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Der Krieg ist weitergezogen. In einer verlassenen Villa in Florenz sind vier Menschen gestrandet, die Zug um Zug ihre Leidenschaften und Wünsche, ihre Geschichte und Existenz voreinander enthüllen. Ein atemberaubendes Spiel um Tod und Leben beginnt. Der Roman wurde von Anthony Minghalla mit Juliette Binoche, Willam Defoe und Jürgen Prochnow verfilmt.
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Seitenzahl: 417
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Hanser E-Book
Michael Ondaatje
Der englische Patient
Roman
Aus dem Englischen von
Adelheid Dormagen
Carl Hanser Verlag
Die Originalausgabe erschien 1992 unter dem Titel
The English Patient
bei Alfred A. Knopf, New York.
Der Verlag dankt dem Canada Council
für die Förderung der Übersetzung.
ISBN 978-3-446-24829-8
Sonderausgabe 1997
© 1992 Michael Ondaatje
Alle Rechte der deutschen Ausgabe
© 1993/2014 Carl Hanser Verlag München Wien
Schutzumschlag: Peter Hassiepen unter Verwendung einer pompejanischen Wandmalerei aus dem Haus des Caecilius Jucundus
Satz: Fotosatz Reinhard Amann, Aichstetten
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Datenkonvertierung E-Book:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
In Erinnerung an Skip und Mary Dickinson
Für Quintin und Griffin
Und für Louise Dennys, mit Dank
»Die meisten von Ihnen erinnern sich gewiß an die tragischen Umstände des Todes von Geoffrey Clifton im Gilf Kebir und an das spätere Verschwinden seiner Frau Katharine Clifton, das war während der Wüstenexpedition von 1939, auf der Suche nach Zarzura.
Ich möchte die Sitzung heute abend nicht beginnen, ohne mit großer Anteilnahme auf jene tragischen Vorfälle hinzuweisen.
Der Vortrag des heutigen Abends ...«
Aus dem Sitzungsprotokoll der Geographischen Gesellschaft
vom November 194-, London
1
Die Villa
SIE RICHTET SICH auf, im Garten, wo sie gerade gearbeitet hat, und schaut in die Ferne. Sie spürt einen Wetterumschwung. Wieder ein Windstoß, ein Beben in der Luft, und die hohen Zypressen schwanken. Sie dreht sich um und geht hinauf zum Haus, klettert über eine niedrige Mauer und fühlt die ersten Regentropfen auf den bloßen Armen. Sie durchquert die Loggia und betritt rasch das Haus.
In der Küche bleibt sie nicht stehen, sondern eilt hindurch und steigt die Treppe hoch, die im Dunkel liegt, und geht dann weiter die lange Halle entlang, an deren Ende ein Lichtkegel aus einer offenen Tür fällt.
Sie wendet sich dem Zimmer zu, einem zweiten Garten – dieser hier aus Bäumen und Lauben, die auf Wände und Decke gemalt sind. Der Mann liegt auf dem Bett, sein Körper dem Luftzug ausgesetzt, und er wendet den Kopf langsam zu ihr, als sie hereinkommt.
Alle vier Tage wäscht sie seinen schwarzen Körper, angefangen bei den kaputten Füßen. Sie macht einen Waschlappen naß, preßt ihn über seinen Knöcheln zusammen und läßt das Wasser auf ihn tropfen, blickt auf, als er etwas murmelt, und sieht sein Lächeln. Am Schienbein sind die Verbrennungen am schlimmsten. Tiefviolett. Knochen.
Sie pflegt ihn seit Monaten, und sie ist vertraut mit dem Körper, dem wie ein Seepferdchen schlafenden Penis, den mageren, festen Hüften. Christi Hüftknochen, denkt sie. Er ist ihr verzweifelnder Heiliger. Er liegt flach auf dem Rücken, ohne Kopfkissen, und blickt hinauf zum gemalten Blattwerk an der Decke, dem Baldachin aus Zweigen, und zum blauen Himmel darüber.
Sie läßt Calomin in Bahnen über seine Brust rinnen, wo er weniger verbrannt ist, wo sie ihn berühren kann. Sie liebt die Mulde unterhalb der letzten Rippe, diese Klippe aus Haut. Als sie seine Schultern erreicht, bläst sie kühle Luft auf seinen Nacken, und er murmelt etwas.
Was ist? fragt sie, aus ihrer Konzentration heraus.
Er wendet ihr sein dunkles Gesicht mit den grauen Augen zu. Sie fährt mit der Hand in die Tasche. Sie schält die Pflaume mit den Zähnen, entfernt den Kern und schiebt ihm das Fruchtfleisch in den Mund.
Er flüstert wieder, zieht das lauschende Herz der jungen Krankenschwester an seiner Seite dorthin, wo sein Geist gerade weilt, in jenen Brunnen der Erinnerung, in den er während der Monate vor seinem Tod immer wieder eintauchte.
Manche der Geschichten, die der Mann ruhig in das Zimmer hinein erzählt, gleiten wie Falken von Schicht zu Schicht. Er wacht auf in der gemalten Laube, die ihn mit ihren rankenden Blüten umgibt, den Ästen großer Bäume. Er erinnert sich an Picknicks, an eine Frau, die Zonen seines Körpers küßte, die jetzt auberginefarben verbrannt sind.
Ich habe Wochen in der Wüste verbracht, sagt er, und dabei vergessen, zum Mond zu blicken, so wie ein verheirateter Mann Tage verbringen mag, ohne auch nur einmal in das Gesicht seiner Frau zu schauen. Das sind keine Unterlassungssünden, sondern Zeichen der Versunkenheit.
Seine Augen richten sich auf das Gesicht der jungen Frau. Wenn sie den Kopf bewegt, wandert sein starrer Blick hinter ihr her, in die Wand. Sie beugt sich vor. Wie kam es zu Ihren Verbrennungen?
Es ist später Nachmittag. Seine Hände spielen mit einem Stück Laken, die Rückseite seiner Finger streicheln es.
Ich bin brennend in der Wüste abgestürzt.
Sie haben meinen Körper gefunden und mir aus Stöcken ein Boot gemacht und mich durch die Wüste gezogen. Wir waren im Sandmeer, durchquerten hin und wieder ein trockenes Flußbett. Nomaden, verstehen Sie. Beduinen. Ich stürzte hinunter, und selbst der Sand fing Feuer. Sie sahen, wie ich mich nackt daraus erhob. Die Lederkappe auf meinem Kopf in Flammen. Sie schnallten mich auf einen Schlitten, ein Bootsgerippe, und Füße schlugen dumpf auf, als sie mit mir losrannten. Ich hatte die Kargheit der Wüste durchbrochen.
Die Beduinen kannten sich mit Feuer aus. Sie kannten sich mit Flugzeugen aus, die seit 1939 aus der Luft stürzten. Einige ihrer Werkzeuge und Geräte waren aus dem Metall zerschellter Flugzeuge und Panzer gefertigt. Es war die Zeit des Krieges am Himmel. Sie konnten das Dröhnen eines lädierten Flugzeugs erkennen, sie verstanden sich darauf, solche Wracks auszuschlachten. Ein kleiner Metallbolzen vom Cockpit wurde zum Juwel. Ich war vielleicht der erste, der sich lebend aus einer brennenden Maschine erhob. Ein Mann, dessen Kopf in Flammen stand. Sie kannten meinen Namen nicht. Ich kannte ihren Stamm nicht.
Wer sind Sie?
Ich weiß nicht. Ständig fragen Sie mich.
Sie sagten, Sie seien Engländer.
Nachts ist er nie müde genug zum Schlafen. Sie liest ihm aus irgendeinem Buch vor, das sie unten in der Bibliothek auftreiben konnte. Die Kerze flackert über die Seite und über das sprechende Gesicht der jungen Krankenschwester, enthüllt zu dieser Stunde kaum die Bäume und Lichtungen der Wandbemalung. Er hört ihr zu, schluckt ihre Worte wie Wasser.
