Katzentisch - Michael Ondaatje - E-Book + Hörbuch

Katzentisch E-Book und Hörbuch

Michael Ondaatje

4,5

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Beschreibung

Drei Kinder, zu Beginn der 50er Jahre, auf einer Seereise von Ceylon nach England. Zu der buntgemischten Gesellschaft an Bord des Schiffes gehören Außenseiter, die wie sie am Katzentisch sitzen, und andere Reisegefährten, nicht zuletzt die aus der noblen Senatorenklasse. Sie alle sind geheimnisumwitterte Objekte der Sehnsucht oder der Spekulation: der Baron, der so elegant Mitreisende bestiehlt, der todkranke Millionär oder die Artistentruppe mit Wahrsager, in den sich Emily verliebt. Michael Ondaatje, der Autor von "Der englische Patient", erzählt ein Abenteuer, das Gleichnis ist für das wahre, wilde Leben: mit dramatischen Szenen, unvergesslichen Figuren und Bildern, die im Gedächtnis haftenbleiben.

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Seitenzahl: 348

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Zeit:8 Std. 5 min

Sprecher:Johannes Steck
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Hanser eBook

Michael Ondaatje

Katzentisch

Roman

Aus dem Englischen

von Melanie Walz

Carl Hanser Verlag

Die englische Originalausgabe erschien 2011

unter dem Titel The Cat’s Table bei McClelland & Stewart in Toronto.

Der Verlag dankt dem Canada Council for the Arts

für die Förderung der Übersetzung.

ISBN 978-3-446-23958-6

© Michael Ondaatje 2011

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Carl Hanser Verlag München 2012

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

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und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

http://www.michael-ondaatje.de

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Für Quintin, Griffin, Kristin und Esta

Für Anthony und Constance

Und so sehe ich den Orient […] Ich sehe ihn immer von einem kleinen Schiff aus – kein Licht, keine Bewegung, kein Geräusch. Wir unterhielten uns flüsternd, als fürchteten wir, das Land zu wecken […] Alles ist in dem Augenblick gefangen, in dem meine jungen Augen es erblickten. Ich erlebte es nach einem heftigen Kampf mit dem Meer.

JOSEPH CONRAD, JUGEND

ER WAR SCHWEIGSAM. Er sah die ganze Fahrt über aus dem Fenster des Wagens. Zwei Erwachsene auf dem Vordersitz unterhielten sich leise. Er hätte zuhören können, wenn er gewollt hätte, aber er wollte nicht. Auf dem Straßenabschnitt, den der Fluss manchmal überschwemmte, hörte er unter den Rädern Wasser sprühen. Sie gelangten in das Fort, und der Wagen glitt lautlos an Postgebäude und Glockenturm vorbei. Zu dieser nächtlichen Stunde gab es in Colombo fast keinen Verkehr. Sie fuhren die Reclamation Road entlang aus der Stadt hinaus, vorbei an der Kirche St. Anthony’s, und dann bekam er die letzten Imbissstände zu sehen, jeder von einer einsamen Glühbirne beleuchtet. Danach erreichten sie weites, offenes Gelände, den Hafen, wo nur in der Ferne eine Kette von Lichtern am Pier zu erkennen war. Er stieg aus und blieb neben dem Wagen stehen, an die noch warme Motorhaube gelehnt.

Er hörte die streunenden Hunde, die in der Nähe der Kais lebten, aus der Dunkelheit bellen. Ringsum war kaum etwas zu erkennen – nur im Sprühlicht einzelner Schwefellaternen sah man Uferbewohner, die eine Prozession von Gepäckwagen zogen, hie und da dicht beieinanderstehende Familien, die sich langsam zum Schiff aufmachten.

An jenem Abend, als er an Bord des ersten und einzigen Passagierdampfers in seinem Leben stieg, war er elf Jahre alt und völlig ahnungslos. Das Schiff kam ihm vor, als wäre eine Ortschaft an die Küste angefügt worden, heller beleuchtet als jede Stadt und jedes Dorf. Er ging die Gangway entlang und achtete nur auf den Weg vor seinen Füßen – vor ihm gab es nichts – und ging weiter, bis er den dunklen Hafen und das Meer vor sich sah. Weiter draußen waren die Umrisse anderer Schiffe, deren Lichter aufzuscheinen begannen. Er stand allein da, atmete die Gerüche ein und ging dann durch Lärm und Menschengewühl zu der Seite des Schiffs zurück, die dem Ufer zugewandt war. Gelber Lichtschein über der Stadt. Es war jetzt schon, als trennte ihn eine Mauer von allem, was sich dort ereignete. Stewards reichten bereits Imbisse und Drinks. Er aß mehrere Sandwiches, und dann ging er zu seiner Kabine hinunter, zog sich aus und schlüpfte in die enge Koje. – Er hatte noch nie unter einer Bettdecke geschlafen, außer einmal in Nuwara Eliya. Er war hellwach. Die Kabine lag unter dem Wasserspiegel und hatte deshalb kein Bullauge. Er entdeckte einen Schalter neben seinem Bett, und als er ihn drückte, fiel plötzlich ein Lichtkegel auf seinen Kopf und das Kopfkissen.

Er ging nicht zum Deck hinauf, um einen letzten Blick zurückzuwerfen oder den Verwandten, die ihn hergebracht hatten, zuzuwinken. Er hörte Gesang und stellte sich das langsame und dann zunehmend schnelle Abschiednehmen von Familien in der erregenden nächtlichen Atmosphäre vor. Ich weiß nicht, bis heute nicht, warum er diese Einsamkeit gewählt hat. War derjenige, der ihn auf die Oronsay gebracht hatte, schon verschwunden? Im Film reißen Familienmitglieder sich weinend voneinander los, und das Schiff trennt sich vom Land, während die Verlassenen sich an den entschwindenden Gesichtern festhalten, bis nichts mehr zu erkennen ist.

Ich versuche mir vorzustellen, wer der Junge auf dem Schiff war. Vielleicht hat er, dieser grüne Grashüpfer, diese kleine Grille, wie er da nervös und still in der engen Koje liegt, noch gar kein Gefühl der eigenen Identität, als wäre er zufällig, ohne zu wissen, wie ihm geschah, in die Zukunft geschmuggelt worden.

