Der erste Androide - Nils Greinert - E-Book
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Der erste Androide E-Book

Nils Greinert

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Beschreibung

In einer dystopischen Welt, die von der unersättlichen Gier der Elite zerfressen ist, kämpft Meiyu Colmen verzweifelt darum, ihre gescheiterte Existenz wiederzubeleben. Als sie tiefer in den Strudel aus politischen Intrigen und moralischen Abgründen des Landes Edara eintaucht, eröffnen sich ihr schockierende Wahrheiten, die ihr bisheriges Leben komplett auf den Kopf stellen. Als Meiyu den Versuch wagt, ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen, findet sie sich in einem Konflikt wieder, der nicht nur ihr eigenes Leben gefährdet. Auch das Schicksal des gesamten Landes steht auf dem Spiel.

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Seitenzahl: 451

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Epilog

Impressum

Prolog

Tief unten in den Erdschichten des Planeten sollen einem Mythos zufolge Menschen leben, die nachts herauskommen, um Kinder aus armen Verhältnissen zu entführen, doch für Aris spielte das keine Rolle. Auch hier oben war die Sonne aufgrund der dichten Nebelschwaden nie zu sehen. Höchstens als einen blass schimmernden Dunstball, der rötliche Strahlen durch die Wolkendecke wirft, konnte man den Stern am Horizont ab und zu ausmachen, wodurch ein Leben auch in hunderten Metern Tiefe kaum weniger lebenswert hätte sein können. Aris wünschte sich, irgendwann die Luft der Hauptstadt zu atmen und unter einer grell leuchtenden Sonne spazieren zu gehen, doch war die Wahrscheinlichkeit, dass die Sonne jetzt gleich explodieren würde, vermutlich deutlich höher. Die Welt, die er kannte, war in vier Bereiche eingeteilt und in dem, in welchem er geboren wurde, gab es nur geringe Aufstiegsmöglichkeiten. Nicht einmal in der Schule boten sich ihm große Chancen, da es in den unteren zwei Bereichen nicht einmal Online-Unterricht gab und man durch den konservativ gehaltenen Unterricht zu hundert Prozent auf die Lehrer angewiesen war, die einem dank der staatlichen Regulierung nur das Wissen mit auf den Weg gaben, welches für die unterste Schicht dringend benötigt wurde. Alles, was die fortgeschrittene Technologie des Staates betraf, wurde gekonnt außer Acht gelassen und somit war nicht nur die Schere zwischen arm und reich, sondern auch die zwischen wissend und unwissend größer als je zuvor. Etwas Blut tropfte von seiner Faust auf den Boden, doch keiner der umliegenden Fußgänger oder Autofahrer nahm Notiz davon. Zu unscheinbar war der neunjährige Junge und zu leer die Blicke der Menschen, die all ihre Träume und Hoffnungen bereits vor langer Zeit aufgegeben hatten. Eine blutverschmierte Hand, die krampfhaft einen Schlüssel umklammert, konnte die Bürger der IndustrieHochburg Yukor kaum weniger interessieren. Wenn das eigene Leid zu groß ist, bleibt für gewöhnlich nicht viel Mitleid für andere übrig und das Leiden in Iburo konnte schließlich nur von dem in Yorusa überboten werden. Aris kannte niemanden aus Yorusa, doch von seinem Vater hat er das ein oder andere Mal Geschichten gehört, die kein gerade schönes Bild von dem ärmsten der vier Sektoren zeichneten. In Iburo geboren zu werden, konnte also fast schon als Glück betitelt werden, auch wenn ein Blick in die Gesichter der Bevölkerung etwas ganz anderes nahelegte. Zumindest hatte man in Iburo die Möglichkeit, durch gute schulische Leistungen oder Erfolge bei der Arbeit sogenannte Maga-Chips zu verdienen, welche einem Zugriff auf Technologien verschaffen können, mit welchen man sich weiterbilden und ganz eventuell sogar den Sprung in einen besseren Bereich schaffen konnte. Ein solcher Fall war zwar äußerst selten, doch es war schon ein großer Luxus, dass es diese Gelegenheit überhaupt gab. Die Existenz einer solchen Tür, die in einen höheren Bereich führt, war für die Bürger von Yorusa derweil schlichtweg undenkbar. Aris bahnte sich seinen Weg durch die Menschenmenge und blieb bis zur Ankunft am heruntergekommenen Wohnblock, der als sein Zuhause fungierte, von Außenstehenden unbemerkt. Mit langsamen Schritten brachte er siebzehn Stockwerke des Wohnhauses hinter sich, ehe er vor der vergilbten Wohnungstür zum Stehen kam. Er hatte sich bereits eine Geschichte für das Blut an seiner rechten Hand ausgedacht, die er seinen Eltern erzählen konnte. Er würde erzählen, dass er auf dem Weg nach Hause eine verletzte Taube verarztet habe, diese am Ende allerdings doch noch den Verletzungen erlegen wäre. Was zuerst wie eine abwegige Geschichte klang, stellte in Iburo tatsächlich keine Seltenheit dar. Die Unzufriedenheit der Menschen äußerte sich oftmals durch Gewalt gegen Wesen, die sich nicht zur Wehr setzen können. Aris hasste Menschen, die sich nicht anders zu helfen wussten und das nicht nur, weil er im gleichen Jahr bereits zwei andere Vögel und ein Eichhörnchen auf genau diese Art und Weise hat sterben sehen. Er hasste einfach jeden Menschen, der nur nach unten und nicht nach oben trat. Er dachte sich, dass die antriebslosen Menschen, die nur noch aus purer Gewohnheit atmeten und nicht dazu bereit waren, für ein besseres Leben zu kämpfen, einfach selber sterben sollten, statt unschuldige Tiere oder andere Menschen unter ihren Launen leiden zu lassen. Vielleicht würde die Sonne dann irgendwann auch wieder für alle sichtbar sein. Um die Geschichte mit der verarzteten Taube noch glaubwürdiger zu machen, schmierte er sich noch etwas Blut an die linke Hand, bevor dieses dafür bereits zu stark eingetrocknet wäre. Nach einem tiefen Atemzug, der nicht viel frische Luft in seine Lungen transportierte, fühlte Aris sich bereit, die Tür aufzuschließen. Da es bereits später Nachmittag war, erwartete er, dass seine Mutter bereits mit dem Kochen angefangen hätte, doch als er die Wohnung betrat, merkte er schnell, dass außer ihm niemand dort war. Mit knurrendem Magen klapperte er einen Raum nach dem anderen ab, was bei der geringen Größe der Wohnung nicht besonders lange dauerte. Er rief nach seinen Eltern, doch es war so, wie er bereits beim Betreten der Zweizimmerwohnung vermutete - Er war alleine. Sein Vater musste noch etwa eine Stunde bei der Arbeit verbringen und während der Arbeitszeit war es ihm für gewöhnlich auch nicht möglich, ans Telefon zu gehen. Aris ertappte sich dabei, darüber ein wenig glücklich zu sein, da das Handy seines Vaters vom Staat gestellt wurde und so rückschrittlich war, dass ein Telefonat mit ihm in etwa die gleiche Akustik hatte wie ein Spaziergang unter einem Wasserfall. Aris wartete in etwa eine Stunde in der Wohnung und nutzte die Zeit, um sich das Blut gründlich von den Händen zu waschen. So würde er zumindest keine Ausrede mehr für den Vorfall benötigen. Seine Eltern durften das, was er wirklich getan hat, niemals erfahren, auch wenn es sich als sehr schwierig erweisen sollte, dieses Geheimnis zu bewahren. Die restliche Zeit hockte er sich in eine Ecke seines Zimmers, welches er sich mit einer Vielzahl an Kartons, Reinigungsmitteln und einem klapprigen Bügelbrett teilen musste. Seine Hausaufgaben zu erledigen, erachtete er nicht mehr als notwendig und auch die wenigen bislang ergatterten Maga-Chips, die er mit einem gelangweilten Gesichtsausdruck auf den Schreibtisch legte, sollten für ihn wohl kein Türöffner mehr werden. Nach dem, was an diesem Tag geschehen war, konnte er sich in der Schule nicht mehr blicken lassen. Einfach nicht mehr zur Schule zu gehen, konnte den Vorfall und die daraus resultierenden Folgen gewiss nicht rückgängig machen, doch die kindliche Naivität, die Aris noch nicht ganz verlassen hatte, sah darin eine gute Möglichkeit, um das schlimmste abzuwenden. Wenn er und seine Familie aus Iburo verbannt worden wären, hätte er sich das niemals verziehen, doch leider befand sich dieses Szenario durchaus im möglichen Bereich. Als er die Haustür hörte, erwartete er, seine Mutter mit prall gefüllten Einkäufstüten in den Händen zu sehen, doch stattdessen kam ein Mann mit verwüsteter Frisur und einem sorgenvollen Blick zum Vorschein, dessen Gesichtsausdruck sich sogleich in ein erzwungenes Lächeln verwandelte, als er Aris auf der Türschwelle seines Zimmers bemerkte.