Wenn es kalt ist, schlüpft sie behutsam in das Bett und legt sich an seine Seite. Nicht das kleinste Gewicht kann sie ihm auflasten, ohne ihm weh zu tun, nicht einmal ihr schmales Handgelenk.
Manchmal ist er um zwei Uhr morgens noch nicht eingeschlafen, die Augen weit offen in der Dunkelheit.
Er konnte die Oase riechen, bevor er sie sah. Das Fließende in der Luft. Dieses Rauschen der Dinge. Palmen und Zügel. Das Aufeinanderschlagen von Blechkanistern, deren tiefer Klang verriet, daß sie mit Wasser gefüllt waren.
Sie gossen Öl auf große weiche Filzstücke und legten sie ihm auf. Er war ein Gesalbter.
Er konnte den einen stummen Mann spüren, der immer an seiner Seite blieb, das Aroma seines Atems, wenn er sich hinabbeugte, um ihn alle vierundzwanzig Stunden bei Einbruch der Nacht auszuwickeln und im Dunkeln seine Haut zu prüfen.
Ohne Hüllen war er wieder der nackte Mann neben dem lodernden Flugzeug. Sie breiteten Schichten von grauem Filz über ihn. Welche große Nation hatte ihn gefunden, dachte er. Welches Land hatte so weiche Datteln hervorgebracht, wie sie von dem Mann an seiner Seite gekaut wurden und dann aus dessen Mund in seinen gelangten. Während der Zeit bei diesen Menschen vermochte er sich nicht daran zu erinnern, woher er stammte. Er hätte, nach allem, was er wußte, der Feind sein können, den er aus der Luft bekämpft hatte.
Später, im Lazarett in Pisa, meinte er, neben sich das Gesicht zu sehen, das jede Nacht gekommen war, die Datteln gekaut und eingeweicht und seinem Mund eingeflößt hatte.
Es gab nichts Farbiges in jenen Nächten. Weder Gespräche noch Gesang. Die Beduinen geboten sich Schweigen, wenn er wach war. Er lag auf einem Hängematten-Altar, und in seiner Eitelkeit stellte er sich Hunderte von ihnen um sich her vor, und es mochten bloß zwei gewesen sein, die ihn gefunden und die Flammengeweihkappe von seinem Kopf gerissen hatten. Jene beiden, die er nur vom Geschmack des Speichels kannte, den er zusammen mit den Datteln aufnahm, oder vom Geräusch ihrer rennenden Füße.
Sie pflegte dazusitzen und zu lesen, das Buch unter flackerndem Licht. Von Zeit zu Zeit schaute sie in die Halle der Villa, einst ein Kriegslazarett, in dem sie mit den anderen Krankenschwestern gewohnt hatte, ehe sie alle nach und nach verlegt wurden, als der Krieg sich nordwärts verzog, als der Krieg sich dem Ende näherte.
Das war die Zeit in ihrem Leben, als sie auf Bücher verfiel, dem einzigen Ausweg aus ihrer Zelle. Sie wurden ihr die halbe Welt. Sie saß am Nachttisch, vornübergebeugt, und las von dem Jungen in Indien, der lernte, sich die unterschiedlichen Juwelen und Objekte in einem Auslagekästchen einzuprägen, von einem Lehrer zum anderen – Lehrer, die ihm Dialekt beibrachten, andere, die sein Erinnerungsvermögen schärften, wieder andere, die ihn lehrten, dem Opium zu entgehen.
Das Buch lag auf ihrem Schoß. Ihr wurde bewußt, daß sie über fünf Minuten auf das poröse Papier gestarrt hatte, das Eselsohr auf der Seite 17, die jemand zur Markierung umgeknickt hatte. Sie wischte mit der Hand über die Oberfläche. Ein Geraschel in ihrem Kopf wie von einer Maus im Gebälk, einem Nachtfalter am dunklen Fenster. Sie blickte die Halle entlang, obwohl niemand sonst jetzt da wohnte, niemand außer dem englischen Patienten und ihr in der Villa San Girolamo. Sie hatte ausreichend Gemüse angepflanzt in dem zerbombten Obstgarten unterhalb des Hauses, damit sie überleben konnten, und ein Mann kam ab und zu aus der Stadt, bei dem sie Seife und Laken und was sonst in diesem Kriegslazarett zurückgeblieben war, gegen andere lebensnotwendige Dinge tauschte. Bohnen, etwas Fleisch. Der Mann hatte ihr zwei Flaschen Wein dagelassen, und jede Nacht, nachdem sie sich zu dem Engländer gelegt hatte und er eingeschlafen war, goß sie sich feierlich einen kleinen Becher voll und trug ihn zum Nachttisch zurück, direkt vor der dreiviertel geschlossenen Tür, und arbeitete sich schlückchenweise in dem Buch voran, das sie gerade las.
Und so hatten die Bücher für den Engländer, ob er nun aufmerksam zuhörte oder nicht, Lücken in der Handlung, wie Abschnitte einer Straße, die vom Unwetter ausgewaschen sind, fehlende Ereignisse, als hätten Heuschrecken Teile eines Gobelins aufgefressen, als wäre Gips, bröcklig vom Bombardement, nachts von einem Wandgemälde abgefallen.
Die Villa, die sie und der Engländer jetzt bewohnten, war dem sehr ähnlich. Einige Räume konnten wegen des Schutts nicht betreten werden. Ein Bombenkrater ließ unten in der Bibliothek Mond und Regen ein – wo in einer Ecke ein ewig durchnäßter Sessel stand.
Sie machte sich, was die lückenhafte Handlung betraf, wegen des Engländers keine Sorgen. Sie gab keine Zusammenfassung der fehlenden Kapitel. Sie brachte einfach das Buch zum Vorschein und sagte: Seite sechsundneunzig, oder: Seite hundertelf. Nur darauf legte sie sich fest. Sie hob seine Hände an ihr Gesicht und roch daran – noch war Geruch von Krankheit an ihnen.
Ihre Hände werden rauh, sagte er.
Das Unkraut und die Dornen und das Graben.
Seien Sie vorsichtig. Ich habe Sie vor den Gefahren gewarnt.
Ich weiß.
Dann begann sie zu lesen.
Ihr Vater hatte ihr das mit den Händen beigebracht. Das mit den Hundepfoten. Immer wenn ihr Vater mit einem Hund allein im Haus war, beugte er sich vor und roch am Ballen einer Pfote. Das ist, sagte er gern, als höbe er seine Nase aus einem Kognakschwenker, der herrlichste Geruch auf der Welt! Ein Bukett! Herrliche Herumstromergerüche! Sie tat immer, als ekelte sie sich davor, aber die Hundepfote war wirklich ein Wunder: ihr Geruch ließ nie an Schmutz denken. Das ist eine Kathedrale! hatte ihr Vater gesagt, kommt gerade aus dem und dem Garten, von der Grasfläche, ein Streifzug durch Alpenveilchen – ein Konzentrat von Duftspuren all der Wege, die das Tier im Lauf des Tages zurückgelegt hatte.
Ein Geraschel im Gebälk wie von einer Maus, und sie blickte wieder vom Buch auf.
Sie lösten ihm die Kräutermaske vom Gesicht. Am Tag der Sonnenfinsternis. Sie hatten darauf gewartet. Wo war er? Welche Zivilisation war das, in der man sich auf Wetter- und Lichtvorhersagen verstand? El Ahmar oder El Abyadd, denn es mußte einer der nordwestlichen Wüstenstämme sein. Die einen Mann aus der Luft einfangen konnten, die seinem Gesicht eine Maske aus geflochtenen Oasenschilfhalmen auflegten. Er hatte jetzt eine Orientierung an den Gräsern. Sein liebster Garten auf der ganzen Welt war der Gräsergarten in Kews gewesen, Farben, so delikat und vielfältig wie Ascheschichten auf einem Berg.
