Ich erfuhr, dass seine Eltern, Adele und Lachlan, in Bedfordshire lebten, das dritte Haus in drei Jahren bewohnten, sich hatten einschränken müssen, als Lachlan seinen Job verlor, und dann noch einmal, nachdem er das verbliebene Eigenkapital vertrunken hatte. Adele unterrichtete Textiles Gestalten an einem Gymnasium, während sie darauf wartete, dass ihr Mann starb. Lachlan McCall sei, so Kit, ein funktionierender Alkoholiker gewesen, bevor er ein arbeitsloser Alkoholiker wurde. Vor einigen Jahren hatte seine Leber plötzlich versagt. Man wollte ihn nicht auf die Warteliste für eine Transplantation setzen, solange er weitertrank. Was er immer noch tat.

»Mac hat das nie erwähnt.«

»Warum auch? Du weißt doch, wie er ist. Ich meine, ich trinke ab und zu mal gern, aber er ist schon auf einem anderen Level. Ich glaube, er hört nicht mal auf, wenn wir Dad verlieren.«

Seine Lippe zitterte flüchtig. Als ich ihm anvertraute, dass ich meine Mutter verloren hatte, sagte er nur: »O Laura, es tut mir so leid. In dem Alter sollte man nicht solchen Kummer erleiden.«

Zwischen uns auf dem Boden waren plötzlich zwei Gräber, das eine voll und zugewuchert, das andere leer und erwartungsvoll. Ich wurde mir der Musik wieder bewusst, und wir schwiegen lange. Als die CD surrend endete, schluckte Kit ein paarmal, als wollte er zu einer großen Rede ansetzen, und murmelte dann in seinen Pullover: »Mir gefallen deine Haare.«

(Mir gefallen deine Haare, war gewöhnlich das Erste, was Leute damals zu mir sagten. Als ich mein Studium begann, waren sie mausbraun und reichten mir bis zur Taille; beim verzweifelten Versuch, mich neu zu erfinden, bleichte ich sie gleich am ersten Abend im Badezimmer des Studentenwohnheims und verwandelte sie in leuchtend weiße Seide. So hatte ich sie seither immer getragen und färbte die Ansätze alle drei Wochen nach. Das mag anspruchsvoll klingen, aber ich trage kaum Make-up und kleide mich nicht nach der neuesten Mode. Eine Eitelkeit darf man sich wohl gönnen.)

Kit griff nach einer Strähne, die im Kerzenlicht leuchtete. »Ich könnte dich nie in einer Menschenmenge verlieren, nicht mal, wenn es dunkel ist«, sagte er. Als er meine Wange berührte, spürte ich seinen Herzschlag in der Handfläche.

Wir hatten unbeholfenen, enttäuschenden Sex im Dämmerlicht, schwach gewärmt von einem bescheidenen Heizstrahler. Wir waren einfach zu nervös; und außerdem war uns da schon klar, wie viel es bedeutete. Doch Januarnächte sind lang, und am Morgen hatte sich der Schrecken verflüchtigt und etwas Neues begonnen. Ich fühlte mich wie gereinigt von Kit, umgeschrieben, konnte mir unmöglich vorstellen, dass ich einmal mit jemand anderem zusammen gewesen war. Wir sprachen nie darüber. Ich hatte mir aus seinen Anekdoten zusammengereimt, dass sein Liebesleben vor mir eine Reihe von Fehlstarts gewesen war. Und wenn er das Gleiche mit mir getan und etwas aus den Daten abgeleitet hatte, wie er sich ausdrückte, aus meinen sorgfältig zensierten Geschichten, musste auch er erkannt haben, dass keine meiner Erfahrungen annähernd an das heranreichte, was zwischen uns war. Seine eigenen Geschichten verrieten mir, dass man ihn außerhalb seiner Familie kaum wahrgenommen hatte, wenn er nicht gerade eine Prüfung bestand, und ich bedauerte alle Menschen, die ihn übersehen und nicht versucht hatten, hinter sein ungeschicktes Äußeres vorzudringen. Ihnen entging eine ganze Welt. Ich war stolz, dass er mich dort hineinließ, und betrachtete es als Ehre. Ich nahm die Verantwortung für sein Herz sehr ernst und schwor mir jeden Abend, seiner Vorstellung von Vollkommenheit gerecht zu werden.

Nur eine sehr junge Frau kann so denken.

