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Ein echter Ratgeber für spirituelle Gesundheit Viele haben den Eindruck: So ganz gesund ist die protestantische Kirche zurzeit nicht. Dabei steckt die Bibel voller bewegender Heilungsgeschichten: Wie wäre es, deren kraftvolle Botschaft einfach mal auf die Kirche anzuwenden? Sprich: Was braucht "Der evangelische Patient", um wieder gesund zu werden? Schon wer diese Frage stellt, bekommt Lust, mit der "Behandlung" zu beginnen: Klaus Douglass und Fabian Vogt erstellen anhand zwölf wegweisender "Zeichenhandlungen" Jesu eine eindrucksvolle Diagnose der aktuellen kirchlichen Situation … und finden in den Heilungsgeschichten inspirierende therapeutische Ansätze für die Gesundung einer ganzen Institution. Und weil zum Genesungsprozess neben der "Akzeptanz des Heilungsbedarfs" eine sorgfältige "Anamnese", ein detaillierter "Behandlungsplan" und die richtigen "Medikamente" gehören, sind die Schlussfolgerungen der Autoren nicht nur äußerst konkret, sondern auch im Gemeindealltag ganz praktisch umzusetzen.
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Seitenzahl: 255
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KLAUS DOUGLASS | FABIAN VOGT
Patient
Die Kirche:
eine Heilungsgeschichte
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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© 2021 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig
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Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.
Gesamtgestaltung: Mario Moths, Marl
Karikatur Umschlagrückseite: Werner Tiki Küstenmacher
Druck und Binden: CPI books GmbH
ISBN 978-3-374-06630-8
eISBN (PDF) 978-3-374-06631-5
eISBN (E-Pub) 978-3-374-06632-2
www.eva-leipzig.de
Ich wünsche mir,
dass es dir
in allen Dingen
gut gehe
und du gesund seist.
3. Johannesbrief 1,2
Einleitung
1.Willst du gesund werden?
Der Gelähmte am Teich Betesda – Johannes 5,1–15
2.Wie man ungeahnte Perspektiven gewinnt
Die verkrümmte Frau – Lukas 13,10–17
3.Die Kunst, genau hinzuhören
Die Heilung eines Taubstummen – Markus 7,31–37
4.Wessen Geistes Kind sind wir?
Die Heilung des Besessenen von Gerasa – Markus 5,1–13
5.Berührendes Vertrauen
Die Heilung der blutflüssigen Frau – Markus 5,25–34
6.Wie sind wir ins Abseits geraten?
Die Heilung eines Aussätzigen – Markus 1,40–45
7.Neu sehen lernen
Die Heilung des Blinden von Jericho – Markus 10,46–52
8.Neu sprachfähig werden
Die Heilung eines Sprachlosen – Matthäus 9,32–34
9.Neu anpacken
Die Heilung der verdorrten Hand – Lukas 6,6–11
10.Glaube – auf einem starken Fundament stehen
Die Tochter des Jaïrus – Markus 5,22–23.35–42
11.Liebe – Beziehungen sind alles
Der Gichtbrüchige und seine Freunde – Markus 2,1–12
12.Hoffnung – voll Zuversicht das Beste erwarten
Die Heilung der kanaanäischen Frau – Matthäus 15,21–28
Nachwort
Über die Autoren
Als Johannes der Täufer auf der Feste Machärus am Toten Meer im Kerker sitzt, gerät er eines Tages in eine tiefe Existenzkrise: »Woher weiß ich eigentlich, ob das, was ich verkündige – meine religiösen Praktiken und meine Vorstellungen vom Reich Gottes –, richtig ist?« Wahrhaftig eine schwere Anfechtung für einen Gottesmann!
Voller Verzweiflung schickt Johannes aus der Gefangenschaft einige seiner Jünger zu Jesus und lässt diesem seltsamen Rabbi eine einzige, aber alles entscheidende Frage stellen: »Bist du der, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?« Mit anderen Worten: »Bist du nun der Messias, der Retter der Welt, der Gesandte Gottes, dessen Ankunft ich seit Jahren verheiße … oder bist du’s nicht?« Offensichtlich war es selbst für einen Propheten wie Johannes schwer einzuschätzen, ob das, was um ihn herum geschieht, ein geistlicher Aufbruch im Sinne Gottes ist oder nicht. Könnte er sich nicht auch spirituell verrannt haben?