Er starrte auf die Landschaft unter der Sonnenfinsternis. Sie hatten ihm mittlerweile beigebracht, die Arme zu heben und Kraft aus dem Universum in seinen Körper zu ziehen, so wie die Wüste Flugzeuge herunterzog. Er wurde in einem Palankin aus Filz und Zweigen getragen. Er sah, wie sich die Feuerlinien von Flamingos quer über sein Blickfeld bewegten, im Halbdunkel der verdeckten Sonne.
Immer gab es Salben oder Dunkelheit für seine Haut. Eines Nachts war ihm, als hörte er ein Wind-Glockenspiel hoch in der Luft, und nach einer Weile verstummte es, und er schlief mit Sehnsucht nach diesem Geräusch ein, vergleichbar einem sich verzögernden Ton aus der Kehle eines Vogels, vielleicht eines Flamingos, oder eines Wüstenfuchses, den sich einer der Männer in einer halboffenen Sondertasche seines Burnusses hielt.
Am nächsten Tag hörte er, als er wieder filzbedeckt dalag, Bruchstücke des gläsernen Tons. Ein Geräusch aus der Dunkelheit. Bei Dämmerung wurde der Filz abgelöst, und er sah einen Männerkopf auf einem Tisch, der sich zu ihm hinbewegte, dann wurde ihm klar, daß der Mann ein riesiges Schultergeschirr trug, an dem Hunderte von Fläschchen an unterschiedlich langen Schnüren und Drähten hingen. In der Bewegung wie ein Teil eines Glasvorhangs, sein Körper eingeschlossen in diesem gläsernen Rund.
Die Gestalt glich am ehesten jenen Darstellungen von Erzengeln, die er als Schuljunge abzeichnen wollte, ohne je das Problem zu lösen, wie ein einzelner Körper Raum für die Muskeln solcher Schwingen haben konnte. Der Mann ging mit langsam ausgreifenden Schritten derart ruhig, daß die Fläschchen kaum in Bewegung gerieten. Eine Welle von Glas, ein Erzengel, alle Salben in den Fläschchen von der Sonne erhitzt, und wenn sie in die Haut eingerieben wurden, war es, als sei ihre Wärme eigens zum Wundheilen da. Hinter ihm war das Licht verwandelt – Blautöne und andere Farben, die in Dunst und Sand flimmerten. Das schwache Glasgeräusch und die Farbschattierungen und der königliche Gang und sein Gesicht hager wie ein dunkles Gewehr.
Oben am Abschluß war das Glas uneben, vom Sand mattgeschliffen, Glas, das seine Zivilisationsmerkmale eingebüßt hatte. Jedes Fläschchen hatte einen winzigen Korken, den der Mann mit seinen Zähnen herauszog und zwischen den Lippen hielt, während er den Inhalt eines Fläschchens mit dem eines anderen vermengte, den zweiten Korken ebenfalls zwischen den Zähnen. Er wachte mit seinen Schwingen über den hingestreckten verbrannten Körper, rammte zwei Stöcke tief in den Sand und löste sich, befreit von der fast zwei Meter breiten Schultertrage, die nun auf den Gabeln der beiden Stöcke im Gleichgewicht ruhte. Er kam unter seinem Laden hervor. Er sank auf die Knie, näherte sich dem verbrannten Piloten und legte seine kühlen Hände auf dessen Nacken und hielt sie dort.
Jeder auf der Kamelroute vom Sudan nordwärts nach Giza, der Straße der Vierzig Tage, kannte ihn. Er stieß zu den Karawanen, handelte mit Gewürzen und Tinkturen und zog zwischen Oasen und Wasserlagern hin und her. Er lief mit diesem Flaschenumhang durch Sandstürme, die Ohren mit zwei weiteren kleinen Korken verschlossen, so daß er sich selbst wie ein Gefäß vorkam, dieser Händler-Medizinmann, dieser König der Öle und Wohlgerüche und Allheilmittel, dieser Täufer. Er erschien im Karawanenlager und postierte vor jedem, der krank war, den Flaschenvorhang.
Er kauerte sich neben den Verbrannten. Er formte mit seinen Fußsohlen eine Hautschale und lehnte sich zurück, um, ohne auch nur hinzublicken, nach bestimmten Fläschchen zu greifen. Beim Entkorken eines jeden Fläschchens fielen die Düfte heraus. Da war der Geruch des Meeres. Der Hauch von Rost. Indigo. Tinte. Flußschlamm Pfeilholz Formaldehyd Paraffin Äther. Eine wirre Duftflut. Schreie von Kamelen in der Ferne, wenn sie Witterung aufnahmen. Er begann grünschwarze Paste auf den Brustkorb zu streichen. Sie bestand aus gemahlenen Pfauenknochen, erhandelt in irgendeiner Medina weiter im Westen oder im Süden – das wirksamste Hautheilmittel.
ZWISCHEN DER KÜCHE und der zerstörten Kapelle führte eine Tür in eine Bibliothek von ovalem Grundriß. Der Innenraum schien sicher, nur daß da ein großes Loch in Bildhöhe an der hintersten Wand war, entstanden bei einem Granatfeuerangriff auf die Villa zwei Monate zuvor. Das Zimmer hatte sich dieser Wunde angepaßt, nahm die Gewohnheiten des Wetters hin, den Abendstern, Vogellaute. Es gab darin ein Sofa, ein Klavier, von grauem Leintuch verhüllt, einen ausgestopften Bärenkopf und hohe Buchwände. Die Regale neben der zerrissenen Wand waren vom Regen verzogen, der das Gewicht der Bücher verdoppelt hatte. Auch Blitze drangen in den Raum, immer wieder, warfen ihr Licht über das verhüllte Klavier und den Teppich.
Am hinteren Ende war eine Glastür, mit Brettern vernagelt. Sonst hätte sie durch diese Tür von der Bibliothek bis zur Loggia gehen können, dann die sechsunddreißig Büßerstufen hinunter an der Kapelle vorbei bis zu dem, was einst eine Wiese war, jetzt aber durch Phosphorbomben und Granateinschläge verunstaltet. Das deutsche Heer hatte viele der Häuser, aus denen es sich zurückzog, vermint, so daß die meisten nicht gebrauchten Räume, wie dieser hier, zur Sicherheit versiegelt waren, die Türen verbarrikadiert.
Sie wußte um diese Gefahren, als sie in den Raum schlüpfte, in sein Nachmittagsdunkel. Sie blieb stehen, war sich plötzlich ihres Körpergewichts auf dem Holzboden bewußt und dachte, daß es wahrscheinlich ausreichen würde, jeden Mechanismus auszulösen, den es darin geben mochte. Ihre Füße im Staub. Das einzige Licht ergoß sich durch das ausgezackte Granatloch, das sich gegen den Himmel öffnete.
Mit einem knackenden Trennlaut, als würde er aus einer ungeteilten Einheit gebrochen, zerrte sie den Letzten Mohikaner heraus, und selbst in diesem Halblicht munterten der aquamarinblaue Himmel und der See des Umschlagbildes sie auf, der Indianer im Vordergrund. Und dann, als wäre jemand im Raum, der nicht gestört werden durfte, ging sie rückwärts, in ihren eigenen Spuren, zur Sicherheit, doch auch als Teil eines privaten Spiels, so würde es von den Fußabdrücken her den Anschein haben, als hätte sie den Raum zwar betreten, als hätte ihr Körper sich dann aber aufgelöst. Sie schloß die Tür und brachte das warnende Siegel wieder an.
Sie setzte sich im Zimmer des englischen Patienten in die Fensternische, die bemalten Wände an der einen Seite, das Tal an der anderen. Sie öffnete das Buch. Die Seiten waren in einer steifen Welle aneinandergefügt. Sie kam sich wie Crusoe vor, der ein untergegangenes Buch findet, das ans Ufer geschwemmt und schon getrocknet ist. Ein Bericht über das Jahr 1757. Illustriert von N. C. Wyeth. Wie bei allen kostbaren Büchern war da die wichtige Seite mit der Liste der Illustrationen, jeweils eine Textzeile.