Das ersehnte Ich liebe dich wurde, neu formuliert, mitten in der Nacht in Kits Bett in Oxford ausgesprochen.

»Laura.« Mein eigener Name riss mich ungestüm aus dem Schlaf. »Laura.«

»Was ist los? Was ist passiert?« Ich versuchte, sein Gesicht im schwachen Licht, das vom Treppenabsatz hereinfiel, zu erkennen, sah aber nur eine undurchdringliche Silhouette. Er verschränkte seine Finger mit meinen, als könnte ich davonlaufen.

»Es tut mir leid, ich konnte nicht schlafen. Ich muss es wissen.« Er schien den Tränen nahe, als er meine heißen Hände mit seinen kalten umfing. »Das hier. Wir. Ist es für dich genau wie für mich? Denn wenn nicht …« Er zitterte. Ich beendete im Geist den Satz. Denn wenn nicht, kann ich nicht damit umgehen. Denn wenn nicht, mach lieber sofort Schluss. Ich wollte lachen, weil es so schlicht und schön war, wusste aber, wie viel Mut es ihn gekostet hatte, mich danach zu fragen.

»Für mich ist es genauso«, sagte ich. »Versprochen. Ganz genauso.«

Dies war unser Heiratsantrag. Vom nächsten Tag an redeten wir gänzlich unbefangen davon, »wenn wir verheiratet sind«, von unseren künftigen Kindern, von dem Haus, in dem wir wohnen würden, wenn wir alt wären, und wenn Kit von Sonnenfinsternissen sprach, zu denen er in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren reisen wollte, galt es als abgemacht, dass ich dabei sein und unter dem Schatten seine Hand halten würde.

4LAURA18. März 2015

Über dem Alexandra Palace bricht sanft die pfirsichfarbene Dämmerung herein, eine anmutige Kulisse für meine Umsatzsteuererklärung. Mein PC ist offline, während ich mich dankbar von der eintönigen Tabellenkalkulation ablenken lasse. Die Paranoia von letzter Nacht hat sich noch nicht gelegt. Sie wird sogar schlimmer, je näher der Abflug rückt. Es ist einer der Tage, an denen ich gern in einem Büro arbeiten und meine Sorgen mit Smalltalk über Fernsehsendungen oder die Frage, wer Tee kaufen muss, vertreiben würde. Stattdessen bin ich allein mit einem roten Telefon, das bedrohlich zu leuchten scheint.

Vor einigen Wochen hatte ich bei einer Konferenz nicht aufgepasst und war auf einem PR-Foto gelandet. Das Frauenhaus, für das ich manchmal arbeite, posierte mit seinen Sponsoren und einem gigantischen Scheck. Da ich die Vereinbarung aufgesetzt hatte, stand ich im Hintergrund. Das Frauenhaus hat das Bild auf seiner Website veröffentlicht, und ich muss nun darum bitten, es zu löschen oder mich unkenntlich zu machen. Immerhin haben sie meinen Namen nicht genannt. Als die sozialen Medien noch in den Kinderschuhen steckten, hatten Kit und ich bereits beschlossen, dass wir keinen digitalen Fußabdruck hinterlassen wollten. Heutzutage kann man jeden mit einem Mausklick finden, und wir bemühen uns mehr denn je, unauffindbar zu bleiben. Ich mache, was ich immer mache, wenn ein unangenehmes Telefonat ansteht: Ich erstelle eine Liste der Dinge, die ich sagen möchte, und reduziere sie auf wenige Stichpunkte. Wenn ich Spendenbeschaffer ausbilde, sage ich ihnen, das Allerwichtigste – noch wichtiger als der Glaube an die Sache – sei ein Skript. Niemals ohne Skript anrufen. Wenn man seine Zielvorstellungen nicht in vier Stichpunkten zusammenfassen kann, erreicht man nie, was man will. Es funktioniert fast immer, doch heute bleibe ich nach dem ersten Punkt stecken.

Mein Bild darf nicht im Internet erscheinen.