„Wie war es in der Schule?“, fragte Silas Jilken mit einer gespielten Zufriedenheit in der Stimme, mit der er seinen Sohn nicht hinters Licht führen konnte.

„Ist etwas passiert? Wo ist Mama?“, erwiderte Aris, ohne der Frage seines Vaters Beachtung zu schenken.

„Mach dir keine Sorgen, sie musste nach der Arbeit nur noch schnell etwas besorgen und ist dabei in den Feierabendverkehr geraten. Du kennst das doch sicher zur Genüge.“

Aris sah seinem Vater dabei zu, wie er in die Küche lief und mit zittrigen Fingern das Backblech aus dem Ofen zog. Für Aris ein ungewohnter Anblick, da Silas die meisten Tätigkeiten, die mit dem Haushalt zu tun hatten, für gewöhnlich seiner Frau Mary überließ.

„Heute gibt es Pommes, hast du Hunger?“, fragte er und suchte dabei den Blick seines Sohnes, der ihn still musterte, ohne seine Frage zu beantworten.

„Du darfst doch dein Handy bei der Arbeit gar nicht benutzen“, entgegnete Aris schließlich, was sein Vater vorerst nur mit einem verschmitzten Lächeln quittierte.

Offenbar war er davon überzeugt, seine Unsicherheit dadurch ausreichend überspielen zu können, um zumindest einen kleinen Jungen in die Irre zu führen. Er war gerade dabei, den Inhalt einer bereits vor Wochen geöffneten Pommesverpackung auf dem Backpapier zu verteilen, als er das Zittern seiner Hände nicht mehr unter Kontrolle bekam.

„Wieso fragst du?“, antwortete er und stützte seinen Körper dabei leicht auf der Arbeitsplatte der Küche ab.

„Woher weißt du, wo Mama ist, wenn du dein Handy dort nicht benutzen kannst?“

„Sie hat mich angerufen, als ich gerade ins Auto eingestiegen bin.“

„Aber womit?“

„Jetzt stellst du dich aber doof an, Aris. Mit ihrem Handy natürlich.“

„Mit diesem hier?“, fragte Aris, dessen Finger jetzt ebenfalls zitterten, während sie das pinke Mobiltelefon von Mary umschlossen, das Aris auf der Fensterbank der Küche gefunden hatte, als er sich auf der Suche nach seinen Eltern befand. Aufgrund der Tatsache, dass seine Mutter die Wohnung sonst nie ohne ihr Handy verlassen hatte, wurde Aris sofort von einem unguten Gefühl übermannt. Von dem verschmitzten Grinsen seines Vaters war derweil nichts mehr zu erkennen. Stattdessen rangen Sorgenfalten und Tränen um die Vorherrschaft im Gesicht des Familienvaters, auch wenn dieser noch immer versuchte, diese Gegebenheit zu vertuschen.

„Wo ist Mama?“, fragte Aris mit brüchiger Stimme und plötzlich waren alle seine Sorgen über den Vorfall, der sich am Mittag des gleichen Tages ereignete, wie weggeblasen.

Die Sorge um seine Mutter, die er mehr liebte als alles andere auf der Welt, ließ alles weitere irrelevant erscheinen und breitete sich in seinem Kopf aus wie ein unkontrollierbarer Waldbrand.

„Wo ist sie?“, fragte er erneut, doch bevor sein Vater antworten konnte, durchbrach ein schriller Ton die Stille im Raum.

Silas griff in seine Hosentasche und ein graues Gerät kam zum Vorschein, dessen Display eine unterdrückte Rufnummer anzeigte. Er nahm das Gespräch entgegen, während sein Sohn ihn entgeistert anblickte und beendete das Gespräch fast genauso schnell, wie er es begonnen hatte.

Aris hat kein Wort von dem verstanden, was der Mann am anderen Ende von sich gab, doch lösten die wenigen Sätze eine schlagartige Veränderung im Verhalten seines Vaters aus. Stürmisch verließ er den Raum und rannte quer durch den Flur. Als Aris ihm bis ins Schlafzimmer folgte, sah er eine Sporttasche auf dem Bett liegen, welche durch hektische und zugleich unkoordinierte Würfe mit Klamotten gefüllt wurde.

„Wir müssen von hier verschwinden“, sagte Silas, während er sich seine verschwitzte Stirn mit dem Ärmel seines Hemds abwischte.

„Wohin gehen wir?“, fragte Aris verunsichert.

„Es gibt kein ‘Wir’ mehr.“

„Was?“

Ruckartig schloss sich die Tasche und Aris überkam der Gedanke, dass damit auch ein wichtiger Abschnitt seines Lebens ein Ende fand. Seine Jugendjahre lagen - wie durch einen undurchdringlichen Reißverschluss von ihm getrennt - in der Sporttasche, welche sich Silas bereits auf den Rücken geworfen hatte, um die Wohnung zu verlassen. Er wusste nicht, was genau dieses Gefühl in ihm auslöste, doch Aris hörte im Alter von neun Jahren damit auf, ein Kind zu sein. Silas stellte den Ofen in der Küche aus, auch wenn dies kaum noch eine Rolle spielte und griff nach einem Kugelschreiber, mit dem er kurz darauf etwas auf einen kleinen Zettel kritzelte.

„Wir gehen also nicht zusammen?“, fragte Aris, auch wenn er glaubte, die Antwort bereits zu kennen.

Sein Vater drehte sich zu ihm um und streckte seinem Sohn mit einem gekünstelten Lächeln auf den Lippen die Hand entgegen. Aris zögerte kurz, nahm den leicht zerknitterten Zettel dann aber doch aus der Hand des Mannes, welchen er jahrelang als eine Art Vorbild angesehen hatte.

„Das ist die Adresse, zu der du jetzt gehen musst. Ich lenke sie so gut es geht ab, aber du musst trotzdem versuchen, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf dich zu ziehen. Du gehst zwei Minuten, nachdem ich gegangen bin, los und begibst dich auf direktem Weg an den beschriebenen Ort, okay? Keine Umwege, verstanden?“

Aris war überrascht von der plötzlichen Sicherheit, die in der Stimme seines Vaters lag, doch wunderte er sich noch mehr darüber, dass ihn die Worte kalt ließen. Er sah seinen Vater womöglich zum letzten Mal, doch schwirrten ganz andere Gedanken in seinem Kopf herum.

„Wo ist Mama?“, fragte er noch einmal, doch das traurige Lächeln im Gesicht seines Vaters gab ihm keine Auskunft darüber.

Es verschlimmerte seine Sorgen bloß.

„Ich gehe jetzt“, sagte Silas mit fester Stimme und wuschelte Aris durch die schwarzen Haare. Seine Hand zitterte nicht mehr. Mit schnellen Schritten entfernte er sich und verließ die Wohnung, ohne sich noch einmal umzudrehen.

