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Ein junger Agraringenieur, Kriegsdienstverweigerer und Träumer, flüchtet nach dem gescheiterten Prager Frühling 1968 aus der Tschechoslowakischen sozialistischen Republik. Seine "Mutterstraße“ führt ihn über Österreich nach Deutschland. In den Augen der Tschechoslowakischen Geheim-polizei (StB) eine Straftat, die mit Gefängnis geahndet wird. Bis 1989, der "Samtenen Revolution“ und damit dem Ende des Sozialismus, bleibt er im Visier der Behörden. Nach Jahren als Doktorand führt ihn sein Weg als staatenloser Pflanzen-züchter schließlich ins tiefste Anatolien. Die Nutzpflanzen sind inzwischen nicht nur sein Beruf, sondern auch seine Leidenschaft. Es folgen die Einbürgerung als Deutscher und Ausbürgerung als Tschechoslowake, sowie die Berufung als Professor an eine deutsche Hochschule. Bis heute schreibt er Fachartikel und Bücher und rettet mittlerweile uralte Getreidesorten vor dem Aussterben.
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Seitenzahl: 356
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Ein Familienprojekt
Diese Geschichten basieren auf meinen Erlebnissen und Erinnerungen
aus fünf Lebensabschnitten. Es ist ein Zufall, dass viele Dokumente und
Fotos – nach 12 Umzügen – noch erhalten blieben. Hoffentlich lohnt
sich das Lesen, denn dafür habe ich 12 Jahre lang „geschuftet“.
Jan Jaroslav Sneyd
Beuren, 2022
Meinen lieben Enkelinnen und treuen Zuhörerinnen
Lily Josephine, Mila Sophie und Jana Maria
Danksagung:
Vorwort 1
Vorwort 2
Lebensabschnitt I – Student, Dissident, Simulant
G 1 Unterwegs – Auf der Mutterstraße
G 2 Das freie Wort
G 3 Mendels Erben
G 4 Ein Dissident wird geboren
G 5 Das Lied der Mutterstraße
G 6 Krokodilstränen
G 7 Der „Große Paul“
G 8 Der alte und neue Autostopp-König
G 9 Die steinerne Sitzbank
G 10 Das Lied von der Bartänzerin Marjano
G 11 Kriegsspiele
G 12 In Kafkas Schloss
G 13 Der Mann mit dem Superhirn
G 14 Das „Blaue Büchlein“
Lebensabschnitt II – Arbeitsloser, Pflanzenzüchter und Flüchtling
G 15 Methode Tarzan
G 16 Rasierklinge zum Abendessen
G 17 Die Mohrrüben-Blamage und die Folgen
G 18 Das heilige Fahrrad des Stationschefs
G 19 Die Flucht in den Westen
Lebensabschnitt III – Flüchtlingszeit, Doktorarbeit und Kündigung
G 20 Fluchtpunkt Wien – Elektrische Energie
G 21 Fluchtpunkt Wien – Der Mann, der zuviel wusste
G 22 Fluchtpunkt Wien – Sedschka auf Stellensuche
G 23 Die Beulenpest
G 24 Das Tor zur Welt
G 25 Der apokalyptische Bienenstich
G 26 Die Vertreibung aus dem Paradies
G 27 Der Mann mit den Regenbogenaugen
G 28 Staatenlos; Der Nansen-Pass
Lebensabschnitt IV –Pflanzenzücher und Direktor im Ausland
G 29 Tod eines Handlungsreisenden
G 30 Türkisch für Anfänger
G 31 Tod in der „Kartoffelstadt“
G 32 Am Fuße des Berges Ararat
G 33 Die Flughafenkatze
G 34 Die Schönheit aus Kayseri
G 35 Otel Arkadaş‘
G 36 Der Kürbisversuch und die anatolischen Hunde
G 37 Die Tee-Zeremonie
G 38 Düven-Träume
G 39 Den Hund kauft die Firma!
G 40 Ruhmloser Abschied
Lebensabschnitt V – Unerwartet Professor
G 41 Die Kraft der Körpersprache
G 42 Es ist ein Witz ist das
G 43 Mein Leben mit den Pflanzen
G 44 Mein Leben mit der tschechischen Stasi
G 45 Epilog: Mein Leben mit der Bürokratie
G 46 Für Lily: Der Unfall auf dem Friedhof
G 47 Für Jana: Die halbe Straßenkarte
G 48 Für Mila: Die Karawane
Anhänge zu G1–G48
Schlusswort
Literatur
Den Wunsch, einmal ein Buch mit kurzen Geschichten zu schreiben, hatte ich bereits in der Grundschule und versuchte es immer wieder, leider ohne Erfolg. Mein Studienfreund Ferry aus Brünn hat mich einmal Jan, den Erzähler genannt. Das war aber als Witz gemeint. Jahrzehnte sind seitdem vergangen und plötzlich war es fast zu spät. Im Jahre 2003 wurde bei mir ein aggressiver Krebs im fortgeschrittenen Stadium festgestellt. Eine OP war unumgänglich. Sie sollte von einem erfahrenen Urologen Doktor K. (aus der ehemaligen DDR) mit hervorragender Ausbildung, sympathischem Gesicht und freundlichen Augen durchgeführt werden. Dann kam der Tag, an dem alles Unbrauchbare weggeschnitten wurde. Offensichtlich lief alles gut, denn ich bin später in einem Zweibettzimmer aufgewacht und atmete.
Am nächsten Vormittag lag ich noch im Krankenbett und wartete auf die erste Visite. Endlich ging die Tür auf und ER trat in Begleitung eines Assistenzarztes und einer Krankenschwester mit Unterlagen in der Hand ein. Na, wie geht es uns heute? lautete die traditionelle hochintelligente Frage, doch anstatt der üblichen und erwarteten hochintelligenten Antwort: Es geht uns nach ihrer Operation blendend ... antwortete ich: Mir geht es gut, Herr Doktor, aber meinem Zimmernachbarn wahrscheinlich nicht – er wurde im Morgengrauen abtransportiert; dabei hatte er nachts keine Schmerzen. Herr Oberarzt K. grinste jovial: So, so, das kommt vor – wenn man nämlich keine Schmerzen hat und nichts weh tut, ist man tot. Und wie ist es bei Ihnen? Danke für die Frage, erwiderte ich, darf ich etwas fragen? Wie sieht meine Zukunft aus? Habe ich noch etwa 5 Jahre Zeit, um meine Geschichten zu Ende zu schreiben und um zu Hause und in der Schule alles zu regeln? Doktor K. stand inzwischen hinter seinen Begleitern bei der Tür, hielt die Klinke in der linken Hand und sagte jovial: Ha ja, wird schon gehen ... ich schenke ihnen sogar noch mehr! 10 Jahre könnten es noch sein! sagte er lächelnd und knallte die Tür zu.