Letztes Jahr habe ich auf BBC 4 gehört, dass man Software zur Gesichtserkennung kaufen kann, mit anderen Worten, man muss nur noch ein Foto – oder einen Scan – hochladen, und die App sucht online nach Bildern, bis sie eine Übereinstimmung gefunden hat. Für mich hörte sich das nach einem von Kits heißgeliebten Science-Fiction-Romanen an, aber das gilt für jede Technologie, die wir heute als selbstverständlich betrachten. Beth besitzt mindestens ein Foto von uns, und da wir zunächst nicht ahnten, wie durchtrieben sie war, hatten wir jede Menge Schnappschüsse in der Wohnung herumliegen lassen. Sie hätte jederzeit Abzüge machen und die Bilder unbemerkt zurücklegen können. Ich bin wohl eine der wenigen Frauen, die sich tatsächlich Krähenfüße und Hängebacken wünschen, aber Kit sagt, ich hätte mich gut gehalten. Ich weiß nicht, ob er mir schmeicheln will oder die Veränderungen nicht sieht, weil wir seit fünfzehn Jahren fast nie voneinander getrennt waren: Schatten unter den Augen, die scharfen Falten, die sich zwischen meinen Augenbrauen in die Haut gegraben haben. Oder er sieht sie und will nur freundlich sein.

Es ist erst halb neun, in den Büros arbeitet noch keiner, und mir wird klar, dass es einen feigen Ausweg gibt. Ich rufe im Frauenhaus an, wohl wissend, dass sich der Anrufbeantworter melden wird, und hinterlasse die Nachricht, dass ich aus persönlichen Gründen darum bitte, das Bild herunterzunehmen. Ich kann nur hoffen, dass es ihnen zu peinlich ist nachzuhaken. Ich habe das Glück, in einem Beruf zu arbeiten, den ich liebe, an den ich glaube und von dem ich gut leben kann. Dennoch hat meine Karriere definitiv darunter gelitten, dass ich meine karitativen Einsätze nicht benutze, um für mich zu werben. Ich werde noch immer ein- oder zweimal im Jahr von Headhuntern kontaktiert, und meine Antwort ist immer gleich. Ich kann mir keine Berühmtheit leisten.

Ich wusste von Anfang an, dass ein gewisser Wahnsinn in Beth steckte. Doch erst in Sambia begriff ich, dass sie auf ihre Weise ebenso verbissen war wie Jamie. Ich frage mich oft, ob unsere gemeinsame Geschichte auch für sie ständig im Hintergrund brodelt und überzukochen droht, wann immer eine Sonnenfinsternis bevorsteht. Man kann nicht fünfzehn Jahre permanent am Limit leben. Es muss in Wellen kommen, so wie bei mir. Oder bei Jamie, dessen Kampagne nicht von der Ausrichtung der Planeten, sondern von juristischen Prinzipien bestimmt wird.

Nachdem ich stundenlang auf dem Stuhl gesessen habe, bin ich ganz steif. Als ich aufstehe, verkrampft sich mein unterer Rücken. Ich gehe zum vierten Mal an diesem Morgen auf die Toilette, danach ordne ich die Zeitschriften im Badezimmer in zwei Stapeln an: den Er-Stapel, mit New Scientist, New Humanist und The Sky at Night, und den Sie-Stapel, mit New Statesman, The Fundraiser und Pregnancy and Birth. Ich gehe im Krebsgang die Treppe hinunter, weil ich mich so sicherer fühle, und rücke dabei die Bilder an der Wand zurecht. Es sind Fotos von Sonnenfinsternissen, glänzend schwarze Kreise, umgeben von weißen Feuerzungen, die eher wie abstrakte Kunst als wie Naturaufnahmen aussehen. Sie sind chronologisch geordnet und absichtlich unbeschriftet, doch wenn ich sie durcheinanderbrächte, könnte Kit genau sagen, wo und wann jedes einzelne aufgenommen wurde.

Auf dem Tischchen neben der Haustür steht unser Hochzeitsfoto in einem silbernen Rahmen. Ein bittersüßes Bild; zwei verängstigte Kinder in geliehener Kleidung auf den Stufen vor dem Rathaus von Lambeth. Man hatte Kit erst am Tag zuvor die Verbände abgenommen.