Insofern verbergen sich hinter dieser Frage nach Jesu Identität viele weitere, mindestens ebenso relevante Fragen: Woran erkenne ich, ob das »Reich Gottes« angebrochen ist? Wie macht sich die Rettung der Welt konkret bemerkbar? Was genau sollen Glaubende tun oder lassen? Und, für Johannes von persönlicher Bedeutung: Woher weiß ich, dass ich nicht aufs falsche Pferd gesetzt habe? Was hat es mit diesem Wanderprediger auf sich, der bislang politisch nicht durchgegriffen hat? Ist er möglicherweise doch nicht der von Gott versprochene Heilsbringer? »Bist du der, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?«
Was dann geschieht, ist grandios und für das Christentum wegweisend: Jesus beantwortet die Frage der Johannesjünger nämlich weder mit einem theologischen Vortrag noch mit einem Verweis auf seine wirkmächtigen Predigten oder einem Gleichnis. Nein, er sagt ganz schlicht: »Schaut hin! Guckt euch um!« Wörtlich: »Geht und sagt Johannes, was ihr hört und seht: Blinde sehen! Lahme gehen! Aussätzige werden gesund! Taube hören! Tote stehen auf! Und Armen wird das Evangelium gepredigt.« Offensichtlich gibt es genau da, wo Jesus in diesem Augenblick wirkt, einiges zu sehen und zu erleben.
Konkret heißt das: Das Erkennungszeichen des Evangeliums ist, dass es geschieht. Spürbar und erfahrbar! Ja, das Heil erkennt man zuallererst daran, dass Menschen gesund werden: »Blinde sehen! Lahme gehen!« Daran, dass die Einschränkungen, die jemanden hindern, ein »Leben in Fülle« zu führen, überwunden werden. Kurz: Das Evangelium ist keine graue Theorie, sondern praktizierte Liebe (Gottes). Und wenn jemand mit dieser Liebe in Kontakt kommt, dann verändert sich etwas in seinem Dasein nachhaltig zum Guten.
Jedes Dogma, jede Theologie verblasst vor den leuchtenden Augen eines Menschen, dem Heil widerfahren ist. Das haben schon die frühen Propheten verstanden – und das führt Jesus seinem Wegbereiter Johannes neu vor Augen: Da, wo Gott gegenwärtig ist, geschieht Heilung; vielleicht nicht immer so, dass alle Leiden und aller Schmerz überwunden werden, aber auf jeden Fall in Form eines heilenden Hineinwachsens in das Vertrauen auf Gottes Gegenwart. Klarer kann das Reich Gottes nicht sichtbar werden.
Als Johannes der Täufer diese Botschaft hört, findet er seinen Frieden wieder: Jesus ist der Richtige, weil Menschen in seiner Gegenwart Heil und Heilung erfahren.
In diesem Buch wagen wir ein außergewöhnliches Experiment: Wir ändern einfach mal die Perspektive! Wir drehen den Spieß um, indem wir als protestantische Theologen nicht nur auf individuelle Glaubenserfahrungen schauen, sondern uns fragen, ob wir die neutestamentlichen Erzählungen vom heilenden Handeln Jesu auch auf unsere Kirche beziehen können. Schließlich stellt Heilung – in all ihren Dimensionen – das Herzstück christlicher Verkündigung dar. Kann also nicht nur ein Einzelner, sondern auch eine Gemeinschaft geheilt werden?
Verblüffend dabei ist: Wenn wir die Evangelische Kirche als einen heilungsbedürftigen Patienten betrachten, der möglichst bald wieder gesund werden soll, werden die Heilungswunder Jesu erstaunlich konkret. Und wie! Vor allem aber sind wir überzeugt: Die Kirche kann tatsächlich – wie die von Jesus Geheilten – krankmachende Strukturen und Entwicklungen überwinden und wieder eine Gemeinschaft werden, die die Erfahrung macht: »Dein Glaube hat dir geholfen!«
Ein derartiger Perspektivwechsel ist schon deshalb erlaubt, weil die Heilungsgeschichten Jesu zu allen Zeiten so ausgelegt worden sind, dass man in den beschriebenen Krankheiten etwas Grundsätzliches erkannt hat. Etwas, das für alle Menschen Gültigkeit besitzt, weil ja auch damals nur ein Bruchteil aller Menschen in den Genuss einer leibhaftigen Heilungserfahrung kam. Das bedeutet: Weil diese Erzählungen immer exemplarisch gedeutet wurden, gelten sie auch für unsere »Glaubensgemeinschaften«!
Das Irritierende an diesem Ansatz ist allerdings, dass wir damit behaupten, die Kirche habe Heilung ebenso nötig wie jeder einzelne Mensch. Und wir ahnen, dass man uns vorwerfen wird, unsere Kirche nicht wertzuschätzen. Aber das tun wir! Sogar mit großer Leidenschaft. Schließlich ist es kein Mangel an Wertschätzung, wenn man einen Patienten auf seine Beschwerden hinweist und mit ihm überlegt, wie er wieder gesund werden könne. Es ist ein Ausdruck von Fürsorge und Liebe.
Unsere kritischen Anfragen an manche heilungsbedürftigen Phänomene in der Evangelischen Kirche sind deshalb kein Angriff auf die vielen großartigen Dinge, die in unseren Gemeinden und Institutionen geschehen. Im Gegenteil: Wir möchten gerade die strukturellen Störungen in den Blick nehmen, die es dem vorhandenen Guten oft so schwer machen. Betrachten Sie unsere Ausführungen deshalb bitte als Anregung und nicht als Verriss. Wir haben keinerlei Interesse daran, uns einfach mal über diverse Krankheitssymptome unserer Kirche aufzuregen – es geht darum, miteinander herauszufinden, wie unsere Kirche gesund werden kann.