Er erwachte unversehens, als er Passagiere den Gang entlanglaufen hörte. Also zog er sich wieder an und verließ die Kabine. Irgend etwas ging vor sich. Betrunkenes Johlen erfüllte die Nachtluft, von schimpfenden Besatzungsmitgliedern übertönt. Mitten auf Deck B versuchten Seeleute, den Lotsen festzuhalten. Er hatte das Schiff sorgsam aus dem Hafen hinausgeleitet (viele Fahrrinnen mussten gesunkener Wracks und eines alten Wellenbrechers wegen gemieden werden) und danach zuviel getrunken, um seinen Erfolg zu feiern. Und nun hatte er allem Anschein nach keine Lust, sich zu verabschieden. Noch nicht. Vielleicht eine Stunde oder ein paar Stunden später. Aber die Oronsay wollte Punkt Mitternacht in See stechen, und das Boot des Lotsen wartete an der Wasserlinie. Die Schiffsbesatzung hatte mit aller Macht versucht, ihn an der Strickleiter hinunterzubugsieren, doch da man damit rechnen musste, dass er sich zu Tode stürzte, fingen sie ihn nun wie einen Fisch mit dem Netz und ließen ihn so hinunter. Den Lotsen schien das Ganze überhaupt nicht zu genieren, doch den zornerfüllten Offizieren der Orient Line auf der Brücke in ihren weißen Uniformen war der Zwischenfall unverkennbar peinlich. Die Passagiere riefen hurra, als das Boot des Lotsen ablegte. Und dann war das Geräusch der Ruderblätter zu hören und der müde Singsang des Lotsen, als der Schlepper in der Finsternis verschwand.

Aufbruch

WAS HATTE ICH VORDIESEM SCHIFF in meinem Leben gekannt? Ein Kanu aus einem ausgehöhlten Baumstamm bei einer Flussfahrt? Eine Barkasse im Hafen von Trincomalee? Fischerboote hatte es immer in Sichtweite gegeben. Aber niemals hätte ich mir die Pracht dieses Schlosses vorstellen können, das die Meere überqueren würde. Meine längsten Reisen waren Autofahrten nach Nuwara Eliya und nach Horton Plains gewesen oder die Fahrt mit dem Zug nach Jaffna, wenn wir um sieben Uhr morgens den Zug bestiegen und ihn am späten Nachmittag verließen. Für diese Reise hatten wir unsere Eiersandwiches dabei, thalagulies, ein Kartenspiel und eine kleine Ausgabe der Abenteuergeschichten von Boy’s Own.

Aber nun war beschlossen worden, dass ich mit dem Schiff nach England reisen sollte, und zwar ganz allein. Es war keine Rede davon gewesen, dass dies eine außergewöhnliche Erfahrung oder aufregend oder gefährlich sein könnte, und deshalb sah ich der Reise weder freudig noch furchtsam entgegen. Man sagte mir nicht, dass das Schiff sieben Decks haben und mehr als sechshundert Menschen beherbergen würde, darunter einen Kapitän, neun Köche, Ingenieure und einen Veterinär, und dass es ein kleines Gefängnis und gechlorte Schwimmbecken besaß, die uns tatsächlich über mehrere Meere begleiten würden. Den Termin für den Aufbruch hatte meine Tante beiläufig auf dem Kalender angestrichen, als sie meiner Schule mitgeteilt hatte, dass ich mit dem Ende des Schuljahrs abgehen würde. Dass ich einundzwanzig Tage auf dem Ozean verbringen würde, wurde als Nebensächlichkeit behandelt, und ich wunderte mich, dass meine Verwandten sich überhaupt die Mühe machten, mich zum Hafen zu begleiten. Ich hatte angenommen, ich würde allein mit dem Bus fahren und in Borella Junction umsteigen.

Es hatte einen einzigen Versuch gegeben, mich mit den Umständen der Reise vertraut zu machen. Eine Dame namens Flavia Prins, deren Ehemann ein Bekannter meines Onkels war, stand im Begriff, die gleiche Reise zu machen, wie sich herausstellte, und wurde eines Nachmittags zum Tee mit mir eingeladen. Sie würde in der ersten Klasse reisen, versprach aber, ein Auge auf mich zu haben. Ich gab ihr vorsichtig die Hand, denn ihre Hand war voller Ringe und Armreifen, und dann wandte sie sich ab und setzte das Gespräch fort, das ich unterbrochen hatte. Den größeren Teil der Teestunde verbrachte ich damit, ein paar Onkeln zuzuhören und zu zählen, wie viele zierlich geschnittene Sandwiches sie verzehrten.

Am letzten Tag kramte ich ein leeres Schulheft, einen Bleistift, einen Spitzer und eine durchgepauste Weltkarte hervor und verstaute sie in meinem kleinen Koffer. Ich ging nach draußen, verabschiedete mich von dem Generator und grub die Überreste des Radios aus, das ich einmal auseinandergenommen und im Rasen verbuddelt hatte, als ich feststellen musste, dass ich es nicht wieder zusammenbauen konnte. Ich verabschiedete mich von Narayan und von Gunepala.

Als ich in den Wagen stieg, sagte man mir, nachdem ich den Indischen Ozean und den Golf von Aden und das Rote Meer durchquert hätte und durch den Suezkanal in das Mittelmeer gelangt wäre, würde ich eines Morgens an einem kleinen Pier in England anlegen, und dort würde meine Mutter mich abholen. Was meine Gedanken beschäftigte, waren weder die Dauer noch die Magie der Reise, sondern es war die Frage, wie meine Mutter wissen sollte, wann genau ich in jenem fremden Land ankommen würde.

Und ob sie dasein würde.

ICH HÖRTE, wie ein Zettel unter meine Tür geschoben wurde. Auf dem Zettel wurde mir für alle Mahlzeiten Tisch Nr. 76 zugeteilt. Die zweite Koje war unbenutzt. Ich zog mich an und ging hinaus. Treppenstufen war ich nicht gewohnt, und ich betrat sie vorsichtig.

Im Speiseraum saßen neun Leute an Tisch Nr. 76, darunter zwei Jungen etwa meines Alters.

»Wir sitzen offenbar am Katzentisch«, sagte die Frau, die als Miss Lasqueti angesprochen wurde. »Wir haben den unattraktivsten Tisch bekommen.«

Es war nicht zu übersehen, dass wir in weiter Entfernung zum Tisch des Kapitäns untergebracht waren, der sich am anderen Ende des Raums befand. Einer der zwei Jungen an unserem Tisch hieß Ramadhin, der andere Cassius. Ramadhin war ein stiller Junge, der andere blickte hochmütig um sich, und wir ignorierten einander, obwohl ich ihn kannte. Cassius und ich hatten dieselbe Schule besucht, und obwohl er ein Jahr älter war als ich, wusste ich eine Menge über ihn. Er hatte einen schlechten Ruf genossen und war sogar für ein Halbjahr von der Schule verwiesen worden. Ich war mir sicher, dass es lange dauern würde, bis wir ein Wort wechselten. Aber das Gute an unserem Tisch war, dass es offenbar verschiedene interessante Erwachsene gab. Wir hatten einen Botaniker unter uns und einen Schneider, der einen Laden in Kandy besaß. Und das Tollste war, dass wir einen Pianisten unter uns hatten, der heiter erklärte, er sei »auf den Hund gekommen«.