Ein dumpfes Hämmern von nebenan verrät mir, dass die Bauarbeiter losgelegt haben. Bis vor wenigen Jahren drängten sich zwei Familien im Haus links von uns; letztes Jahr haben Ronni und Sean es gekauft und verwandeln es wieder in ein Einfamilienhaus, das groß genug ist für sie und ihre drei Kinder. Wie alle Leute, die heutzutage herziehen, sind sie wütend, weil Crouch End zu teuer geworden ist. Unsere Gegend ist als Harringay-Leiter bekannt, weil die Straßen auf dem Plan wie achtzehn Leitersprossen aussehen, die zwischen Wightman Road und Green Lanes verlaufen. Die Wilbraham Road ist die sechste Sprosse von unten. Als wir Ronni und Sean erzählten, dass wir seit 2001 auf der Leiter wohnen, stieß Sean einen Pfiff aus und sagte: »Ihr müsst ja ganz schön flüssig sein.« Das wären wir, wenn alles nach Plan verlaufen wäre, aber Kit verdient weniger, als wir erwartet haben, und edwardianische Häuser zu erhalten ist nicht gerade billig. Hätten wir nicht das Dach erneuert, könnten wir von unserem Bett aus unfreiwillig die Sterne betrachten. Und das war noch vor der IVF. Nachdem die dritte Runde gescheitert war, blieb uns nichts anderes als eine happige Refinanzierung.

Kit hasst Ronni wegen einer Bemerkung, die sie wenige Wochen später machte. Sie war hochschwanger und hatte ein Kleinkind im Buggy, und als ich ihr die Stufen zur Haustür hinaufhalf, sagte sie: »Ohne Kinder müsst ihr euch da drinnen ja verlaufen. Wir sollten tauschen! Unsere Wohnung wäre für zwei genau richtig.«

Ich riss mich zusammen, bis sie durch die Tür war, rannte dann nach nebenan und prallte so heftig gegen Kit, dass ich den Rest des Tages seinen Zahnabdruck auf der Stirn trug. Ich warf mich aufs Sofa und heulte, während Kit Ronni als grobe, trampelige, unsensible Schlampe bezeichnete und drohte, nach nebenan zu gehen und ihr die Meinung zu sagen. (Wenn es um mich geht, wird er richtig militant.) Ich musste ihn anflehen, es zu lassen.

Im Flur steht eine gepackte Notfalltasche, mein Mutterpass steckt im Seitenfach. Alle, von meiner Frauenärztin bis zu meiner Schwiegermutter, behaupten, ich würde sie nicht brauchen, aber ich will das Schicksal nicht herausfordern. Die Geburt an sich macht mich nicht nervös. Wir planen einen Kaiserschnitt in der 37. Woche. Was mich wirklich verunsichert, ist die Vorstellung, über Nacht für zwei Menschen verantwortlich zu sein und Kit mit anderen teilen zu müssen. Wir waren immer nur zu zweit – ich und meine Mutter, ich und Dad, eine Reihe enger Freundinnen während der Schulzeit, dann ich und Ling und jetzt ich und Kit. Gut, eine Zeitlang hat Beth bei uns gelebt. Das war mein Fehler, an den ich erinnert werde, wann immer ich Kits Narbe sehe oder fühle, die Schlucht aus glänzendem Fleisch, umgeben von wulstigem Narbengewebe.

Es klingelt an der Tür, und ich rappele mich mühsam auf. Ich nehme fast jeden Tag ein Paket an. Wer zu Hause arbeitet, ist die Postannahmestelle für die halbe Wilbraham Road. Es macht mir nichts aus, jedenfalls nicht jetzt, da ich schwanger bin. Und ich hatte auch nie etwas gegen sperrige Gegenstände; nicht mal gegen die Gartenmöbel für Nr. 32, die eine ganze Woche im Flur standen. Schlimm waren die Babysachen, die Päckchen, die Ronni von Mothercare, JoJo Maman Bébé oder Petit Bateau bekam. Die Päckchen mit der winzigen Kleidung verspotteten mich, die Stimme in meinem Kopf schrie weg damit weg damit weg damit weg damit.

Unseren Flur mag ich besonders gerne. Die Fliesen sind von Minton, heraldische Lilien und komplizierte Schnörkel – auf eBay muss man mehrere tausend Pfund dafür bezahlen –, und die Haustür ist noch original Arts and Crafts mit vier Bleiglasfenstern. Durch das bunte Glas erkenne ich, dass nicht der Postbote, sondern Mac vor der Tür steht; sein Profil ist unverkennbar. Er trug schon einen Vollbart, als es noch nicht modern war, und mit seinem gewaltigen rötlichen Gewucher sieht er aus wie D.H. Lawrence. Im Vergleich dazu wirkt Kit, als hätte er sich gerade mal einen Tag lang nicht rasiert.