Die 10 Jahre waren schnell um und ich hatte ziemliche Mühe in dieser Zeit neben dem Beruf noch ein Buch zu schreiben. Doch die ersten 48 Geschichten waren fertig! Im Jahre 2022 (19 Jahre nach der OP) war es endlich soweit. Ich teilte es schriftlich „meinem“ damaligen Chirurgen Doktor K. mit – doch der Brief kam zurück.
Unzustellbar, stand darauf. Er hatte anscheinend keine Schmerzen mehr.
Wie bereits erwähnt, ohne die Hilfe und Anregungen von meinen Söhnen Jan und Patrik hätte ich dieses Buch kaum geschafft. Sie begleiteten jahrelang meine Schreibarbeiten mit Anregungen, Verbesserungen und Tipps. Dafür mehr als Dank ...
Von der Bedeutung und Tätigkeiten ist die StB (bzw. HSR) mit dem damaligen Ministerium für Staatssicherheit der DDR und teilweise auch mit dem russischen Dienst KGB ziemlich vergleichbar.
Hilfreich bei der Suche nach Informationen war, dass die damals zirkulierenden Akten zwischen den verschiedenen Abteilungen in mehreren Exemplaren vorhanden waren. Nicht alle Kopien konnten nach der Samtenen Revolution 1989 in Eile vernichtet werden. Einiges blieb glücklicherweise erhalten. Eigentlich ist es ein Aktenpuzzle mit wenigen erhaltenen Teilchen. Manche betreffen nicht direkt meine Person, sondern auch Kollegen, Familie, Nachbarn und Freunde – also meine Umgebung. Ich wurde trotzdem überrascht von der damaligen Intensität der Fahndung und Bespitzelung meiner Person in Deutschland und in der Türkei. Hoffentlich ergibt sich aus diesem Buch eine gewisse Vorstellung von dem damaligen politischen System.
Viele Jahre habe ich geglaubt, dass bei der STASI nur „echte“ Kommunisten (Hauptsache, ein überzeugter Kommunist und Genosse) „beschäftigt“ waren, doch die erhaltenen Unterlagen sprechen dafür, dass dort auch viele hochintelligente und gut ausgebildete Psychologen, Logistiker, Analysten, ein Universitätslehrer in Brünn (es war mein „Kollege“ Jan G., mit dem ich leider fachlichen Kontakt hielt), Informatiker, Gutachter, Akademiker, Erfinder, Planer, Fälscher, sogar hochbegabte Kriminelle als Übersetzer, Profiler etc. tätig waren – zum Beispiel hat man einen mathematisch Hochbegabten zum Knacken der Tresore einiger westlichen Botschaften in Prag eingesetzt; (Quelle: StB-Offizier und Überläufer J. Frolik). Manche sprachen erstaunlicherweise nicht die klassischen primitiven und idiotischen Sätze wie: Die Partei hat immer Recht oder Wer nicht mit uns geht, geht gegen uns, sondern: Wer nicht gegen uns ist, ist für uns. Doch auch sie wurden bestens bezahlt und keiner machte nur aus reinem Idealismus mit. Schon deshalb waren sie dem regierenden kommunistischen System bis zu seinem Zusammenbruch 1989 treu ergeben.
Hoffentlich wird aus meinen Geschichten deutlich, wie schwierig, kompliziert und doch interessant das Leben eines in Mähren geborenen Tschechoslowaken als Student, Dissident, Soldat, Simulant, Arbeitsloser, Pflanzenzüchter, Flüchtling, Staatenloser, Gastarbeiter, Asylant, Vertriebener, Direktor, Doppelstaatler und schließlich Deutscher war ...
Ich war natürlich nicht der einzige Flüchtling, der aus der Tschechoslowakei nach dem gescheiterten „Prager Frühling“ 1968 geflüchtet ist, und denke deshalb, dass jeder von uns seine eigene Geschichte erzählen könnte.
Heute bin aber ich an der Reihe.
In allen Geschichten aus den fünf Lebensabschnitten war ich auf der ewigen Mutterstraße, auf der Straße des Schicksals, auf der Straße, die zum Horizont und zu dem verankerten Fuß des Regenbogens führt und sang immer wieder mein Autostopp-Lied ...
(Tschechisch):
Bože dej, muj Bože dej ...
na silnici stopy deštĕ ...
kam se dneska jenom podivam ...
neni duležite, protoze ... CESTA JE CIL!
(Deutsch):
Oh Gott, oh mein Gott ...
auf der Straße sind schon erste Regentropfen sichtbar ...
wohin führt mich heute mein Weg ...
doch es ist egal, denn der Weg IST DAS ZIEL!
Und die Bäume, Wiesen, Felder, Himmel, Wolken, Sonne ...
hörten zu und riefen:
Bleib uns treu und vergiss nie, dass ...
... Die Mutterstraße dein Schicksal ist
und dein Schicksal die Mutterstraße ...
Student, Dissident, Simulant
Der Tau tropfte noch von den Grashalmen, als ich an einem frühen Morgen an der miserabel asphaltierten Ausfallstraße Richtung Brünn hinter dem durchgestrichenen Straßenschild PRAHA (PRAG) stand. Weit, weit im Südosten lag das Ziel der heutigen Autostopp-Reise – meine Heimatstadt Zlín. Eigentlich wusste ich an diesem Tag gar nicht, wohin sonst ich fahren könnte, sollte oder müsste ...
Damals hieß Zlín Gottwaldov, nach dem ersten kommunistischen Präsidenten Klement Gottwald benannt. So hat man es ohne die Bewohner zu fragen entschieden. Wozu auch? Es hätte sich damals ohnehin niemand getraut, der Entscheidung der Kommunistischen Partei offen zu widersprechen. Seit 1948 war sie in der Tschechoslowakei die einzige regierende politische Partei. Damals, in der Zeit des Kalten Krieges zwischen Ost und West herrschte auch in der Tschechoslowakei eigentlich überall Angst. Angst vor einer Kündigung, vor Bespitzelung, von der Nichtzulassung eigener Kinder zum Studium ... Manche Leute waren leider bereit, die Nachbarn, Partner, Freunde und Kollegen zu verleumden, zu bespitzeln und zu verraten. Eigentlich konnte man sich (bedingt) nur auf die engsten Freunde, öfters auch auf Familienmitglieder und Stammtischbrüder verlassen und nur bei passenden Gelegenheiten frei reden und erzählen, was man von dem ganzen sozialistischen Kram hielt. Na ja, so habe ich es damals erlebt, gehört und empfunden; es war doch teilweise eine bittere Zeit.