Schon zu Jesu Zeiten galt: Wunder durchbrechen die Realität. Darum rufen die Augenzeugen oftmals aufgeregt: »So etwas haben wir noch nie erlebt!« Wir, die Autoren dieses Buches, sind überzeugt, dass die meisten der im Neuen Testament überlieferten Wunder Jesu tatsächlich stattgefunden haben. Es ist aber kein Zufall, dass die Evangelien statt von Wundern lieber von »Zeichen« reden. Weil das, was Jesus an Kranken getan hat, zeichenhafte Bedeutung für alle Menschen hat. Und: Zeichen weisen über sich hinaus.
Darum greift die Frage »Sind die Wunder Jesu wirklich geschehen?« viel zu kurz. Gelegentlich führt sie sogar dazu, dass man sich mit ihrer Hilfe die eigentlichen Aussagen der Wundergeschichten geschickt vom Leib hält. Wenn man zum Beispiel vor lauter Spekulation darüber, ob Jesus wahrhaftig übers Wasser laufen konnte, gar nicht mehr fragt: »Kann dieser Jesus auch mir helfen, wenn mir das Wasser bis zum Hals steht?« Und: Kann er meiner Kirche helfen?
Weil Zeichen über sich hinausweisen, stehen die in den Heilungsgeschichten genannten Gebrechen auch nicht nur für einzelne Symptome, sondern für umfassende Krankheitsbilder: Was passiert, wenn Menschen nicht mehr richtig zuhören, nicht mehr hinsehen, wie gelähmt sind vor Angst oder sich innerlich wie tot fühlen? Und was kann man tun, wenn ganze Institutionen unter solchen Phänomenen leiden?
»Krankheiten« beschreiben dabei vor allem eines: eine Reduktion der eigenen Möglichkeiten, des eigenen Potentials und des Kontaktes zu anderen. Und da, wo Gott ins Spiel kommt, geht es darum, derartige Einschränkungen hinter sich zu lassen.
Verbunden mit dieser Beobachtung ist eine Verheißung: Gott möchte Unheil mit Heil überwinden. Böses mit Gutem. Liebloses mit Liebe. Ganz gleich, ob es dabei um Individuen, Gruppen oder ganze Institutionen geht. Wie Kirche ihre »Krankheiten« im Blick auf Jesus, den Heiler, überwinden kann – dem will dieses Buch auf die Spur kommen. Und es will Mut machen: Lasst uns wieder anfangen, an Wunder zu glauben. Schließlich wäre es phantastisch, wenn wir in den Ruf einstimmen könnten: »So etwas haben wir noch nie erlebt!«
Wir stellen Ihnen in diesem Buch zwölf markante Heilungsgeschichten Jesu vor, deren Erfahrungen sich überraschend unkompliziert auf die Evangelische Kirche übertragen lassen. Ja, oftmals ist in ihnen der Bezug zur Institution sogar schon angelegt. Und auch wenn jede dieser Heilungen in sich abgeschlossen ist, betonen sie doch unterschiedliche Schwerpunkte innerhalb eines Genesungsprozesses. Insofern versuchen wir mit der Abfolge unserer Kapitel ein wenig, die Phasen eines solchen Verlaufs abzubilden: Wir fangen mit den Wundergeschichten an, bei denen nach langer Krankheit ein dringend notwendiger Impuls für Veränderungsbereitschaft sorgt, betrachten dann, wie Jesus Krankheiten diagnostiziert und welche Therapien er anwendet, um abschließend zu klären, warum Glaube, Liebe und Hoffnung nach wie vor die beste Medizin sind.
Dabei verstehen wir unsere Auslegungen vor allem als Einladung: Lasst uns gemeinsam prüfen, wie wir die »Evangelische Kirche« – den »evangelischen Patienten« – wieder gesund bekommen. Wobei eines von Anfang an klar ist: Zur Gesundung braucht es die Mithilfe des Patienten. Denn wenn er eine Diagnose nicht an sich heranlässt oder die therapeutischen Hinweise nicht oder nur halbherzig befolgt, wird sich an seinem Zustand kaum etwas ändern, jedenfalls nicht zum Positiven.
Eigentlich ist es eine Binsenweisheit, dass Heilungsprozesse – gerade bei psychosomatischen Erkrankungen – nur in Gang kommen, wenn Menschen sich eingestehen, dass sie krank sind. So wie eine Entzugstherapie nie funktioniert, wenn ein Alkoholiker seine Abhängigkeit verleugnet. Es könnte sein, dass das für die Evangelische Kirche genauso gilt: Solange sie sich einredet, sie sei gesund und für die Einbrüche der vergangenen Jahrzehnte seien nur äußere Faktoren verantwortlich (die Säkularisierung, die Pluralisierung, die Krise der Institutionen usw.), braucht kein Arzt mit einer Therapie zu beginnen. Das, was am Leben hindert, muss benannt werden, um einen Gesundungsprozess einleiten zu können.