„Sehen wir uns wieder?“, fragte Aris noch, doch sein Vater konnte ihn schon nicht mehr hören. Die Stille in der Wohnung, die sich nach dem Abschied von seinem Vater breitmachte, war keine neue Erfahrung für Aris, doch noch nie lastete die Stille so schwer auf seinen Schultern. Er war oft genug alleine in der Wohnung, doch zumindest wusste er immer, dass die Stille irgendwann durch die Geräusche eines Schlüssels durchbrochen werden würde. Seine Mutter würde hereinkommen und er müsste sich wie so oft ihre Beschwerden darüber anhören, dass er in der Zeit mal wieder nicht den Müll heruntergebracht oder das Geschirr gespült habe. Sein Vater würde die Tür öffnen und seine angestauten negativen Emotionen an seinen Liebsten auslassen. Doch Aris wusste, dass er nie wieder den Schlüssel im Schloss hören würde. Dass niemand mehr zu ihm hereinkommen würde und er jetzt auf sich alleine gestellt war. Er konnte die Tränen schließlich nicht mehr zurückhalten und die Tür verschwand langsam hinter einem verschwommenen Schleier, ohne dass er realisierte, dass die zwei Minuten bereits vorbeigezogen waren und er die Wohnung letztlich ebenfalls verlassen musste. Er ging noch einmal in sein Zimmer, um seinen letzten verbliebenen Verbündeten zu holen. Ein Freund, der ihn nie im Stich lassen würde und schon für ihn da war, als er noch gar nicht richtig denken konnte. Er griff nach dem braunen Stoffbären, dem er den Namen Rilli gegeben hatte und der Aris mit seinem aufgenähten Lächeln anblickte. Absurderweise verspürte Aris für etwa eine Sekunde tiefen Hass gegen seinen kleinen Kumpel, da dieser niemals mit dem Lächeln aufhören würde. Die Welt könnte untergehen und auf dem Gesicht des Bären wäre dennoch nicht die kleinste Regung zu sehen.

Irgendwie beneidete Aris ihn ein wenig dafür.

Als Aris das Wohnhaus verließ, versuchte er, sich die Hinweise seines Vaters zu Herzen zu nehmen. Er ging schnurstracks in die Richtung, in der sich sein Ziel befand und zog dabei keinerlei Aufmerksamkeit seiner Mitbürger auf sich. Da er das selbst mit Blut an der Hand nicht getan hatte, erschien diese Aufgabe für ihn allerdings auch nicht besonders schwierig. Sein Blick erschien dabei genauso leer und trostlos wie die der Menschen, die ihm entgegenkamen und er fragte sich, ob er der Nächste wäre, der das Leben eines wehrlosen Tieres beenden würde.

Nein, so wollte er nicht werden.

Unter keinen Umständen durfte er zulassen, dass er ein genauso bedeutungsloses Dasein fristen würde wie die erwachsenen Menschen, die nichts anderes konnten, als zu gehorchen, um am Ende des Tages ihren Frust an der falschen Adresse herauszulassen. Aris war anders, wollte anders sein. Beim Blick zu der langsam untergehenden Sonne, die so aussah, als hätte sie sich hinter einer Milchglasscheibe versteckt, fragte er sich, ob es die Menschen tief unter ihm wohl wirklich gäbe und wann sie ihn wohl endlich zu sich holen würden.

Kapitel 1

In Meiyus Leben lief für gewöhnlich alles reibungslos ab. Sie wurde in Shogori, genauer gesagt in der Stadt Akeneas, geboren und da es nur einen Sektor gab, der für bessere Verhältnisse bekannt war, konnte sich Meiyu nie über irgendetwas beschweren. Sie lebte das Leben, das sich ihre alleinerziehende Mutter für sie gewünscht hatte und da diese jahrelang damit beschäftigt war, ihrer Tochter die Türen mit den bestmöglichen Zukunftsaussichten aufzustoßen, sträubte sich Meiyu auch nie gegen ihren bereits in Stein gemeißelten Lebenslauf. Sie hatte ihren Vater nie kennengelernt und dementsprechend schwer hatte es ihre Mutter oftmals, um ihrem einzigen Kind ein erfülltes Leben zu ermöglichen. Susan Colmen hatte als Büroangestellte kein besonders hohes Einkommen, doch da schon ihre Vorfahren in diesem Sektor aufwuchsen und einen guten Ruf genossen, konnte sie sich stets vor einem Abstieg in den Bereich Iburo bewahren. Für Meiyu sah es derweil nicht mehr ganz so rosig aus. Nachdem sie in ihrem ganzen bisherigen Leben alle Erwartungen erfüllte oder sogar übertraf und als jüngste Ermittlerin der Spezialeinheit für Cyber-Kriminalität gefeiert wurde, kam in ihrem neunundzwanzigsten Lebensjahr der jähe Absturz.

Mittlerweile war sie einunddreißig Jahre alt und drückte bereits zum siebten Mal an diesem Morgen auf den Snooze-Knopf ihres Weckers. Hätte sie den Abzug genauso routiniert betätigt wie sie den Start ihres Tages hinauszögerte, wäre sie womöglich nie in dieser Lebenssituation gelandet. Im Posteingang ihres digitalen Briefkastens, welcher unter dreckiger Wäsche und Pizzakartons vergraben war, hatten sich bereits hundertdreizehn Nachrichten versammelt, die allesamt darauf warteten, gelesen zu werden. Mindestens die Hälfte der Nachrichten enthielten saftige Rechnungen, doch Meiyu war der Meinung, dass sie nicht von den vielen Zahlungsaufforderungen eingeholt werden könne, wenn sie sich nicht damit befassen würde. Vielleicht war auch eine Nachricht ihrer Mutter darunter, doch Meiyu wollte den Kontakt so gut es geht umgehen. Wenn sich Susan in diesem Moment im Raum befunden hätte, hätte sich Meiyu wohl ohne zu Zögern unter der Decke verkrochen, um ihrer Mutter den Anblick zu ersparen. Sie rieb sich die verkrusteten Augen, die aufgrund der Schlafprobleme blutunterlaufener wirkten als vor dem zu Bett gehen und richtete ihren Körper leicht auf. Ein Blick auf die Weckeruhr verriet ihr, dass es bereits vier Uhr Nachmittags war und die meisten Menschen bereits einen harten Arbeitstag hinter sich hatten, während sie noch nicht einmal genug Energie gesammelt hatte, um ihre Beine auf den Boden ihres verdreckten Schlafzimmers zu setzen.

„Lucy, welcher Tag ist heute?“, fragte sie schlaftrunken und ließ ihren Kopf wieder aufs Kissen sausen.

„Heute ist der neunzehnte Juli des Jahres 3250, Meiyu“, antwortete eine sanfte Stimme, welche man, wenn man es nicht besser wüsste, beinahe für echt halten konnte.

„Das Jahr hätte ich auch noch hingekriegt, aber Danke“, murmelte Meiyu und warf die Bettdecke, für welche es sowieso viel zu warm war, von ihrem Körper.

Seit sie ihren Job verloren hatte, war für Meiyu jeder Tag wie der andere, doch dieser sollte anders werden. Auch wenn die Wohnung und der Geldbeutel bereits bessere Tage gesehen hatten, durfte man Meiyu wenigstens ein paar Stunden lang nichts davon ansehen. Während sie die bereits ausgeblichenen lila gefärbten Haare ein wenig in Form brachte, machte sie sich Gedanken darüber, welche Fantasiegeschichte sie diesmal erfinden könnte. Immerhin würde es ein schlechtes Licht auf sie werfen, wenn sie ihrer besten Freundin, die aus sehr gutem Hause kam, die Wahrheit erzählen würde. Die Tatsache, ihre Arbeit verloren zu haben, konnte sie zwar nicht retuschieren, doch wie sie die vergangenen zwei Jahre verbrachte, konnte man in Erzählungen zumindest ein wenig abändern. Kurzerhand tauschte sie die Erinnerungen an die vielen Abende, an denen sie Fast Food in sich hineingeschoben hatte und sonst nichts anderes tat, als Bücher zu lesen oder Serien zu konsumieren, gegen die Erinnerung an Weiterbildungskurse, eindrucksvolle Kurzreisen und Podiumsdiskussionen in VR-Foren mit einflussreichen und renommierten Philosophen. Eigentlich machte sich Meiyu nicht viele Gedanken darüber, was andere über sie dachten, doch bei Sarina verhielt sich das anders. Bei ihr konnte es Meiyu einfach nicht egal sein, was sie von ihr dachte und der Hintergrund, der hinter ihrer besten Freundin steckte, verbesserte diesen Umstand auch nicht gerade. Sarina war die Tochter eines superreichen Unternehmers, der sogar Teil des Rates von Edara war. Sarinas Familie war also eine treibende Kraft im gesamten Land und wenn irgendein Familienmitglied davon Wind bekommen hätte, dass die Tochter des Hauses mit einer Person wie Meiyu befreundet war, würde Meiyu sie gewiss nie wiedersehen dürfen. Meiyu lernte Sarina kennen, als sie diese im Rahmen eines Polizeieinsatzes vor einem Androiden mit Fehlprogrammierung beschützte. Eigentlich sollte der menschenähnliche Androide der neuesten Baureihe von Asama-Technology nur die Partygäste mit Drinks versorgen, als dieser plötzlich damit begann, von einer Raummission zu erzählen, bei welcher Menschen den Planeten vor Jahrhunderten in Scharen verlassen haben sollen. Was zuerst nur für Gelächter sorgte, artete schnell in einer Geiselnahme der Milliardärstochter aus, die erst Stunden später durch die Hand von Meiyu gerettet werden konnte. Was genau hinter der misslungenen Programmierung steckte, konnte auch Jahre danach nicht eindeutig festgestellt werden. Zwischen der damals erst achtzehnjährigen Sarina und Meiyu entstand dabei allerdings ein Band, das noch immer Bestand hatte und auch von den Gerüchten rund um Meiyu bislang nicht erschüttert werden konnte. Sarina fand in Meiyu einen Schlüssel in eine Gesellschaftsschicht, die ihr zu diesem Zeitpunkt völlig neu war und dementsprechend viel Neugier in ihr weckte. Meiyu war bei ihrer ersten Verabredung noch unsicher, wie sie sich gegenüber einer so wichtigen Persönlichkeit verhalten sollte, doch entwickelte sich im Laufe der Zeit eine Freundschaft, die Meiyu nicht mehr missen wollte. Sie wusste nicht genau, woran es lag, doch auch an diesem Tag freute sie sich unheimlich darauf, Sarina zu treffen und dafür nahm sie auch in Kauf, sich in die Hauptstadt Maganara begeben zu müssen, welche schon beim ersten Mal eine unheimliche Wirkung auf sie hatte. Maganara befand sich im Sektor Asama und beheimatete die wohlhabendsten und zeitgleich arrogantesten Menschen, die man im gesamten Land finden konnte. Was für Sarina Alltag war, versetzte Meiyu selbst sieben Jahre später noch ein wenig in Panik. Im Laufe ihres Lebens hat sie die Hauptstadt nur wenige Male zu Gesicht bekommen und das auch bloß während ihrer Arbeit oder durch die Treffen mit ihrer besten Freundin. Ohne die Genehmigung einer staatlichen Institution oder einer Person, die in Asama wohnhaft ist, durfte man den Sektor der Superreichen schließlich nicht einmal betreten.

