Der Eiserne König - John Henry Eagle - E-Book

Der Eiserne König E-Book

John Henry Eagle

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Beschreibung

Ein phantastisches Abenteuer: Mit schlauem Mut und listigem Witz machen sich acht märchenhaften Helden auf den gefährlichen Weg gegen die dämonischen Mächte des eisernen Königs. Dunkle Seelen regieren das Land Pinafor. Noch ruht der eiserne König in seinem Grab. Wenn er aufersteht, droht der endgültige Untergang des Reiches. Doch es gibt Hoffnung: ein Mädchen mit grünen Augen, honigfarbenem Haar und Sommersprossen, auf ihren Rücken ist ein Labyrinth tätowiert, eine rätselhafte Karte. Dieses geheimnisvolle Mädchen zu finden, ist der Auftrag, der an Hans ergeht. Unter dem Schutz der dreizehn weisen Weiber zieht Hans mit Sneewitt und ihren Gefährten los. Aber der grausame Krieger Grimm und die sieben Raben sind ihnen voraus. Um seine Welt zu retten, dringt Hans immer tiefer ein in das unheimliche und verzauberte Land. Seine große Suche wird zu einem märchenhaften und phantastischen Romanabenteuer. Ein Epos – unheimlich wie Grimms Märchen, zauberhaft wie »Die unendliche Geschichte«, phantastisch wie der »Herr der Ringe«

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John Henry Eagle

Der eiserne König

Ein Abenteuer

Roman

Fischer e-books

Karte

Wenn sich der Mond am Tag der Ruhelosen Seelen rundet, wird der Eiserne König von den Toten auferstehen. Dann wird die Säule unserer Welt zu Staub zerfallen, und alles, was grünt, wird verdorren, und alles, was aufrecht geht, wird sich beugen, und der Eiserne König wird für immer über Pinafor herrschen. Und nur derjenige wird ihn überwinden, welcher die Kraft achtet, die allem Lebendigen innewohnt; und nur derjenige wird ihn niederringen, welcher um die Macht der fünf Finger weiß.

So steht es geschrieben, und so wird es sein.

(Aus dem ›Kryptonomicon‹)

Teil 1Das Mädchen mit den grünen Augen

1.Das grüne Feuer

Im Morgengrauen kreiste ein Bussard über Flutwidde, dem fruchtbarsten Landstrich Pinafors. Tief unten schlängelte sich die Usse durch Getreidefelder. Dörfer lagen zwischen sanften Hügeln, und auf den Weiden graste Vieh. Nach einer Weile erspähte der Bussard seine Beute: eine Maus, die auf einem Feldweg an einer Kornähre knabberte. Der Greifvogel zog die Kreise enger.

Die Maus, die den Bussard gerade noch rechtzeitig bemerkte, floh zum Auwald am Ufer der Usse. Sie lief in ihrer Angst tief hinein, huschte durch das Unterholz und hüpfte über Wurzeln, bis sie eine Lichtung erreichte. Dort hielt sie an, weil ein neuer Feind vor ihr auftauchte: Menschen. Sie ließ ihren Blick über die bis an die Zähne bewaffneten Männer gleiten und begann, am ganzen Körper zu zittern, denn der Mensch war das schlimmste Raubtier. Sie duckte sich in das Gras, aber es war zu spät – einer der Männer, ein abseits stehender junger Bursche, reckte den Kopf nach ihr.

Beim Anblick der Maus, die vor ihm auf der Erde kauerte, musste Hans lächeln. Als er klein gewesen war, hatte sein Vater von ihm verlangt, die Mäuse im Haus zu erschlagen, aber das hatte er nie über das Herz gebracht. Als er den Kopf zurücklegte, um die frische Morgenluft einzuatmen, sah er einen Bussard, der über der Lichtung kreiste. Dann schaute er wieder zu Grimm, der einige Worte an seine Männer richtete. Hans erinnerte sich noch gut an den Tag, als Grimm ihn am Wegrand aufgelesen hatte – damals war er ein Waisenkind gewesen, das bettelnd durch Pinafor gezogen war. Grimm hatte ihn in seine Räuberbande aufgenommen. Anfangs war er Laufbursche und Mädchen für alles gewesen, hatte aber schon bald an Raub und anderen Schandtaten teilgehabt. Er tat nicht alles frohen Herzens, aber die Bande ersetzte ihm die Familie und bot ihm Schutz und Halt. Beute gab es reichlich, denn seit dem Frühjahr schienen die Leute Goldesel im Stall zu haben. Sie ließen die Arbeit liegen und lebten in Saus und Braus. Bauern bestellten die Felder nicht, Schmieden blieben kalt, Werkstätten geschlossen, und auf dem Heerweg war kein Händler mehr unterwegs. Woher das Gold stammte, wusste niemand, aber Pinafor ersoff geradezu darin, und wer genug Mumm in den Knochen hatte, nahm sich, was er wollte.

»Jetzt sind die Dörfer im Süden der Usse fällig«, verkündete Grimm. »Sobald wir genug geraubt haben, ziehen wir uns in den Greting zurück. Dort wird geteilt.«

»Im Greting liegt der Eiserne König begraben«, murmelte ein Räuber.

»Die Hölle sei seiner Seele gnädig«, flüsterte ein anderer.

»Habt ihr wirklich Angst vor dem Eisernen König?«, fragte Grimm spöttisch. »Er ist seit zwei Jahrhunderten tot. Wir sollten seine Grabkammer plündern – sie birgt sicher viele Schätze.« Er lachte.

Die abergläubischen Räuber starrten ihn an. Ja, der Eiserne König war tot, seine Schreckensherrschaft lange her, aber er spukte durch Sagen und Legenden und wurde immer noch gefürchtet. Manche hielten ihn für unsterblich und raunten, dass er von den Toten auferstehen werde, um sich Pinafor ein zweites Mal zu unterwerfen.

Hans war auch beunruhigt, denn er hatte gehört, dass im Greting, dem Sandsteingebirge im Nordwesten Pinafors, Ungeheuer hausten. Er betrachtete Grimm, der grinsend vor ihnen stand, die Daumen hinter den breiten Gürtel gehakt, an dem sieben Messer, ein Schwert und eine Streitaxt hingen. Grimm sorgte gut für seine Männer, vorausgesetzt, sie waren gehorsam, aber er konnte auch jähzornig und brutal sein, und seine Rachsucht war berüchtigt. Hans hatte miterlebt, wie er Menschen gequält und getötet hatte, ohne mit der Wimper zu zucken, und er empfand eine Mischung aus Bewunderung und Angst für seinen Anführer.

»Ihr tut, was ich sage«, knurrte Grimm. »Oder muss ich euch erst die Hammelbeine langziehen?« Er hob das Schwert und brüllte: »Weiber und Gold! Das Glück sei uns hold!«

Die Männer erwiderten seinen Ruf. Während sie packten, drehte sich Hans zur Maus um, die ihn immer noch anstarrte.

Er konnte nicht ahnen, dass das hellsichtige Tier gerade eine Vision hatte: Es sah Hans bei strömendem Regen gegen Grimm kämpfen; es sah, wie er gemartert wurde; wie er kreuz und quer durch Pinafor ritt; wie er sich auf einem Schlachtfeld auf den Angriff schwer gepanzerter Ungeheuer vorbereitete; wie er … Da brachen die Räuber auf, und die Vision der Maus verblasste. Sie sah Hans benommen nach. Den Bussard hatte sie ganz vergessen.

Einen Atemzug später fiel er wie ein Stein vom Himmel und schlug die Maus. Sie hatte keine Chance.

 

Die Räuber hatten den Waldrand fast erreicht, als Hans einen Schemen zwischen den Bäumen bemerkte. »Da ist jemand!«, rief er.

»Sicher ein Reh«, sagte Grimm, ohne anzuhalten.

»Auf zwei Beinen?«, fragte Hans.

Grimm drehte sich um. »Wie man hört, werden Grünschnäbel und Gören gelegentlich in Rehe verwandelt«, schnauzte er. »Also pass auf.«

Die anderen Räuber folgten ihm lachend ins Freie. Vor ihnen dehnten sich die Getreidefelder Flutwiddes. Sie nahmen den Weg, auf dem die Maus an der Ähre geknabbert hatte.

Nach einer halben Meile sah Hans die Gestalt ein zweites Mal – sie huschte ganz in der Nähe in ein Gehölz, das mitten in einem Feld auf einem Hügel stand.

»Da ist sie wieder«, sagte er und zeigte auf die Bäume.

Grimm glotzte ihn an. »Wenn du dich irrst, schlage ich dich windelweich«, knurrte er. »Los, seht nach.« Er winkte zwei Männern, die mit blankem Schwert durch das Getreide zum Gehölz schlichen.

»Vielleicht ein Späher der Gografen«, meinte ein Räuber.

»Du weißt doch, dass die Feste der Gografen seit dem letzten Vollmond bis zu den Zinnen von Dornen umrankt ist«, sagte ein anderer. »Und dass alle, die sich darin aufhalten, wie Tote schlafen.«

»Das muss ein Zauber sein.«

»Natürlich. Aber wessen Zauber?«

»Egal«, erwiderte ein älterer Räuber. »Für uns sind es goldene Zeiten, denn nicht einmal die Gografen kommen uns in die Quere.«

Da ertönte ein Ruf: »Wir haben sie!«

Die Räuber eilten zum Gehölz. Sie staunten nicht schlecht, als sie sahen, dass es sich um ein Mädchen handelte.