Das war Mr. Mazappa. Abends spielte er mit dem Schiffsorchester, und nachmittags gab er Klavierstunden. Dafür bekam er Rabatt auf die Reisekosten. Nach unserer ersten Mahlzeit unterhielt er Ramadhin, Cassius und mich mit Anekdoten aus seinem Leben. Durch das Zusammensein mit Mr. Mazappa, der uns mit verwirrenden und oft genug obszönen Liedern aus seinem Repertoire unterhielt, fanden wir drei zu einem ungezwungenen Umgang miteinander, denn wir waren schüchtern und linkisch. Keiner von uns hatte Anstalten getroffen, die anderen auch nur zu grüßen, bis Mazappa uns unter seine Fittiche nahm und uns riet, Augen und Ohren offenzuhalten, da diese Reise uns viel lehren würde. Und so entdeckten wir am Ende dieses ersten Tages, dass wir gemeinsam neugierig sein konnten.

Ein anderer interessanter Gast am Katzentisch war Mr. Nevil, ein Schiffsabwracker im Ruhestand, der nach längerer Zeit im Orient nach England zurückkehrte. Wir waren gern mit diesem massigen und sanftmütigen Mann zusammen, weil er eingehend über die Beschaffenheit von Schiffen Bescheid wusste. Er hatte viele berühmte Schiffe abgewrackt. Im Unterschied zu Mr. Mazappa war Mr. Nevil bescheiden und sprach von diesen Episoden seines Lebens nur, wenn man es geschickt darauf anlegte, eine Geschichte aus ihm herauszukitzeln. Hätte er weniger bescheiden auf die Fragen geantwortet, mit denen wir ihn bombardierten, hätten wir ihm nicht geglaubt oder wären nicht so fasziniert gewesen.

Er hatte überall auf dem Schiff freien Zugang, denn er war von der Schiffahrtsgesellschaft mit Sicherheitsuntersuchungen betraut. Er machte uns mit seinen Hilfstruppen im Maschinenraum und mit den Heizern bekannt, und wir sahen ihnen bei der Arbeit zu. Verglichen mit der ersten Klasse herrschten im Maschinenraum unten im Hades unerträglicher Lärm und furchtbare Hitze. Eine zweistündige Inspektion der Oronsay mit Mr. Nevil klärte einen über alle größeren und kleineren Fährnisse auf. Er erklärte uns, dass die Rettungsboote, die in der Luft schaukelten, nur gefährlich aussahen, und deshalb kletterten Cassius, Ramadhin und ich oft hinein, um von dort aus die Passagiere heimlich zu beobachten. Miss Lasquetis Bemerkung, wir säßen am »unattraktivsten« Platz, der keinerlei gesellschaftliche Bedeutung besaß, hatte uns davon überzeugt, wir wären für Amtspersonen wie den Purser, den Chefsteward oder den Kapitän unsichtbar.

Zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass eine entfernte Cousine, Emily de Saram, sich ebenfalls auf dem Schiff befand. Leider war ihr nicht der Katzentisch zugewiesen worden. Jahrelang war Emily der Umweg gewesen, über den ich herausgefunden hatte, was die Erwachsenen von mir dachten. Ich erzählte ihr meine Abenteuer und nahm mir zu Herzen, was sie sagte. Sie sagte ehrlich, was sie mochte und was sie nicht mochte, und da sie älter war, bildeten ihre Urteile für mich eine Richtschnur.

Da ich weder Brüder noch Schwestern hatte, waren die engsten Verwandten in meiner Kindheit Erwachsene. Es gab eine Kollektion lediger Onkel und bedächtiger Tanten, eng verbunden durch Klatsch und gesellschaftlichen Status. Es gab einen einzigen reichen Verwandten, der großen Wert darauf legte, im Hintergrund zu bleiben. Niemand konnte ihn leiden, aber alle hatten Hochachtung vor ihm und sprachen dauernd von ihm. Die Familienmitglieder pflegten die Weihnachtskarten, die er jedes Jahr pflichtschuldig schickte, zu begutachten und erörterten das Aussehen seiner heranwachsenden Kinder auf dem Foto und die Größe seines Hauses, das wie eine stumme prahlerische Geste den Hintergrund bildete. Mit solchen Familienurteilen wuchs ich auf, und ihnen verdankte ich meine Vorsicht, bis ich ihrem Umfeld entkam.

Aber da war immer Emily, meine machang, die eine Zeitlang fast nebenan wohnte. Vergleichbar an unserer Kindheit war der Umstand, dass unsere Eltern entweder an verschiedenen Orten lebten oder unzuverlässig waren. Ihr Familienleben war allerdings, wie ich argwöhne, schlimmer als meines – die Geschäfte ihres Vaters waren immer prekärer Natur, und die Familie lebte in ständiger Furcht vor seinen Zornesausbrüchen. Seine Frau unterwarf sich knechtisch seiner Herrschaft. Emilys spärlichen Auskünften entnahm ich, dass er gerne strafte. Selbst Erwachsene auf Besuch fühlten sich in seiner Gegenwart nicht sicher. Nur Kinder, die sich für eine Geburtstagsfeier kurzfristig in seinem Haus aufhielten, fanden die Unberechenbarkeit seines Betragens lustig. Er kam hergeschlendert, erzählte uns etwas Komisches und schubste uns dann in den Swimmingpool. Emily war in seiner Gegenwart nervös, selbst wenn er sie liebevoll in die Arme nahm und mit ihr tanzte, ihre nackten Füße auf seinen Schuhen.

Die meiste Zeit war ihr Vater mit seiner Arbeit beschäftigt oder einfach nicht da. Weil es keine zuverlässige Karte gab, an der sie sich orientieren konnte, erfand Emily sich selbst, wie ich vermute. Sie hatte einen ungezähmten Geist, eine Wildheit, die mich bezauberte, auch wenn sie gewagte Abenteuer einging. Zuletzt bezahlte Emilys Großmutter ihr den Aufenthalt in einem Internat in Südindien, so dass sie von der Gegenwart ihres Vaters befreit war. Mir fehlte sie. Und als sie in den Sommerferien zurückkam, sah ich sie nicht oft, denn sie hatte einen Ferienjob bei der Ceylon Telephone angenommen. Jeden Morgen holte ein Firmenwagen sie ab, und jeden Abend setzte ihr Chef Mr. Wijebahu sie zu Hause ab. Von Mr. Wijebahu hieß es, wie sie mir anvertraute, er habe drei Hoden.