Während sie auf den Zug wartete, bereute Meiyu ihren Entschluss ein wenig. So sehr sie sich auch auf Sarina freute, fühlte sie sich einfach nicht bereit für den Trubel, der sie in den folgenden Stunden erwartete. Bereits am Bahnsteig wurde sie von den der Anzahl an Menschen überwältigt und spürte eine Enge in der Brust, die sie aus ihrem früheren Leben nicht kannte. Die Isolation in ihren eigenen vier Wänden, schien ihr nicht gut zu tun oder war es vielleicht doch die Außenwelt, die einen schlechten Einfluss auf sie ausübte? Meiyu war sich nicht sicher, doch da sie sich extra beeilt hatte, um noch Makeup, Lippenstift und sogar Nagellack aufzutragen, wollte sie nicht einfach wieder die Heimreise antreten. Sie redete sich ein, dass schon alles gut werden würde, während der Zug bereits in der Ferne zu sehen war. Nun gab es kein Zurück mehr.

Als der Zug anhielt und sich die Türen öffneten, bemerkte Meiyu, dass sich keine Menschenseele im Abteil befand und auch niemand anderes den Eindruck machte, in den Zug einsteigen zu wollen. Dass die vielen Menschen auf einen ganz anderen Zug warteten, überraschte Meiyu nicht. Immerhin fuhr der Zug in die Hauptstadt und abgesehen von Meiyu befand sich wohl niemand mit einer Genehmigung an Ort und Stelle. Dass jede halbe Stunde ein Zug durch Akeneas in Richtung Maganara fuhr, wirkte angesichts dieser Tatsache ein wenig grotesk, doch zeigte dies nur die Einstellung der Menschen aus Asama. Wer Reichtum im Überfluss hat, muss sich über die Verschwendung von Ressourcen keine Gedanken machen. Immerhin würden die zukünftigen Generationen die Fehltritte der heutigen Generation ausbaden müssen, während die Verantwortlichen längst ihre ewige Ruhe genießen könnten. Selbst wenn in den nächsten Jahren nicht eine einzige Person in den Zug einsteigen sollte, würde er nicht damit aufhören, in Akeneas seine Türen zu öffnen. Zumindest diesmal tat er dies nicht umsonst. Meiyu hielt ihr Smartphone, welches von einem breiten Riss auf dem Display geziert wurde, vor eine kleine Apparatur, die mit einer künstlichen Intelligenz ausgestattet war, um kurz danach grünes Licht für den Einstieg zu erhalten. Sie setzte sich auf einen Sitz, der so aussah als wäre er noch nie benutzt worden und holte einen kleinen Spiegel aus ihrer pinken Handtasche, welche sie im Jahr zuvor von Sarina geschenkt bekam. Sie hatte sich zwar darüber gefreut, doch die glänzende Tasche passte so wenig zu Meiyu wie ein eigensinniger Fußballspieler zu seinen Teamkameraden. Sie überprüfte, ob sie mit ihrem knallroten Lippenstift auch nicht zu sehr wie ein Clown aussah, da sie dafür in der Eile keine Zeit mehr gehabt hatte. Als sich der Zug langsam in Bewegung setzte, blickte sie noch einmal in die Gesichter am Bahnsteig und versuchte, eine Spur von Neid in den Blicken der Menschen zu erkennen, da sie in die Hauptstadt fahren durfte, während sie alle einen weiteren Tag ihres vergleichsweise trostlosen Daseins durchlebten.

Sie konnte nichts dergleichen in ihren Gesichtern finden. Bloß gähnende Leere war darin zu sehen.

Sarina befand sich bereits am ausgemachten Treffpunkt und guckte etwa alle zehn Sekunden auf ihre goldene Armbanduhr, obwohl die verabredete Uhrzeit noch nicht einmal annähernd erreicht war. Als sie die violetten Haare in der Menschenmenge erblickte, gab es kein Halten mehr und sie rannte, ohne auf die Blicke der anderen Menschen zu achten, auf Meiyu zu und schmiss sich ihr so hingebungsvoll um den Hals, dass diese sich kaum auf den Beinen halten konnte.

„Da bist du ja endlich“, sagte Sarina und erdrückte ihre beste Freundin dabei förmlich.

Meiyu war noch damit beschäftigt, sich ein paar blonde Haare, die bei der stürmischen Begrüßung in ihrem Mund gelandet waren, aus ihren Mundwinkeln zu fischen. Die Hauptstadt hatte, wie schon in der Vergangenheit, eine erdrückende Wirkung auf Meiyus Gemüt, doch in dem Moment, in dem Sarina ihre Arme um sie schlang, war alles davon vergessen und sie fühlte sich so sicher und geborgen wie schon lange nicht mehr.

„Wollen wir ins Café gehen? Da kann man sich besser unterhalten“, schlug Sarina vor und Meiyu stimmte freudig zu.

Auf dem Weg gingen sie an hoch in den Himmel ragenden Wolkenkratzern vorbei und Meiyu konnte nicht anders, als erneut die sich verändernden Strukturen der Gebäude zu bestaunen. Die Gebäude wurden aus einem Stoff namens Osmerian erbaut, welcher nicht nur äußert selten und entsprechend wertvoll war, sondern auch vielfältig einsetzbar. Durch elektrische Impulse konnten sich die Fassaden der Bauten in jede beliebige Form bringen. Meiyu bezweifelte, dass dies irgendeinen Zweck erfüllte, der über überflüssiges Proletengehabe hinausging, doch musste sie zugeben, dass die Optik der Stadt etwas beeindruckendes an sich hatte.

„Du brauchst dir wegen der Kosten keine Gedanken zu machen. Ich übernehme heute alles, da du ja sicher schon bei der Zugfahrt genug Maga-Chips losgeworden bist“, sagte Sarina und lächelte Meiyu großzügig zu und offenbarte damit, dass sie nach dem Kaffeetrinken noch weitere Unternehmungen geplant hatte. Meiyu dachte an die übrigen Maga-Chips, die sich noch auf ihrem Smartphone befanden und gerade so für die Rückreise reichen würden und war Sarina entsprechend dankbar für ihren Vorschlag.