Die Stadt Zlín war an diesem Tag mein einziger Zufluchtsort; an eine andere Zielvariante dachte ich überhaupt nicht. In der Tasche wärmten seit einigen Stunden die militärischen Entlassungspapiere, die man auch offiziell das „Blaue Büchlein“ (Modrá knížka) nannte. Nach meinem „erfolgreichen“ Aufenthalt in der Militärpsychiatrie Prag-Stresovice und Entlassung mit einer Krankheitsdiagnose war der Armeedienst für mich endgültig Vergangenheit. In dem wertvollen Dokument stand im schönen Amtstschechisch:
... wegen schleichend sich entwickelnder Psychose insgesamt untauglich ... für immer entlassen ...
Eines musste man den regimetreuen tschechischen Militärärzten lassen: Dumm waren sie mit Sicherheit nicht und für Kriegsdienstverweigerer hatten sie nichts übrig. Ich hatte mich zwar auf die umfangreichen Untersuchungen und drohende ausgeklügelte Fangfragen gewissenhaft vorbereitet, die Symptome der Psychose und Schizophrenie in dem großen Lesesaal der Universitätsbibliothek Brünn jahrelang während des Studiums sorgfältig einstudiert, aber sicher fühlte ich mich deswegen nicht. Es konnte sicherlich auch schiefgehen. Und für Simulanten hatte man damals, in der Zeit des Kalten Krieges, kein Verständnis. Der Grund für die Auswahl dieser Krankheit als Entlassungsgrund war die Tatsache, dass sie so viele Erscheinungsformen hat. Denn prinzipiell kann fast jeder Mensch mehr oder weniger „schizophren“ sein, meinen manche Psychologen und Psychiater. Genau das hatten wir in manchen Nächten in unserem Studentenwohnheim Babakovy Koleje, mit Freunden und Mitstudierenden durchgesprochen, bewertet und darüber öfters debattiert. Wie soll man anständig bleiben, ohne ein Teil dieses mächtigen politischen und militärischen Systems zu werden? Wie kann man sich gegen eine aufgezwungene Arbeitsstelle und den Militärdienst – zum Beispiel als Simulant – wehren? Kann man nicht einfach so aussteigen?
Manche der Simulanten (es gab immer welche) waren dabei gescheitert – entweder weil sie ihre einstudierte Diagnose zu perfekt präsentierten oder naiv waren. Ein Kandidat hatte als Soldat zum Beispiel versucht, die Farbenblindheit – also die dümmste Variante – vorzutäuschen. Natürlich fiel er bei dem ersten einfachen Test durch. Das Ergebnis: Er bekam eine „Arbeitsstelle“ in den Jáchymov-Uranbergwerken. Wie ich später gehört habe, lag die Erfolgsquote für die Anerkennung als Militär-Dienstuntauglicher generell unter 1 %. So übte und lernte ich bereits als Student als Ergänzung zur Simulation von Psychose und Schizophrenie noch eine Technik ein, die auf blitzschnellen, hektischen und teilweise unsinnigen und unlogischen Zufallsantworten beruhte. Das Abstrakte Denken. Und – hat es funktioniert? Na ja, es war knapp – am Ende des Aufenthaltes in der Klinik Prag wäre ich als Simulant doch fast aufgeflogen.
Doch was nun an diesem grauen Abschiedstag von der Armee einzig und alleine zählte, war das schriftliche Ergebnis des ganzen Simulanten-Spielchens: Das Blaue Büchlein, ausgestellt auf meinen Namen! Ich war frei. Frei von einer späteren Berufung zum Militär und frei von einer aktiven Teilnahme in diesem verhassten kommunistischen Regime, in diesem System, wo das Individuum–nach sowjetischem Vorbild – nur wenig zählte. Erinnerungen an die vergangene mehrmonatige Arbeitszeit auf einem gottverlassenen Staatsgut im ehemaligen Sudetenland wurden plötzlich wach. Dorthin hatte man mich nach dem Studium zwangsversetzt – denn die Partei hatte es für manche Absolventen der Hochschule für Landwirtschaft Brünn so entschieden. Einfach so: Dorthin gehst du und dort bleibst du! Eine Diskussion gab es nicht. Denn die marode Landwirtschaft, nach sowjetischem Vorbild völlig heruntergekommen, benötigte unbedingt frisehe, billige und möglichst gut vorbereitete Fachkräfte.
Die rote Sonne im Osten stieg höher und die feuchte, mit weichem Asphalt geflickte Straße fing an zu dampfen. Ein angenehm betäubender Geruch stieg herauf (diesen besonderen, fast magischen Duft haben meine Rezeptoren bis heute gespeichert). Meine physische und psychische Form war ausgezeichnet, die Zähne vor einer Stunde hinter einer Übernachtung–Parkbank in Prag-Vinohrady mit Grastau und rechtem Zeigefinger geputzt. Ich kontrollierte noch einmal die erhaltene klassische militärische Reiseration: Ein Stück geräucherter Speck, einige Radieschen, zwei Fettfleischkonserven, eine Znaimer Salzgurke und ein halbes Roggenbrot. Die Flasche Pilsner Bier hatte ich aus dem letzten Monatssold selber bezahlt. Das alles müsste für mindestens zwei Reisetage reichen. Guter Dinge stand in am rechten Straßenrand – noch in der grünen Uniform einer Armee, der ich nicht mehr angehörte und der ich nie wieder angehören wollte und sollte. Das V-Abzeichen eines Elite-Offiziersanwärters prangte noch an dieser Uniform, die mir bei der Entlassung – entgegen der Vorschrift – nicht abgenommen wurde. Die zuständigen Vorgesetzten in der Kaserne hatten zum Schluss Angst bekommen, mir zu nahezukommen. Kontakt mit einem möglichen Simulanten? Lieber Finger weg! Die Fliege machen ...
Überall, auch in der Kaserne Mladá Boleslav, lauerten damals STASI-Spitzel, ein getreues Abbild der ostdeutschen STASI und der russischen Geheimpolizei. So war ich bei der endgültigen Materialübergabe in der Lagerabteilung im Keller der Kaserne allein gewesen. Lediglich ein freundlicher slowakischer Unteroffizier, der mich darauf eingeschworen hatte, die grüne Militäruniform später (ich hatte keine zivile Kleidung mehr ‒ irgendwann in den chaotischen Tagen ging sie verloren) an ihn persönlich in einem Paket zu schicken. Sonst bekomme ich Probleme, sagte der gute Mann. Die Uniform habe ich ihm natürlich zurückgeschickt. Die Zugfahrkarte nach Zlín, die ich vorschriftsgemäß erhalten hatte, hoffte ich später gegen Bares zu tauschen, um damit mindestens eine Runde Bier in unserer Stammkneipe Myslivna (Jägerkneipe) in Zlín spendieren zu können. Das Ende des Militärdienstes musste doch gefeiert werden. Mit ein wenig Glück würde ich dort noch heute spätabends sitzen, mit Freunden, Mädchen und Bierbrüdern reden, plaudern, Witze erzählen, saufen, küssen, lachen und auf die Freiheit anstoßen, dachte ich an diesem Morgen. Ich hatte sie – die Freiheit eines Aussteigers, die Freiheit eines Dissidenten.