Was uns beide mehr als alles andere verband, war Emilys Schallplattensammlung, all die Lebensläufe und Sehnsüchte, die in den zwei, drei Minuten eines Songs gereimt und konzentriert waren. Bergarbeiterhelden, schwindsüchtige Mädchen, die über Pfandhäusern wohnten, Abenteurerinnen, berühmte Kricketspieler und sogar der Sachverhalt, dass es keine Bananen mehr gab. Sie hielt mich manchmal wohl für einen Träumer und brachte mir das Tanzen bei, lehrte mich, sie um die Taille zu halten, während sie die erhobenen Arme bewegte, und mit ihr auf und über das Sofa zu springen, das unter unserem Gewicht schwankte und umkippte. Dann war sie plötzlich wieder weg, in der Schule, weit weg in Indien, und man hörte nichts mehr von ihr, nur hin und wieder bekam ihre Mutter Briefe, in denen sie um mehr Kuchen bat, der über das belgische Konsulat geschickt werden sollte, und ihr Vater ließ es sich nicht nehmen, diese Briefe allen Nachbarn voller Stolz vorzulesen.

Als Emily an Bord der Oronsay kam, hatte ich sie zwei Jahre lang nicht gesehen. Es war verstörend, sie nun soviel deutlicher zu sehen, mit prononcierteren Zügen, und eine Anmut wahrzunehmen, die ich zuvor nicht erkannt hatte. Sie war inzwischen siebzehn Jahre alt, die Schule hatte sie offenbar in mancher Hinsicht gezähmt, und sie sprach mit leicht schleppender Stimme, was mir gefiel. Dass sie mich an der Schulter festhielt, als ich auf dem Promenadendeck an ihr vorbeirannte, und mich nötigte, ein paar Worte mit ihr zu wechseln, verlieh mir bei meinen zwei neuen Freunden auf dem Schiff ein gewisses Prestige. Aber meistens gab sie unmissverständlich zu erkennen, dass sie keine Gesellschaft wünschte. Sie hatte ihre eigenen Pläne für diese Reise … wenige allerletzte Wochen der Freiheit, bevor sie in England ankam, um dort ihre letzten zwei Schuljahre zu absolvieren.

Die Freundschaft zwischen dem stillen Ramadhin, dem überschwenglichen Cassius und mir machte schnell Fortschritte, obwohl wir vieles für uns behielten. Auf mich jedenfalls trifft das zu. Was ich in der Rechten hielt, wurde der Linken nie enthüllt. In vorsichtigem Verhalten war ich bereits geübt. In den Internaten, die ich kannte, entwickelte man aus Furcht vor Strafen Geschick im Lügen, und ich hatte gelernt, bestimmte kleine Wahrheiten zu verschweigen. Manche von uns wurden, wie sich erwies, durch die Strafen keineswegs zu völliger Ehrlichkeit angespornt oder gezwungen. Mir kam es vor, als würden wir die ganze Zeit wegen schlechten Betragens oder wegen aller möglichen Missetaten geschlagen (drei Tage in der Schulklinik herumlümmeln unter dem Vorwand, Mumps zu haben, eine der Schulbadewannen für alle Zeiten verschmutzen, indem man Tintenkugeln im Wasser auflöste, um Tinte für die höheren Jahrgänge herzustellen). Unser schlimmster Peiniger war der Aufseher der jüngeren Schüler, Pater Barnabus, der meine Erinnerung heute noch heimsucht im Verein mit seiner Lieblingswaffe, einem langen, zersplitterten Bambusrohr. Er argumentierte nicht, begründete nichts, war nur immer unheildrohend präsent.

Auf der Oronsay hatte man die Möglichkeit, aller Ordnung zu entkommen. Und ich definierte mich neu in dieser scheinbar imaginären Welt mit ihren Schiffsabwrackern und Schneidern und ihren erwachsenen Passagieren, die bei den abendlichen Festlichkeiten mit riesigen Tierköpfen umherstolperten, wo manche der Frauen in ganz kurzen Röcken tanzten, während das Schiffsorchester inklusive Mr. Mazappa auf seinem Podest spielte, alle in den gleichen pflaumenblauen Anzügen.

SPÄT AM ABEND, nachdem die eigens ausgewählten Passagiere der ersten Klasse den Tisch des Kapitäns verlassen hatten und die letzten Paare auf der Tanzfläche ihre Masken abgenommen hatten und in fast regloser Umarmung verharrten und nachdem die Stewards die verlassenen Gläser und Aschenbecher abgeräumt hatten und auf den über einen Meter breiten Besen lehnten, mit denen sie die bunten Papierschlangen aufkehren würden, wurde der Gefangene herausgebracht.

Es war meistens vor Mitternacht. Das Deck leuchtete im Mondlicht eines wolkenlosen Himmels. Er erschien mit seinen Wärtern; an den einen war er angekettet, der andere ging mit einem Schlagstock hinter ihm. Wir wussten nicht, was für ein Verbrechen er begangen hatte. Wir dachten uns, es könne nur ein Mord gewesen sein. Von etwas Komplizierterem wie einem Verbrechen aus Leidenschaft oder politischem Verrat machten wir uns damals keine Vorstellung. Er wirkte kraftvoll und unerschrocken und war barfuß.

Cassius hatte herausgefunden, dass der Gefangene zu dieser späten Stunde ausgeführt wurde, und wir drei waren oft zur Stelle, wenn es soweit war. Er könnte, stellten wir uns vor, zusammen mit dem Wärter, der an ihn gekettet war, in das dunkle Meer springen. Wir stellten uns vor, wie er so in den Tod lief und sprang. Ich nehme an, dass wir uns das so vorstellten, weil wir jung waren und allein die Vorstellung einer Kette, die Vorstellung, festgehalten zu sein, für uns etwas Erstickendes hatte. In unserem Alter konnten wir so einen Gedanken nicht ertragen. Wir brachten es fast nicht über uns, Sandalen zu tragen, um zum Essen zu gehen, und jeden Abend, wenn wir an unserem Tisch im Speisesaal saßen, stellten wir uns vor, dass der Gefangene barfuß in seiner Zelle Essensreste von einem Metalltablett aß.

MAN HATTE MIR EINGESCHÄRFT, anständig gekleidet zu erscheinen, wenn ich den mit Teppichboden ausgelegten Salon in der ersten Klasse betrat, wo ich Flavia Prins besuchen sollte. Sie hatte zwar versprochen, während der Reise ein Auge auf mich zu haben, aber tatsächlich sahen wir einander nur wenige Male. Nun war ich von ihr zum Nachmittagstee eingeladen, und ihre Einladung wies darauf hin, dass ich ein sauberes und gebügeltes Hemd und Socken in den Schuhen zu tragen hätte. Ich ging pünktlich um vier Uhr nachmittags zu der Veranda-Bar hinauf.