»Ja, wen haben wir denn da?«, fragte Grimm. »Willst du uns als Waschweib oder Köchin dienen, Kleine?«

Die Männer kicherten. Nur Hans schwieg, denn das Mädchen war noch jünger als er. Ihr Haar war honigfarben, ihre Augen waren frühlingsgrün, und sie hatte viele Sommersprossen. Da er wusste, dass seine Kumpane nicht lange fackelten, trat er nervös von einem Fuß auf den anderen.

»So, wie sie aussieht, kann sie bestimmt nicht kochen«, sagte einer.

»Und auch nicht waschen«, sagte ein zweiter.

»Vielleicht hat sie ja andere Begabungen«, rief ein dritter.

Grimm griff in die Ledertasche, die am Gürtel des Mädchens hing. »Strickzeug«, sagte er spöttisch. »Wollhemden.«

Die Räuber lachten wieder. »Sie kann also stricken«, rief ein vierter. »Gut so, denn der Winter ist nur noch einen Herbst entfernt.«

»Wie heißt du, Kleine?«, fragte Grimm.

Das Mädchen schwieg.

»Nenn uns deinen Namen«, wiederholte Grimm, dessen Blut leicht in Wallung geriet.

Das Mädchen sah die Räuber der Reihe nach an und ließ den Blick aus ihren grünen Augen dann auf Hans verweilen. Sie schien zu glauben, dass Welt und Menschen gut waren und dass man ihr nichts tun würde. Ein Irrtum, wie Hans wusste.

Da landeten zwei Vögel auf ihren Schultern, ein Sperling auf der rechten, ein Zeisig auf der linken.

»Lasst sie laufen«, bat Hans.

»Ich will wissen, wie sie heißt!«, brüllte Grimm. »Ich will wissen, was sie hier zu suchen hat, wer ihre verfluchte Mutter ist und warum ihr räudiger Vater ihr nie das Fell gegerbt hat. Denn genau das werde ich tun, wenn sie nicht gleich den Mund aufmacht.«

Das Pappellaub raschelte im Wind. Es schien eine Warnung zu flüstern.

Das Mädchen schwieg immer noch.

»Wie du willst, Kleine«, zischte Grimm.

Zwei Männer banden das Mädchen an eine Pappel und rissen ihr das Kleid vom Rücken.

»Klopft sie weich«, befahl Grimm. »Urs?«

Urs, ein gehorsamer Hüne, zog die Peitsche aus dem Gürtel.

Da rief ein Räuber: »Was ist das?« Er zeigte auf den Rücken des Mädchens, der von den Schultern bis zu den Hüften mit einem rätselhaft verschlungenen Muster bedeckt war.

»Sieht aus wie eine Landkarte«, sagte ein zweiter Räuber.

»Oder wie ein Plan zu einem verborgenen Hort«, flüsterte ein dritter.

»Ein Schatzplan auf lebendiger Haut!«, keuchte ein vierter.

»Ein Schatzplan?«, höhnte Grimm. »Du kannst ihr später gern die Haut abziehen und damit auf die Suche gehen, aber erst bekommt sie Hiebe.«

Hans entfernte sich. Er wollte nicht dabei sein, wenn man das Mädchen schlug. Sie erinnerte ihn an seine Schwester Grete, die er seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte; er wusste nicht einmal, ob sie noch lebte. Ihre Kindheit war hart und entbehrungsreich gewesen, und ihre bettelarmen Eltern hatten mehrmals versucht, sie im Wald auszusetzen. Beim dritten Mal war es ihnen geglückt, und Hans und seine Schwester waren in die Fänge einer Hexe im Lohwald geraten, der sie nur knapp entronnen waren. Er verdrängte die Erinnerung und sah sich nach seinen Kameraden um. Urs führte ein paar Kunststücke mit der Peitsche vor; er war nicht klug, aber er konnte ein Ahornblatt, das jemand mit vier Fingern hielt, mit einem Hieb halbieren. Nach einer Weile befahl ihm Grimm, er solle dem Mädchen, das weiterhin keinen Ton von sich gab und ihn zur Weißglut brachte, endlich einheizen.

Hans wurde bewusst, dass ringsum Stille eingekehrt war: Die Vögel waren verstummt; der Wind war abgeflaut; das Laub raschelte nicht mehr. Und als er sich noch einmal umdrehte, geschah es: Kurz bevor Urs zuschlug, blitzte ein grelles Licht auf, und grasgrüne Flammen überrollten die Räuber. Stämme, Äste und Blätter der Pappeln brannten lichterloh. Getreide und Gras brannten. Die Erde brannte. Hans wurde von einem glühend heißen Luftstoß umgerissen. Er sah, dass Grimm wie eine lebende Fackel aus dem Gehölz torkelte. Glut und Asche wirbelten. Schreie gellten. Brennende Männer schlugen mit den Armen wie flügellahme Hühner, bis ihnen Rauch und Hitze die Sinne raubten. Sie wankten und stürzten, blieben qualmend liegen, regten sich nicht mehr.

Hans wurde schwarz vor Augen. Er fiel in eine Ohnmacht, die dem Tod näher war als dem Schlaf.

 

Als er die Augen öffnete, tanzte ein Mückenschwarm über ihm. Er holte rüttelnd Luft. Die Luft stank nach verbranntem Holz und Fleisch. Seine Haare waren versengt, Mantel und Hose, Wams und Stiefel von Brandlöchern übersät. Er stieß sein Schwert in die Erde, zog sich daran hoch – und erschrak, denn ihm bot sich ein Bild der Verwüstung: Die Wiese war von Asche bedeckt, Pappeln schwelten, Flammen züngelten auf schwarzen Leichen.

Hans’ Erinnerung kehrte schlagartig zurück.

Das Mädchen …

Seine Kameraden waren bis auf den letzten Mann in ihrem Feuer verbrannt.

Er stolperte über die Wiese. Der Anblick seiner toten Freunde trieb ihm Tränen in die Augen. Das Mädchen schien sich in Luft aufgelöst zu haben, denn er fand keine Überreste. Nur die Stricke ringelten sich wie Schlangen vor der verkohlten Pappel. War sie eine Hexe? Verbrannte jeder Mann, der ihr Böses wollte? Lebte er noch, weil er ihr nichts getan hatte, nicht einmal in Gedanken, und sich vor der Auspeitschung gedrückt hatte? Er musste an ihre grünen Augen denken – das Feuer hatte die gleiche Farbe gehabt. Er unterdrückte ein Schluchzen und sah sich um: Er war allein. Allein mit dem Tod, allein mit der Verwüstung. Nicht einmal die Sonne bot Trost oder Hoffnung.

Da entdeckte er in der Asche Fußspuren, die zum Auwald führten. Einer seiner Kameraden schien entronnen zu sein. Nach einem letzten Blick auf die toten Räuber, die wie eine Familie für ihn gewesen waren, gab er sich einen Ruck und folgte den Spuren. Sie endeten am Ufer der Usse. Hans legte die Hände um den Mund und rief, aber niemand antwortete. Schließlich sah er einen Leichnam, der sich flussabwärts in den Zweigen einer Trauerweide verfangen hatte. Er rannte hin und stellte fest, dass es Grimm war; er hatte sich wohl in die Usse gestürzt, um die Flammen zu löschen, und war vor Entkräftung ertrunken. Also waren doch alle tot …

Hans stand unter Schock. Er folgte dem Flussufer, stolperte über Wurzeln, torkelte durch Schilf. Kurz vor der Furt brach er zusammen. Er meinte, am anderen Ufer drei Gestalten zu sehen, einen Greis, eine Frau und einen Wicht, aber bevor er rufen oder winken konnte, wurde er bewusstlos.

 

Als Hans erwachte, lag er unter einem Bärenfell auf einem Strohlager. Er wischte Schweiß von seiner Stirn und sah sich verwirrt um. Der Raum war klein und niedrig. Kräuter hingen unter der Balkendecke, und Tierschädel zierten die Wände. Vor dem Kaminfeuer, über dem ein Topf brodelte, saß eine alte Frau. Ihr Kleid war schwarz und oft geflickt, und als sie sich zu ihm umwandte, meinte Hans, rotglühende Augen in ihrem runzeligen, von einer Haube umschlossenen Gesicht zu sehen.

Hans erstarrte, und in seinem Kopf pochte nur ein Gedanke: Weg hier! Er riss das Bärenfell ab, kam auf die Beine, die wie Strohhalme unter ihm einknickten, und taumelte aus der Tür ins Freie. Im Schein des Vollmonds sah er, dass die Kate von Holundern umgeben war. Sein Blick zuckte über Hausdach und Außenwände – weder Lebkuchen noch Zuckerwerk, sondern Holz und Ried. Trotzdem loderte Panik in ihm wie das grüne Feuer, in dem seine Kameraden verbrannt waren, und vor seinem inneren Auge blitzten Bilder auf: Der tiefe Wald; die Käfigstreu; die Gitterstäbe; die Hexe, die Gebratenes und Gesottenes durch die Klappe schob; seine abgestumpfte Schwester, die Holz und Wasser in die Hütte schleppte; der Hühnerknochen, dünn und fein, den er der Hexe hinhielt.

Der Wind kühlte seine heiße Stirn, aber die Angst verflog nicht. Als er sich nach der Alten umdrehte, saß diese noch am Kamin. Sie winkte ihm mit einem krummen Finger.

»Komm rein, Junge«, sagte sie. »Ich habe dich sieben Tage gepflegt. Willst du an Fieber sterben?« Sie nahm einen Stock, dessen Griff die Form eines Schlangenkopfes hatte, und stand auf. »Iss etwas Suppe. Das wird dir guttun.«

Hans rang seine Angst nieder. »Gepflegt?«, murmelte er. »Sieben Tage?«

Die Alte nahm einen Holzlöffel und schöpfte Suppe in eine Schale, die sie neben das Strohlager stellte. »Warum willst du weglaufen?«, fragte sie. »Befürchtest du, zu verbrennen? Wie deine Spießgesellen?«

»Woher weißt du das?«, fragte Hans und wankte zu seinem Lager. Das Stroh raschelte, als er sich darauf niederließ.