In der modernen mährischen Stadt Zlín lag meine Kindheit, eine ziemlich chaotische Vergangenheit mit Freundschaften und Beziehungskisten; dort lebten meine Eltern und drei Schwestern. Dort lebte auch mein bester Freund Amca R., der leider ununterbrochen Eheprobleme hatte und schon deshalb keine Zeit für meine Probleme und mich. Eins war aber sicher: in Zlín würde ich nicht lange bleiben. Meine Mutterstraße – mein Schicksal – bereitete sicherlich etwas Neues vor ... Über die Zukunft dachte ich im Augenblick überhaupt nicht nach. Es gab weder Plan B noch Plan C. Irgendwie wird es schon weitergehen. Slawisches Denken.
Die strahlende Sonne am Himmel stand inzwischen hoch, die Lkw rollten und mein Blutdruck stieg ... Ich winkte mit der rechten Hand – das nächste Fahrzeug mit einem Überführungskennzeichen hielt an. Was für ein Glück! Es war ein nagelneuer Bus – auf dem Weg in die weite Slowakei. Solche „jungfräulichen“ Fahrzeuge nannten wir Autoanhalter damals Himmelsstürmer. Der junge Fahrer ließ mich nach dem Einsteigen in Ruhe, so dass ich es mir ganz hinten auf den stinkenden Plastiksitzen bequem machen konnte. Mindestens fünf Stunden Fahrt lagen vor uns. Genug Zeit, um nachzudenken. Ich war zwar FREI ‒ hatte aber keine Ahnung, was man mit der frisch erworbenen „Freiheit“ anfangen konnte; denn immer noch befand ich mich in dem sozialistischen Gefängnis namens Tschechoslowakei.
Und so dachte ich mit geschlossenen Augen an die vergangene Zeit und an die Ereignisse, die dazu geführt hatten, dass ich an diesem Tag mit dem Blauen Büchlein nach Zlín unterwegs war.
Mein Wald auf dem Berg Tlustá wartete. Ein wunderschöner Sommertag begann und die feuchte, geteerte Straße dampfte ... Alles wird gut ...
Manchmal sind es gerade die kleinen Geschichten, die überzeugend aufzeigen, warum das damalige sozialistische System zusammenbrechen musste. Theorie und Praxis des Kommunismus passten keinesfalls zusammen. Auch diese kleine Geschichte erzählt von dem entfesselten Kontrollwahn eines pervertierten Staatsapparates. Sie blickt in eine seiner hässlichsten Fratzen: der Zensur.
Hierzu ein kleines Beispiel: Mein damaliger bester Freund Amca R. und ich hatten ein gemeinsames Kindheitsidol: Jaroslav Foglar. Ein tschechischer Schriftsteller, der ganze Generationen Jugendlicher mit seinen unglaublich schönen, lehrreichen und ehrlichen Erzählungen geprägt hat. Es waren die Abenteuer kleiner Jungs, ihre Kameradschaft und Freundschaft, ihre Sehnsucht nach Gerechtigkeit, die Foglar in Bild und Wort in seinen Büchern und Comics festhielt. Es fand sich nichts, aber auch gar nichts Politisches oder Revolutionäres darin. Doch alle seine Bücher verschwanden eines Tages aus den Buchhandlungen und galten als unerwünscht. Stattdessen sollten die Jugendlichen einen Ersatz in der Pflicht-Organisation „Pionier“ finden. Auch ich war selbstverständlich Mitglied, denn es gab keine andere Möglichkeit. Alle Schulkinder – ohne Ausnahme und ohne Anmeldung – wurden „Pioniere“. Punkt. Es gab auch keine Austrittsmöglichkeit (ähnlich wie in einigen Religionen).
Eine genauere Vorstellung über diesen Kontroll-, Überwachungs- und Spitzelapparat der regierenden Kommunisten, die sich auch gegenseitig bespitzelten, bekam ich erst richtig nach 1989 mit. Bis 1966 versteckte sich die politische Zensur hinter der Behörde Hauptverwaltung für Presseaufsicht und nach 1968 bis 1990 hinter dem Zensuramt für Presseinformation. In dieser Zeit wurden mehrere verbliebene STASI-Akten freigegeben. Die meisten wurden leider noch rechtzeitig vernichtet, nachdem die kommunistische Regierung nach der Samtenen Revolution 1989 abdanken musste. Einige möchte ich in diesem Buch gerne zeigen. Es war zwar schwierig, sie in diesem Buch zeitlich und nach ihrer Bedeutung einzuordnen (vieles wurde von der STASI verschlüsselt), aber man sagt ja: Besser als nichts. Es war für mich beim Lesen „meiner“ Akten doch ein Schock – denn so einen großen Schmutzhaufen, an dem einige Bekannte, Mitarbeiter, Kollegen, Nachbarn und sogar ein enger Freund beteiligt waren, hatte ich wirklich nicht erwartet.
Nachtrag 1: Herr Foglar wurde nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in der ČSSR im Jahre 1990 rehabilitiert und nach seinem Tod ehrenhaft auf dem historischen Prager Friedhof Vinohrady beerdigt. Heute ist es ein kleiner Wallfahrtsort, denn hier ruht auch der größte Dissident der Tschechoslowakei ‒ der frei gewählte Präsident Václav Havel. Auch ich habe an ihre Gräber kleine Blumensträußchen hingelegt ...
Nachtrag 2: Noch schlimmer als die Zensur war damals die offene und überwiegend verdeckte STASI-Bespitzelung. Das Spinnennetz der Vertrauensleute (tschechisch Duvernik), Agenten, Zuträger, Mitläufer und hauptamtlichen Mitarbeiter war flächendeckend angelegt. Dass sich unter ihnen auch ein netter Kollege Jan G. befand, finde ich noch heute traurig. Und diese Behörde war für die Bespitzelung bestens organisiert. Es gab sogar ein Lehrbuch für diese Mitläufer, Smernice StB, auf Deutsch Richtlinien für die Arbeit mit geheimen Mitarbeitern. Auf jeden Fall waren alle Bürger prinzipiell verdächtig. Wie sagte es in Doktor Schiwago Herr Komarowski treffend? SIE vertrauen niemandem ...