Sie dachte sich, dass sie bald einen Blick auf die vielen Rechnungen werfen und sich neue Arbeit suchen müsse, doch für den Augenblick zählte nur noch die gemeinsame Zeit mit Sarina. Meiyu sah dabei zu, wie ein Androide, der die Straßen sauber halten sollte, einen Menschen stattdessen mit Müll bewarf. Offensichtlich eine Fehlprogrammierung, doch da Meiyu mittlerweile arbeitslos war, war es nicht mehr ihre Aufgabe, sich um diese Angelegenheit zu kümmern.

„Müll gehört in den Mülleimer, nicht auf die Straße“, wiederholte der Androide immer und immer wieder und traf mit seinen Würfen inzwischen gleich mehrere Personen, die sich aufgrunddessen schockiert zurückzogen und lautstark nach Ordnungshütern verlangten. Es war nicht das erste Mal, dass Meiyu die Blicke voller Verachtung bemerkte, die die Menschen den Maschinen zuwarfen, wenn sie sich nicht so verhielten, wie es sich für sie gehörte. Sie waren da, um zu gehorchen. Moderne Sklaven, die nicht menschlicher Natur waren, aber so aussehen sollten, als wären sie es. Wenn ein Androide die Befehle missachtete oder sogar eine Gefahr für Menschen darstellte, musste er abgeschaltet, umprogrammiert oder sogar vernichtet werden. Kein Mensch nahm Androiden als fühlende Wesen wahr, doch konnte sich Meiyu mit diesem Gedanken einfach nicht anfreunden. Obwohl sie ihren Job aufgrund dieser Tatsache verloren und ihr verkorkstes Leben genau diesem Umstand zu verdanken hatte, konnte sie sich nicht dazu bringen, Androiden mit einer solchen Abscheu in den Augen zu betrachten. Als ihr auffiel, dass selbst Sarina den Androiden angewidert ansah, machte sich ein flaues Gefühl in ihrem Magen breit.

„Wieso macht denn niemand etwas?“, fragte Sarina und wirkte dabei ernsthaft besorgt.

„Wenn man dir den Job nicht weggenommen hätte, hättest du die Sache schon längst geregelt“, fügte sie hinzu und zwinkerte Meiyu dabei zu, die sogleich rot anlief.

„So gut war ich nun auch wieder nicht“, antwortete Meiyu und versuchte, ihre Verlegenheit nicht zu sehr nach außen zu tragen.

„Mach dich nicht runter. Du warst die Beste von allen.“

Das flaue Gefühl in Meiyus Magen verflüchtigte sich plötzlich. Sarina hatte, ganz im Gegensatz zu vielen anderen, nie danach gefragt, warum Meiyu damals so gehandelt hatte, obwohl sie hätte wissen müssen, dass sie ihren Job dabei aufs Spiel setzte. Eventuell fragte sie nicht, weil es sie schlichtweg nicht interessierte, doch möglicherweise verstand sie es auch einfach, ohne fragen zu müssen. Meiyu dachte darüber nach, ob Sarinas Blick auf den Androiden vielleicht gar keine Verachtung, sondern Mitleid zum Ausdruck bringen sollte.

„Bedrückt dich etwas?“, fragte Sarina und riss Meiyu damit aus ihren Gedanken.

„Nein, alles ist gut. Die Stadt macht mich nur etwas nervös.“

„Da gewöhnt man sich dran, wir müssen uns einfach häufiger treffen.“

„Da hast du sicher recht.“

Meiyu fragte sich allerdings, wie sie das finanziell bewältigen sollte und wurde unwillkürlich von dem Wunsch heimgesucht, bei Sarina zu wohnen. Hatte sie es in Wahrheit etwa nur auf das Geld ihrer einzigen richtigen Freundin abgesehen und hatte die Hoffnung, von ihr aus ihrer misslichen Lage befreit zu werden, wie sie es damals bei ihr getan hatte? Nein, für Meiyu war Sarina nicht einfach nur ein Goldesel, den sie ausnutzen wollte, um besser über die Runden zu kommen und bei dem Gedanken, in dieser Stadt nicht nur zu Besuch zu sein, verfluchte sie ihren vorherigen Wunsch sogar. Für andere würde sicherlich ein Traum in Erfüllung gehen, wenn sie in Maganara leben dürften, doch Meiyu hasste die Scheinheiligkeit der Gesellschaft, die hier ganz besonders stark zu spüren war. Dennoch musste sich Meiyu eingestehen, dass ihr die Luft der Hauptstadt guttat. Die Luft war zwar auch in ihrer Heimat nicht ansatzweise so verschmutzt wie in den untersten Sektoren des Landes, doch die Luft, mit der sie in diesem Moment die Lungen füllen konnte, löste nochmal ein ganz anderes Gefühl in ihr aus. Es wirkte ziemlich ironisch auf sie, dass die Leute, die am wenigsten Rücksicht auf die Umwelt nahmen, die sauberste Luft atmen durften, doch genauso war diese Welt konzipiert. Der technische Fortschritt wurde im Laufe der Jahrhunderte so weit vorangetrieben, dass sich die reichsten Menschen ruhig zurücklehnen konnten, während alles negative, das sie verursachten, automatisch an die unteren Gesellschaftsschichten weitergeleitet wurde, die nichts dagegen tun konnten. In Maganara gab es die sauberste Luft, das sauberste Wasser und die saubersten Menschen, auch wenn diese im Inneren dreckiger waren als das gesamte restliche Land zusammen.

Der Androide, der an einer Fehlprogrammierung litt, wurde mittlerweile von Ordnungshütern überwältigt und die Menschen lenkten ihre Aufmerksamkeit schon wieder auf ihre trivialen Aktivitäten. So als wäre nie etwas geschehen.

Vor Meiyus Augen breitete sich inzwischen der Ratplatz aus, welcher als wichtigster Ort des gesamten Landes bekannt war. Meiyu hatte diesen Ort schon mehrmals gesehen, doch ihr blieb noch immer der Atem stocken, als sich ihr dieser Anblick bot. Der Platz war von riesigen Gebäuden umzingelt, wovon sich besonders ein Komplex abheben konnte. Das Rathaus, das nicht nur innerhalb weniger Sekunden mehrmals die Form änderte, sondern auf dessen Dach zusätzlich ein riesiges Abbild des derzeitigen Präsidenten in Form eines Hologramms thronte, um gütig auf die Bürger herabzublicken. Auch wenn die Bewohner Maganaras es so auffassten, als würde Callam Marrow über sie wachen, fühlte sich Meiyu keinesfalls beschützt. Ganz im Gegenteil. Sie fühlte sich viel eher beobachtet.

Links neben dem Rathaus schoss ein gigantischer Turm in die Wolken. Der Hauptsitz von Asama-Technology. Das Unternehmen hinter all den Androiden, dem Osmerian und sogar hinter dem gesamten Land, da der Geschäftsführer rein zufällig ebenfalls Callam Marrow war. Als Ratsvorsitzender, Präsident von Edara und Inhaber von Asama-Technology war er vielleicht die einzige Person auf dieser Erde, die ihr hätte erklären können, welchen Zweck es erfüllte, dass der Turm die Bürger nicht nur mit rasch wechselnden Farben anblinkte, sondern sich auch noch andauernd zu einer Spirale verformte. Meiyu hatte gehört, dass sich die Veränderungen an der Fassade nicht von innen auf die Räumlichkeiten auswirken würden, da das Osmerian sich nur in die vorgegebenen Formen ausbreite und der Kern der Gebäude unverändert bliebe, doch hätte sich Meiyu trotzdem unwohl gefühlt, wenn sie in einem solchen Komplex hätte arbeiten müssen. Die stinknormalen Wände und Fenster waren ihr nach wie vor lieber und von den künstlichen Sonnen, die in vielen Gebäuden umherfliegen sollten, um in Kombination mit hochmodernen Luftfiltersystemen die fehlenden Fenster auszugleichen, wollte Meiyu am liebsten erst gar nichts wissen. Mitten auf dem Platz zog ein Mann mit einem roten Hut die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich. Meiyu blickte zu dem tanzenden und singenden Mann herüber, den man in ihrer Heimat für verrückt erklären würde und hatte für einen kurzen Augenblick das Gefühl, dass er ihren Blick erwiderte.

„Was ist los?“, fragte Sarina und Meiyu bemerkte, ihre Anwesenheit für einen Moment komplett ausgeblendet zu haben.

Die vielen Eindrücke, die hier auf einen niederregnen konnten, hatten sie ein bisschen zu sehr in den Bann gezogen.