Deshalb versteht sich unser Ansatz als Praxiskonzept – als Inspiration für Einzelne oder Gruppen. Das heißt: Die vorliegenden Kapitel lassen sich auch gut in Gemeindevorständen durchgehen, in einem Hauskreis besprechen, in einem Diskussionsabend behandeln oder für eine Predigtreihe nutzen. Wir würden uns freuen, wenn unsere Impulse im Kirchenalltag einen Heilungsprozess anregen würden – selbst dann, wenn Sie bei der »Therapie« zu anderen Ergebnissen kommen als wir.
Wie gesagt: Eine Erneuerung wird nur einer ehrlichen Bestandsaufnahme entspringen. Und wir finden, dass die Heilungsgeschichten des Neuen Testaments dazu viele Inspirationen bieten. Übrigens nicht nur für die Institution Kirche, sondern auch für jede und jeden Einzelnen – denn letztlich lassen sich die Heilungsprozesse, die wir beschreiben, auf alle Ebenen des Daseins übertragen.
Also: Wenn Sie der Überzeugung sind, die Evangelische Kirche sei kerngesund, dann ist dieses Buch nichts für Sie. Dann halten Sie sich zuversichtlich an den Satz Jesu: »Die Gesunden brauchen keinen Arzt«. Wenn Sie aber wie wir den Eindruck haben, dass die Kirche zurzeit ihr volles Potential nicht erreicht, und wenn Sie Lust haben, daran etwas zu ändern, dann lassen Sie uns gemeinsam anfangen. Jetzt!
Danach war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem. Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf Hebräisch Betesda. Dort sind fünf Hallen; in denen lagen viele Kranke. Es war aber dort ein Mensch, der war seit achtunddreißig Jahren krank. Als Jesus ihn liegen sah und vernahm, dass er schon so lange krank war, spricht er zu ihm: »Willst du gesund werden?« Der Kranke antwortete ihm: »Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein.« Jesus spricht zu ihm: »Steh auf, nimm dein Bett und geh hin!« Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin.
Der Gelähmte am Teich Betesda – Johannes 5,1–15
»Willst du gesund werden?« Etwas eigenartig klingt die Frage schon. Schließlich liegt der Mann seit 38 Jahren krank darnieder. Das ist eine lange Zeit. Und der Mann hat sich weitgehend an den Zustand seiner Krankheit gewöhnt. Vielleicht hat er sich anfangs dagegen aufgelehnt, aber sich, nachdem er merkte, dass alle Bemühungen vergeblich waren, mit seiner Krankheit arrangiert und einigermaßen in ihr eingerichtet.
Der Punkt dabei ist: Jede Krankheit nimmt uns etwas. Sie schränkt unsere Lebensmöglichkeiten ein, unsere Lebensfreude und unsere Lebenskraft. Jede Krankheit gibt uns aber auch etwas. So bringt Krankheit es in vielen Fällen mit sich, dass man von Alltagspflichten entbunden wird. Und man erfährt viel Aufmerksamkeit, Anteilnahme und Mitgefühl seitens der Menschen ringsum. Psychologinnen und Psychologen sprechen in solchen Fällen vom »sekundären Krankheitsgewinn«. Dieser ist keineswegs verwerflich. Für viele Krankheiten zahlen wir einen hohen Preis, und es ist nur fair, wenn uns das Leben zumindest ein wenig davon in Form von kleinen Entlastungen zurückgibt.
Freilich hat der sekundäre Krankheitsgewinn seine Tücken. Überlegen Sie mal: Dieser Mensch ist 38 Jahre krank. Er hat sich daran gewöhnt, nicht mehr aufstehen zu können. Ab und zu unternimmt er einen neuen Versuch, aber er schafft es einfach nicht. Immer halbherziger werden im Lauf der Zeit seine Anstrengungen, immer mehr verfestigt sich in seinem Inneren die Überzeugung: »Es geht einfach nicht.« Mehr und mehr gibt er sich mit seinem Zustand zufrieden. Mehr, so sagt er sich, kann man vom Leben eben nicht erwarten. Immer wieder sucht seine Seele nach Begründungen dafür, warum das Leben, das er führt, so sein muss – und findet sie auch. Warum es so, wie es ist, gut und richtig ist, warum es nicht anders geht und: warum es auch gar nicht anders sein sollte.