»Ich habe Kräuter gesucht, aber gefunden habe ich Leichen. Du lagst wie tot bei der Furt, mein Junge. Dort habe ich dich aufgesammelt.« Sie stopfte eine Pfeife. »Ich bin die Muhme. Die Hüterin des Holunderhains.«

Hans griff nach der Schale. »Ich habe Angst vor Enge, denn als Kind hat mich im Lohwald eine Hexe eingesperrt, um mich zu mästen und später zu fressen«, erzählte er und sah sich furchtsam in der kleinen Kate um. »Meine Schwester hat mich gerettet.«

»In Flutwidde gibt es keine Hexen«, erwiderte die Muhme.

»Als Räuber war ich immer im Freien. Das hat mir gefallen – keine Wände, keine Türen, keine Riegel.« Er aß einen Löffel Suppe. »Hmm … Hühnerbrühe«, sagte er mit vollem Mund.

Die Muhme füllte ein Glas mit einer klaren Flüssigkeit. »Bist du damals nicht zu deinen Eltern zurückgekehrt?«, fragte sie.

»Sie hatten uns im Wald ausgesetzt«, antwortete Hans sowohl zornig als auch bedrückt. »Ich hasse sie. Inzwischen sind sie tot, und ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist.«

»Aus der Hexe?«

»Nein, aus meiner Schwester. Die Hexe ist verbrannt.«

Die Muhme nahm die Pfeife aus dem Mund und spuckte in die Glut. »Auch verbrannt?«, fragte sie. Dann gab sie ihm das Glas. »Holunderschnaps. Damit wirst du hundert Jahre alt.« Sie zwinkerte ihm zu.

Hans trank den Schnaps, aß die Hühnerbrühe, deckte sich mit dem Fell zu und schlief wieder ein.

Am nächsten Morgen ging es ihm besser. Er hatte von dem Mädchen mit den grünen Augen und dem rätselhaften Muster auf dem Rücken geträumt. Da er nicht verstand, was passiert war, beschloss er, der Muhme alles zu berichten.

Die Muhme saß draußen auf einer Bank in der Sonne, rauchte eine Pfeife und betrachtete die Holunderbüsche. Im Gras des Hains tanzten Blätterschatten und Sonnenflecke. Als Hans neben ihr Platz nahm, erklärte sie: »Der Holunder ist heilig. Er darf weder gefällt noch verfeuert werden. Ich bin seine Hüterin, ein Amt, das in unserer Familie seit Generationen von einer Frau zu anderen weitergegeben wurde. Leider bin ich die Letzte, denn ich habe keine Nachkommen.«

»Mein Vater hielt Holunder für Unkraut«, sagte Hans, der in seinen Schoß starrte.

Die Muhme wandte ihm das von der Haube umschlossene Gesicht zu und fragte: »Hast du etwas auf dem Herzen?«

Hans gab sich einen Ruck und berichtete von dem Mädchen. Bei der Erwähnung des Musters auf dem Rücken horchte die Muhme auf. »Und das arme Ding hat nichts gesagt?«, fragte sie.

»Kein Wort. Sie hat nicht einmal geschrien.«

»Keine Anzeichen von Angst?«

Hans überlegte. »Sie war die Ruhe selbst«, sagte er dann.

Die Muhme nahm ihren Stock und ging in die Kate.

Hans folgte ihr. Er sah, wie sie ein Buch aus dem Regal zog und auf ein Stehpult wuchtete. Sie blätterte in den ledrigen Seiten. Dann sagte sie: »Ein Schafhirte, der mit seiner Herde vorbeizog, hat mir kürzlich von diesem Mädchen erzählt. Sie hat einem Krüppel das fehlende Bein herbeigezaubert, einer Magd, die den Stallknecht heiraten wollte, einen Liebestrank gebraut und ein Geschwisterpaar gerettet, das von Irrlichtern auf den Unkengrund gelockt worden war. Sie vollbringt viele gute Taten.«

»Meine Kameraden sind in ihrem Feuer verbrannt«, sagte Hans mit einem Kloß im Hals.

Die Muhme nickte. »Ja. Aber sie wollten ihr Gewalt antun.«

Das Sonnenlicht fiel durch staubige Fenster in die Kate und ließ die Spinnweben in den Ecken glitzern. Hans begann zu weinen, denn er musste an den ertrunkenen Grimm denken, und er vermisste seine Freunde.

»Tränen heilen die Seele«, murmelte die Muhme. Sie stopfte ihre Pfeife und entzündete sie mit einem Kienspan. »Dies ist das Kryptonomicon«, sagte sie und tippte auf das Buch. »Es enthält Prophezeiungen, Zauber und Bannsprüche und erzählt von der Zeit vor der Zeit und der Welt unter der Welt. Hier …« – sagte sie und blätterte weiter – »… ist ein Bild der Esche, die unsere Welt trägt und von den drei blinden Feen gehegt wird. Und hier …« – sie blätterte weiter – »… siehst du die Karontiden, Ungeheuer der Unterwelt, die nur Böses im Sinn haben.« Sie biss grimmig auf den Pfeifenstiel.

Hans wischte die Tränen weg und betrachtete das Bild. Die Karontiden waren größer als ein Bär; ihr Schädel war kahl, die Augen waren gelb; ihrem Steiß entsprang ein Schwanz; Brüste und Schritt liefen in spitzen, aufwärts geschwungenen Dornen aus. Sie sahen aus, als könnten sie einen Mann mit ihren Pranken zerreißen. »Gibt es sie wirklich?«, fragte er.

»Natürlich«, fauchte die Muhme. »Das Kryptonomicon lügt nie.«

»Wo soll diese Esche denn stehen? Ich bin viel in Pinafor herumgekommen, aber ich habe sie nie gesehen.«

Die Muhme starrte ihn aus Pupillen an, groß wie die einer Katze bei Nacht. »In Pinafor stimmt etwas nicht, mein Junge. Die Menschen ertrinken in Gold von dunkler Herkunft. Männer arbeiten nicht mehr, Mütter lassen ihre Kinder verkommen. Ein Dornenhag umschließt die Feste der Gografen, und alle darin liegen in tiefem Schlaf. Niemand sorgt mehr für Recht und Ordnung, von Anstand ganz zu schweigen.«

»Ich weiß«, sagte Hans betreten. »Wir haben noch nie so viel erbeutet wie in diesem Sommer. Und keiner hat uns verfolgt – weder Büttel noch Ritter.« Er musste lachen. »Es war ein Kinderspiel. Die Landmänner waren meist betrunken. Wir haben sie ausgeplündert und ihnen zum Abschied den roten Hahn auf das Dach gesetzt.«

Die Muhme sah ihn strafend an. »Irgendjemand will Pinafor schaden«, murmelte sie. »Irgendjemand greift die Wurzeln der Welt an – und die der Esche. Wenn ich nur wüsste, wer dahintersteckt. Was dahintersteckt.« Sie schwieg lange. Dann schrak sie aus ihren Gedanken auf und flüsterte so leise, dass Hans sie kaum verstehen konnte: »Der König …«

»Wo steht diese Esche?«, fragte er noch einmal.

»Das weiß niemand, mein Junge. Im Kryptonomicon findet sich kein Hinweis darauf. Aber …« – sie hob den Zeigefinger – »… es gibt einen Hinweis auf das Mädchen.« Die Muhme blätterte die dicken Seiten um. Sie murmelte vor sich hin und spuckte aus dem Mundwinkel auf den Lehmboden. Dann las sie vor: »›Eine Jungfer mit mondhellem Antlitz und Augen, grün wie Frühlingsgras. Eine Jungfer, wie der Nachthimmel mit Sternen gesprenkelt. Eine Jungfer, deren Rücken …« – sie sah Hans an – »… den Weg zur Esche weist, die unsere Welt trägt. In der Stunde der Not wird sie erscheinen. Sie ist schön wie eine Blume und stumm wie ein Fisch. Der Weise findet sie an den Ufern der Nacht. Er bringt sie zum Sprechen mit dem strahlendsten Stern.‹«

»Ja«, sagte Hans verblüfft. »Das ist sie.«

»Du musst sie finden«, sagte die Muhme.

Hans wich bis zur Wand zurück, an der ein Wisentschädel hing. »Ich?«, stieß er hervor. »Warum ausgerechnet ich? Sie hat meine Freunde getötet.«

»Pah«, erwiderte die Muhme. »Räuber und Mörder. Das sind mir schöne Freunde. Begreifst du nicht, was auf dem Spiel steht? Du könntest helfen – ja, du könntest Buße für dein Räuberleben tun, indem du dich in den Dienst einer guten und gerechten Sache stellst.«

»Ich würde das Mädchen nur suchen, um den Tod meiner Freunde zu rächen«, erwiderte Hans trotzig. »Außerdem bin ich der Sohn eines Holzhackers und seiner hartherzigen Frau. Ich habe nicht das Zeug zu großen Taten.«

»Wer weiß? Du warst ein Räuber mit einem pechschwarzen Herzen, aber vielleicht ist es bald weiß wie Mehl. Weise ist, wer sich hinterfragt. Dumm – und manchmal auch böse – sind jene, die im Spiegel immer nur das sehen, was sie sehen wollen.« Die Muhme klappte das Buch zu. »Wir besuchen die dreizehn weisen Weiber«, sagte sie entschieden. »Sie beraten die Gografen. Sie werden uns helfen.« Sie schnürte ihr Bündel, nahm ihren Stock und trat aus der Tür in den hellen Tag.