Sie beäugte mich, als befände ich mich am anderen Ende eines Teleskops, und war sich offenkundig nicht im klaren darüber, dass ich ihr Mienenspiel entziffern konnte. Sie saß an einem kleinen Tisch. Dann bemühte sie sich angestrengt, ein Gespräch mit mir zu führen, was meine einsilbigen nervösen Antworten nicht erleichterten. Gefiel mir die Reise? Hatte ich einen Freund gefunden?

Zwei, sagte ich. Einen Jungen namens Cassius und einen namens Ramadhin.

»Ramadhin … Ist das der moslemische Junge aus der Kricketfamilie?«

Ich sagte, das wisse ich nicht, aber ich wolle ihn fragen. Mein Ramadhin machte nicht den Eindruck, als würde er sich sportlich hervortun. Er liebte Süßigkeiten und Kondensmilch. Bei diesem Gedanken steckte ich eine Handvoll Kekse ein, während Mrs. Prins die Aufmerksamkeit des Kellners auf sich zu lenken versuchte.

»Ich kenne deinen Vater noch aus der Zeit, als er ein junger Mann war …« sagte sie, ohne den Satz zu beenden. Ich nickte, aber sie sagte nichts weiter über ihn.

»Tante«, sagte ich, nunmehr nicht mehr im ungewissen darüber, wie ich sie anzureden hätte, »wissen Sie über den Gefangenen Bescheid?«

Es stellte sich heraus, dass sie genauso froh war wie ich, die Smalltalk-Ebene verlassen zu können, und sie richtete sich auf ein etwas längeres Gespräch als beabsichtigt ein. »Nimm dir noch Tee«, murmelte sie, und ich nahm mir Tee, obwohl er mir nicht schmeckte. In vertraulichem Ton sagte sie, sie habe von dem Gefangenen gehört, obwohl man so geheimnisvoll tue. »Er wird schwer bewacht. Aber du musst dir keine Sorgen machen. Es gibt sogar einen ranghohen britischen Offizier an Bord.«

Aufgeregt beugte ich mich zu ihr vor. »Ich habe ihn gesehen«, prahlte ich. »Spätnachts beim Herumgehen. Schwer bewacht.«

»Was du nicht sagst …« meinte sie in gedehntem Ton, aus dem Konzept gebracht durch mein As, das ich so schnell und unerwartet ausgespielt hatte.

»Er soll ein schreckliches Verbrechen begangen haben«, sagte ich.

»Ja. Er soll einen Richter ermordet haben.«

Das war eindeutig mehr als ein As. Ich starrte sie mit offenem Mund an.

»Einen englischen Richter. Mehr darf ich wahrscheinlich nicht ausplaudern«, fügte sie hinzu.

Mein Onkel, der Bruder meiner Mutter, der in Colombo mein Vormund war, war Richter, obwohl er Ceylonese und nicht Engländer war. Ein englischer Richter hätte nicht an einem Gericht der Insel amtieren können, er musste also zu Besuch gekommen sein oder als Berater oder Gutachter hinzugezogen worden sein … Dies in etwa erzählte mir Flavia Prins, und einiges reimte ich mir später mit Ramadhins Hilfe zusammen, denn er besaß einen ruhigen und klaren Verstand.

Vielleicht hatte der Gefangene den Richter ermordet, um zu verhindern, dass er der Staatsanwaltschaft unter die Arme griff. Zu gern hätte ich in jenem Augenblick mit meinem Onkel in Colombo gesprochen. Ich machte mir tatsächlich Sorgen, dass sein Leben in Gefahr sein könnte. Er soll einen Richter ermordet haben! Die Worte hallten in meinem Kopf wider.

Mein Onkel war ein massiger, umgänglicher Mann. Ich hatte bei ihm und seiner Frau in Boralesgamuwa gelebt, seit meine Mutter einige Jahre zuvor nach England gegangen war, und obwohl wir uns nie weder ausführlich noch kurz auf vertraute Weise unterhalten hatten und er durch seine öffentliche Funktion beansprucht war, spürte ich seine Zuneigung und fühlte mich bei ihm gut aufgehoben. Wenn er nach Hause kam und sich Gin einschenkte, durfte ich den Wermut in sein Glas geben. Ich hatte seine Geduld nur ein einziges Mal strapaziert. Er hatte bei einem aufsehenerregenden Mordfall, in den ein Kricketspieler verwickelt war, den Vorsitz innegehabt, und ich hatte meinen Freunden erklärt, der Mann auf der Anklagebank sei unschuldig; als sie mich fragten, woher ich das wissen wolle, sagte ich, mein Onkel habe das gesagt. Ich tat es weniger im Bewusstsein zu lügen als in dem Wunsch, meinen Glauben an den Krickethelden zu untermauern. Als mein Onkel davon erfuhr, lachte er nur, aber er gab mir deutlich zu verstehen, dass ich so etwas nie wieder tun solle.

Zehn Minuten nach der Rückkehr zu meinen Freunden auf Deck D berichtete ich Cassius und Ramadhin haarklein alles, was ich von der Geschichte des Mörders erfahren hatte. Ich redete davon am Schwimmbecken, und ich redete davon an der Tischtennisplatte. Später am Nachmittag packte mich allerdings Miss Lasqueti am Schlafittchen, nachdem ihr mein Gerede zu Ohren gekommen war, und erschütterte mein Vertrauen in Flavia Prins’ Version der Geschichte. »Vielleicht hat er so etwas getan oder auch nicht«, sagte sie. »Man soll nie glauben, was vielleicht nur ein Gerücht ist.« Daher kam mir der Gedanke, Flavia Prins könnte sein Verbrechen aufgebauscht und die Messlatte angehoben haben, weil ich den Gefangenen tatsächlich mit eigenen Augen gesehen hatte, und deshalb hatte sie womöglich ein Verbrechen gewählt, das mich nicht unbeteiligt ließ – den Mord an einem Richter. Wäre der Bruder meiner Mutter Apotheker gewesen, wäre ein Apotheker ermordet worden.

An jenem Abend machte ich die erste Eintragung in mein Schulheft. Im Delilah-Salon war es zu einem kleinen Auflauf gekommen, als ein Passagier beim Kartenspielen seine Frau tätlich angegriffen hatte. Beim Ausspielen von Herz war sie mit dem Spott zu weit gegangen. Er hatte sie zu erwürgen versucht und ihr dann eine Gabel durch das Ohr gebohrt. Es gelang mir, dem Purser auf den Fersen zu bleiben, als er die Ehefrau einen engen Gang entlang zur Krankenstation begleitete, eine Serviette an ihrem Ohr, um die Blutung zu stillen, während der Ehemann in seine Kabine gestürmt war.