Sie trat in die Geschichte ein, im Bewußtsein, daraus mit einem Gefühl hervorzukommen, als wäre sie in das Leben anderer eingetaucht, in Handlungen, die zwanzig Jahre zurückreichten, ihr ganzer Körper von Sätzen und Augenblicken erfüllt, als erwachte sie aus einem Schlaf mit der Schwere vergessener Träume.
Ihr italienisches Bergstädtchen, Wachtposten für die Nordwest-Route, war über einen Monat lang belagert gewesen, wobei sich das Sperrfeuer auf die beiden Villen und das von Apfel- und Pflaumengärten umgebene Kloster konzentriert hatte. Da war die Villa Medici, in der die Generäle wohnten. Direkt oberhalb die Villa San Girolamo, ein ehemaliges Nonnenkloster, dessen burgähnliche Zinnen es zur letzten Festung des deutschen Heers gemacht hatten. Hundertschaften hatte man dort einquartiert. Als das Bergstädtchen wie ein Schlachtschiff auf See von Brandbomben auseinandergerissen zu werden drohte, zogen die Trupps aus den Militärzelten im Obstgarten in die nun überfüllten Dormitorien des alten Nonnenklosters. Teile der Kapelle wurden gesprengt. Partien der obersten Etage der Villa zerfielen bei Detonationen. Als die Alliierten schließlich das Gebäude einnahmen und es zum Lazarett machten, wurde die Treppe zur dritten Ebene abgesperrt, obwohl ein Teil des Schornsteins und des Daches standgehalten hatten.
Sie und der Engländer hatten darauf bestanden zurückzubleiben, als die anderen Krankenschwestern und Patienten sich zu einem sicheren Standort weiter südlich begaben. In dieser Zeit hatten sie bitter gefroren, keine Elektrizität. Einige Räume öffneten sich zum Tal, ohne eine einzige Wand. Es konnte geschehen, daß sie eine Tür aufstieß und ein aufgeweichtes Bett sah, in eine Ecke geschmiegt, von Laub bedeckt. Oder die Landschaft. Einige Räume waren zu offenen Vogelhäusern geworden.
Die Treppe hatte im Feuer, das die Soldaten vor ihrem Abzug legten, die unteren Stufen verloren. Sie war in die Bibliothek gegangen, hatte sich zwanzig Bücher genommen und auf den Fußboden genagelt, dann eines aufs andere, und so die beiden untersten Stufen ersetzt. Die Stühle waren fast alle zum Verfeuern gebraucht worden. Der Sessel in der Bibliothek war dort geblieben, weil er ständig feucht war, durchnäßt von den abendlichen Gewitterschauern, die durch das Granatloch drangen. Was feucht war, entkam in jenem April 1945 dem Verbrennen.
Nur wenige Betten waren noch übrig. Sie selbst zog lieber mit ihrer Schlafdecke oder Hängematte im Haus herum, schlief manchmal im Zimmer des englischen Patienten, manchmal in der Halle, je nach Temperatur, Wind und Licht. Am Morgen rollte sie ihre Schlafdecke zusammen und verschnürte sie zu einem Rad. Jetzt war es wärmer, und sie machte weitere Räume auf, ließ frische Luft in dunkle Bereiche ein und Sonnenlicht die Feuchtigkeit auftrocknen. In manchen Nächten öffnete sie Türen und schlief in Räumen, denen Wände fehlten. Sie legte sich am äußersten Ende auf die Schlafdecke, mit Blick auf die wandernde Landschaft der Sterne und ziehenden Wolken, erwachte von Donnergrollen und Blitzen. Sie war zwanzig Jahre alt und verrückt und dachte in dieser Zeit nicht an Sicherheit, kümmerte sich nicht um die Gefährlichkeit der vielleicht verminten Bibliothek oder des Unwetters, das sie nachts überraschte. Sie war unruhig nach den kalten Monaten, in denen sie sich auf dunkle, geschützte Plätze beschränken mußte. Sie betrat Zimmer, von Soldaten verdreckt, Zimmer, deren Mobiliar verfeuert war. Sie entfernte Laub und Kot und Urin und verkohlte Tische. Sie lebte wie eine Landstreicherin, während der englische Patient königlich in seinem Bett ruhte.
Von außen sah das Anwesen vollständig verwüstet aus. Eine Treppe im Freien endete irgendwo in der Luft, das Geländer abgebrochen. Das Leben hier war Herumstöbern und tastende Sicherheit. Nachts hatten sie nur das unbedingt erforderliche Kerzenlicht wegen der Banditen, die alles zerstörten, was ihnen in die Finger geriet. Geschützt waren sie durch die simple Tatsache, daß die Villa ein Trümmerhaufen schien. Aber sie fühlte sich sicher hier, halb Erwachsene, halb Kind. Nach dem, was ihr während des Krieges widerfahren war, gab sie sich selbst einige wenige Regeln. Sie würde sich nicht wieder herumkommandieren lassen oder Aufgaben zu einem höheren Wohl erledigen. Sie würde sich nur um den verbrannten Patienten kümmern. Sie würde ihm vorlesen und ihn waschen und ihm seine Dosis Morphium geben – nur mit ihm gab es eine Verbindung.
Sie arbeitete im Garten und bei den Obstbäumen. Sie trug das fast zwei Meter große Kruzifix aus der zerbombten Kapelle und benutzte es als Vogelscheuche über ihrem Saatbeet, befestigte leere Sardinenbüchsen daran, die klapperten und rasselten, sobald Wind aufkam. Drinnen in der Villa war es für sie ein Schritt aus Trümmern zu einer kerzenerleuchteten Nische, wo ihr ordentlich gepackter Koffer stand, der außer einigen Briefen kaum etwas enthielt, ein paar zusammengerollte Kleidungsstücke, einen Metallbehälter mit medizinischem Bedarf. Sie hatte nur einige wenige Winkel in der Villa gesäubert, und all das konnte sie, wenn sie wollte, niederbrennen.
Sie zündet ein Streichholz in der dunklen Halle an und hält es an den Docht der Kerze. Licht hebt sich zu ihren Schultern. Sie ist auf den Knien. Sie legt die Hände auf ihre Schenkel und atmet den Schwefelgeruch ein. Sie stellt sich vor, sie könne auch das Licht einatmen.
Sie rückt ein paar Zentimeter zurück und zeichnet mit einem Stück weißer Kreide ein Rechteck auf den Holzboden. Dann noch etwas zurück, sie zeichnet weitere Rechtecke, so daß eine Stufenpyramide entsteht, einfach, dann doppelt, dann einfach, ihre linke Hand ist flach auf den Boden abgestützt, der Kopf gesenkt, ernst. Sie rückt immer mehr vom Licht weg. Bis sie sich auf die Fersen zurücklehnt und in der Hocke dasitzt.
Sie steckt die Kreide in ihre Rocktasche. Sie steht auf und nimmt den locker sitzenden Rock hoch und macht ihn an der Taille fest. Sie holt aus einer zweiten Tasche ein Metallstück und wirft es vor sich hin, so daß es genau hinter das entfernteste Viereck fällt.
Sie springt nach vorn, landet mit Wucht, ihr Schatten rollt sich hinter ihr in der Tiefe der Halle zusammen. Sie ist sehr schnell, ihre Tennisschuhe rutschen auf den Zahlen, die sie in jedes Rechteck gezeichnet hat, erst mit dem einen Fuß aufkommend, dann mit beiden Füßen, dann wieder mit dem einen, bis sie das letzte Viereck erreicht.
Sie bückt sich und hebt das Metallstück auf, verharrt in dieser Stellung, bewegungslos, den Rock noch immer oberhalb der Schenkel geschürzt, die Hände hängen locker herab, sie atmet heftig. Sie holt tief Luft und bläst die Kerze aus.
Jetzt ist sie im Dunkeln. Nur eine Ahnung von Rauch.