Hans sah einen Wisentschädel an, der seinen Blick aus leeren Augenhöhlen erwiderte. Ihm schwirrte der Kopf – was sollte er tun? Schließlich schnallte er das Schwert um, nahm den Mantel und folgte der Muhme. Er hatte in seinem Leben wenig Zuneigung und noch weniger Liebe erfahren, und nach dem Verschwinden seiner Schwester und dem Tod Grimms und seiner Kameraden war die Muhme der einzige Mensch, den er noch hatte; sie hatte ihn gepflegt, und sie schien Anteil an seinem Schicksal zu nehmen. Als er sich draußen noch einmal umdrehte, sah er unzählige Katzen, die vor der Kate saßen und zum Abschied maunzten.

»Das sind meine treuen Wächter«, rief die Muhme, die den Holunderhain schon hinter sich gelassen hatte.

Hans beeilte sich, sie einzuholen.

2.Die dreizehn weisen Weiber

Sie wanderten nach Süden, in das Herz von Flutwidde. Der Sommer neigte sich dem Ende zu, aber das Getreide war nicht geernet worden. Auf Gehöften brüllten Kühe, denen die Euter platzten. Pflaumen verfaulten, wo sie hinfielen. Schafe und Ziegen fraßen Blumen in den Gärten, Esel und Schweine taten sich an Äpfeln gütlich. Kein Mensch war bei der Arbeit. Manchmal begegneten sie verwahrlosten Kindern, die ihnen eine lange Nase zeigten, und einmal trabte ein abgemagerter Ackergaul vorbei, der sich verirrt zu haben schien. Am verstörendsten war, dass Laub, ja sogar Gras vor der Zeit grau wurden – und Grau war nicht einmal die Farbe des Herbstes.

»Das hier war die Kornkammer Pinafors«, sagte die Muhme. »Sieh dir an, was daraus geworden ist, seit es Gold wie Heu gibt. Das Einzige, was noch in Betrieb ist, sind die Destillen, die Kartoffelschnaps brennen.«

Hans merkte zum ersten Mal, wie schlecht es um Pinafor stand. Als Räuber hatte ihn all das nicht interessiert. Die Kinder erschreckten ihn; wenn sie Grimassen schnitten oder fluchten, zuckte er zurück.

Am Morgen des zweiten Tages kam ein Hügel in Sicht, der wie vom Himmel gefallen auf dem Flachland aufragte. »Das ist der Wolkenberg. Dort sind die dreizehn weisen Weiber zu Hause«, sagte die Muhme. »Am Nachmittag sind wir da.«

Gegen Mittag war auf dem Hügel ein Haus zu erkennen.

»Das Haus wirkt winzig«, sagte Hans. »Wie können dreizehn Frauen samt Gesinde darin wohnen?«

Die Muhme grinste ihn an, die Pfeife fest zwischen die Zähne geklemmt.

Am Nachmittag folgten sie einem gewundenen Pfad auf den Hügel. Hier wuchsen nur Ginster, Farn und Moos. Manchmal stießen sie auf Stelen, die mit verschlungenen Mustern und Bildern von Wesen verziert waren, in denen sich Mensch und Tier mischten.

»Manche sagen, dass alle Lebewesen so aussahen, bevor sich der Mensch über die Tiere erhob und schied, was ursprünglich eins gewesen war.« Die Muhme zeigte auf ein Geschöpf, das einer menschlichen Kröte glich. »Andere meinen, dass diese Bilder die Wesen der Wilden Jagd zeigen – Ungeheuer, die von der Esche gebannt werden –, die bösen Geschwister der Ragnarökk.«

»Ja, ich weiß«, sagte Hans und lachte. »Grimm hat am Feuer solche Geschichten erzählt, um Neulingen Angst einzujagen. Alles Legenden. Und das unsichtbare Volk der Ragnarökk ist auch nur ein Ammenmärchen.«

Die Muhme zog eine Augenbraue hoch.

Auf der Hügelkuppe kam Hans aus dem Staunen nicht mehr heraus: Ringsumher erstreckten sich Felder, Rauch flatterte aus Schornsteinen, Wolkenschatten glitten über das Land, Vögel zogen am Himmel dahin. »Wie herrlich«, flüsterte er.

»Oh, gewiss«, sagte die Muhme spitz. »Aus der Ferne wirkt jeder Apfel rund und schön, auch wenn er einen faulen Kern hat.«

Das Haus der dreizehn weisen Weiber, ein Fachwerkbau mit weiß getünchten Fächern und Schieferdach, war fensterlos und kleiner als die Kate der Muhme, und die Eichentür hatte weder Knauf noch Klinke. Als die Muhme mit ihrem Stock dagegen klopfte, ertönte kein Laut; es war, als wäre die Tür aus Watte. Hans, der das unheimlich fand, griff nach seinem Schwert.

Während sie warteten, dass jemand öffnete, aß die Muhme einen Kanten Brot und trank von ihrem Schnaps. Hans sah sie fragend an, aber sie zuckte nur mit den Schultern. Am späteren Nachmittag wurde endlich geöffnet. Hans, der sich gegen die Tür gelehnt hatte, wäre fast ins Haus gefallen, aber die Muhme hielt ihn fest. Im nächsten Moment reckte ihm ein Diener ein Schwert entgegen, dessen Klinge der Schulter zu entspringen schien.

»Seid … gegrüßt«, japste Hans.

Als der Diener die Muhme erkannte, bat er die Ankömmlinge herein und verriegelte hinter ihnen die Tür. Sie standen in einer von Kerzen erhellten Halle, die an sich schon größer war als die Hütte von außen. Bestickte Teppiche hingen an den Wänden, der Fußboden war mit einem Mosaik verziert. Bis auf das Knistern der Kerzendochte war es totenstill. Der Diener stand mit starrer Miene und an die Seite geklapptem Schwertarm vor der Tür.

»Wer ist das?«, flüsterte Hans und zeigte mit dem Daumen auf den Mann.

»Ein Kultknecht«, antwortete die Muhme. »Eine Art Diener. Und jetzt sei still.«

Da erschienen die dreizehn weisen Weiber auf der Freitreppe am anderen Ende der Halle. Sie trugen weiße Gewänder und spitzenbesetzte Hauben. Die Muhme verneigte sich. Hans tat es ihr gleich.

Das älteste weise Weib winkte ihnen. Die Muhme erklomm die Stufen. Hans drehte sich auf halber Treppe noch einmal um. Zu seiner Verblüffung zeigte das Mosaik auf dem Fußboden der Halle ein Muster, das ihn an den Rücken des Mädchens erinnerte.

»Wllkommen, ehrwürdige Muhme«, sagte die Älteste, die im Gegensatz zu den anderen Weibern keine golddurchwirkten Schuhe, sondern Filzpantoffeln trug. »Welche Freude, Euch wiederzusehen.«

Sie folgten dem hinkenden, auf einen Knotenstock gestützten Weib durch einen langen, verwinkelten Flur und betraten ein Gemach, dessen Dielen goldgelb glänzten. Hohe Fenster boten Blicke auf die Fluren Flutwiddes. Vor dem Kamin, in dem ein Feuer brannte, standen dreizehn Lehnstühle in einem Halbkreis. Die weisen Weiber ließen sich darauf nieder. Ein anderer Kultknecht, der wie ein Geist aus den Schatten trat, holte zwei zusätzliche Stühle. Dann bat das älteste Weib ihre Gäste mit einem Wink, Platz zu nehmen, und fragte: »Was verschafft uns die Ehre Eures Besuches?« Sie mahlte beim Sprechen mit dem Kiefer, die auf dem Knotenstock liegende Hand zitterte. Die übrigen weisen Weiber waren ähnlich alt, aber ganz links saß eine, die viel jünger wirkte. Dunkle Haare quollen unter ihrer Haube hervor, ihre Lippen waren rot und voll. Hans starrte sie an. Als sie seinen Blick bemerkte, sah er zu Boden.

»Ich bin gekommen«, begann die Muhme, »weil ich glaube, dass Pinafor in Gefahr ist. Ja, ich befürchte sogar, dass man den Eisernen König zum Leben erwecken will.«

Schweigen trat ein. Mehrere Weiber räusperten sich.

»Zum Leben erwecken?«, fragte Hans entsetzt. Er kannte die Sagen von der Schreckensherrschaft des Eisernen Königs: Er ließ seine Feinde in den Kerkern der Grenzfeste Rottland zu Tode foltern; den Zehnten trieb er selbst ein, begleitet von einer blutrünstigen Leibgarde; wenn ein Landmann nicht zahlen konnte, wurde er gepfählt; säumige Handwerker und Kaufleute wurden gerädert, Frauen und Töchter verschleppt. Nach Jahrzehnten des Grauens wurde der Eiserne König von der beherzten Amme vergiftet, die seine Bastarde stillte. Seine untereinander zerstrittenen Söhne wurden hier, am Wolkenberg, von Hilmar von der Usse besiegt, der danach die Dynastie der Gografen begründete – kein bedeutender Titel, aber nachdem der Eiserne König Pinafor so lange geknechtet und ausgeplündert hatte, wollte der erste Gograf ein Zeichen der Bescheidenheit setzen. So jedenfalls ging die Legende.

Die weisen Weiber sahen die Muhme an.

»Viele haben ihn vergessen«, fuhr die Muhme fort. »Aber wir …« – sie zeigte auf die Weiber und sich selbst – »… wissen sehr wohl, dass er in voller Rüstung und mit dem Schwert auf der Brust in seiner Grabkammer im Königskessel liegt und der Wiedererweckung harrt.«

»Glaubt Ihr ernsthaft, dass jemand so verblendet sein könnte, den Eisernen König von den Toten zurückzuholen?«, fragte das älteste weise Weib und wischte sich Speichel vom Kinn.