Trotz der darauffolgenden Ausgangssperre stahlen Ramadhin, Cassius und ich uns nachts aus unseren Kabinen, schlichen die gefährlichen, schwachbeleuchteten Treppen hinauf und warteten auf das Erscheinen des Gefangenen. Es war fast Mitternacht, und wir rauchten abgebrochene Stückchen von einem Rohrstuhl, indem wir sie anzündeten und daran leckten. Wegen seines Asthmas war Ramadhin nicht sehr begeistert bei der Sache, aber Cassius hatte sich in den Kopf gesetzt, dass wir uns vornehmen sollten, bis zum Ende der Reise den ganzen Stuhl aufzurauchen. Nach einer Stunde begriffen wir, dass der nächtliche Ausgang des Gefangenen diesmal gestrichen war. Um uns herum tiefste Finsternis, aber wir wussten, wie wir uns bewegen mussten. Wir glitten lautlos in das Schwimmbecken, zündeten unsere Zweiglein wieder an und ließen uns auf dem Rücken treiben. Stumm wie Leichname sahen wir zu den Sternen hinauf. Uns war, als schwömmen wir im Meer und nicht in einem ummauerten Schwimmbecken mitten auf dem Ozean.

DER STEWARD HATTE MIR GESAGT, dass ich die Kabine mit einem Mitbewohner teilen würde, doch bislang hatte noch niemand die zweite Koje in Anspruch genommen. Und dann, am dritten Abend, als wir uns noch im Indischen Ozean befanden, wurde es plötzlich blendend hell, weil das Licht in der Kabine eingeschaltet wurde, und ein Mann, der sich als Mr. Hastie vorstellte, kam mit einem zusammengelegten Kartentisch unter dem Arm herein. Er weckte mich und hob mich in die obere Koje. »Ein paar Freunde kommen auf ein Spiel vorbei«, sagte er. »Schlaf einfach weiter.« Ich wartete ab, um zu sehen, wer kommen würde. Innerhalb einer halben Stunde saßen vier Männer da und spielten ruhig und ernsthaft Bridge. Sie hatten kaum genug Platz um den Tisch herum. Sie sprachen leise aus Rücksicht auf mich, und der Flüsterton, in dem sie boten, wiegte mich bald in den Schlaf.

Am nächsten Morgen war ich wieder allein. Der Kartentisch lehnte zusammengelegt an der Wand. Hatte Hastie sich überhaupt hingelegt? War er ein echter Passagier oder ein Mitglied der Besatzung? Es stellte sich heraus, dass er für den Hundezwinger auf der Oronsay zuständig war, allem Anschein nach keine anstrengende Aufgabe, denn die meiste Zeit las er oder gab den Hunden auf einem kleinen Teil des Decks Auslauf. Folglich hatte er am Ende des Tages noch jede Menge Energie. Also kamen kurz nach Mitternacht seine Freunde. Einer von ihnen, Mr. Invernio, assistierte ihm bei den Hunden. Die zwei anderen arbeiteten im Telegraphenbüro des Schiffs. Sie spielten jede Nacht ein paar Stunden lang und verschwanden dann leise.

Ich war fast nie mit Mr. Hastie allein. Wenn er gegen Mitternacht aufkreuzte, dachte er wahrscheinlich, ich brauchte meinen Schlaf, und deshalb unterhielt er sich nur selten mit mir, höchstens ein paar Minuten, bis seine Mitspieler eintrafen. Irgendwann im Verlauf seiner Reisen im Orient hatte er sich angewöhnt, einen Sarong zu tragen, und meistens war er so gekleidet, auch wenn seine Freunde kamen. Er förderte vier Schnapsgläser und eine Flasche Arrak zutage. Gläser und Flasche stellte er auf den Boden, denn der Tisch war für die Karten reserviert. Ich blickte von der bescheidenen Höhe der oberen Koje hinunter und sah die offen ausgebreiteten Karten des Strohmanns. Ich sah zu, wie die Karten ausgegeben wurden, lauschte dem Mischen und dem Bieten. Pass … Ein Pik … Pass … Zwei Treff … Pass … Zwei Sans Atout … Pass … Drei Karo … Pass … Drei Pik … Pass … Vier Karo … Pass … Fünf Karo … Kontra … Re … Pass … Pass … Pass … Gespräche führten sie selten. Ich weiß noch, dass sie sich mit dem Nachnamen ansprachen – »Mr. Tolroy«, »Mr. Invernio«, »Mr. Hastie«, »Mr. Bastock« –, als wären sie Leutnants zur See an einer Marineakademie des neunzehnten Jahrhunderts.

Wenn ich im späteren Verlauf der Reise mit meinen Freunden Mr. Hastie über den Weg lief, betrug er sich völlig anders. Außerhalb unserer Kabine vertrat er eigenwillige Ansichten und redete wie ein Wasserfall. Er erzählte uns von seinen guten und schlechten Zeiten bei der Handelsmarine, von seinen abenteuerlichen Erlebnissen mit seiner ehemaligen Ehefrau, die eine große Reiterin war, und von seiner ausgeprägten Vorliebe für Jagdhunde. Im Halbdämmer unserer mitternächtlichen Kabine hingegen sprach Mr. Hastie im Flüsterton; nach dem dritten Kartenabend hatte er entgegenkommenderweise das grellgelbe Kabinenlicht durch ein gedämpftes blaues Licht ersetzt. Und während ich in den Halbschlaf hinüberglitt, wurden Drinks eingeschenkt, Rubber gewonnen, Geld wechselte den Besitzer, und in dem blauen Licht sahen die Männer aus, als säßen sie in einem Aquarium. Wenn sie ihr Spiel beendet hatten, gingen alle vier an Deck, um eine Zigarette zu rauchen, und eine halbe Stunde später kam Mr. Hastie leise in die Kabine zurück, um noch ein wenig zu lesen, bevor er sein Kojenlicht löschte.

FÜR EINEN JUNGEN, der sich mit seinen Freunden treffen will, ist der Schlaf ein Gefängnis. Die Nacht konnte nicht schnell genug vorbei sein, und wir waren vor Sonnenaufgang auf den Beinen. Wir konnten es kaum erwarten, dieses Universum weiter zu erkunden. Ich lag in meiner Koje und hörte Ramadhins leises Klopfen in codiertem Rhythmus an der Tür. Eigentlich ein sinnloser Code – wer sonst hätte um diese Zeit klopfen sollen? Zwei Klopfer, lange Pause, ein dritter Klopfer. Wenn ich nicht aus der Koje kletterte und die Tür öffnete, hörte ich als nächstes sein gekünsteltes Hüsteln. Und wenn ich dann immer noch nicht reagierte, hörte ich ihn »Mynah« flüstern. Das war mein neuer Spitzname.