Vielleicht ist die Frage Jesu: »Willst du gesund werden?« gar nicht so absurd, wie sie im ersten Moment anmutet. Bedenken Sie, was der Kranke alles aufgeben müsste. Nicht nur die genannten kleinen Vorteile, die mit der großen Benachteiligung einhergehen – das wäre noch okay. Aber er müsste sich auch eingestehen, dass die ganzen Argumente und Gründe, die er im Lauf der Jahrzehnte zur Rechtfertigung seines Zustandes aufgeboten hatte, lediglich dazu dienten, ein falsches Selbst- und Weltbild zu stützen. So etwas gibt niemand gerne zu. Und noch etwas käme hinzu: Er müsste sich anstrengen. Gesundwerden ist nämlich durchaus mühevoll. Wenn man 38 Jahre fest gelegen hat, ist es alles andere als leicht, aufzustehen, sein Bett (und sei es nur eine Matte) unter den Arm zu nehmen und loszulaufen. In unserer Geschichte liest sich das so leicht. In aller Regel aber ist das ein überaus mühsamer Prozess.
Ich habe vor einiger Zeit eine Geschichte gelesen, von der ich fürchte, dass sie wahr ist: Eine 34-jährige Frau in England bekommt eine Grippe. Der Arzt besucht sie und verordnet ihr, im Bett zu bleiben, bis er das nächste Mal vorbeikommt. Dieser Arzt taucht aber – aus welchen Gründen auch immer – nie wieder auf. Die Frau wird nach einigen Tagen wieder gesund, doch sie bleibt im Bett liegen. Genau so, wie es ihr der Arzt gesagt hat.
Nach einigen Wochen stellt die Frau fest, dass es ganz angenehm ist, im Bett zu bleiben und bedient zu werden. Als ihre Mutter nach einigen Jahren stirbt, übernimmt ein Schwager die Betreuung, und so bleibt die Frau 40 Jahre im Bett, bis ein neuer Arzt vorbeikommt und feststellt, dass die Frau, die mittlerweile 74 Jahre alt ist, im Grunde kerngesund ist. Aufstehen kann sie allerdings nicht mehr. Sie ist zu dick geworden und ihre Muskeln zu schwach. Durch gutes Zureden und Therapie wird die Frau sieben Monate später auf die Beine gestellt und lebt noch drei Jahre. Sie stirbt mit 78 Jahren. Mehr als die Hälfte davon hat sie im Bett verbracht.
Der Mensch kann sich an alles gewöhnen, sogar an sein Elend. Es ist ja durchaus auch bequem, sich festzulegen … auf einen Standpunkt, auf bestimmte Umstände oder eine bestimmte Rolle – oder auf das Bett der Tradition: »Das haben wir schon immer so gemacht«oder einer bestimmten Theologie: »Das was wir machen, funktioniert zwar nicht, ist aber theologisch richtig.«
Und ehe man sich versieht, ist man wie gelähmt. Selbst, wenn man jetzt noch anders wollte: Es geht nicht mehr. Kennen Sie das, dass Sie gerne mal so ganz anders sein möchten, dass Sie mal über Ihren Schatten springen, mal verborgene Seiten Ihrer Persönlichkeit aufdecken und entfalten wollen, aber Sie tun es nicht, denn Sie sind auf die eine oder andere Weise festgelegt? Ödön von Horváth bringt dieses Lebensgefühl gut auf den Punkt: »Eigentlich bin ich ganz anders. Ich komme nur so selten dazu.«
Wer das jemals empfunden hat, weiß: Das ist kein schönes Gefühl. Und doch kann sich glücklich preisen, wer diesen Schmerz noch verspürt. Denn das bedeutet, dass unsere Instinkte noch funktionieren, dass es einen Bereich unserer Seele gibt, der sich mit der vorgeblichen Wirklichkeit nicht arrangieren will. Wenn wir diesen Schmerz gar nicht mehr empfinden, bedeutet das, dass wir aufgegeben haben … und dass wir den Glauben verloren haben, dass es über diese vorfindliche Wirklichkeit hinaus noch andere Möglichkeiten gibt. Solange der Schmerz noch brennt, besteht Hoffnung. Es gibt wirklich gute Gründe, warum Jesus fragt: »Willst du gesund werden?«
Zwei Geschichten, eine Aussage: Wenn wir lange genug auf einer Matte festliegen, legt am Ende die Matte uns fest. Das gilt für den Mann am Teich wie für die Frau, die nicht mehr aufstand. Und es gilt leider auch für unsere Kirche.
Es wird Zeit, dass wir auf jenen Patienten zu sprechen kommen, um den es in diesem Buch gehen soll. Wo liegen die Parallelen zwischen dem Kranken am Teich Betesda und dem »evangelischen Patienten«, der protestantischen Kirche? Wir zögern etwas, diesen Punkt näher auszuführen. Schließlich wollen wir unser Nest nicht beschmutzen und fragen uns, wie wir der Kirche, die wir schätzen und lieben, hier einen Spiegel vorhalten können, ohne sie bloßzustellen und zu beschämen. So ganz vermeiden lässt sich das vermutlich nicht. Deshalb ist uns wichtig, dass wir uns selbst von diesem schmerzhaften Blick in den Spiegel nicht ausnehmen. Die Kirche, von der wir reden und die der Heilung bedarf, ist nicht »irgendwo da draußen« oder »irgendwer anders«, sondern das sind erst einmal wir selbst. Und in diesem Sinne bitten wir Sie auch, dieses Buch zu lesen.