Die Muhme stieß den Stock auf den Boden. »Die grüne Kraft, von der alles Leben abhängt, wird schwächer«, erklärte sie. »Wenn ihr euch draußen umseht, werdet ihr merken, dass Gras und Laub ergrauen. Dazu das viele Gold, das Pinafor überschwemmt; der Schlafbann, mit dem man die Gografen belegt hat; der Hag, der ihre Feste umgibt. Weckt das nicht auch euren Argwohn?«

»Oh, ja«, erwiderte ein anderes Weib. »Wir sind sehr besorgt. Denn das Nachlassen der grünen Kraft könnte bedeuten, dass die Esche Schaden genommen hat.«

»Der Tod der Esche wäre das Ende der Welt …«, hauchte ein drittes Weib.

»Vielleicht hat jemand ein Komplott ausgeheckt«, sagte das jüngste weise Weib. »Vielleicht gibt es einen Zusammenhang zwischen Gold, Schlafbann und Schwund der grünen Kraft.«

»Barbera!«, zischten mehrere Weiber erbost. »Du sollst …«

Die Älteste winkte ab. »Sie ist zwar die Jüngste, aber lasst sie nur reden.«

»Sie könnte Recht haben«, meinte die Muhme.

»Unsinn«, rief ein älteres Weib. »Barbera fabuliert. Ich sehe da keinen Zusammenhang. Das sind Hirngespinste!«

Das jüngste weise Weib lächelte spöttisch.

»Falls der Esche wirklich Gefahr droht, und sei es, weil man die Welt ins Wanken bringen will, um dem Eisernen König den Weg zu bahnen, müssen wir ihr beistehen«, verkündete das älteste weise Weib.

»Gewiss«, ergänzte ein anderes Weib. »Aber niemand weiß, wo die Esche wurzelt. Nicht einmal wir wissen das.«

Die Muhme nickte. Dann sagte sie: »Das ist Hans, Sohn eines Holzhackers und bis vor kurzem ein Räuber. Seine Kumpane sind tot. Ich habe ihn gefunden und gesund gepflegt. Er hat euch etwas zu berichten.« Sie stupste Hans mit dem Stock an, und er erzählte stockend von dem Mädchen mit den grünen Augen und dem verschlungenen Muster auf dem Rücken. Dabei hielt er den Blick gesenkt. Die alten Weiber jagten ihm Angst ein, denn sie erinnerten ihn an die Hexe im Lohwald. Seine Augenlider zuckten, und beim Reden trat ihm Schweiß auf die Stirn.

Nachdem er geendet hatte, erhob sich Gemurmel unter den Weibern. Vor dem Fenster glitten watteweiße Wolken vorbei, als würden sie hoch am Himmel in einem Luftschloss sitzen.

Schließlich ergriff die Älteste das Wort: »Falls es sich um das Mädchen handelt, von dem im Kryptonomicon die Rede ist, und falls die Zügellosigkeit der Menschen wirklich damit zu tun hat, dass die Esche leidet …« – sie leckte über ihre Lippen – » … müssen wir das Mädchen rasch finden, denn es könnte den Weg zur Esche weisen und uns helfen, Unheil abzuwenden.«

Die anderen Weiber tauschten Blicke. Ihre Mienen waren so starr, dass Hans nicht erraten konnte, was in ihnen vorging. Als er aus einem Fenster sah, erblickte er einen Falken, der von sieben Raben verfolgt wurde. In den Tiefen des Hauses ertönte ein leises Stöhnen oder Dröhnen. Die Älteste ließ den Knotenstock auf den Boden knallen, und der Kultknecht verließ das Gemach.

Das jüngste Weib schob eine Haarsträhne unter ihre Haube. »Hans weiß, wie das Mädchen aussieht«, sagte sie. »Er sollte sie suchen. Als ehemaliger Räuber scheut er sicher keine Gefahr. Ihr könnt hier übernachten. Morgen bricht er dann auf.«

Hans zog den von Brandlöchern bedeckten Mantel vor der Brust zusammen, als wollte er sich schützen.

Die Muhme sah ihn prüfend von der Seite an. »Das habe ich ihm auch schon vorgeschlagen«, sagte sie.

»Wärst du dazu bereit?«, fragte das älteste weise Weib.

»Ich …« Hans räusperte sich. »Ich … weiß nicht recht. Ich brauche Bedenkzeit. Denn das Mädchen … nun, ja – sie hat immerhin meine Freunde verbrannt, und …«

»Dir winkt reicher Lohn«, unterbrach ihn Barbera und machte ihm schöne Augen. »Wir würden dir auch drei kampferprobte Gefährten zur Seite stellen. Du wärst also nicht allein.«

Der verwirrte Hans starrte das jüngste weise Weib an wie ein Kaninchen die Schlange. »Gut. Ich …«, stotterte er. »Warum nicht? Das Mädchen kann nicht schwer zu finden sein. Und wer … sind meine Gefährten?«

»Das wirst du morgen früh erfahren«, antwortete Barbera.

Die Älteste erhob sich so langsam von ihrem Lehnstuhl, als würde sie eine Zentnerlast auf den Schultern tragen. »Gut. Die Sache ist beschlossen«, sagte sie. »Der Diener zeigt euch die Zimmer. Ehrwürdige Muhme …« – sie nickte grüßend – »… tapferer Hans.« Sie hinkte aus dem Gemach. Die zwölf anderen Weiber folgten ihr. Barbera, die den Schluss bildete, drehte sich noch einmal nach Hans um. Dann fiel die Tür ins Schloss.

Hans stand verwirrt da. In seinem Kopf pochte das Blut.

»Brav«, sagte die Muhme und klopfte ihm auf die Schulter. »So gefällst du mir besser. Ich wusste von Anfang an, dass du ein reines Herz und Mumm in den Knochen hast!«

Hans schwieg überrumpelt. Er, ein Grünschnabel, sollte das Mädchen suchen, das seine Kameraden auf dem Gewissen hatte? Warum nicht ein erfahrener Recke? Er sah sich ratlos im Gemach um – die blitzblanken Dielen, die im Sonnenlicht glitzernden Kerzenständer, die Lehnstühle. Sein Blick blieb an der Tür hängen, durch die Barbera verschwunden war, und er seufzte.

Der zurückgekehrte Kultknecht führte die Gäste durch lange Flure und über viele Stiegen zu einem Zimmer. Dort sagte er zu Hans: »Eine meiner Herrinnen will mit dir reden, bevor du zu Bett gehst.«

Hans sah zur Muhme. Sie nickte ihm aufmunternd zu, bevor sie im Zimmer verschwand.

Wieder wurde Hans durch viele Flure und über zahllose Stiegen geführt. Er sah im Vorbeigehen eine Rüstung; die Gravur auf dem Helm kam ihm bekannt vor, aber er hatte keine Zeit für einen genaueren Blick. Schließlich hielt der Diener vor einer Tür. Er klopfte mit dem Säbelarm dagegen. Drinnen rief jemand: »Herein.« Der Diener öffnete die Tür und bat Hans mit einer Geste, einzutreten.

Das Zimmer war mit weißem Samt ausgeschlagen. Zierliche Möbel standen an den Wänden. Hans war im ersten Moment wie geblendet. Nachdem er sein Staunen verdaut hatte, sah er Barbera, das jüngste weise Weib, die in einem Erker auf einer Bank saß, umspielt vom Schein der Abendsonne.

»Danke, dass du gekommen bist, tapferer Hans«, sagte sie. »Tritt näher.«

Hans, der sich zwischen all dem reinen Weiß seiner Lumpen schämte, stand wie erstarrt da. Barbera kam auf ihn zu, nahm ihn bei der Hand und zog ihn zum Erker.

»Sieh nur«, sagte sie. »Unser Pinafor. Ist es nicht herrlich?«

»Oh, ja«, murmelte Hans, dessen Hand in ihrem Griff feucht wurde. Um zu verbergen, dass er errötete, sah er aus dem Fenster: Die goldenen Getreidefelder Flutwiddes erstreckten sich bis in die Ferne – ein prächtiger Anblick, bei dem ihm das Herz aufging.

»All das ist bedroht«, sagte Barbera. »Lohnt es sich nicht, dafür zu kämpfen?« Sie nahm seine Hand und streichelte sie mit dem Daumen.

»Doch … ja«, krächzte Hans. Barbera duftete nach Flieder, und er rang um Atem.

»Wenn du das Mädchen findest, erfahren wir vielleicht, wo die Esche wurzelt und welche Gefahr Pinafor droht«, flüsterte sie und strich über sein blondes Haar.

Hans bekam eine Gänsehaut. Ihm schwirrte der Kopf. »Ja, ich verstehe«, stieß er hervor. »Ich werde das Mädchen suchen … und finden … und …«

Barbera legte ihm die Hände auf die Schultern. »Du bist mutig und gut, Hans«, sagte sie. »Ich bin stolz auf dich. Wir sind stolz auf dich.«

»Danke … danke«, stotterte Hans. Er hatte noch nie so viel Zuneigung und Anerkennung erfahren und wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Außerdem verdrehte ihm die Nähe der Frau den Kopf. Er hatte weiche Knie und hätte sich am liebsten gesetzt, aber sie schmiegte sich an ihn und legte ihren Kopf gegen seine Brust. Hans erstarrte. Sein Herz trommelte wie Pferdehufe beim Galopp.

»Nun musst du gehen«, murmelte sie.

»Natürlich«, sagte Hans. »Ich muss … gehen. Ja, ich gehe! Wo … ist die Tür?« Er sah sich suchend im Zimmer um.