Nachtrag 3: Noch eine Bemerkung zu der Zensur und STASI-Überwachung. Dass es solche gab, wusste jeder Tscheche, Mähre und Slowake. Doch dass sie verschärft gegen uns Flüchtlinge (wir wurden in dem amtlichen STASI-Verzeichnis der Emigranten registriert) angewendet wurde, habe ich erst 2015 aus meinen freigegebenen Akten erfahren.
Nachtrag 4: Die damals allen Bürgern bekannte, totale sozialistische Zensur wurde erst im Frühling 1968 abgeschafft. Was danach folgte, war für die Kommunistische Partei der ČSSR und ihre Politik ein Begräbnis 1. Klasse. Es kamen verheimlichte, unglaubliche Wahrheiten ans Licht. Die Sowjetregierung befürchtete ähnliche Entwicklungen in anderen Ostblock-Staaten; und das war der Hauptgrund für die Entscheidung, die ČSSR militärisch zu besetzen („Breschnew-Doktrin“). Und das war dann definitiv das Ende des Prager Frühlings.
Eigentlich ist das Ganze noch heute ziemlich traurig ...
Es war zum Mäusemelken! Unter dem Deckmantel der Pflichtfächer Geschichte und Marxismus-Leninismus bekamen wir in der damaligen ČSSR permanent einen Haufen Schrott zu hören. Die frisierten Unterrichtsinhalte sollten auch uns – die Studierenden der Hochschule für Landwirtschaft – dazu bringen, die Vergangenheit als eine unaufhörliche Abfolge von Klassenkämpfen zu verstehen. Wir sollten wir die Punischen Kriege, das Mittelalter, die Hexenverbrennungen, die Macht und Kriege der Kirche, die Religion (= Opium fürs Volk, schrieb Karl Marx) und den Kapitalismus durch eine rote Brille sehen. Wir erfuhren einiges über die böhmischen Könige (die allerdings überwiegend Deutsch sprachen), vieles von dem Reformator Jan Hus und dem Anführer der Bauernkriege Zizka; wir lernten, dass die russischen Zaren die Ausbeuter und die Bolschewiki die Guten waren, wir hörten von Stenka Razin und von Lenin, dem Köpfchen, von den Kosaken (= den Zarenknechten), wir hörten, wie schlimm die Unterdrückung der Tschechen in der österreichischen Monarchie gewesen war ... Wir lernten Haarsträubendes und richtig Langweiliges in den Pflichtfächern Dialektischer Materialismus, Politische Ökonomie, Wissenschaftlicher Kommunismus, Landwirtschaftliche Ökonomie ...
In den übrigen Unterrichtsfächern war es nicht besser. Dort wurden vermeintlich erfolgreiche sowjetische Anbaumethoden in der Landwirtschaft gepriesen und von einer landesweiten Überproduktion – die nie kam – geschwärmt. (Bemerkung: An dieser Stelle muss ich unbedingt auch Positives zu dem damaligen Studienangebot erwähnen: es gab doch einige Professoren, deren Lehre durch Bezug zur Realität und gutes Fachwissen geprägt war. Auch, wenn dies stark durch die sonst fehlenden Fachleute beeinflusst war. Wie zuvor erwähnt, man hatte nicht genug Spezialisten und Ausbilder. Gut waren m. M. nach die Fächer Mikrobiologie, Mechanisierung, Bodenkunde, Anatomie und Seminare sowie Übungen zu der Haltung der Nutztiere und Nutzpflanzen. Das alles natürlich aus der Sicht der Großproduktion, Planwirtschaft und oft fehlender wirtschaftlicher und finanzieller Ressourcen).
Natürlich hatten wir den meisten ideologisch verdauten Informationen (besser gesagt Desinformationen) keinen Glauben geschenkt. Das Ergebnis war nicht im Sinne der Regierung. Denn im Prinzip wurde damals fast alles, was von oben kam, angezweifelt. Aber erst nach der Flucht in den Westen habe ich das wahre Ausmaß meiner persönlichen Bildungskatastrophe erkannt. NICHTS habe ich über die weltbekannten deutschen Schriftstellern gehört, NICHTS über das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, NICHTS über die Stauferkönige, NICHTS über Hermann Hesse, NICHTS über russische Oppositionelle (A. Solschenizyn ...), NICHTS über arabische Ärzte und Mathematiker, NICHTS über Rudolf Steiner, NICHTS über amerikanische Farmer und natürlich auch NICHTS über das Welttreffen der emigrierten südmährischen Slowaken im schwäbischen Geislingen.
Von all diesen Dingen war uns nicht einmal ihre Existenz oder der Name bekannt. Manchmal kam ich mir wie ein Blödmann vor. Meine spätere Vermieterin in Deutschland glaubte, ich hatte jahrelang den Unterricht in der Tschechoslowakei geschwänzt. So erbärmlich war mein Allgemeinwissen. Doch das in beruflicher Hinsicht verheerendste waren die Wissenslücken hinsichtlich des Pflanzenanbaus und der Tierzucht. Unsere Ausbildung beinhaltete fast ausschließlich sowjetische Genetik- und Vererbungstheorien, nach denen sich die landwirtschaftliche Praxis in den großen staatlichen Betrieben (Státní statek) und genossenschaftlichen Betrieben wie JZD (Landwirtschaftliche Genossenschaft) richten sollte. Größere private Betriebe gab es damals nicht mehr. Eine Folge der Enteignungen nach russischem Muster.
Genosse Mitschurin, ein damals bekannter sowjetischer Obstzüchter, lehnte zum Beispiel die inzwischen weltberühmten genetischen Mendelsehen Gesetze generell ab. Er lehrte und verbreitete mit dem Segen der Kommunistischen Partei das Gegenteil. Eine Diskussion gab es nicht. Der zweite Meister der hohen Ernteerträge (so lautete eine der höchsten Auszeichnungen der Sowjetunion), der oberste Pseudo-Agrarwissenschaftler der UdSSR, Genosse Trofim Denisovič Lyssenko lehrte uns (nachfolgend einige ausgesuchte besonders negative Beispiele ...), dass:
... Eigenschaften nicht durch Gene vererbt, sondern nur durch die Umwelt bestimmt werden. Man konnte sich damals die Vererbung/Nachkommen von zwei Individuen – bei Menschen, Tieren, Pflanzen–auch als eine Mischung von Rot- und Weißwein zusammen geschüttet vorstellen. Ein gewisser Herr Gregor Mendel war für ihn nur ein deutsch-tschechischer Scharlatan ...
... sich die Pflanzenarten durch „Transformation“ in andere umwandeln könnten: Weizen in Roggen, Fichte in Kiefer, Gerste in Hafer ...
... Maishybridsorten, gezüchtet aus reinen Linien, ein Unsinn und in Wahrheit eine böse kapitalistische Täuschung seien.