„Wenn du so weitermachst, schlägst du hier noch Wurzeln“, witzelte Sarina und Meiyu musste grinsen.

„Tut mir leid, dieser Platz hat einfach etwas magisches an sich.“

„Hat er das? Ich finde ihn irgendwie hässlich.“

„Tatsächlich?“

„Mein Vater macht sich wohl so oft mit seiner Position im Rat wichtig, dass ich mittlerweile eine Abneigung gegen seinen Arbeitsplatz entwickelt habe.“

Sarina lachte laut auf und griff nach Meiyus Hand, um sie endlich von ihren Wurzeln zu befreien und in Richtung Café zu zerren. Das Café befand sich nicht umsonst direkt am Ratplatz. Ein Blick reichte, um den nicht unerheblichen Unterschied zwischen diesem und anderen Cafés zu erkennen. Selbst die Menschen wirkten vornehm und nicht im geringsten so, wie Meiyu es aus Akeneas gewohnt war. Dementsprechend hoch waren auch die Preise, weshalb Meiyu umso dankbarer dafür war, dass Sarina sich ihre Spendierhosen angezogen hatte. Eigentlich war es eher ein Spendierrock, doch solange man damit die Getränke bezahlen konnte, deren Preise in etwa dem Wert zweier Monatsmieten für Meiyu entsprachen, hätte es auch gerne ein Spendierzylinder sein können.

„Was hätten die Damen denn gerne?“, fragte ein hochgewachsener Kellner mit Schnauzbart, den Meiyu gar nicht hat kommen sehen.

„Ich hätte gerne einen Cappuccino“, antwortete Sarina und richtete ihren Blick daraufhin auf Meiyu, die in der Anwesenheit des Kellners unnötig nervös wurde.

„Für mich nur einen normalen Kaffee bitte.“

Der Kellner verbeugte sich kurz und entfernte sich dann wieder.

„Ist dir etwas an ihm aufgefallen?“, fragte Sarina mit breitem Lächeln.

„Was meinst du?“

„War er ein Mensch oder ein Androide?“

„Wenn du schon so fragst, anscheinend kein Mensch.“

„Du hast es erfasst. Niemand, der in diesem Café arbeitet, ist ein Mensch. Alle hier gehören zu der neuesten Baureihe von Asama-Technology. Ist das nicht beeindruckend? Bei den meisten Androiden konnte man immer leichte Unterschiede in den Bewegungen oder zumindest in den Augen sehen, aber die Androiden dieser Baureihe sind ganz anders. Wenn ich einem davon auf der Straße begegnen würde, würde ich ihn wahrscheinlich für einen echten Menschen halten.“

„Ich komme echt nicht mehr hinterher bei den ganzen Baureihen und den damit verbundenen Veränderungen. Wer weiß? Vielleicht bist du ja auch bloß ein Roboter.“

Das Lächeln in Sarinas Gesicht erstarb von einem auf den anderen Augenblick und Meiyu hatte das Gefühl, ihr Herz rutsche ihr in die Hose. Als Sarina schließlich in lautes Gelächter ausbrach, war sie erleichtert und musste ebenfalls lachen.

„An sich spielt das ja auch gar keine Rolle. Es gibt viele Leute, die Androiden komplett anders behandeln als Menschen, aber wenn man sowieso alle gleich behandelt, muss man sich da ja auch gar nicht auskennen.“

Meiyu hatte sich mit Sarina nie über dieses Thema unterhalten, doch jetzt befanden sie sich gefährlich nah an dem Vorfall, der ihr Leben vor zwei Jahren komplett auf den Kopf stellte. Wollte Sarina sich etwa nach all der Zeit plötzlich doch noch darüber unterhalten?

„Ist das deine Sichtweise? Verhältst du dich gegenüber Menschen genauso wie bei Androiden?“

„Was würdest du über mich denken, wenn ich Ja sagen würde?“

Meiyu musste für einen Moment über diese Frage nachdenken. Der Kellner kehrte an den Tisch zurück und stellte die bestellten Heißgetränke darauf ab, woraufhin sich Sarina und Meiyu mit einem freundlichen Nicken bedankten.

„Ich würde dich vermutlich noch mehr mögen, als ich es ohnehin bereits tue.“

Diesmal war Sarina damit an der Reihe, rot anzulaufen.

„Du bist echt anders als alle anderen. Ich dachte immer, die einzige Person, die keinen Unterschied zwischen Menschen und Androiden macht, befinde sich in meinem Spiegel. Selbst dich habe ich immer für einen Menschen gehalten, der Androiden bloß für Sklaven hält. Bis ich von diesem Vorfall gehört habe.“

Jetzt war es also wirklich so weit.

„Was hast du in diesem Moment gefühlt? Als du realisiert hast, den Abzug nicht betätigen zu können?“

„Ich wusste, dass ich das richtige getan habe. Leider war die Welt anderer Meinung.“

Die Erinnerungen an den schicksalhaften Tag, die Meiyu in den letzten Monaten immer weiter in eine staubige Ecke ihres Unterbewusstseins verdrängen wollte, fluteten erneut ihren Kopf. Sie befand sich plötzlich wieder auf der Dachterasse der Familie Madden. Sie hatte gerade Feierabend machen wollen, als der Anruf kam. Ein Androide, der sich um die Kinder des Hauses kümmern sollte, während die Eltern außer Haus waren, hatte die Kontrolle über sich verloren und stellte eine Gefahr für die zwei Mädchen dar. Vor Ort fand sie den besagten Androiden auf dem Dach des Wohnkomplexes vor, während ihre Kollegen noch die restliche Wohnung absuchten. Der Androide, der das Erscheinungsbild einer ganz gewöhnlichen jungen Frau hatte, war gerade damit beschäftigt, Mobiliar der Familie in die Tiefe zu werfen. Meiyu hatte einen klaren Auftrag. Da nicht abgeschätzt werden konnte, inwiefern sich der Kontrollverlust auf die Töchter der Familie oder andere Zivilisten auswirken konnte, musste der Androide vernichtet werden. Die Frau, die wie im Wahn Gegenstände auf die Straße warf, war laut Gesetz genauso viel wert wie die Möbel, die weit unter ihnen auf dem Asphalt aufgeprallt waren. Ein Gegenstand. Eine Maschine, die nicht richtig funktionierte und die schlichtweg auf den Müll geworfen werden konnte. Meiyu erinnerte sich daran, wie unsicher sie die Waffe mit ihren Händen umklammerte, als eine der Töchter herablassend von ihr forderte, endlich den Abzug zu betätigen. Sie hatte versucht, die Frau zu warnen, bevor sie ihr eine Kugel in den Kopf schießen würde. Sie wollte ihr wenigstens die Chance geben, die Situation zu erklären. Als der Androide auf ihre Worte reagierte und sich zu ihr umdrehte, wusste Meiyu bereits, dass sie nicht abdrücken konnte. Die Frau hatte geweint. Emotionen, zu denen ein Androide gar nicht fähig sein sollte, standen ihr ins Gesicht geschrieben und gaben Meiyu das Gefühl, dass die Person vor ihr aus Fleisch und Blut bestand. Letztendlich hatte der Androide eines der Mädchen leicht verletzt, als dieses die Sache ungeduldig selbst in die Hand nehmen wollte und den Versuch unternahm, den Androiden von der Dachterasse in den Abgrund zu schubsen. Meiyu konnte Schlimmeres verhindern, indem sie den Androiden überwältigte und festnahm. Als die Töchter gegenüber den Behörden die Aussage tätigten, dass Meiyu die Situation deutlich früher durch eine Zerstörung des Androiden hätte lösen können, brach Meiyus Leben wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Sie wurde suspendiert, verlor den Großteil ihrer Freunde und konnte noch froh darüber sein, wenigstens ihren Wohnsitz in Shogori behalten zu dürfen. Der Androide wurde letztlich doch noch zerstört, wodurch Meiyus Opfer komplett umsonst gewesen war und der Fall machte im ganzen Land Schlagzeilen.

„Ermittlerin verschont Androiden auf Kosten der Madden-Töchter“, rezitierte Sarina die Headline der Asama Post, welche als die populärste Zeitung des gesamten Landes galt.