Sie springt hoch und dreht sich in der Luft, so daß sie beim Aufkommen in die entgegengesetzte Richtung blickt, hüpft dann noch unbändiger in die schwarze Halle vor, immer noch auf den Vierecken landend, von denen sie weiß, daß sie da sind, ihre Tennisschuhe prallen klatschend auf den dunklen Boden – und so hallt das Geräusch hinaus in die fernen Bereiche der verlassenen italienischen Villa, hinaus zum Mond und zu einer tief einschneidenden Schlucht, die das Gebäude im Halbkreis umschließt.
Manchmal spürt der Verbrannte nachts ein schwaches Beben im Gebäude. Er stellt sein Hörgerät lauter, um ein klatschendes Geräusch einzufangen, das er noch nicht deuten oder lokalisieren kann.
Sie nimmt das Notizbuch, das auf dem Tischchen neben seinem Bett liegt. Dieses Buch hat er durchs Feuer gerettet – ein Exemplar der Historien von Herodot, das er ergänzt hat, indem er Seiten aus anderen Büchern ausgeschnitten und eingeklebt hat, dazu eigene handschriftliche Beobachtungen – so ist alles eingebettet in den Herodot.
Sie liest nun seine kleine, knorrige Schrift.
Es gibt einen Wirbelsturm in Südmarokko, den aajej, vor dem sich die Fellachen mit Messern schützen. Es gibt den africo, der zuzeiten bis in die Stadt Rom vorgedrungen ist. Den alm, einen Fallwind aus Jugoslawien. Den arifi, auch aref oder rifi getauft, der mit vielerlei Zungen versengt. Dies sind beständige Winde, die in der Gegenwart leben.
Es gibt andere, weniger konstante Winde, die ihre Richtung ändern, die Pferd und Reiter niederschmettern und sich gegen den Uhrzeigersinn wieder ausrichten können. Der bist roz fällt schlagartig in Afghanistan ein, für hundertsiebzig Tage – begräbt Dörfer. Es gibt den heißen, trockenen ghibli aus Tunis, der sich dahinwälzt und Gereiztheit verbreitet. Den haboob – einen Staubsturm aus dem Sudan, der sich in tausend Meter hohe, leuchtendgelbe Wände hüllt und Regen mit sich führt. Den harmattan, der dahintreibt und sich schließlich selbst im Atlantik ertränkt. Imbat, eine Seebrise in Nordafrika. Einige Winde, die nur zum Himmel seufzen. Nächtliche Staubstürme, die mit der Kälte kommen. Khamsin, eine Staubwolke in Ägypten, von März bis Mai, benannt nach dem arabischen Wort für »fünfzig«, die sich fünfzig Tage lang auftürmt – die neunte Plage Ägyptens. Datoo aus Gibraltar, der Wohlgeruch mit sich bringt.
Es gibt auch den »...«, den geheimen Wüstenwind, dessen Name von einem König getilgt wurde, nachdem sein Sohn darin umkam. Und den nafhat – einen Sturm aus Arabien. Den mezzar-ifoullousen – einen heftigen und kalten Südwestwind, bei den Berbern bekannt als »der, der das Federvieh rupft«. Beshabar, einen schwarzen und trockenen Nordostwind aus dem Kaukasus, »schwarzer Wind«. Den samiel aus der Türkei, »Gift und Wind«, oft in Kämpfen eingesetzt. So wie die anderen »Giftwinde«, den simoom aus Nordafrika und den solano, dessen Staub seltene Blumenblätter abpflückt und Schwindel hervorruft.
Andere, private Winde.
Die den Boden entlangfahren wie eine Flut. Farbe verbrennen, Telefonmasten umstürzen, Steine und Köpfe von Statuen mit sich führen. Der harmattan weht über die Sahara, voll mit rotem Staub, Staub wie Feuer, wie Mehl, der in Gewehrverschlüsse eindringt und dort ausflockt. Seefahrer nannten diesen roten Wind »Meer der Dunkelheit«. Rote Sandnebel aus der Sahara setzten sich weit nördlich nieder, bis nach Cornwall und Devon, und mit ihnen kamen Schlammschauer, so dicht, daß man sie auch für Blut hielt. »Weit verbreitet waren Berichte über Blutregen in Portugal und Spanien im Jahre 1901.«
Millionen Tonnen von Staub sind immer in der Luft, genauso wie Millionen Kubikmeter Luft in der Erde sind und mehr lebendes Getier im Boden (Würmer, Käfer, unterirdische Geschöpfe), als darauf kreucht und fleucht. Herodot überliefert den Tod mehrerer Heere, die vom simoom verschlungen und nie mehr gesehen wurden. Ein Volk war »so erzürnt über diesen bösen Wind, daß es ihm den Krieg erklärte und in geschlossener Schlachtordnung hinausmarschierte, nur um rasch und vollständig beerdigt zu werden«.
Staubstürme in dreierlei Form. Der Wirbel. Die Säule. Das Laken. In der ersten Form ist der Horizont entschwunden. In der zweiten ist man von »tänzelnden Dschinns« umringt. Die dritte Form, das Laken, ist »kupferfarben. Die Natur scheint in Flammen zu stehen«.
Sie schaut vom Notizbuch auf und sieht seine Augen auf sich gerichtet. Durch die Dunkelheit hindurch beginnt er zu sprechen.
Die Beduinen hielten mich aus einem bestimmten Grund am Leben. Ich war nützlich, verstehen Sie. Einer dort vermutete, ich müsse wohl eine Fähigkeit besitzen, als mein Flugzeug in der Wüste abgestürzt war. Ich bin jemand, der eine ungenannte Stadt an ihrer skelettartigen Form auf einer Karte erkennen kann. Ich habe immer Informationen in mir gespeichert, wie ein Meer. Ich bin jemand, der, wenn er in einer fremden Wohnung allein gelassen wird, zum Bücherregal geht, einen Band herauszieht und ihn sich einsaugt. So dringt Geschichte in uns ein. Ich kannte mich aus mit Karten vom Meeresgrund, mit Karten, die Schwachpunkte im Schutzschirm der Erde wiedergeben, mit Schaubildern auf Tierhäuten, die die unterschiedlichen Routen der Kreuzzüge zeigen.
Und darum kannte ich ihre Gegend, bevor ich in ihrer Mitte abstürzte, wußte, wann Alexander in einem früheren Zeitalter hindurchgezogen war, aus diesem Grund, aus jener Gier. Ich kannte mich aus mit den Bräuchen der Nomaden, die sich an Seide berauschten oder Brunnen. Ein Stamm färbte eine ganze Talsohle, schwärzte sie, um die vertikale Zufuhr von Luftmasse zu verstärken und dadurch die Möglichkeit von Regen, und errichtete hohe Gerüste, um die Unterseite einer Wolke anzubohren. Es gab Stämme, die ihre offenen Handflächen gegen aufkommenden Wind hochhielten. Die glaubten, wenn das im rechten Augenblick geschähe, könnten sie einen Sturm in ein angrenzendes Wüstengebiet ablenken, zu einem anderen, weniger geliebten Stamm. Ständiges Ertrinken, Stämme, die plötzlich zu Geschichte wurden, mit Sand über ihrem letzten Atemzug.
Aber in der Wüste ist es leicht, das Gefühl der Demarkation zu verlieren. Als ich aus der Luft kam und in die Wüste abstürzte, in jene Furchen aus Gelb, war alles, was mir durch den Kopf ging, ich muß mir ein Floß bauen ... ich muß mir ein Floß bauen.
Und hier wußte ich, obwohl ich im trockenen Sandgebiet war, daß ich mich bei einem Wasservolk aufhielt.
In Tassili habe ich Felszeichnungen aus einer Zeit gesehen, als die Saharabewohner in Binsenbooten Jagd auf Walrösser machten. Im Wadi Sura sah ich Höhlen, deren Wände mit Zeichnungen von Schwimmern bedeckt waren. Hier war einst ein See gewesen. Ich konnte ihnen seinen Umriß auf eine Wand zeichnen. Ich konnte sie an seinen Rand führen, das war sechstausend Jahre früher.