Cassius trafen wir an der Treppe, und dann wanderten wir barfuß auf dem Deck der ersten Klasse herum. Um sechs Uhr morgens war die erste Klasse ein unbewachter Palast, und wir fanden uns dort ein, bevor die erste Lunte von Licht sich am Horizont abzeichnete und sogar noch bevor die Nachtbeleuchtung an Deck bei Tagesanbruch blinkte und sich automatisch abschaltete. Wir zogen unsere Hemden aus und tauchten wie Nadeln in das golden gestrichene Erste-Klasse-Schwimmbecken, fast ohne einen Spritzer. Die Stille gehörte wesentlich dazu, wenn wir im Dämmerlicht des frühen Morgens unsere Bahnen zogen.

Konnten wir eine Stunde lang unentdeckt bleiben, hatten wir die Chance, den gedeckten Frühstückstisch auf dem Sonnendeck zu plündern, Essen auf Teller zu häufen und uns mit der Silberschale der Kondensmilch zu verdrücken, die so dick war, dass der Löffel aufrecht darin steckenblieb. Dann kletterten wir in eines der erhöht befestigten Rettungsboote, in dem wir uns wie in einem Zelt vorkamen, und verzehrten die unredlich erlangte Mahlzeit. Eines Morgens holte Cassius eine Gold-Leaf-Zigarette hervor, die er in einem Salon gefunden hatte, und zeigte uns, wie man richtig raucht.

Ramadhin lehnte höflich ab wegen seines Asthmaleidens, das uns und den anderen Gästen am Katzentisch bereits aufgefallen war. (Wie es auch später auffällig bleiben sollte, als ich ihn einige Jahre darauf in London wiedersah. Wir waren dreizehn oder vierzehn, als wir uns wiederbegegneten, nachdem wir einander aus den Augen verloren hatten, weil wir damit beschäftigt waren, uns an ein fremdes Land zu gewöhnen. Auch damals, als ich ihn und seine Schwester Massoumeh bei seinen Eltern besuchte, erwischte ihn jeder Husten, jede Erkältung, die in der Nachbarschaft umgingen. Wir freundeten uns in England ein zweites Mal an, hatten uns mittlerweile aber verändert, waren nicht mehr unberührt von der Wirklichkeit des Lebens. Und in gewisser Weise war ich in jenen Tagen vertrauter mit seiner Schwester, denn Massi begleitete uns immer auf unseren Ausflügen durch den Süden Londons – zum Herne-Hill-Velodrom, zum Ritzy-Kino in Brixton und zum Kaufhaus Bon Marché, wo wir wie im Delirium die Lebensmittel- und die Kleidungsregale entlangrasten. An manchen Nachmittagen saßen Massi und ich auf dem kleinen Sofa in ihrem elterlichen Haus in Mill Hill, tasteten nach einander und betasteten einander unter der Decke, während wir so taten, als sähen wir der endlosen Golfsendung im Fernsehen zu. Eines Morgens kam sie in aller Frühe in das Zimmer im Obergeschoss, in dem Ramadhin und ich schliefen, und setzte sich an den Rand meines Betts, einen Finger vor den Lippen, um mich zum Schweigen zu ermahnen. Ramadhin schlief in seinem Bett, wenige Meter entfernt. Ich richtete mich auf, doch sie schob mich mit ausgestreckter Hand weg, und dann knöpfte sie ihr Pyjamaoberteil auf und zeigte mir ihre jungen Brüste, die im Widerschein der Bäume vor dem Fenster beinahe blassgrün aussahen. In den Augenblicken darauf lauschte ich auf Ramadhins Husten, auf das Rasseln, mit dem er sich im Schlaf räusperte, während Massi – halbnackt, furchtsam und furchtlos – mich mit den Empfindungen ansah, die eine solche Geste begleiten, wenn man dreizehn ist.)

Wir hinterließen die Teller, Messer und Löffel unserer stibitzten Mahlzeiten im Rettungsboot und schlichen in die Touristenklasse zurück. Irgendwann entdeckte ein Steward bei einer Sicherheitsübung, in deren Verlauf die Rettungsboote bemannt und zu Wasser gelassen wurden, die Spuren unserer zahlreichen Frühstücke, und eine Zeitlang ließ der Kapitän das Schiff nach einem blinden Passagier absuchen.

Es war noch nicht einmal acht Uhr, wenn wir die Grenze zwischen erster Klasse und Touristenklasse zurück überquerten. Wir taten so, als müssten wir schwanken, wenn das Schiff schlingerte. Ich hatte inzwischen Gefallen an dem langsamen Walzerrhythmus gefunden, in dem unser Schiff hin und her schaukelte. Und dass ich mir selbst überlassen war, wenn man von der fernen Flavia Prins und der fernen Emily absah, bedeutete bereits ein Abenteuer. Ich hatte keine Verpflichtungen. Ich konnte gehen, wohin ich wollte, tun, was ich wollte. Und Ramadhin, Cassius und ich hatten bereits eine Regel aufgestellt: Jeden Tag mussten wir mindestens ein Verbot übertreten. Der Tag hatte gerade erst begonnen, und wir hatten noch stundenlang Zeit, diese Aufgabe zu erfüllen.

ALS MEINE ELTERN IHRE EHE AUFGABEN, räumten sie es nicht offen ein und erklärten auch nichts, aber sie machten auch kein Geheimnis daraus. Sie behandelten die Sache eher wie einen Fehltritt als wie einen Autounfall. Ich bin mir deshalb nicht sicher, wieweit ich von der Scheidung meiner Eltern gezeichnet worden sein könnte. Ein Junge geht morgens zur Tür hinaus und wird sich wieder der entstehenden Landkarte seines Lebens widmen. Dennoch war es eine Jugend voller Gefahren.

Als kleiner Internatsschüler am St. Thomas’ College in Mount Lavinia liebte ich das Schwimmen. Ich liebte alles, was mit Wasser zu tun hatte. Auf dem Schulgrundstück gab es einen betonierten Kanal, durch den zur Monsunzeit das Hochwasser schoss. Dieser Kanal wurde zum Schauplatz eines Spiels, an dem sich einige Internatsschüler beteiligten. Wir sprangen hinein und ließen uns von der Strömung mitreißen, Hals über Kopf, hin und her geworfen. Fünfzig Meter weiter vorn hing ein graues Seil herab, an dem wir uns festhielten und hochzogen. Und zwanzig Meter nach dem Seil verschwand der Kanal mit dem reißenden Wasser unter der Erde und setzte seinen Weg in der Finsternis fort. Wo er endete, haben wir nie erfahren.