... sehr tiefes Pflügen des Bodens die Fruchtbarkeit der russischen Steppenerde in den Weiten der Sowjetunion bald erhöhen müsste (der Sieg des überlegenen Systems über den Kapitalismus sollte bewiesen werden) usw.
Am letzten Beispiel wird noch heute das Ausmaß der Verheerungen dieser politisch motivierten Irrlehre deutlich: Hunderttausende Hektar kalter sibirischer Erde wurden nach den direkten Lyssenko–Anweisungen mit frostanfälligen (!) Weizensorten bepflanzt – sie sollten sich nach seiner Lehre in nur 1–2 Jahren der Kälte anpassen. Und das Ergebnis? Sie überlebten den berüchtigten kalten russischen Winter natürlich nicht. Im damaligen stalinistischem System führten solche politisch motivierten Theorien zu Missernten und schlimmen Hungersnöten. Doch kaum jemand wagte, dagegen etwas zu sagen – die geschilderte Lage hat sich dann in den 60-er und 70-er Jahren etwas entspannt. Ähnlich, wenn auch in milderer Form, war die politische Entwicklung in der Tschechoslowakei, Polen und Ungarn. Die aktiven russischen Dissidenten wanderten oft in den gefürchteten Gulag – das Netzwerk der Arbeits- und Straflager. Dort endete auch das Leben des berühmten Wissenschaftlers und Pflanzenzüchters Wavilov tragisch. Er war Botaniker und Begründer der Theorie von den geografischen Genzentren unserer Kulturpflanzen.
Die privaten landwirtschaftlichen Betriebe wurden in der Tschechoslowakei nach 1948 (Machtübernahme durch die Kommunisten) verstaatlicht. Eine schlimme Zeit war das. Die alten Kulturnationen Böhmen und Mähren verloren in diesem politischen System ihre Seele. Die Angst vor Repressalien war einfach zu hoch. Ich erinnere mich an meinen bitter weinenden Onkel Jan in Oparany, der seinen 5-Hektar-Kleinbetrieb an die Genossenschaft abgeben musste. Sonst wird sein Sohn Jan nicht zum Studium zugelassen, hieß es. Und noch bis Ende des Jahres 1963 war den amtlichen russischen Schulbüchern die unsinnige Theorie Lyssenkos zu entnehmen. Dort stand wortwörtlich: „Die Behauptung, dass es in Organismen Gene gibt, die für die Weitergabe der Erbeigenschaften verantwortlich sind, entstammt der Fantasie.“ Weitere schreckliche Beispiele aus dieser Zeit sind in dem Buch Der Fall Lyssenko festgehalten und beschrieben.
Der Wissenschaftler, Abt und Pflanzenzüchter Gregor Mendel wurde als Reaktionär abgestempelt. In der buchstäblich idiotischen sowjetischen Gegenlehre zu Mendel gab es aber erstaunlicherweise doch einige Themen, die richtig bzw. halbwegs richtig waren. Man musste solche Seltenheiten nur erkennen und richtig interpretieren, was schwierig war, da es an unabhängigen fachlichen Informationen mangelte. Erst im Westen bekam ich eine echte Vergleichsmöglichkeit und infolgedessen eine mittelschwere Depression. Immerhin konnte ich dann wenigstens die Prinzipien der Anpflanzung von Kartoffelaugen, den großflächigen Sonnenblumen- und Maisanbau, die Bedeutung der alten bedrohten genetischen Ressourcen, die Williams-Kleegras-Fruchtfolgen, die pfluglose Bodenbearbeitung und Direktsaat, die Nutzung der Blüteninduktion durch Kälteschock bei Körnern, das Vorkommen und die Bekämpfung der unerwünschten Schoßer in Zuckerrüben ... usw. ZWEIMAL gründlich lernen. Aus der Sicht der „Ostlehre“ und später auch der „Westlehre“.
Eigentlich – aus heutiger Sicht betrachtet – ein seltenes Glück, denn von den unterschiedlichen Vor- und Nachteilen konnte man nur profitieren und als Lehrer, Pflanzenzüchter und Familienernährer trotz einiger Nachteile bis zur Pensionierung auch ganz gut leben. Bei einigen Themen konnte man durch die eigene züchterische Versuchstätigkeit mit Unterstützung der Mitarbeiter sogar wissenschaftliche Publikationen verfassen. Der Höhepunkt war damals für mich aber die Übernahme des Faches Landwirtschaftliche Genetik. So etwas hätte ich mir früher in den kühnsten Träumen nicht vorstellen können. Ich, der ehemalige Dissident, der Andersdenkende, der während des Studiums (Schwerpunkt Tierische Produktion) mehr auf der Mutterstraße als Anhalter auf die Mitnahme wartete, nur selten Vorlesungen besuchte und die damaligen Fachinhalte (die oft durch das politische System bestimmt waren) prinzipiell anzweifelte.
Wie gesagt, man weiß nie, welche Katastrophen und Schicksalsschläge für das spätere Leben letztendlich gut sein können. Man muss eben an die Mutterstraße glauben ...
Nachtrag: Erst nach meiner Studienzeit und Promotion an der Hochschule für Landwirtschaft Brünn wurde in der damaligen Tschechoslowakei der inzwischen weltberühmte Pfarrer und Wissenschaftler Gregor Mendel, der die Grundgesetze der Vererbung in einem kleinen Klostergarten in Brünn entdeckt und erarbeitet hatte, endgültig rehabilitiert. Auch ich konnte nach 1990 das kleine Mendel-Museum in Brünn besuchen.
Und noch etwas: seit 1995 heißt „meine“ damalige Hochschule – und das für immer:
MENDEL-UNIVERSITÄT BRNO (BRÜNN)
Und Genosse T.D. Lyssenko, der einflussreiche frühere Präsident der Leninakademie der Agrarwissenschaften, der Scharlatan – wie man es heute auch in Russland sagen darf – wurde im Jahre 1965/1969 seiner Ämter enthoben und abgesetzt. Doch die Schäden, die er und seine Anhänger und die zahllosen Mitläufer durch diese kommunistisch geprägte und politisch motivierte Ideologie verursachten, waren für das russische und tschechische Volk unermesslich hoch und sind bis heute spürbar.
Genau genommen, handelte es sich damals um einen kritischen Brief an das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei in Prag, den wir gemeinsam mit einigen Studierenden verfassten und mit Angabe unserer Namen nach Prag schickten. Damals etwas Unerhörtes. Da schaust du mein Freund, was? Jan, der Kämpfer für die Gerechtigkeit? Jan – der mutige Dissident?