Was also verbindet den Kranken am Teich Betesda mit dem »evangelischen Patienten«? Zunächst einmal sehen wir eine Parallele in der Beschreibung seiner Krankheit als »Kraftlosigkeit« (astheneia). In der Tat scheint Kraftlosigkeit ein Grundproblem unserer Evangelischen Kirche zu sein. Zwar ist sie immer noch ein starker Player in der Gesellschaft, wenn es beispielsweise um sozialdiakonische Fragen geht, um Mitsprache in Rundfunkräten und Ethikkommissionen, um das Engagement von über einer Million ehrenamtlich tätiger Menschen. Und doch ist die Kirche in Westeuropa heute in vielerlei Hinsicht erstaunlich kraft- und wirkungslos.
Äußerlich lässt sich diese Diagnose relativ einfach belegen: Jahr für Jahr treten etwa eine viertel Million Menschen aus der Evangelischen Kirche aus. Die Tendenz scheint derzeit eher zu steigen. Gleichzeitig nimmt der Gottesdienstbesuch ab. Die Finanzkraft schwindet, und wir haben in vielen kirchlichen Berufen ein Nachwuchsproblem. Lassen wir es bei diesen kurzen Hinweisen. Zumindest äußerlich gesehen ist es eindeutig, dass die Kirche schwächer wird und nicht stärker.
Innerlich sieht die Sache aber leider nicht besser aus. Im Gegenteil: Immer weniger Menschen können sich mit dem identifizieren, was wir als Kirche tun oder sagen. Das gilt nicht nur für die Menschen außerhalb der Kirche, sondern auch für unsere eigenen Mitglieder. Als »Indifferenz« bezeichnet die letzte (fünfte) Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung diese Einstellung der mit Abstand größten Gruppe innerhalb der evangelischen Bevölkerung: Kaum jemand kennt mehr die Bibel oder lebt gar mit ihr – und zwar bis in unsere Kirchenvorstände hinein. Die meisten Evangelischen beten höchstens noch in Notzeiten. Und das »Allgemeine Priestertum«, demzufolge alle Getauften berufen sind, das Evangelium weiterzugeben, findet kaum irgendwo mehr statt. Auch diese Liste ließe sich problemlos erweitern.
Es ist mit Händen zu greifen, dass unsere Kirche ihre Kraft verloren hat. Das macht sie als »evangelischen Patienten« vergleichbar mit dem Kranken aus unserer Geschichte. Und die große Frage ist, wie wir aus dieser Situation herauskommen. Ganz offensichtlich kann dies nicht aus eigener Kraft geschehen – Kraftlosigkeit ist ja gerade das Krankheitsbild, um das es in unserer Geschichte geht. Zwar kommt auch diese Erzählung an einen Punkt, an dem der Kranke aufgefordert wird, etwas zu tun. Aber zuerst muss er sich auf einen (etwas unangenehmen) Dialog mit Jesus einlassen. Er muss seinem Zustand ins Auge schauen und zudem die bisherigen Rezepte, nach denen er versucht hat, gesund zu werden, loslassen und sich ganz und gar dem Wort Jesu anvertrauen.
»Willst du gesund werden?« Eigentlich, möchte man meinen, ist diese Frage eine Unverschämtheit. Sowohl dem Kranken in unserer Geschichte gegenüber – als auch in Hinblick auf unsere eigene Kirche. »Lieber Jesus«, möchte man antworten,»hast du dir mal überlegt, was wir in den letzten Jahren an Anstrengungen unternommen haben, deine Kirche zu retten und irgendwie am Laufen zu halten? Natürlich wollen wir gesund werden!« Die Frage Jesu »Willst du gesund werden?« scheint hier nicht wirklich zielführend zu sein. Auch der Kranke beantwortet sie nicht direkt. Seine Antwort klingt teils empört, teils resigniert, teils ausweichend – und passt auch auf unsere Situation.
»Herr, ich habe keinen Menschen, der mich zum belebenden Wasser trägt.« Es fehlt einfach an einer Person, einem Reformator, einer Bischöfin, einer Kirchenleitung oder prophetischen Gestalt, die uns sagt, wo es langgeht, und die die Kirche so zielsicher führt wie einst Mose sein Volk durchs Schilfmeer und die Wüste. Oder wir sagen: »Herr, natürlich wollen wir gesund werden. Und das tun wir ja auch: indem wir uns ‚gesundschrumpfen‘. Was am Ende dieses Prozesses übrigbleiben wird, ist der ›ehrliche Kern‹ unserer Kirche. Du wirst sehen: Noch ein paar Jahre Rückgang, dann ist unsere Kirche kerngesund.« Oder: »Herr, siehst du nicht, wie sehr wir uns bemüht haben? Unsere Ideen sind am Ende und unsere Kraft ist erlahmt. Wir wollen uns künftig mit bescheidenen Zielen zufriedengeben. Hast du nicht selbst gesagt: ‚Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen‘?«
Ich (Klaus) bin – nennen Sie es Zufall – seit achtunddreißig Jahren beruflich in der Kirche tätig. Also genau so lange, wie der Patient aus unserer Geschichte krank darniederlag. Was hat es in dieser Zeit nicht alles an Initiativen gegeben, die Kirche zukunftsfähig zu machen! Wie viele Gremien haben in dieser Zeit getagt, wie viele Gesetze wurden erlassen. Was wurde nicht alles auf den Prüfstand gestellt: Leitbilder, Personalschlüssel, Zuweisungssysteme, Verwaltungs- und Leitungsstrukturen, Gottesdienstformate, Gemeindezuschnitte und vieles mehr. Vor dem Jahr 2017 gab es eine ganze »Dekade der Reformation« mit abertausenden Veranstaltungen, Impulsen und Ideen. Wenn man der Kirche eines nicht vorwerfen kann, so scheint es, ist es ihr mangelnder Reformwille.