Fragt man einen Seemann, welches das älteste bekannte Segel ist, wird er das trapezförmige am Mast eines Binsenbootes beschreiben, das man auf Felszeichnungen in Nubien sehen kann. Vordynastisch. Immer noch findet man Harpunen in der Wüste. Es war ein Wasservolk. Selbst heute gleichen Karawanen Flüssen. Und dennoch, heute ist Wasser das Fremde hier. Wasser ist das Vertriebene und wird in Kanistern und Thermosflaschen zurückgetragen, der Geist zwischen deinen Händen und deinem Mund.
Als ich mich zu ihnen verirrt hatte, unsicher, wo ich war, benötigte ich nur den Namen einer Hügelkette, eines örtlichen Brauchs, eine Zelle dieses historischen Tieres, und die Welt käme wieder ins Lot.
Was wußten denn die meisten von uns über solche Gegenden in Afrika? Die Heere am Nil rückten vor und zurück – ein Schlachtfeld, eintausenddreihundert Kilometer wüsteneinwärts. Panzerkampfwagen, Blenheim-Mittelstreckenbomber. Gladiator-Doppeldecker-Jagdflugzeuge. Achttausend Mann. Aber wer war der Feind? Wer waren die Verbündeten auf diesem Schauplatz – in den fruchtbaren Landstrichen der Kyrenaika, den Salzsümpfen von El Agheila? Ganz Europa kämpfte seine Kriege in Nordafrika, in Sidi Rezegh, in Baguoh.
Er reiste fünf Tage lang in Dunkelheit auf einem Schlitten hinter den Beduinen, die Plane über seinem Körper. Eingehüllt in diesen ölgetränkten Filz lag er da. Dann fiel plötzlich die Temperatur. Sie hatten das Tal erreicht, umgeben von den hohen roten Cañonwänden, und gesellten sich zum Rest des Wüsten-Wasserstamms, der über Sand und Steine glitt und strömte, und ihre blauen Gewänder changierten wie schaumige Milch, wie Schwingen. Sie entfernten den Filz von ihm, von seinem Körper, der ihn mit saugendem Geräusch freigab. Er war nun im größeren Schoß des Canon. Die Bussarde hoch über ihnen, die tausend Jahre hinabglitten in diese Steinspalte hinein, wo sie zelteten.
Am Morgen nahmen sie ihn zum äußeren Ende des siq. Sie redeten jetzt laut um ihn herum. Dialekt, der sich mit einem Mal aufhellte. Er war hier wegen der vergrabenen Gewehre.
Man trug ihn zu etwas hin, sein Gesicht mit den verbundenen Augen geradeaus gerichtet, und ließ ihn seine Hand etwa einen Meter ausstrecken. Nach Tagen des Reisens diese eine Bewegung von einem Meter. Sich vorbeugen und etwas zu einem bestimmten Zweck berühren, sein Arm immer noch festgehalten, seine offene Handfläche nach unten zeigend. Er berührte den Gewehrlauf, und die Hand ließ ihn los. Ein Innehalten der Stimmen. Er war da, um die Gewehre zu übersetzen.
»12mm-Breda-Maschinengewehr. Aus Italien.«
Er zog den Bolzen zurück, steckte den Finger in die Kammer, spürte keine Patrone, schob den Bolzen zurück und drückte ab. Puht. »Berühmtes Gewehr«, murmelte er. Er wurde wieder nach vorne bewegt.
»Französische 7,5mm-Châtellerault. Leichte Maschinenpistole. 1924.«
»Deutsche 7,9mm-MG-15-Luftwaffe.«
Er wurde zu jedem der Gewehre gebracht. Die Waffen schienen aus verschiedenen Zeiträumen zu stammen und aus vielen Ländern, ein Museum in der Wüste. Er umfuhr Schaft und Magazin mit der Hand oder befingerte die Kimme. Er verkündete den Namen des Gewehrs, wurde dann zu einem anderen Gewehr getragen. Acht Gewehre, die ihm feierlich gereicht wurden. Er rief die Namen mit lauter Stimme, auf französisch, anschließend in ihrer eigenen Stammessprache. Aber was bedeutete ihnen das alles? Vielleicht brauchten sie den Namen nicht, sondern wollten bloß wissen, daß er wußte, um welches Gewehr es sich handelte.
Wieder hielt man ihn am Handgelenk fest, und seine Hand tauchte in einen Behälter mit Patronen. In einem zweiten Behälter zur Rechten lagerten weitere Geschoßhülsen, diesmal 7mm-Patronen. Dann andere.
Als Kind war er bei einer Tante aufgewachsen, und auf ihrem Rasen hatte sie einen Pack Karten mit Bild nach unten verstreut und ihm Memory beigebracht. Jeder Spieler durfte zwei Karten aufdecken und konnte, je nach Gedächtnis, dabei ein Paar zusammenstellen. Das war in einer anderen Landschaft gewesen mit Forellenbächen, Vogelrufen, die er an einem stockenden Bruchstück erkennen konnte. Eine vollständig benannte Welt. Jetzt, mit verbundenen Augen und einer Maske aus Gräsern, hob er ein Geschoß auf und rückte mit seinen Trägern vor, lotste sie zu einem Gewehr, schob die Patrone hinein, verriegelte es, hielt es in die Luft und feuerte. Das Geräusch brach sich wie toll an den Cañonwänden. »Denn das Echo ist die Seele der Stimme, die sich in Hohlräumen erregt.« Ein Mann, den man für verdrossen und verrückt hielt, hatte diesen Satz in einem englischen Krankenhaus hingeschrieben. Und er, in dieser Wüste jetzt, war geistig gesund, klar im Denken, nahm die Karten auf, stellte sie mühelos zusammen, wobei er seine Tante mit einem verschmitzten Lächeln bedachte, und feuerte nach jeder erfolgreichen Kombination in die Luft, und nach und nach antworteten die unsichtbaren Männer um ihn herum mit Beifall auf jeden Schuß. Er wandte sein Gesicht in eine bestimmte Richtung, bewegte sich dann zurück, diesmal zum Breda-M6, auf seinem seltsamen menschlichen Palankin, gefolgt von einem Mann mit einem Messer, der einen übereinstimmenden Code auf Patronenbehälter und Schaft einschnitzte. Es tat ihm gut – die Bewegung und die Beifallsrufe nach der Einsamkeit. Sein Können war das Entgelt für die Männer, die ihn zu diesem Zweck gerettet hatten.
Es gibt Dörfer, zu denen er mit ihnen reist, wo keine Frauen sind. Sein Wissen wird wie eine Nützlichkeitsmünze von Stamm zu Stamm gereicht. Stämme, die achttausend Einzelwesen umfassen. Er wird hineingezogen in jeden eigenen Brauch, in jede eigene Musik. Die Augen meist verbunden, hört er die Gesänge des Mzina-Stammes beim Wasserschöpfen, mit ihren Jubelschreien, hört dahhiya-Tänze, Rohrflöten, die gespielt werden, um in Notfällen Botschaften zu übermitteln, die makruna-Doppelflöte (deren eine Pfeife ständig einen tiefen Brummton hervorbringt). Dann ins Gebiet der fünfsaitigen Lyra. Ein Dorf oder eine Oase der Präludien und Intermezzi. Handklatschen. Antiphonischer Tanz.
Das Augenlicht wird ihm erst nach Einbruch der Dunkelheit gewährt, wenn er seine Wächter und Retter von Angesicht sehen kann. Er weiß jetzt, wo er ist. Für einige zeichnet er Landkarten, die über ihre eigenen Grenzen hinausgehen, und auch anderen Stämmen erklärt er den Mechanismus von Gewehren. Die Musiker sitzen ihm gegenüber am Feuer. Die Töne der simsimiya-Lyra, die von Windstößen weggerissen werden. Oder Töne wechseln über die Flammen zu ihm hinüber. Da tanzt ein Junge, der in diesem Licht das Begehrenswerteste ist, was er je gesehen hat. Seine mageren Schultern sind weiß wie Papyrus, Licht vom Feuer, das der Schweiß auf seinem Bauch reflektiert, Nacktheit, von der man nur einen flüchtigen Blick durch die Öffnungen im blauen Leinen erhascht, das er als Lockung trägt vom Hals bis zum Knöchel, ihn selbst als braunen Blitzstrahl enthüllend.