Die ganze Geschichte fing eigentlich ganz harmlos an. Eines Tages hatten wir (einige Freunde und Mitstudierende) die Nase voll von der staatlich verordneten politischen Verdummung. Der kommunistisch fabrizierte Schrott – heute würde man Fake News dazu sagen – wurde tagtäglich durch Presse, Radio, Kino und Fernsehen gewälzt und wiederholt. Auch an unserer Schule war das Fach Marxismus-Leninismus eine Veranstaltung mit Anwesenheitspflicht. Besonders hier waren wir diesen Halb- und Unwahrheiten ausgesetzt. Beispielsweise war allgemein bekannt, dass aus fotografischen Aufnahmen der Regierungs- und Parteimitglieder die abgesetzten, verhafteten oder unbeliebten Genossen einfach wegretuschiert wurden. Das war die gängige Praxis bereits in Russland bei den Bolschewiki – so stand eines Tages beispielsweise Trotzki nicht mehr neben Lenin. Weg war er. Für immer.
Im Studentenwohnheim Babakovy Koleje in Brünn, wo ich eine Zeitlang wohnte, kam jemand eines abends auf die Idee, dass man den Genossen in Prag wenigstens einmal sagen oder schreiben müsste, was sie falsch machen. Ihnen sagen, dass sie im Namen des Sozialismus meistens einen Haufen Mist bauten, der die Menschen unglücklich macht. Das wäre aber offener Widerstand! Man meckerte und schimpfte in Böhmen und Mähren zwar schon immer ausgiebig, aber kaum jemandem wäre es in den Sinn gekommen, einen kritischen Brief an die Führung der Kommunistischen Partei zu verfassen, geschweige denn zu unterschreiben. Wo doch die genetisch und historisch bedingte Nachgiebigkeit der braven und bequemen böhmischen Seele traditionsgemäß lieber keinen offenen Konflikt wagt – den Prager Frühling und den passiven Widerstand nach der Besetzung ab August 1968 kann man m. M. nach als eine Ausnahme betrachten.
Bei diesem Vorschlag fingen wir herzlich an zu lachen: Einen Protestbrief an diese Betonköpfe, die damals alles, aber auch wirklich alles kontrollierten? Wir hielten uns die Bäuche. Doch das Ergebnis an diesem berühmten Abend lautete: Man muss es machen. Eine Aktion muss her! Und zwar gleich. Wer macht mit? Und was schreiben wir rein? Das war jetzt die entscheidende Frage. Und so wurde in dieser Nacht von unserer Gruppe ein Brief formuliert. Adressiert an die höchste Stelle im tschechoslowakischen Staat, nämlich an das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei in Prag. Wir beschwerten uns in diesem Brief über die zwangsweise Zuteilung der Arbeitsplätze nach dem Studium, die uns höchst ungerecht vorkam. Wir kritisierten das grundsätzliche Misstrauen den Studierenden gegenüber, wir beklagten uns über die ständigen Lügen, mit denen wir leben mussten. Wir kritisierten die Zensur und die Bespitzelung durch die STASI ... Mutig, mutig!, sagte jemand und Dumm, dumm! ein anderer. Fünf von uns haben dann unterschrieben. Name, Hochschule, Adresse. Am nächsten Morgen wurde es abgeschickt. Per Einschreiben.
Uns dämmerte es mit jedem Tag immer mehr, dass wir möglicherweise einen gewaltigen Fehler gemacht hatten. Werden wir vom Studium ausgeschlossen? Verpassen sie uns eine Gehirnwäsche? Gibt es Verhöre und eine gnadenlose Suche nach den Anführern? Fragen über Fragen und keine Antwort. Nur Schweigen ... Erstaunlicherweise geschah dann fast nichts. Wie ich später aus einer sicheren Quelle erfahren habe, schickte das Regime als Antwort lediglich einen „Spürhund“ los. Er kam in einem schwarzen Tatra 603 – damals das beste tschechische Auto – parkte direkt vor unserer Hochschule vor dem Schild: Parken verboten und marschierte zum Rektor.
Und da wir ganz „normale“, etwas naive Studenten (so lautete die spätere Einschätzung) waren, ist er mit seinen Notizen wieder nach Prag zurückgefahren. Das war’s. Außer Spesen nichts gewesen. Irgendwo gab er zwar sicherlich einen Bericht über den Vorfall ab. Über eine nicht ernstzunehmende Aktion einiger studentischer Dummköpfe. Wir hörten auch später überhaupt nichts mehr. Und noch etwas Wesentliches geschah in dieser Nacht der Briefaktion. Ich beschloss endgültig, die mir amtlich zugewiesene Arbeitsstelle zu boykottieren, eine Krankheit zu simulieren und bei der nächsten passenden Gelegenheit dem sozialistischen „Paradies“ den Rücken zu kehren. Um jeden Preis. Denn das Leben ist kurz und sozialistischer Mist bleibt Mist.
Und so wurde definitiv die verrückte Idee geboren, dass ich als Soldat eine mittelschwere psychische Erkrankung vortäuschen könnte. Die Aktion musste aber spätestens während des aktiven Militärdienstes nach Beendigung des Studiums verwirklicht werden ...
Nachtrag: Ach, wie naiv wir damals waren! Die Sache mit dem Brief nach Prag hatte doch Konsequenzen. Aber erst nach Jahrzehnten – nach dem Zerfall des Kommunismus und der ČSSR – der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik – habe ich davon erfahren. Nach 2010 bekam ich nämlich auf Antrag mehrere STASI-Akten aus dem Innenministerium (auf Tschechisch StB – „Staatliche geheime Sicherheit“ – ähnlich aufgebaut wie die ostdeutsche STASI und der damalige russische KGB) ausgehändigt. Der Einfachheit halber benutze ich für die tschechische StB – wie bereits erwähnt – weiterhin nur den bekannteren Begriff STASI.
Auch „meine“ Akten sind nicht vollständig, denn vieles wurde von der STASI nach der Samtenen Revolution ab Ende 1989 bis zu ihrer Auflösung im März 1990 vernichtet. Doch ein Bericht über die damalige studentische Briefaktion und meine Person blieb erhalten. Mit dem Vermerk „politisch unzuverlässig“. Einiges konnte ich später auch beim Recherchieren im Internet (cibulka.cz, abscr.cz) und persönlich im Archiv der STASI in Prag nach 2010 bis 2020 finden.
Allerdings war ich nicht der einzige Betroffene: Mehrere Hunderttausend Namen befanden sich nachweislich in den Unterlagen der tschechischen STASI; bis März 1990 war diese Behörde aktiv. Es war ein gigantischer, menschenfeindlicher Schnüffel-Apparat war das. Schon deshalb musste das ganze verlogene kommunistisch-politische System zugrunde gehen, denn ...
... einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ gibt es m. M. nach nicht. Die einzige Gelegenheit dazu hat man durch den militärischen Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei am 21. August 1968 für immer verpasst.