Barbera griff nach einer Klingel. Auf den hellen Klang hin öffnete der Kultknecht die Tür.

»Schlaf gut«, flüsterte das jüngste weise Weib. »Träume von unserem schönen Pinafor.«

Hans schwankte mit butterweichen Beinen zur Tür. Auf der Schwelle drehte er sich noch einmal um.

»Finde das Mädchen«, rief sie. »Rette Pinafor!«

Er nickte stumm. Der Diener schloss die Tür hinter ihm, und sie traten den Rückweg an. Hans ging wie auf Wolken.

 

Die Muhme schnarchte, aber nicht das hielt ihn wach. Er hatte oft Angst vor dem Einschlafen, weil ihn Albträume von der Gefangenschaft bei der Hexe im Lohwald plagten. Er sah zum Baldachin des Bettes auf, der mit dem Bild einer Nixe geschmückt war. Ihre Haare waren so dunkel wie die des jüngsten weisen Weibes, und die Silberfäden, mit denen Fischschwanz und Körper gestickt worden waren, glitzerten im Zwielicht. Sie breitete die Arme aus, als wollte sie ihn an ihren Busen drücken.

Er wälzte sich im Bett hin und her. Manchmal meinte er, in den Tiefen des Hauses ein Stöhnen oder Dröhnen zu hören, wie es während des Gesprächs mit den weisen Weibern ertönt war. Später glaubte er, ein Sirren zu vernehmen. Als ihn der Schlaf doch noch übermannte, hatte er einen Traum, in dem erst Barbera und dann das Mädchen auftauchte. Er versank in ihren Körpern. Im Halbschlaf träumte er von dem grasgrünen Feuer, in dem seine Kameraden verbrannt waren. Schließlich erwachte er. Draußen graute der Morgen, und ein fahles Licht fiel durch das Ostfenster. Er rieb seine Augen.

Die Muhme stand angekleidet vor der Waschkommode und legte das Handtuch neben die Schüssel. »Guten Morgen«, sagte sie. »Mach dich frisch.«

Während Hans sich wusch, saß die Muhme am Fenster. Über ihrem Kopf kräuselte sich der Pfeifenrauch; im Schein der aufgehenden Sonne nahm er geisterhafte Gestalten an. Hans hatte sich gerade angezogen, als ein Kultknecht klopfte, um sie in einen Saal zu führen. Im Kamin, dessen Umfassung mit Reliefs der Mischwesen aus Mensch und Tier verziert war, knisterte ein Feuer. Hans und die Muhme setzten sich an den gedeckten Tisch, aßen Weizengrütze und tranken Tee. Der Kultknecht wachte währenddessen drinnen vor der Tür.

Schließlich trat eines der weisen Weiber ein.

»Alles ist bereit«, sagte das Weib mit einer Verbeugung. »Ihr könnt aufbrechen.«

Die Muhme tupfte ihre Lippen mit einem Leinentuch ab. Sie nickte Hans zu und erhob sich. Der Diener führte die drei zur Eingangstür. Draußen vor dem Haus, das wieder wundersam klein wirkte, warteten die übrigen zwölf weisen Weiber. Vier gesattelte Pferde standen da, Kaltblüter mit zottigen Hufen, und im Gras saßen drei Personen, zwei Frauen und ein Mann. Beim Anblick von Hans kamen sie auf die Beine. Das älteste weise Weib humpelte zu ihnen, um sie vorzustellen.

»Deine Gefährten«, sagte sie. »Bessere findest du nicht.«

Hans sah die Muhme an. Sie hob die Augenbrauen.

»Das hier ist Sanne«, fuhr die Älteste fort und zeigte mit zitternder Hand auf eine zarte Frau. »Eine Fee hat sie reich beschenkt: Fällt ihr ein Haar aus, so ist es aus Gold; weint sie Tränen, so werden sie zu Perlen; und ihr Speichel verwandelt sich in Silber.«

Sanne versuchte zu lächeln, wobei sie den Mund fest zukniff. Ihre Augen waren kugelrund, ihre brünetten Haare straff nach hinten gebunden. Sie wirkte schüchtern, aber in ihrem Gürtel kreuzten sich die halbmondförmigen Klingen zweier Sicheln.

»Und dies«, sprach die Älteste und zeigte auf den Mann, »ist …«

Der Mann, kräftig, braungelockt und mit einem Zweihänder auf dem Rücken, der fast so lang war wie er selbst, drohte ihr stumm mit der Faust.

»Nun …«, fuhr die Älteste fort, »dies ist … der, dessen Name nicht genannt werden darf. Er ist bärenstark und bereit, mit euch durch dick und dünn zu gehen.«

»Und warum«, wollte die Muhme wissen, »darf sein Name nicht genannt werden?«

Der Mann warf ihr einen zornigen Blick zu.

»Wir nennen ihn Kunz«, erwiderte die zweite Frau. Ihr Haar war feuerrot, ihre Haut milchweiß, und ihre Augen waren pechschwarz. »So heißt er nicht wirklich. Aber wenn man seinen wahren Namen nennt, packt ihn eine Wut, wie man sie selten erlebt. Und das wollen wir gern vermeiden.« Sie war noch schöner als das jüngste weise Weib, aber ihr Blick war kühl. Sie lächelte nicht mit den Augen, sondern nur mit dem Mund.

»Sie heißt Sneewitt«, sagte das älteste weise Weib. »Sie ist eine meisterhafte Bogenschützin. Ihre Skrupel hat sie hinter den sieben Bergen verloren.«

»Pah!«, zischte Sneewitt, legte einen Pfeil auf und schoss dem Kultknecht die Kappe vom Kopf. Der Pfeil blieb zitternd in der Haustür stecken.

»Immerhin ein Lichtblick«, murmelte die Muhme.

Der Diener riss den Pfeil aus den Bohlen und starrte seine durchlöcherte Kappe an.

»Famoser Schuss.« Kunz klatschte Beifall. »Sie schießt dem Teufel aus einer Meile Entfernung einen Mittelscheitel in die nicht vorhandene Frisur«, sagte er hinter vorgehaltener Hand zu Hans.

Sneewitt, die seine Worte gehört hatte, spuckte aus.

»Der Teufel?«, fragte Hans verständnislos. »Wer ist das?«

Sanne sah ihn mit großen Augen an und sagte: »Ein Unhold mit rostbraunem Zottelfell, der in den Eichenwäldern des Gretings sein Unwesen treibt.«

»Das ist der Eisenhans«, bemerkte Sneewitt verächtlich. »Und er macht höchstens Kindern Angst.«

»Deine große Klappe möchte ich haben«, brummte Kunz.

Sanne lächelte Hans entschuldigend an.

Die Älteste humpelte an ihren Platz im Spalier der weisen Weiber. Sie hob die rechte Hand und sprach: »Möget ihr nie vom rechten Weg abkommen. Findet das Mädchen, das den Weg zur Esche weist, und bringt es wohlbehalten hierher.« Sie setzte zu einer Segensgeste an, aber ihre Hand zitterte zu sehr. Der Kultknecht öffnete die Tür, und die dreizehn weisen Weiber verschwanden nacheinander im Haus. Barbera drehte sich noch einmal um und warf Hans einen sehnsuchtsvollen Blick zu. Dann wurde die Tür zugeknallt. Riegel rasteten ein, ein Schlüssel knirschte im Schloss. Niemand konnte mehr ahnen, was das fensterlose, einsam auf dem Wolkenberg stehende Häuschen in seinem Inneren barg.

Hans betrachtete Gefährten und Pferde. Er hatte das Gefühl, zu träumen. Alles, auch sein Auftrag und das Mädchen mit den grünen Augen, kam ihm unwirklich vor.

»Holunder und Katzen erwarten mich«, sagte die Muhme zu Hans. »Viel Glück, mein Junge. Wir sehen uns.« Sie kniff ihn zärtlich in die Wange. Damit ging sie den Hügel hinunter.

Hans sah ihr nach. Ohne die Muhme fühlte er sich plötzlich allein. Dann fielen ihm seine Gefährten ein, und er drehte sich um. Sie sahen ihn erwartungsvoll an. »Tja,« stotterte er. »Wir suchen ein … sommersprossiges Mädchen mit grünen Augen und einem rätselhaften, verschlungenen Bild auf dem Rücken, das viele gute Taten vollbringt. Die Sache ist sehr …« – er räusperte sich – »… wichtig. Versteht ihr?«

Sanne nickte. Kunz murmelte: »Sommersprossen? Aha«, und rückte den Zweihänder zurecht. Sneewitt spottete: »Du siehst aus, als wolltest du gleich in Tränen ausbrechen, mein Junge. Möchtest du dich nicht lieber an die Rockschöße der Muhme klammern? Oder der Schürze von Barbera nachjagen? Willst du wirklich mit uns losziehen?«

»Lass ihn«, sagte Sanne. »Wahrscheinlich hat man ihn genau wie uns zu dieser Suche verdonnert.«

»Verdonnert?«, fragte Hans.

»Petze!«, zischte Kunz mit Blick auf Sanne. Dann sagte er zu Hans: »Um ehrlich zu sein, sind wir … gewissermaßen auf Bewährung, weil wir einer hochschwangeren Bäuerin den Melkschemel unter dem Hintern weggetreten haben.«

Sneewitt lachte laut auf. »Sehr schön formuliert«, erwiderte sie. »Aber war sie wirklich hochschwanger?«

Hans starrte seine Gefährten an. Dann saß er wortlos auf, und sie ritten los. Sie wurden von drei Wesen beäugt, einer Frau, einem Greis und einem Wicht, die sich an einem Bachufer im Schilf verbargen. Niemand nahm sie wahr.