Die Nachtwüste umgibt sie, in loser Folge von Stürmen und Karawanen durchquert. Es gibt immer Geheimnisse und Gefahren um ihn her, so wie er sich, als er blind seine Hand bewegte, an einem zweischneidigen Rasiermesser im Sand schnitt. Zuweilen weiß er nicht, ob es Träume sind, der Schnitt so sauber, daß er keinen Schmerz hinterläßt und daß er das Blut auf seinen Schädel reiben muß (sein Gesicht noch unberührbar), um seinen Wächtern die Wunde zu signalisieren. Dieses Dorf ohne Frauen, in das man ihn unter völligem Schweigen gebracht hat, oder der ganze Monat, als er den Mond nicht sah. War das erfunden? Erträumt, während er in Öl und Filz und Dunkelheit eingehüllt lag?
Sie waren an Brunnen vorbeigekommen, wo das Wasser verflucht war. Auf offenem Gelände gab es gelegentlich verborgene Städte, und er wartete, während sie sich durch Sand in verschüttete Räume gruben, oder wartete, während sie Wassernester aushoben. Und die reine Schönheit eines unschuldigen tanzenden Jungen – wie der Laut eines Chorknaben –, was er als reinsten aller Laute in der Erinnerung hielt, wie klarstes Flußwasser, völlig transparente Meerestiefe. Hier in der Wüste, die einst Meer gewesen war, wo nichts befestigt oder von Dauer war, wo alles dahintrieb – wie die Bewegung des Leinens auf dem Jungen, als umfinge er das Meer oder suchte sich davon zu befreien, oder von seiner eigenen blauen Nachgeburt. Ein Junge, der sich selbst erregte, seine Genitalien gegen die Farbe des Feuers.
Dann wird das Feuer mit Sand bestreut, sein Rauch verflüchtigt sich um sie herum. Das Schwächerwerden der Musikinstrumente, wie der Pulsschlag oder der Regen. Der Junge streckt den Arm aus, durch das verschwundene Feuer, um die Rohrpfeifen zum Schweigen zu bringen. Es gibt keinen Jungen, es gibt keine Fußspuren, als er weggeht. Nur die geliehenen Fetzen. Einer der Männer kriecht vor und sammelt das Sperma ein, das auf den Sand gefallen ist. Er bringt es dem weißen Übersetzer der Gewehre und läßt es in seine Hände gleiten. In der Wüste feiert man nichts als das Wasser.
Sie beugt sich über das Ausgußbecken, hält sich daran fest und schaut auf die Stuckwand. Sie hat alle Spiegel entfernt und sie in ein leeres Zimmer gestapelt. Sie hält sich am Becken fest und bewegt den Kopf hin und her, löst eine Schattenbewegung aus. Sie befeuchtet sich die Hände und kämmt sich Wasser ins Haar, bis es ganz durchnäßt ist. Das erfrischt sie, und sie hat es gern, wenn sie nach draußen geht und der Wind sie anfällt, der den Donner löscht.
2
Fast ein Wrack
DER MANN MIT den bandagierten Händen war schon über vier Monate im Lazarett in Rom, als er zufällig von dem verbrannten Patienten und der Krankenschwester hörte, ihren Namen hörte. Er wandte sich vom Eingang ab und ging zurück zu der dichten Gruppe von Ärzten, an der er gerade vorbeigekommen war, um herauszufinden, wo sie war. Er hatte bereits eine lange Genesungszeit hinter sich, und sie kannten sein ausweichendes Wesen. Jetzt aber sprach er sie an, erkundigte sich nach dem Namen der Frau und verblüffte sie. In all der Zeit hatte er nie gesprochen, sich nur mit Handzeichen und Grimassen verständigt, hin und wieder einem Grinsen. Er hatte nichts preisgegeben, nicht einmal seinen Namen, schrieb bloß seine laufende Nummer hin, die zeigte, daß er bei den Alliierten war.
Sein Status war genau nachgeprüft und durch Bescheide aus London bestätigt worden. Er hatte eine Menge aktenkundiger Narben. Und so waren die Ärzte erneut zu ihm gekommen, neigten sich über seine Bandagen. Eine Berühmtheit schließlich, die schweigen wollte. Ein Kriegsheld.
So fühlte er sich am sichersten. Nichts preisgeben. Ob sie ihn mit Zärtlichkeit oder List oder mit Messern angriffen. Mehr als vier Monate hatte er nicht ein Wort gesagt. Er war ein großes Tier in ihrer Anwesenheit, fast ein Wrack, als man ihn einlieferte und ihm regelmäßig Morphium gegen den Schmerz in seinen Händen gab. Gewöhnlich saß er in einem Sessel im Dunkeln und beobachtete das ständige Hin und Her von Patienten und Krankenschwestern auf den Stationen und in den Vorratsräumen.
Jetzt aber, als er an der Ärztegruppe in der Vorhalle vorbeiging, hörte er den Namen der Frau, verlangsamte seinen Schritt, drehte sich um und erkundigte sich, an sie gewandt, ganz gezielt, in welchem Lazarett sie arbeite. Sie sagten ihm, in einem alten Nonnenkloster, das von den Deutschen eingenommen worden sei, dann umfunktioniert zu einem Lazarett, nachdem die Alliierten es belagert hätten. In den Bergen nördlich von Florenz. Zum größten Teil von Bomben zerrissen. Unsicher. Es sei bloß ein zeitweiliges Feldlazarett gewesen. Aber die Krankenschwester und der Patient hätten sich geweigert, es zu verlassen.
Warum haben Sie die beiden nicht gezwungen, dort zu verschwinden?
Sie hat behauptet, er sei zu krank, um verlegt zu werden. Wir hätten ihn natürlich gefahrlos herausholen können, aber heutzutage bleibt keine Zeit zum Argumentieren. Sie selbst war in übler Verfassung.
Ist sie verwundet?
Nein. Wahrscheinlich so was wie eine Bombenneurose. Man hätte sie heimschicken sollen. Der Haken dabei ist, der Krieg ist vorbei. Man kann niemanden mehr zwingen, irgend etwas zu tun. Patienten verlassen einfach so das Lazarett. Truppen gehen ohne Erlaubnis auf Urlaub, bevor sie heimgeschickt werden.
Welche Villa, fragte er.
Eine, in deren Garten angeblich ein Geist spukt. San Girolamo. Aber sie hat ja ihren eigenen Geist, einen verbrannten Patienten. Ein Gesicht ist zwar da, aber nichts zu erkennen. Die Nerven sind alle tot. Man kann mit einem Streichholz über sein Gesicht fahren, und es tut sich nichts. Das Gesicht ist eingeschlafen.
Wer ist es? fragte er.
Wir kennen seinen Namen nicht.
Redet er nicht?
Die Gruppe von Ärzten lachte. Doch, doch, er redet, er redet die ganze Zeit, er weiß bloß nicht, wer er ist.
Wo kam er her?