Per Autostopp unterwegs zu sein bedeutete mir in diesem grauen sozialistischen tschechoslowakischen Staat mehr als nur ein Transport von A nach B. Es bedeutete mir in den damaligen langweiligen und verlogenen Tagen und Stunden viel mehr. Es war die Freiheit und die Liebe zu „meiner“ Mutterstraße. Oft stand ich am Straßenrand, nur um zu sehen und zu erleben, ob sie und ihre ungeschriebenen Gesetze und die Freiheit noch existieren ... nur weg von dem durch die Kommunistische Partei vorprogrammierten unfreien Leben.
Es war eine Art von Sucht und Sehnsucht. Die Reisen in fremde Städte, zu unbekannten Seen, Wäldern und Bergen, zu Freunden, anderen Studierenden, Bibliotheken, Friedhöfen, Naturschutzgebieten, Talsperren wie die Bystricka in der Walachei, Bücherläden, zerfallenen Burgen, Naturdenkmalen, Lagerfeuern mit Liedern ... diese Reisen als Beifahrer in fremden Autos erfüllten ersatzweise die Träume von Freiheit und Abenteuer in dieser geografisch und damals geistig kleinen Republik. Unbekannte Orte zu entdecken und mit den Freunden über den Sinn des Lebens zu philosophieren, auf der Gitarre zu spielen, mit Bier und Zigarettenrauch die ersehnte Freiheit zu feiern – das waren damals die Höhepunkte. Es konnte doch nicht sein, dass das stumpfe Dahinvegetieren in diesem jämmerlichen politischen System der einzige Sinn des Lebens sein sollte.
Bis zum Horizont und zum Regenbogen fahren. Die Hoffnung auf ein erfülltes Leben zu haben. Dies war im real existierenden Kommunismus nicht vorgesehen, denn die individuelle Lebensqualität zählte nur wenig. Und noch weniger zählte die Freiheit des Wortes und Denkens. Überall wähnte ich damals meinen Traum. Hinter der nächsten Kurve, hinter der nächsten Kreuzung, hinter dem nächsten Berg, Baum und Steinbruch – dort muss es sein – so hoffte ich. Und ich wollte es mit eigenen Augen sehen. Das wahre und erfüllte Leben finden – ohne Zensur, Militär, Bespitzelung und dem ganzen sozialistischen Mist – rief mein Herz. Und das Hirn und Bauchzentrum waren einverstanden.
Es ist ein Mist ist das ... nichts wie weg ... rief ich oft aus, während ich auf der Mutterstraße auf eine Mitfahrgelegenheit wartete. Und so wurde ich ein Teil des Weges, ein Teil meiner Mutterstraße. Wie ein Besessener, der einfach losrennt und erst dann denkt. Ich war es, der die Glückszeichen mit Kalkstein auf die Straßen gekritzelt und auf die Steine und Bäume gepinkelt hat. Das Essen war nicht so wichtig; es reichte ein Rohlik (Brötchen) am Tag, ein Bier und Zigaretten der stinkenden Marke Partisanoder Smart. Oft gab es auch Kantinenessen in der Hochschule Brünn – mit etwas Geschick konnte man dort umsonst eine zusätzliche Knödel- oder Kartoffelportion (natürlich ohne Fleisch) bekommen. Die Straßen gehörten mir. Und das bisschen Glück in den sonst tristen sozialistischen Tagen auch. Tausende Kilometer bin ich in diesen Jahren mitgefahren. Per Autostopp, als Schwarzfahrer oder auch auf Güterzügen. Und das hat sich rumgesprochen ... Und so wurde ich schließlich als mährischer „König des Autostopps“ bekannt und öfters auch so genannt.
Erst später habe ich das Buch Der IKS-Haken (tschechisch Hlava 22) von Joseph Heller gelesen und eine gewisse kleine Ähnlichkeit zwischen der Hauptfigur Yossarian und mir erkannt. Ein zweites fantastisches Buch, Jack Kerouacs Unterwegs, habe ich in einer einzigen langen Nacht durchgelesen und buchstäblich miterlebt. In beiden Büchern, in beiden Geschichten habe ich auch mein eigenes Schicksal mit Träumen, Gedanken, Wünschen und Sehnsüchten erkannt. Oft hatte man beim Autostopp länger auf eine Mitfahrgelegenheit warten müssen. So blieb auch etwas Zeit zum Singen. Dann sang ich das Lied der Mutterstraße:
Gott– du Allmächtiger, Sonne – du Mächtige,
warum habt Ihr mir ein menschliches Herz gegeben,
wenn Ihr nicht wollt, dass jemand anhält –
Und mich mitnimmt ...
Jemand aus Eurem Himmel,
Jemand– der mich in die Ferne zum Regenbogen fährt,
... denn dort muss alles sein,
Alles, wovon ich träume ... die Freiheit und das Ideal ...
Wichtig war beim Winken (mit der rechten Hand und freundlichem Gesicht), einen gepflegten und fröhlichen Eindruck auf die Autofahrer zu machen. Man nimmt ja einen schmutzigen, regennassen, unglücklichen, vermeintlich Unglücksbringenden oder sichtbar Kranken auch aus einem fahrenden Auto wahr. Außerdem – kaum zu glauben, wie viele Fahrer abergläubisch sind und erst in letzter Sekunde spontan entscheiden, ob sie anhalten. Jede Kleinigkeit spielte bei der Kleidung, dem Auftreten und Gesamteindruck eine entscheidende Rolle. Denn das ewige Gesetz der Mutterstraße lautet:
Den Wartenden, die an mich glauben, schenke ich einen Beifahrer-Sitz ... und den Blick hinter den Horizont ... und führe sie zu der heiligen Stelle, an der der Regenbogen verankert steht ... und die Freiheit herrscht ...
Manchmal sang und spielte ich (auf der Gitarre oder dem Banjo, beides leider nicht besonders) während des Wartens das zweite „eigene“ Autostopp-Lied „Božičku“ (deutsch etwa: Mein lieber kleiner Gott). Das ging in etwa so:
Božičku, Božičku, du siehst wo ich bin ...
So stehe ich auf Deiner Mutterstraße,
die Gitarre am Rücken aufgehängt –
auf dem Asphalt erste Regentropfen sichtbar –
wohin werde ich noch heute kommen?
und was dort zu sehen ist ... doch es ist
unwichtig – denn der Weg ist das Ziel ...
Božičku, Božičku – du Herr der Straße,
erfülle bitte meine geheimen Wünsche,
und meinen Traum ...
und schicke mir aus Deinem Himmel
das fahrende Etwas, was mich mitnimmt ...
Dorthin, genau dort, wo ich blicke –