3.Der Mann, der zwei Tode starb

Ein Mann schwamm kopfüber in der Usse. Die Strömung zog ihn mit. Messer glitten aus seinem Gürtel und sanken auf den Grund, wo sie im Sand zwischen den Algen lagen und von Fischen beäugt wurden. Sogar die Hechte mieden ihn. Die Flusskrebse zogen sich bei seinem Anblick in ihre Panzer zurück, und die Wasserschneider schlugen einen Bogen.

Er trieb drei Tage im Fluss. Einmal verhakte sich einer seiner Stiefel im Uferschilf, und er blieb eine halbe Nacht hängen. Seine Arme schaukelten, als wollten sie nach etwas greifen. Frühmorgens löste er sich aus dem Schilf.

Am Abend des dritten Tages trieb er an den Weidenbäumen vorbei, die die letzte Flussschleife vor der Mündung der Usse in den Welsfluss säumten, nicht weit vom Werder, auf dem die Feste der Gografen stand. Die Sonne sank, und Krähen versammelten sich auf den Bäumen. Sie flogen aus allen Richtungen herbei und ließen sich lärmend auf den Ästen nieder.

Doch als der Mann an den Bäumen vorbeitrieb, verstummten die Krähen. Ihre Köpfe ruckten herum, sie richteten die Schnäbel auf den nebelverhangenen Fluss. Die Nacht brach herein. Der Mann verharrte mitten in der Strömung. Er begann, sich zu drehen, erst träge, dann schneller. Arme und Beine bogen sich im Sog des Strudels. Die Krähen sahen zu. Der Wind frischte auf und zerzauste ihr Gefieder.

Der Mann wurde langsam vom Strudel in die Tiefe gezogen. Eine Hand ragte in die Luft, dann wurde auch sie von den Fluten verschluckt.

Die Krähen blieben stumm, hüpften aber unruhig von einem Bein auf das andere. Der Wind wurde stärker. Äste bebten, Stämme knarrten. Eine Windhose raste aus der Ferne auf die Usse zu. Einige Krähen strichen ab. Dann mehr. Warnendes Krächzen erfüllte die Luft. Die Fische tauchten auf den tiefen Grund. Die Krähen wirbelten durcheinander, dann ergriffen sie die Flucht.

Im nächsten Moment schossen sieben Raben über die Usse. Die Windhose brach durch die Weiden. Sie fegte den Nebel weg und hielt über dem Strudel. Von dem Luftwirbel in die Höhe gezogen, tauchte der Tote aus den Fluten auf. Sein Gesicht war verbrannt und aufgedunsen. Es war Grimm, der Räuberhauptmann, der Mann, der zwei Tode gestorben war: Einen durch Feuer, einen durch Wasser.

Die Windhose riss ihn mit und verschwand in der Richtung, aus der sie gekommen war, gefolgt von den sieben Raben.

 

»Rubine sind, was deine Augen waren!«, sprach jemand.

Grimm trieb aus dem Tod in den Schlaf und aus dem Schlaf in das Leben. Sein Herz begann zu schlagen, erst ruckelnd, dann regelmäßig. Er öffnete die Augen. Anfangs wurde sein Blick durch einen rötlichen Schleier getrübt. Dann schien ein Licht auf, greller als die Mittagssonne. Grannen, Staub und Spelzen flogen durch die Luft wie beim Dreschen auf einer Tenne. Alles war von Surren, Sausen und Dröhnen erfüllt, und in Abständen erklang ein Stöhnen wie aus tausend gequälten Kehlen. Grimm wollte sich aufrichten, aber man hatte ihn auf eine Holzpritsche gebunden. Er ballte die Fäuste und riss vergeblich an den Lederriemen. Mit den Rubinen, die seine toten Augen ersetzten, sah er eine Gestalt. Sie verschwamm im gleißenden Licht. Sie legte ihm eine Hand auf die Stirn. Sie fragte: »Erinnerst du dich an das Mädchen mit den grünen Augen?«

Grimms Blick wurde von Zorn und Hass getrübt, die in ihm aufstiegen wie schwarzer Rauch. Er nickte. Seine Zunge war bleischwer.

»Deine Kameraden sind in ihrem Feuer verbrannt«, sprach die Stimme. Eine Hand strich über seinen kahlen Kopf. »Wir haben dich wieder zum Leben erweckt, damit du sie rächst. Finde das Mädchen. Töte sie. Aber töte sie langsam. Sie soll leiden, bis sie ihr Schweigen bricht und ihre Schreie zum Himmel gellen. Und merke dir: Ab jetzt bist du ein Krieger des Eisernen Königs!«

Grimm knirschte mit den Zähnen. Seine Unterlippe bebte. »Ja«, stieß er hervor. »Ich räche meine Kameraden. Ich werde das Mädchen so langsam töten, bis sie ihr Schweigen bricht und ihre Schreie gen Himmel gellen.« Ihm wurde vor Hass schwarz vor Augen. Das grelle Licht erlosch. Surren, Sausen und Dröhnen verstummten. Die Gestalt verschwand. Grimm wurde wie von einem Strudel in die Ohnmacht gezogen.

 

Als er daraus auftauchte, lag er vor einem Weizenfeld. Kerbel und Kamille ragten neben ihm auf. Dicht vor ihm scharrte ein Rappe mit den Hufen, an dessen Sattel Schild und Schwert hingen. Grimm trug eine eisgraue Rüstung und einen Helm, der seinen Kopf ganz umschloss.

Er kam auf die Beine. »Ich lebe!«, dachte er. Dann fiel ihm das Mädchen mit den grünen Augen ein, und er begann, vor Zorn zu zittern. Als er sich wieder gefangen hatte, erblickte er sieben blondgelockte Jünglinge in goldener Rüstung. Sie warteten einen Steinwurf entfernt. Jeder hielt einen Schimmel am Zügel. Grimm schwang sich auf den Sattel des Rappen und ritt zu ihnen. Sie verneigten sich vor ihm und sagten wie aus einem Mund: »Wir sind bereit, Herr.«

Grimm schwieg. Er gürtete sich mit dem Schwert und zog es blank. Die zweischneidige Klinge blitzte im Mittagslicht. Er wusste nicht, wem er sein Leben verdankte, aber er würde seine Schuld begleichen. »Wir suchen ein Mädchen«, sagte er. »Ein Mädchen mit grünen Augen und einem verschlungenen Muster auf dem Rücken. Sie hat meine Männer getötet. Nun werden wir sie töten. So langsam, bis sie ihr Schweigen bricht und ihre Schreie gen Himmel gellen.« Er steckte das Schwert ein und ließ den Blick über die sieben Jünglinge gleiten. Sie waren schön, aber die Falten um den Mund zeugten von Grausamkeit. Sie lächelten bei seinen Worten.

»Aufsitzen!«, befahl Grimm.

Die Jünglinge sprangen mit einem Satz in den Sattel.

Dann preschten die acht Reiter los. Der Staub, den die Hufe ihrer Rösser aufwirbelten, hing noch lange in der Luft.

4.Meister Grimbart

Der Mensch hatte zwar geschieden, was früher eins gewesen war, aber mit den Tieren war nach wie vor zu rechnen. Sie spürten seit langem, dass in Pinafor etwas im Argen lag, und waren tief besorgt. Sie hatten kurz nach der Auslöschung der Räuberbande Rat gehalten und beschlossen, zu handeln. Natürlich hatte niemand selbst etwas tun wollen, weder Bär noch Hirsch oder Wolf, aber man hatte sich darauf geeinigt, einen alten Haudegen in die Schlacht zu schicken.

Man zog Strohhalme. Der Fuchs musste sich auf den Weg machen, um den Auftrag zu übermitteln. Er ärgerte sich, weil er den kürzeren gezogen hatte. Außerdem wusste er, was ihm blühte. Meister Grimbart, der von seinem Glück nichts ahnte, konnte ausgesprochen mürrisch sein. Manche Tiere, vor allem solche, die ihm den Ruhm neideten, nannten ihn sogar einen Kotzbrocken. Seine Tage als Kämpe waren lange her, aber er war den anderen Tieren als Einziger eingefallen; um seine Heldentaten rankten sich Legenden, und er genoss den Ruf, nichts und niemanden zu fürchten. Im Krieg gegen die schwarzen Wölfe hatte er angeblich sieben auf einen Streich getötet.

Der Fuchs bummelte, denn er hatte wenig Lust, und raubte ab und zu ein Huhn auf einem der Gehöfte. Die Bauern waren so mit sich selbst beschäftigt, dass sie nichts merkten. Er stahl auch eine Flasche Kartoffelschnaps, weil er wusste, dass der Dachs gern ein Schlückchen trank. Deshalb brauchte er fünf Tage bis zum Dachsbau, der sich in der Nähe der Mündung der Fusel in die Usse befand. Nördlich davon ging Flutwidde in die Hohe Heide über. Als er sich dem Bau endlich näherte, lag Hans noch bei der Muhme im Fieber, und Grimm trieb den dritten Tag im Fluss.

Meister Grimbart hatte seinen Bau in einem flachen Hügel angelegt. Der Eingang befand sich zwischen Kiefernwurzeln. Dort sonnte er seine Schwarte und döste, denn er ging nachts auf Jagd. Der Fuchs blieb in einiger Entfernung stehen und krauste die Nase – Dachse rochen nicht gerade lieblich. Aber er gab sich einen Ruck und schnürte weiter. Als er in den Bau sah, traf ihn ein Schwall Erde mitten ins Gesicht. Er sprang keckernd zurück, und im nächsten Moment kam die lange, schwarz-weiße Schnauze Meister Grimbarts zum Vorschein.