„Das klang fast so, als hättest du diese Mädchen erschossen, anstatt deinen Job zu erledigen. Als ich das damals gelesen habe, wusste ich sofort, dass die Sache viel banaler gewesen sein musste. Wenn die Töchter nur halb so schlimm sind wie ihr Vater, hätte ich ihnen ohne Zögern die Köpfe weggepustet“, sagte Sarina und lachte dabei laut auf, ohne auf die irritierten Blicke anderer Besucher des Cafés zu achten.

Meiyu wusste, dass Sarina die Familie kannte. Schließlich saß der Vater der beiden Töchter ebenfalls im Rat, wodurch Meiyus Entscheidung selbstverständlich noch größere Wellen schlug.

Eine Frau, die gemeinsam mit ihrer Tochter im Café war und gerade in Richtung Ausgang ging, hatte offenbar gehört, worüber sich die beiden Freundinnen unterhalten haben und musterte diese aufgrunddessen mit einem kühlen Blick.

„Wieso müssen wir schon gehen? Ich will noch einen Kakao“, motzte das kleine Kind und Meiyu musste unwillkürlich an die Töchter der Familie Madden denken, die einen ähnlich frechen Ton an den Tag legten. Andererseits konnte sie das kleine Mädchen auch ein wenig verstehen. Die Getränke waren im Café Oase zwar äußerst teuer, aber über den Geschmack konnte man sich wahrlich nicht beschweren.

„Wir wollten doch deinen Papa von der Arbeit abholen und ihn überraschen. Weißt du das denn nicht mehr?“, antwortete die Mutter und Meiyu fragte sich, ob der Vater wohl im Rathaus arbeiten würde.

„Wie kommst du im Moment eigentlich über die Runden?“, erkundigte sich Sarina und holte Meiyus Aufmerksamkeit damit wieder an den Tisch zurück.

Meiyu rasten die vielen Fantasiegeschichten, die sie sich vor dem Treffen zurechtgelegt hatte, durch den Schädel. Am Ende entschied sie sich dann aber doch für die Wahrheit.

Sie erzählte Sarina zwar nichts von ihrer andauernden Verzweiflung, von den Streitigkeiten mit ihrer Mutter und den vielen Rechnungen, die sich bereits bis an die Decke stapeln würden, wenn sie nicht bloß in digitaler Form vorhanden wären, doch tischte sie ihr auch keine Lügen auf.

Als Meiyu damit fertig war, die Situation zu schildern, hatte sie das Gefühl, zu viel gesagt zu haben. Sarina erweckte den Eindruck, tief in Gedanken versunken zu sein.

„Das tut mir alles echt leid“, sagte Sarina irgendwann.

„Ich würde das gerne wieder für dich geradebiegen, aber ich fürchte, dafür reicht mein Einfluss nicht aus.“

„Du musst gar nichts tun, ich komme schon klar. Ich möchte dich ja gar nicht in irgendwelche Schwierigkeiten bringen.“

Sarina lächelte sanft und wollte gerade wieder zu sprechen beginnen, als etwas unerwartetes geschah. Der Raum wurde plötzlich von einem hellen Licht erleuchtet und nur wenige Millisekunden später setzte ein lautes Dröhnen ein. Meiyu sah noch, wie die robusten Scheiben des Cafés durch eine Schockwelle zertrümmert wurden. Danach wurde alles um sie herum pechschwarz.

Als Meiyu wieder zu sich kam, nahm sie zuerst die Sirenen der Einsatzfahrzeuge wahr, die dem Tatort immer näher kamen. Abgesehen davon hörte sie nur einen dumpfen Piepton, der es sich in ihren Ohren bequem machte. Sie vermutete, dass es sich um ein Knalltrauma handelte. Außerdem konnte Meiyu nicht viel sehen, da alles voller Rauch war. Sie hielt sich ihr Shirt vor den Mund, um nicht zu viel davon einzuatmen. Sie wusste, dass dies nicht viel brachte, doch fiel ihr keine bessere Maßnahme ein, bevor die Rettungskräfte vor Ort waren. Sie suchte nach Sarina und rief dabei mehrmals laut ihren Namen, doch erhielt sie darauf keine Antwort. In ihr breitete sich die Angst aus, dass es sie eventuell schlimmer erwischt haben könnte. Sie taumelte in die einzige Richtung, in der sie etwas erkennen konnte, um sich einen besseren Überblick über die Situation zu verschaffen und trat dabei auf Scherben und Trümmerteile, die unter ihren Füßen knirschten und knackten. Als sie den Ort, der einst als Eingang zum Café fungierte, erreichte, sah sie, dass die Explosion vom Rathaus ausging. Die Flammen loderten an der Stelle, an der noch kurz zuvor das Hologramm von Callam Marrow thronte und malten dabei ein Bild, welches sich tief in Meiyus Unterbewusstsein einbrannte. Durch den Rauch erkannte sie einen Schatten, der zu einer Person gehören musste, welche mitten auf dem Platz stand. Als sich der Nebel aufgrund einer Windböe ein wenig lichtete, erkannte sie die Person wieder. Der rote Hut saß noch immer auf seinem Kopf, doch er tanzte und sang nicht mehr. Es sah eher so aus, als würde er lachen. Als Meiyu den Mann verwundert ansah, beschlich sie erneut das Gefühl, dass er den Blick erwidern würde. Als er seinen Zeigefinger in die Höhe hielt und ihr ein breites Grinsen zuwarf, wusste sie, dass sie das Gefühl nicht trog.