Vielleicht waren es vier von uns, die sich immer wieder in den Kanal stürzten, einer nach dem anderen, mit dem Kopf knapp über der Wasseroberfläche. Es war ein nervenaufreibendes Spiel, das Seil zu packen, hochzuklettern und in dem prasselnden Regen zurückzurennen, um wieder hineinzuspringen. Bei einem Durchgang geriet ich mit dem Kopf unter Wasser und tauchte nicht rechtzeitig auf, um das Seil zu fassen. Meine Hand ragte in die Luft, mehr nicht, während ich dem unterirdischen Tunnel entgegenschoss. Es war der mir vorherbestimmte Tod an jenem Nachmittag in Mount Lavinia während des Märzmonsuns, von einem Astrologen geweissagt. Ich war neun Jahre alt und stand im Begriff, eine blinde Reise in unterirdische Finsternis zu machen. Eine Hand erfasste meinen Arm, den ich noch immer erhoben hielt, und ein älterer Schüler zog mich aus dem Wasser. Er schimpfte, aber nicht sehr nachdrücklich, und dann lief er im Regen weg, ohne sich darum zu kümmern, ob wir gehorchten. Wer war er? Danke, hätte ich sagen sollen. Aber ich lag keuchend und durchnässt im Gras.

Was für ein Junge war ich in jenen Tagen? Ich erinnere mich an keinen äußeren Eindruck und somit an keine Wahrnehmung meiner selbst. Müsste ich ein Foto von mir aus meiner Kindheit erfinden, wäre es das eines barfüßigen Jungen in Shorts und Baumwollhemd, der mit ein paar Freunden aus dem Dorf an der bemoosten Mauer entlangläuft, die Haus und Garten in Boralesgamuwa von dem Verkehr auf der High Level Road trennte. Oder ein Bild von mir allein, der ich auf die anderen warte, vom Haus zu der staubigen Straße blicke.

Wer kann sich vorstellen, wie zufrieden wilde Kinder sind? Sobald ich zur Tür hinaus war, hatte die Familie keinerlei Einfluss mehr. Obwohl wir sicherlich versucht haben, die Welt der Erwachsenen zu begreifen und zusammenzusetzen, uns gefragt haben, was dort vor sich ging und warum. Doch sobald wir die Gangway zur Oronsay betreten hatten, befanden wir uns zum erstenmal zwangsläufig auf engstem Raum mit Erwachsenen zusammen.

Mazappa

MR. MAZAPPA SCHLEICHT SICH AN, als ich gerade einem betagten Passagier die Kunst demonstriere, einen Liegestuhl mit nur zwei Handgriffen aufzuklappen, hängt sich bei mir ein und nötigt mich, mit ihm zu gehen. »From Natchez to Mobile«, sagt er warnend, »from Memphis to Saint Joe …« Angesichts meiner Verwirrung verstummt er.

Die Plötzlichkeit, mit der Mr. Mazappa auftaucht, trifft mich immer unvorbereitet. Ich habe im Schwimmbecken geplätschert, da ergreift er meinen glitschigen Arm und drückt mich an die Wand des Beckens, während er daneben kauert. »Pass auf, mein komischer Junge, women will sweet-talk, and give you the big eye … ich beschütze dich mit dem, was ich weiß.« Aber als Elfjähriger fühle ich mich nicht beschützt, ich fühle mich im vorhinein durch Möglichkeiten verwundet. Schlimmer, fast schon apokalyptisch ist es, wenn er zu uns dreien spricht. »When I came home from my last tour, I found a new mule kicking in my stable … Versteht ihr, was das heißt?« Nein, überhaupt nicht. Bis es uns erklärt wird. Aber meistens wendet er sich nur an mich, als wäre ich der eine Komische, den man beeindrucken kann. Damit hat er möglicherweise recht.

Max Mazappa pflegte gegen Mittag aufzustehen und in der Delilah-Bar ein spätes Frühstück einzunehmen. »Zwei Eier im Nest und ein Nash-Soda, okay?« lautete seine Bestellung, und er kaute ein paar Cocktailkirschen, während er auf sein Essen wartete. Nach dem Frühstück ging er mit seiner Tasse Java zu dem Klavier im Tanzsaal und stellte die Kaffeetasse auf die rechten Tasten der Klaviatur. Und von den Klaviertönen animiert, vermittelte und erläuterte er dann jedem, der zufällig in der Nähe war, die wichtigen und schwierigen Einzelheiten des Lebens. Es konnte sich ebensogut darum handeln, wann ein Hut zu tragen war, wie um Rechtschreibung. »Englisch ist eine unmögliche Sprache. Unmöglich! Zum Beispiel ein Wort wie Egypt. Ein schwieriges Wort. Ich verrate dir einen Trick, mit dem du es immer richtig schreibst. Sag dir einfach: ›Ever Grasping YourPrecious Tits‹.« Diesen Satz habe ich tatsächlich nie vergessen. Selbst während ich diese Worte schreibe, zögere ich unmerklich, während ich die Wörter in Gedanken mit großen Anfangsbuchstaben versehe.

Doch meistens schöpfte er aus seinem musikalischen Wissen, erklärte die Feinheiten des Dreivierteltakts oder rief sich einen Song in Erinnerung, den er von einer attraktiven Sopranistin hinter der Bühne gelernt hatte. Auf diese Weise wurden wir Ohrenzeugen eines seltsam atemlosen Lebenslaufs. »I took a trip on an train and I thought about you«, brummte er, und wir dachten, er spräche von seinem traurigen, liebeleeren Herzen. Aber heute weiß ich, dass Max Mazappa Harmonik und Melodik liebte, denn nicht alle Stationen seines Kreuzwegs handelten von unglücklicher Liebe.

Er sei halb Sizilianer, halb sonstwas, erzählte er uns in seinem undefinierbaren Akzent. Er hatte in Europa gearbeitet, den amerikanischen Kontinent eine Weile bereist und sich in den Tropen wiedergefunden, wo er über einer Hafenbar wohnte. Er brachte uns den Refrain von »Hong Kong Blues« bei. Er konnte so viele Songs und Leben aus dem Hut zaubern, dass Dichtung und Wahrheit zu eng miteinander verquickt waren, als dass wir sie voneinander hätten unterscheiden können. Es war leicht, drei so ahnungslose und arglose Grünschnäbel an der Nase herumzuführen. Außerdem kamen in manchen der Songs, die Mr. Mazappa eines Nachmittags zu seiner Klavierbegleitung murmelte, während das ozeanische Sonnenlicht den Fußboden des Tanzsaals sprenkelte, Wörter vor, die wir nicht kannten.

Bitch. Womb.