Und in der Tat haben wir es durch geschicktes Management und viele schmerzhafte Einschnitte geschafft, ein finanzielles Desaster zu verhindern. Doch viele Haupt- und Ehrenamtliche sind in dieser Zeit ausgebrannt. Sie können angesichts des ständig wachsenden Drucks einfach nicht mehr. Gleichzeitig konnten wir den äußeren Relevanzverlust der Kirche nicht stoppen. Im Gegenteil: Das allgemeine Desinteresse an dem, was wir sagen oder tun, steigt scheinbar immer weiter. Es ist wie ein Teufelskreis: Wir bemühen uns nach Kräften, von unserer Matte hochzukommen, doch führt das oft nur dazu, dass wir am Ende umso müder darauf zurücksinken.
Das Ganze erinnert ein wenig an Paul Watzlawicks Ausführungen zu Lösungen erster und zweiter Ordnung. In seinem Buch »Anleitung zum Unglücklichsein« erzählt er den alten Witz von dem Betrunkenen, der unter einer Straßenlaterne verzweifelt nach seinem verlorenen Schlüssel sucht. Ein freundlicher Polizist kommt daher und hilft ihm. Als sie nichts finden, fragt der Polizist: »Sind Sie sich ganz sicher, den Schlüssel hier verloren zu haben?« Darauf antwortet der Betrunkene: »Nein, nicht hier, sondern dort hinten. Aber da ist es viel zu dunkel zum Suchen.« – Wenn Menschen ein Problem haben, neigen sie dazu, sich noch mehr anzustrengen – und zwar in die gleiche Richtung. Watzlawick nennt das »Lösungen erster Ordnung«. Eine »Lösung zweiter Ordnung« hingegen würde bedeuten, etwas völlig anderes zu tun, wenn etwas dauerhaft nicht funktioniert. Logisch, oder? Albert Einstein soll einmal gesagt haben, es sei geradezu die Definition von Irrsinn, immer wieder das Gleiche zu machen und dabei auf unterschiedliche Ergebnisse zu hoffen.
Leider aber neigen wir Menschen dazu, in Problemfällen lieber »mehr desselben« statt etwas völlig Neues zu machen. Dieses »Mehr desselben« hält nicht nur das ursprüngliche Problem instand, sondern verschlimmert es oft sogar, weil es das Problem zementiert und Ressourcen bindet, die für »Lösungen zweiter Ordnung« nicht mehr zur Verfügung stehen. Das heißt: Die vermeintliche Lösung (erster Ordnung) wird selbst zum Problem.
Vielleicht tun wir unserer Kirche Unrecht, aber wir glauben, das beschreibt viel von dem, was wir in den letzten Jahren erlebt haben. Wie oft haben wir erlebt, dass innovative Aufbrüche, die von unten kamen, einfach abgebügelt wurden: »Das ist im geltenden Gesetz nicht vorgesehen.« Aber auch umgekehrt: dass Kirchenleitende neue Wege einleiten wollten, die dann an der Kirchenbasis gestoppt wurden, weil man lieber so weiter machen wollte wie bisher. Die Leitfrage der meisten Reformen, die wir in den letzten Jahrzehnten beobachten konnten, lautet: »Wie können wir das Bisherige unter der Maßgabe geringer werdender Finanzen in größtmöglichem Maße beibehalten?« – eigentlich eine kluge Frage. Und doch: Wenn man unter der Laterne sucht …
Ich habe in der Schule noch mit dem Rechenschieber gearbeitet. Damals kamen gerade die ersten Taschenrechner auf. Und was wurde da nicht alles an Argumenten aufgefahren: Das sei stillos, es sabotiere das »richtige« Rechnen. Und doch setzten sich die kleinen elektronischen Ketzerlein durch. Daraufhin kam der frühere Marktführer für Rechenschieber auf eine tolle Idee und verkaufte »Rechenschieber deluxe« in Mahagoniausstattung mit goldfarbener Prägung. Die machten echt etwas her. Trotzdem kaufte in unserer Klasse nicht ein Einziger so ein Mahagoni-Teil.