»Was verschafft mir die Ehre?«, frage ich, während ich die Kette löse und die Tür weit öffne. Mac trägt Arbeitsstiefel, eine Tweedhose mit Hosenträgern und ein kurzärmeliges Hemd. Es würde mich nicht überraschen, wenn hinter ihm ein Hochrad stünde. Er hat eine braune Papiertüte dabei, ähnlich wie die, in die Amerikaner in Fernsehserien ihre Einkäufe packen, aber auf dieser prangt das Logo von Bean/Bone. Der Schrägstrich war meine Idee.

»Koffeinfreier Latte für das Kalzium, Sauerteigbrot, ein paar Muffins mit Weizenkleie für später. Und wir haben Saft gepresst.« Er holt vier durchsichtige Plastikbecher heraus, die im Deckel Löcher für Strohhalme haben und violette, gelbe, orangefarbene und grüne Flüssigkeiten enthalten, wobei die letzte aussieht, als würde sie Sumpfgas verströmen.

»Was zum Teufel ist das denn? Ektoplasma?«

»Hanf und Weizengras.« Er reiht die Becher auf der Arbeitsplatte auf. »Und die Krönung.« Es ist die Knochenbrühe, der sein Etablissement Namen und Ruf verdankt – ausgekochte Knochen und Gerippe, hochgejubelt zu einer Spezialität. Die Leute hier können nicht genug davon bekommen. »Ich kann Kit nicht ersetzen, aber dich immerhin durchfüttern.«

»Das war doch nicht nötig«, sage ich, aber mir läuft unfreiwillig das Wasser im Mund zusammen. Ich habe noch nichts gegessen. »Kommst du nicht rein?«

»Ich muss wieder los. Aber ich bringe dir jeden Tag diesen Brunch, solange Kit unterwegs ist, und sehe nach dem Rechten. Wenn du irgendwas brauchst, melde dich. Wie geht es denn?«

»Nachdem er gegangen war, hatte ich fast eine Panikattacke, aber ich habe sie unter Kontrolle bekommen.«

Mac macht einen Schritt nach hinten. »Soll ich Ling anrufen?« Was er damit meint, ist klar. Wenn es medizinische Probleme gibt oder etwas mit den Babys nicht stimmt, wird er alles stehen- und liegenlassen und vorbeikommen. Emotionale Probleme hingegen sind Frauensache. Mac ist also nicht ganz und gar weich geworden.

»Nein, nein.« Ling ist Sozialarbeiterin und klopft vermutlich gerade mitsamt einer Dolmetscherin oder der Polizei an die Metalltür einer schäbigen Wohnung. Ich müsste schon sehr verzweifelt sein, um sie bei der Arbeit zu stören.

»Na schön, dann gehe ich mal.« Er bückt sich und küsst mich unbeholfen auf die Wange. »Die Mädchen sind heute Abend bei mir, also sehen wir uns morgen.«

Ling und Mac sind längst kein Paar mehr – es ging in die Brüche, als wir unsere große Krise hatten –, funktionieren aber getrennt viel besser als zusammen, und so stand Mac auch zur Verfügung, als Ling noch ein Kind wollte. Juno und Piper wachsen in zwei Häusern auf, beide in der Leiter, nur vier Straßen voneinander entfernt. Oder sogar in drei Häusern, wenn man unseres dazu nimmt, in dem sie zumindest vorerst noch ein eigenes Zimmer haben.

Ich schütte die Knochenbrühe in den Ausguss und räume weiter auf. Die Lampe auf dem Garderobentisch ist ein leuchtender Globus, ein Kinderspielzeug, in das ich mich in einem Secondhandladen verliebt habe. Ich fahre mit den Fingerspitzen die Route von Kits Schiff nach, die über die unruhige Nordsee führt. Ich kann mit dem Daumen den ganzen Verlauf der Totalität abdecken. Die Färöer Inseln sind so winzig, dass sie unter meinem kleinen Finger verschwinden. Eigentlich sind sie zu klein, um sich dort zu verstecken. Die Härchen auf meinen Armen sträuben sich. Beth ist eine Falltür; ein Gedanke an sie, und ich verliere den Halt und stürze ab. Ich ziehe die Ärmel herunter und drehe den Globus, bis Ozeane und Land grün und blau flirren und der Schatten alles bedeckt.

5LAURA10. August 1999