Die Beduinen haben ihn zur Oase Siwa gebracht. Dann war er eine Zeitlang in Pisa, dann ... Einer der Araber trägt wahrscheinlich seine Erkennungsmarke. Der wird sie wahrscheinlich verkaufen, und eines Tages taucht sie auf, aber vielleicht verkaufen die sie auch nie. Gelten als wirksame Talismane. Alle Piloten, die in der Wüste abstürzen – keiner von ihnen kommt je mit einer Kennung zurück. Jetzt hat er sich in einer toskanischen Villa verkrochen, und das Mädchen verläßt ihn nicht. Weigert sich einfach. Die Alliierten hatten dort hundert Patienten untergebracht. Davor hielten die Deutschen sie mit einer kleinen Armee besetzt, ihre letzte Festung. Einige Räume haben Malereien, jeder Raum zeigt eine andere Jahreszeit. Draußen vor der Villa ist eine Schlucht. Das Ganze liegt etwa dreißig Kilometer von Florenz, in den Bergen. Sie brauchen natürlich einen Passierschein. Wir können Ihnen wahrscheinlich jemanden beschaffen, der Sie rauffährt. Dort ist es immer noch schrecklich. Totes Vieh. Erschossene Pferde, halb aufgefressen. Leute, die kopfüber von Brücken hängen. Die letzten Greueltaten des Krieges. Völlig unsicher. Die Pioniere sind noch nicht zum Räumen gekommen. Die Deutschen haben sich zurückgezogen und dabei überall Minen gelegt und vergraben. Ein schrecklicher Ort für ein Lazarett. Der Leichengestank ist das Schlimmste. Wir brauchen einen tüchtigen Schneefall, um dieses Land in Ordnung zu bringen. Wir brauchen Raben.
Vielen Dank.
Er ging aus dem Lazarett in die Sonne hinaus, ins Freie, zum erstenmal seit Monaten, hinaus aus den grünlich leuchtenden Räumen, die ihm wie Glas vor Augen standen. Er blieb stehen, atmete alles ein, die allgemeine Hast. Zuerst einmal, dachte er, brauche ich Schuhe mit Gummisohlen. Ich brauche gelato.
Ihm fiel es schwer, im Zug einzuschlafen, so hin und her geschüttelt. Die anderen im Abteil rauchten. Seine Schläfe, die gegen den Fensterrahmen rumste. Alle waren dunkel gekleidet, und der Waggon schien in Brand zu stehen bei den vielen angezündeten Zigaretten. Er bemerkte, daß, wann immer der Zug einen Friedhof passierte, die Mitreisenden sich bekreuzigten. Sie selbst ist in übler Verfassung.
Gelato für die Mandeln, erinnerte er sich. Er hatte ein Mädchen und den Vater begleitet, ihre Mandeln sollten raus. Sie warf nur einen Blick auf die Station mit all den anderen Kindern und weigerte sich strikt. Dieses, das fügsamste und freundlichste aller Kinder, war plötzlich die personifizierte Verweigerung, unerschütterlich. Niemand würde ihr irgend etwas aus dem Hals reißen, mochte auch die praktische Vernunft dafür sprechen. Sie würde damit leben, egal, wie das »damit« aussehen mochte. Er hatte noch immer keine Ahnung, was Mandeln eigentlich waren.
Nie haben sie meinen Kopf berührt, das war seltsam. Die schlimmsten Momente waren, als er sich auszumalen begann, was sie als nächstes getan hätten, was als nächstes abgeschnitten. In solchen Momenten dachte er immer an seinen Kopf.
Ein Geraschel im Gebälk wie von einer Maus.
Er stand mit seiner Reisetasche am hinteren Ende der Halle. Er stellte die Tasche ab und winkte durch das Dunkel und die Lachen aus blinkendem Kerzenlicht. Es gab keinen Lärm von Schritten, als er auf sie zuging, kein Geräusch auf dem Boden, und das überraschte sie, war ihr irgendwie vertraut, es beruhigte sie, daß er sich ihrer Zurückgezogenheit und der des englischen Patienten lautlos nähern konnte.
Als er an den Lichtern in der langen Halle vorbeiging, warfen sie seinen Schatten voraus. Sie schraubte den Docht der Petroleumlampe höher, so daß sich der Radius des sie umgebenden Lichts vergrößerte. Sie saß ganz ruhig da, das Buch auf dem Schoß, als er an sie herantrat und sich neben sie hockte wie ein Onkel.
»Erklär mir, was Mandeln sind.«
Ihre Augen, die ihn anstarrten.
»Ich erinnere mich immer noch, wie du aus dem Krankenhaus gestürmt bist, zwei erwachsene Männer hinterdrein.«
Sie nickte.
»Ist dein Patient da drin? Kann ich hinein?«
Sie schüttelte den Kopf, hörte nicht damit auf, bis er wieder sprach.
»Dann besuche ich ihn morgen. Sag mir nur, wohin ich soll. Ich brauche keine Laken. Gibt’s eine Küche? Eine seltsame Reise war das, die ich gemacht habe, um dich zu finden.«
Als er durch die Halle gegangen war, kehrte sie zu dem Tischchen zurück und setzte sich, zitternd. Sie brauchte dieses Tischchen, dieses halbbeendete Buch, um sich zu sammeln. Ein Mann, den sie kannte, war die ganze Strecke mit dem Zug gefahren und die sechs Kilometer vom Dorf hinaufgekommen und durch die Halle bis zu diesem Tischchen, bloß um sie zu sehen. Nach einigen Minuten betrat sie das Zimmer des Engländers, stand da und blickte auf ihn hinab. Mondlicht jenseits des Blattwerks an den Wänden. Nur in diesem Licht wirkte der Trompe-l’œil echt. Sie könnte die Blume dort pflücken und sie ans Kleid stecken.
Der Mann namens Caravaggio stößt alle Fenster im Zimmer auf, damit er die Geräusche der Nacht hören kann. Er zieht sich aus, reibt sich mit den Handflächen sanft über den Nacken und legt sich eine Weile auf das ungemachte Bett. Das Rauschen der Bäume, das Zerfallen des Mondes in Silberfischchen, die von den Blättern der Astern draußen abspringen.
Der Mond liegt auf ihm wie eine Haut, eine Wassergarbe. Eine Stunde später ist er auf dem Dach der Villa. Oben auf dem First bemerkt er die zerbombten Flächen überall an den Dachschrägen, die achttausend Quadratmeter verwüsteter Gärten und Obsthaine, die an die Villa grenzen. Er verschafft sich ein Bild, wo in Italien sie sind.
AM MORGEN BEIM Brunnen sprechen sie zaghaft miteinander.
»Jetzt, wo du in Italien bist, solltest du mehr über Verdi herausfinden.«
»Was?« Sie schaut vom Bettzeug hoch, das sie im Brunnen wäscht.
Er erinnert sie. »Du hast mir einmal erzählt, daß du in ihn verliebt bist.«
Hana senkt den Kopf, verlegen.
Caravaggio spaziert umher, betrachtet zum erstenmal das Gebäude, späht von der Loggia in den Garten.
»Ja, du warst in ihn verliebt. Du hast uns alle verrückt gemacht mit deinem neuen Wissen über Giuseppe. Was für ein Mann! Der beste in jeder Hinsicht, war dein Spruch. Wir mußten dir alle zustimmen, der kecken Sechzehnjährigen.«
»Ich frage mich, was aus ihr geworden ist.« Sie breitet das gewaschene Laken über den Brunnenrand aus.
»Du hattest einen Willen, der gefährlich werden konnte.«
Sie geht über die Pflastersteine, Gras in den Ritzen. Er schaut auf ihre schwarzbestrumpften Füße, das dünne braune Kleid. Sie lehnt sich über die Balustrade.
»Vermutlich bin ich ja wegen Verdi hier, das muß ich zugeben, irgend etwas hat mich wohl dazu gedrängt. Und dann warst du natürlich fort, und mein Vater war fort im Krieg ... Sieh dir die Falken an. Die sind jeden Morgen hier. Alles andere hier ist beschädigt und kaputt. Das einzige fließende Wasser in der ganzen Villa ist hier im Brunnen. Die Alliierten haben, als sie abzogen, die Wasserleitung demontiert. Sie haben geglaubt, das brächte mich zum Gehen.«
»Hättest du auch tun sollen. Das Gebiet hier muß noch entmint werden. Überall liegen nichtentschärfte Bomben herum.«
Sie tritt an ihn heran und legt ihm die Finger auf den Mund.
»Ich freue mich, dich zu sehen, Caravaggio. Niemanden sonst. Sag nicht, du bist hergekommen und willst nur versuchen, mich zum Weggehen zu bringen.«