Könnte es sein, dass viele binnenkirchliche Wege zu solchen »Lösungen erster Ordnung« gehören? Dass sie die Frage stellen, wie wir trotz allgemein zurückgehenden Interesses und rückläufiger Mittel so viel wie möglich am Alten, Bisherigen festhalten können, statt die Türen zu öffnen für echte Innovationen und Weiterentwicklungen? Dass wir zwar jede Menge Reformen durchgeführt haben, uns aber an eine »neue Reformation« nicht herangetraut haben? Sie fragen, was der Unterschied ist? Ganz einfach: Eine Reform ist eine Verbesserung innerhalb eines bestehenden Systems. Eine Reformation hingegen ist ein Systemwechsel. Reformen wirken immer systemstabilisierend. Reformationen hingegen stellen das System als solches infrage.
Jesus sagt: »Wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, (nur) der wird’s finden« (Matthäus 16,25). Wir tun gut daran, dieses Wort nicht nur auf andere, sondern auch auf uns selbst und unsere kirchlichen Strukturen und Traditionen anzuwenden und unsere gängigen Wege einer grundlegenden Überprüfung zu unterziehen. Vor allem, wenn wir – wie heute weithin der Fall – an unsere Grenzen stoßen und nicht mehr weiterkommen. Ganz offensichtlich kann etwas, was früher einmal richtig war, heute richtig falsch sein. Die große Frage ist natürlich: Was kommt am Ende dieses Prozesses heraus? Sind wir, wenn wir nach einem grundlegenden Systemwechsel innerhalb unserer Kirche fragen, dann noch »evangelisch«? Wir finden: ja. Gerade dann. Denn die Reformation hat nicht allein im 16. Jahrhundert stattgefunden. Da hat sie vielleicht begonnen. Aber sie steht – wenn wir uns auf Luther berufen wollen – als bleibende Aufgabe vor uns.
Die berühmte Formel, dass die Kirche ständig der Reformation bedarf, stammt zwar nicht von Luther, bringt aber sein Anliegen auf den Punkt: Kirche befindet sich ihrem Wesen nach in einem ständigen Wandlungsprozess. Zum einen muss sie Schritt halten mit den Menschen und Erfordernissen ihrer jeweiligen Zeit. Man kann nicht mit den Wegen des 20. Jahrhunderts die Herausforderungen des 21. meistern – und schon gar nicht mit denen des 16. Jahrhunderts. Die Kirche kann aber auch nie sagen, dass sie das Evangelium ganz und unverfälscht verstanden hat. Da gibt es auch nach 2000 Jahren immer noch Vieles abzustreifen, was nicht zum Wesen des Evangeliums gehört, ja, ihm sogar widerspricht. Darum gilt: Eine Kirche, die nicht die transformierende Botschaft der Bibel zu allererst an sich selbst richtet, hört auf, eine evangelische Kirche zu sein. Die Kirche der Reformation zeigt sich darin, dass sie sich ständig weiter reformiert.
Aber genau an dieser Stelle erleben wir eine Starrheit, die der spätere Hamburger Bischof Peter Krusche bereits vor über 50 Jahren als »morphologischen Fundamentalismus« (= ein ideologisches Festhalten an äußeren Formen) bezeichnet hat. Dieser sei für die evangelische Kirche fast noch gefährlicher als der Bibel-Fundamentalismus. So könne man heute über die Frage der Auferstehung durchaus frei und kritisch diskutieren. Aber wenn es um die Frage der gottesdienstlichen und gemeindlichen Strukturen oder der Schwerpunktbildung in der Aufgabenstellung des Pfarrberufes gehe, stoße man allenthalben auf erbitterte Gegenwehr. Dieses starre Festhalten an äußeren Formen und Strukturen verhindere letztlich die Sendung der Gemeinde, das Evangelium unter die Menschen zu bringen.
»Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein.« Der Gelähmte hat klare Vorstellungen davon, wie seine Heilung erfolgen könnte. Doch Jesus geht auf diese Argumente überhaupt nicht ein. Es ist, als ob er dem Kranken sagen würde: »Vergiss die alten Rezepte.« Was wir brauchen, sind nicht »mehr derselben« alten Lösungen, sondern »Lösungen zweiter Ordnung«: Wege, die völlig neu sind – auch und gerade gegenüber unserer bisherigen Vorgehensweise.
Im Buch Jesaja heißt es: »Gedenkt nicht an das Frühere und achtet nicht auf das Vorige! Denn siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht?« (Jesaja 43,28f.). Es geht dabei nicht um einen Systemwechsel um des bloßen Wechsels willen. Die alten Wege können und sollen wir durchaus achten und würdigen. Sie haben lange Zeit geholfen, das angestrebte Ziel zu erreichen. Nur heute tun sie es offensichtlich nicht mehr. Und nur deswegen, weil sie es nicht mehr tun, wir aber weiterhin dem Auftrag Gottes treu bleiben wollen, schauen wir nach etwas Neuem aus.