Kapitel 2

Seit dem Anschlag auf das Rathaus waren drei Wochen vergangen und Meiyu konnte noch immer nicht wirklich begreifen, was überhaupt geschehen war. Nachdem sie sich monatelang in ihrer Wohnung verbarrikadierte und niemanden an sich heranließ, hatte sie es endlich mal wieder geschafft, mit der Außenwelt in Kontakt zu treten und gerade in diesen wenigen Stunden entschied sich irgendein Terrorist dazu, das größte Attentat in der Geschichte des Landes zu verüben? Meiyu fragte sich, wie ein einzelner Mensch so viel Pech haben konnte, doch bei dem Gedanken an die vielen Todesopfer, die der neunzehnte Juli gefordert hatte, kam sie sich furchtbar undankbar vor. Sie selbst überlebte den Angriff, ohne schwere Verletzungen davonzutragen. Sie litt noch zwei Tage an leichtem Schwindel und Gleichgewichtsstörungen, welche vom Knalltrauma ausgelöst wurden, doch ansonsten ging es ihr schnell wieder gut. Da sie schnell wieder zu sich kam und von den eingetroffenen Einsatzkräften sofort behandelt werden konnte, entging sie zudem einer drohenden Rauchvergiftung. Sarina hatte nicht ganz so viel Glück, da die Rettungskräfte sie erst recht spät in dem zusammengestürzten Eingangsbereich gefunden und anschließend geborgen hatten. Abgesehen von einer leichten Gehirnerschütterung und dem Verdacht auf eine Rauchgasvergiftung, wegen welchem sie auch eine Nacht lang im Krankenhaus unter Beobachtung stand, hat aber auch sie den Terroranschlag gut überstanden. Die psychische Belastung, die von dem Angriff ausgelöst wurde und viele der Überlebenden in jeder Sekunde heimsuchte, hatte im Vergleich dazu deutlich mehr Gewicht. Sarina befand sich in psychiatrischer Behandlung, um die Ereignisse bestmöglich verarbeiten zu können. Meiyu musste ohne diese Betreuung zurechtkommen und schloss sich wieder in ihren vier Wänden ein, auch wenn ihre Gedanken immer wieder zurück nach Maganara wanderten. Während sie kraftlos in ihrem Bett lag, dachte sie nicht nur an die Geschehnisse des verhängnisvollen Tages, sondern in erster Linie an Sarina. Der Präsident des Landes war zwar während des Attentats nicht im Rathaus, wodurch das Land zumindest ihr Oberhaupt behalten hatte, doch andere Mitglieder des Rats sind durch den Angriff ums Leben gekommen. Darunter auch Bruce Hinton, der nicht nur viel für das Land Edara getan hatte, sondern auch Sarinas Vater war. Meiyu hatte Angst davor, dass ihre beste Freundin an den Vorkommnissen zerbrechen könnte und wünschte sich nichts sehnlicher, als bei ihr zu sein, um sie in den Arm nehmen zu können. Meiyu drückte sich ihre Bettdecke an ihren Körper und stellte sich vor, es wäre Sarinas Körper. Das funktionierte allerdings nicht wirklich gut, da das Kissen viel zu weich war und keine menschliche Wärme ausstrahlen konnte. Vielleicht wollte Meiyu Sarina nicht nur in den Arm nehmen, um diese zu trösten, sondern auch um ihre eigene Seele zu heilen. Jede Minute, in der sie sich alleine in ihrer Wohnung befand, verschlimmerte ihr Leiden nur noch. Sie griff mit tränenunterlaufenen Augen zu ihrem Smartphone und spielte mit dem Gedanken, Sarina anzurufen. Sie hatten sich seit dem Vorfall nur einmal kurz unterhalten und dabei hatte Meiyu das Gefühl, ihrer Gesprächspartnerin bloß die Zeit zu stehlen. Vielleicht war es nur Einbildung, aber sie hatte den Eindruck, als wäre Sarina momentan lieber alleine und dass sie sich seitdem nicht ein einziges Mal bei ihr meldete, bekräftigte diesen Gedanken bloß. Meiyu konnte sie verstehen, doch da sie sich nach nichts mehr sehnte, als danach, die Stimme ihrer besten Freundin zu hören, musste sie sich mit aller Kraft davon abhalten, auf den Hörer zu drücken. Meiyu legte ihr Handy schließlich wieder auf den Nachttisch und starrte daraufhin so gedankenverloren an die Decke, als hätte sie erwartet, dass die Lösungen für all ihre Probleme daran zu finden wären. Unwillkürlich schoß ihr das Gesicht des lachenden Mannes in den Kopf. Meiyu fragte sich, was es in dieser Situation eigentlich zu lachen gab und wieso ihm all der Rauch überhaupt nichts auszumachen schien. Zudem hatte sie noch immer nicht die Bedeutung des Zeigefingers begriffen, den der Mann nach oben hielt, als er sie ansah. Sollte das bedeuten, dass das erst der erste Angriff war? Da seither kein weiterer Anschlag verübt wurde, von dem Meiyu gehört hatte, hielt Meiyu dies für relativ unwahrscheinlich. Vielleicht hatte sich Meiyu den Mann auch einfach bloß eingebildet. Zumindest wollte sie sich selbst davon überzeugen, um keine Angst mehr davor haben zu müssen, dass der Mann, der eventuell sogar etwas mit dem Attentat zu tun hatte, wirklich zu ihr herübersah. Welchen Grund sollte es dafür auch geben? Meiyu war seit zwei Jahren von der Bildfläche verschwunden und wenn sie, so selten es auch vorkam, dann doch mal auf die Straße trat, nahm sie die bohrenden Blicke ihrer Mitmenschen kaum noch wahr. Möglicherweise lag es daran, dass sie damals, als sie auf den Titelblättern der Zeitschriften auftauchte, noch braune Haare hatte oder vielleicht hatten die Menschen sie einfach bereits vergessen. Immerhin verhielt es sich mit solchen Geschichten sehr häufig so. Zwei bis drei Wochen bestimmt ein und dasselbe die Headlines und ein paar Wochen später interessiert sich schon niemand mehr dafür. Wenn Meiyu davon überzeugt wäre, selbst nach zwei Jahren noch nicht vergessen worden zu sein, würde sie sich ihrer Meinung nach viel zu viel Bedeutung beimessen. Dennoch wurde sie das Gefühl nicht los, dass der Mann mit dem roten Zylinder genau wusste, auf wen er seinen Blick richtete. Meiyu versuchte, sich von den unsinnig erscheinenden Gedanken zu befreien, indem sie für ein wenig Ablenkung sorgte.

„Lucy, könntest du bitte den Fernseher einschalten?“, fragte sie höflich, auch wenn die Sprachsteuerung all ihrer Elektrogeräte ihr auch gehorcht hätte, wenn sie diese unfreundlich darum gebeten hätte.

Lucy ließ die Flimmerkiste, die in flacher Form an der Wand hing, aufblitzen.

„Bitteschön, Meiyu. Viel Spaß!“

„Dankeschön, Lucy.“

Meiyu hatte dem Sprachcomputer, welcher mehr Gewalt über ihre Wohnung hatte als sie selbst, extra einen Namen gegeben, den sie schön fand. Manchmal unterhielt sie sich sogar mit ihr, auch wenn Lucy keine so weit fortgeschrittene künstliche Intelligenz war wie die Androiden von Asama-Technology, wodurch die Gespräche oft einen langweiligen Verlauf nahmen.

Manchmal war ihr einfach danach, mit jemandem ein Gespräch zu führen und da sie Asama 2.0 nach den Geschehnissen vor zwei Jahren stets gemieden hatte, war Lucy oftmals die einzige Gesprächspartnerin, die ihr übrig blieb. Asama 2.0 war eine digitale Welt für Bürger der beiden oberen Sektoren, in der man sich unter anderem mit zahlreichen Menschen austauschen konnte. Natürlich gab es darüber hinaus noch einige andere Vorzüge, doch war Meiyu schon zufrieden, wenn Lucy ihre Wohnung nicht anzündete und ab und zu für ein paar Unterhaltungen zur Verfügung stand. Der Fernseher zeigte auf fünf verschiedenen Sendern bloß Berichterstattungen über den Anschlag auf das Rathaus und Meiyu bereute ihre Entscheidung, den Fernseher anschalten zu lassen, dementsprechend schnell. Auf andere Gedanken zu kommen, war gar nicht so leicht, wenn die Medien bis zum geht nicht mehr auf dem Thema herumreiten würden. Meiyu war sich sicher, dass der Anschlag zu den wenigen Ereignissen zählen würde, die nicht innerhalb von ein paar Wochen in Vergessenheit geraten.

Meiyu war gerade eingeschlafen, als es an der Tür klingelte. Sie blickte auf ihre Uhr und war verwundert, als sie bemerkte, dass diese erst 17:15 Uhr zeigte. Sie musste wohl einfach weggedöst sein, auch wenn dies um diese Tageszeit selbst für sie untypisch war. Sie setzte ihre nackten Füße auf den Boden des Schlafzimmers und bemerkte, für einen Besucherempfang sehr unpassend gekleidet zu sein. Sie trug bloß ein von Flecken übersätes T-Shirt und einen weiten Rock, der noch ausgeblichener als ihre Haarfarbe war. Meiyu lief mit leichten Schritten in Richtung Tür, um durch den Spion zu sehen und überlegte dabei, wer der überraschende Besucher sein könnte. Sie erwartete niemanden und hatte ein wenig Bedenken, dass es ein Zwangsvollstrecker sein könnte. Als sie durch den Türspion blickte, bestätigten sich ihre Befürchtungen allerdings nicht.

„Malcolm?“, fragte sie, als sie die Tür einen kleinen Spalt weit öffnete.

„Was machst du denn hier?“

Vor der Tür stand ein hochgewachsener Mann mit blondem Haar, welcher Meiyu mit einem leicht mitleidigen Blick musterte.

„Ich war zufällig in der Nähe und dachte mir, ich statte dir mal einen Besuch ab und erkundige mich, wie es dir geht“, antwortete Malcolm freundlich.

Meiyu fragte sich, ob das wirklich der wahre Grund war, weshalb ihr ehemaliger Kollege sie besuchte. Schon damals wurde sie das Gefühl nie los, dass Malcolm Olson auf mehr aus war als auf bloße Freundschaft oder ein gesundes Verhältnis unter Kollegen. Da ihr ein wenig Kontakt zu einem anderen Menschen aber nicht schaden konnte und es kaum eine bessere Ablenkung hätte geben können, wollte sie ihm auch nicht einfach die Tür vor der Nase zuknallen.

„Darf ich reinkommen?“, erkundigte sich der Mann und lächelte Meiyu verlegen entgegen.

„Ja, klar. Mach’s dir ruhig gemütlich, während ich mich kurz ein wenig frisch mache. Ich hoffe, die Unordnung stört dich nicht“, antwortete sie und öffnete die Tür für Malcolm, der sogleich über die Schwelle trat.

„Ein bisschen Dreck ist gut für das Immunsystem, also mach’ dir darüber keine Gedanken.“

Meiyu begab sich schnell ins Badezimmer, während Malcolm sich ein wenig in der Wohnung umsah.

„Es tut mir leid, falls ich dich bei irgendetwas gestört habe. Ich hätte vorher anrufen sollen“, rief Malcolm, damit seine Gesprächspartnerin ihn im Bad hören konnte.

„Ist schon gut, ich hatte gerade sowieso nichts besonderes zu tun.“