»Schau einer an – Reineke Fuchs!«, rief er. »Bleib lieber draußen, denn ich erledige gerade den Frühjahrsputz.«

»Wir haben bald Herbst«, erwiderte der Fuchs und schüttelte die Erde von seinem Balg.

»Weißt du«, sagte der Dachs und sah zum Himmel auf, »im Ruhestand verschiebt sich das. Der Frühling wird zum Herbst und der Sommer zum Winter, und dann kommt irgendwann das Große Dunkel.«

Der Fuchs sprach ungern vom Tod, und da Meister Grimbart offenbar gut gelaunt war, beschloss er, nicht viel Federlesens zu machen. »Ich komme aus dem Lohwald. Vom Rat«, sagte er.

»Ach, wirklich? Vom Rat?«, fragte der Dachs. Erst gähnte er, dann zog er die Nase hoch und rotzte in den Sand.

Der Fuchs war entsetzt über diese rüpelhaften Manieren. »Ja. Vom … Rat«, wiederholte er irritiert. »Du hast vielleicht auch gemerkt, dass in Pinafor etwas faul ist. Die Menschen leben nur noch ihre … Lüste und übelsten Seiten aus. Dann sind da diese sieben Raben, die überall in der … Luft herumflattern. Niemand kennt sie. Der Uhu meint, dass die Esche bedroht ist. Nun … kurz gesagt …«

»Kurz ist gut«, warf der Dachs ein und drehte seine Schwarte in die Spätsommersonne.

»Ja … Zusammenfassend und in allerkürzester Kürze gesagt«, stammelte der noch tiefer irritierte Fuchs, »haben wir dich dazu ausersehen, die … Welt zu retten!« Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, da wusste er schon, dass er in ein Fettnäpfchen getreten war. Er legte demütig die Gehöre an.

Meister Grimbart wälzte sich herum und funkelte den Fuchs an. »Raben, die in der Luft herumflattern?«, knurrte er. »Was soll daran so seltsam sein?«

»An sich nichts«, stammelte der Fuchs. »Aber um die Kürze zu würzen … will meinen … um auf den wunden Punkt zu kommen … Sie sind Unglücksboten. Verstehst du?«

»Ich verstehe vor allem«, erwiderte der Dachs eisig, »dass ich meinen herbstlichen Frühjahrsputz unterbrechen soll, weil die beim Rat versammelten Trottel und Weicheier zu faul und zu feige sind, selbst zu handeln. Ihr wollt mich ungefragt für etwas einspannen? Vergesst es!«

Der Fuchs schluckte. »Da war dieser Feldherr«, sagte er, »der gern seinen Acker pflügte. Wenn Gefahr drohte, rief man ihn, und er ließ Pflug und Pferde stehen und eilte den Seinen zu Hilfe.«

»Was kümmern mich Uhu oder Bär?«, brummte der Dachs. »Das sind nicht die Meinen. Von diesen Menschen ganz zu schweigen.«

»Vielleicht solltest du einmal im Leben über den Tellerrand deiner kleinen Welt blicken«, sagte der Fuchs.

Meister Grimbart sah ihn an, als wollte er ihn fressen.

Der Fuchs dachte nach. Dann entschied er sich für eine neue Taktik. »Wie wäre es mit einem Kartoffelschnaps?«, fragte er unverfänglich. »Habe ich unterwegs stiebitzt.«

»Her damit«, fauchte der Dachs. »Alles, um eure Dummheit zu vergessen!«

Der Fuchs entkorkte die Flasche.

 

Bei Anbruch der Dämmerung war der Dachs sternhagelvoll. Er lag vor seinem Bau, den Schnaps in der Pranke, und prahlte mit seinen Heldentaten. Der Fuchs nickte oder brummte in Abständen und tat so, als höre er zu, schlief aber halb. Er schrak erst auf, als sich der Dachs verschluckte und laut husten musste.

»Ah – bevor ich es vergesse«, sagte er, »du musst die Flasche noch quittieren.«

»Quitt … was?«, lallte Meister Grimbart. »Hast du den Stoff nicht geklaut, du Held?«

»Auch Diebe haben ihre Ehre«, erwiderte der Fuchs pikiert. »Ich führe Buch über jedes Huhn. Hier …« – er entrollte ein Pergament, tunkte eine Gänsefeder in Tinte und reichte sie dem Dachs – »… bitte unterschreib unten links.«

Meister Grimbart rülpste. »Schlauer Fuchs! Du willst die Signatur eines Helden abstauben, wie?«, fragte er. »Na, gut. Her mit dem Wisch.« Er unterzeichnete so schwungvoll, wie es sein trunkener Zustand erlaubte.

Der Fuchs wedelte mit dem Pergament. Als die Tinte trocken war, rollte er es zusammen. »Ich haue mich jetzt aufs Gehör, Kumpel«, sagte er. »Wir sehen uns morgen früh.«

»Ja, ja«, lallte der Dachs. »Schlaf nur, du Held. Feige und faul und nicht mal trinkfest …« Er ließ den Schnaps in seine Kehle gluckern. »Ich gehe nachher noch auf Jagd«, murmelte er. »Auf Jagd … nachher …«

Der Fuchs suchte sich eine lauschige Kuhle und schlief bald ein.

In der Frühe weckte ihn der Hunger, und er trabte zum Fluss. Dort riss er eine Bisamratte. Während er sie schmatzend und knurpselnd und alles in allem sehr unmanierlich verspeiste, fand ihn ein Eichelhäher, der ihm eine Botschaft des Rates zu überbringen hatte. Nachdem der Fuchs Nachricht und Ratte verdaut hatte, kehrte er zum Hügel zurück. Meister Grimbart lag wie tot in seiner Röhre und schnarchte, dass Zapfen von den Kiefern fielen. Reineke Fuchs ließ sich außer Hörweite nieder und dachte nach, während die Sonne über den Feldern aufging. Schließlich erwachte der Dachs; er stöhnte, und sein linkes Auge war blutunterlaufen – das rechte hatte er damals in der Schlacht gegen die schwarzen Wölfe verloren.

»Was für ein Teufelszeug war das, du Held?«, fragte er. »Das bläst einem ja die Lichter aus.«

»Das war der Kartoffelschnaps, mit dem sich die Menschen besaufen«, erwiderte der Fuchs. »Ruh dich noch ein bisschen aus. Dann brichst du auf.«

»Aufbrechen? Warum? Wohin?« Meister Grimbart drückte sich die Pranken gegen den Kopf. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich mich nicht ungefragt einspannen lasse.«

»Du hast dich verpflichtet«, sagte der Fuchs förmlich. »Mit deiner Unterschrift.«

»Verpflichtet? Ach, was! Ich habe das Gesöff quittiert.«

Der Fuchs hielt ihm das Pergament vor die Schnauze. »Lies selbst«, sagte er.

Meister Grimbart las halblaut: »›Hiermit beschließt der Hohe Rat der Tiere … dass der Unterzeichnende … bindend und verpflichtend … nach bestem Wissen und Gewissen … und unter dem Einsatz aller geistigen und körperlichen Kräfte … sowie seines Lebens … getreulich und selbstlos … versucht, Unheil von Pinafor abzuwenden … und die Welt zu retten. Unterzeichnet …‹« Er blickte entgeistert auf. »Das habe ich unterzeichnet?«

Der Fuchs zuckte mit den Schultern.

»Du Mistkerl!«, brüllte Meister Grimbart und richtete sich drohend auf. »Du hast mich betrogen! Zum Dienst gepresst! Warte nur, ich …« Er sackte stöhnend in sich zusammen.

»Hör zu«, sagte der Fuchs, der Mitleid hatte, »ich habe vorhin eine Botschaft des Rates erhalten. Vor kurzem sind acht Unholde aufgebrochen, um ein Mädchen mit grünen Augen zu finden und zu töten, dessen Rücken den Weg zur Esche weist. Du musst sie unbedingt aufspüren.«

Der Dachs hob den Kopf. In seinem Auge blitzte der frühere Tatendurst auf. Dann sank er wieder auf die Seite. »Ach«, murmelte er, »ich bin zu alt für solche Abenteuer. Aber wenn du mich begleiten würdest …«

»Oh, nein, oh, nein, oh, nein!«, rief der Fuchs und wedelte abwehrend mit den Pfoten. »So war das nicht gedacht.«

»Mitgehangen, mitgefangen«, knurrte der Dachs. »Außerdem hast du mir die Unterschrift abgepresst. Das musst du wiedergutmachen.«

»Kommt nicht in Frage«, zischte der Fuchs und bleckte die Fänge.

»Oh, doch!«

»Oh, nein!«

»Oh, doch!«

Die beiden stritten sich bis in den Abend. Sie fauchten und knurrten und umkreisten einander. Drohgebärden mündeten in Handgreiflichkeiten. Sie schliefen übermüdet ein. Als sie am nächsten Morgen erwachten, stritten sie weiter. Aber die Rollen hatten sich umgekehrt, denn Meister Grimbart hatte Blut geleckt.

»Wir verlieren kostbare Zeit«, sagte er.

»Ich will aber nicht!«, jaulte der Fuchs.

»Denk an den Feldherrn«, sagte der Dachs.

Schließlich gab sich der Fuchs geschlagen.

5.Hardt und Horn

Hans und seine Gefährten ahnten nicht, dass auch Grimm das Mädchen mit den grünen Augen suchte und außerdem einige Tage Vorsprung hatte, und von Dachs und Fuchs ahnten sie sowieso nichts. Sie ritten ziellos durch Flutwidde, ohne eine Spur zu finden.

»Seltsam, dass die Gänse in diesem Jahr so früh nach Süden ziehen«, sagte Kunz, als ein Schwarm über sie hinwegflog. »Aber im Gegensatz zu uns kennen sie wenigstens ihr Ziel.«