Der Fall Morgenstern - Walter F. Bosch - E-Book

Der Fall Morgenstern E-Book

Walter F. Bosch

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Beschreibung

Dieser Fall spielt im ehemaligen Hohenzollern in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Der Zweite Weltkrieg ist noch nicht allzu lange vorüber; seine Auswirkungen sind vor allen Dingen auch noch in den Köpfen der Menschen spürbar. In diese Zeit fällt eine Serie von versuchten Mordanschlägen, die auf den ersten Blick keinerlei Zusammenhang und Logik aufzuweisen scheinen. Aber Kommissar Haider und seinem Assistenten Rosenfelder gelingt es schließlich nach mühevoller Arbeit, Licht in das Dunkel zu bringen. Dabei sehen sie sich auch mit den Machenschaften einer Organisation aus der jüngsten Vergangenheit konfrontiert. Das dörfliche Lokalkolorit und die zarte Liebesgeschichte zwischen einem jungen Polizisten und einer Hausiererin bilden den Hintergrund dieses Kriminalromans.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Personen des Romans

Stammtischbrüder Altdorf

Stammtischbrüder Grödingen

Alte Kameraden

Spezielle Anmerkungen zu diesem Roman:

Morgenstern (Waffe)

Zigeuner

Zigeunerhochzeiten: Traditionen und Bräuche

HIAG

Psychisch Kranke

Soziales Leben

Frauen

Schulen

Medien

Verkehr

Hygiene

1

Der Hausierer lehnte eine seiner Krücken an die Hauswand und klingelte an der Haustür. Eine ältere Frau öffnete. Sie musterte ihn mit einem unfreundlichen Blick. „Ach, du liebe Zeit! Sie schon wieder? Waren Sie nicht schon letzte Woche hier? Ich brauche doch nichts!“ Der Hausierer seufzte unwillkürlich und blickte die Frau an. „Nein, es ist schon einige Zeit vergangen, seit ich bei Ihnen war. Können Sie mir denn wirklich nichts abkaufen? Ich habe Schuhcreme, Schnürsenkel, Hosenträger für den Gatten...“ „Hören Sie auf! Was soll ich mit dem Zeug? Ich kann ja bald selbst damit hausieren gehen! Von Ihrer Sorte laufen einfach zurzeit zu viele herum; man kann doch nicht jedem etwas abkaufen! Vielleicht das nächste Mal, vielleicht aber auch nicht! Auf Wiedersehen!“ Die Frau blickte den Hausierer böse an und legte ihm mit diesem Blick nahe, jetzt zu verschwinden. Er griff nach seiner Krücke, schloss seinen Bauchladen und humpelte langsam davon.

Der Hausierer hatte sein linkes Bein in den Kriegstagen des Frühlings 1945 bei einer der letzten Kampfhandlungen in der Nähe von Freudenstadt im Schwarzwald verloren. Bei einem der letzten Bombenangriffe auf Stuttgart kam seine ganze Familie ums Leben, seine Frau und seine beiden Kinder, und die Mietwohnung nahe der Stuttgarter Innenstadt wurde völlig zerstört. Eigentlich war durch diese Ereignisse sein Lebenswille fast vollständig zerbrochen, aber er schleppte sich unter Mobilisierung seiner letzten Kräfte durch diese grauen, freudlosen und ihm endlos erscheinenden Tage.

Wie so viele Kriegsinvaliden in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts, versuchte er nach seiner Entlassung aus dem Lazarett und der Anpassung einer Prothese sowie nach kurzer Zeit in französischer Gefangenschaft seinen Lebensunterhalt durch den Verkauf von Kurzwaren etwas aufzubessern. Die staatliche Unterstützung reichte gerade einigermaßen zum Leben und betteln gehen wollte er nicht. So übte er seine Verkaufstätigkeit hier in den Dörfern auf der mittleren Schwäbischen Alb aus, wo er völlig allein und zurückgezogen ein ziemlich kleines früheres Tagelöhnerhaus in einer dieser Siedlungen bewohnte, das ihm die Gemeinde Stetten am Wald aus behördlich angeordnetem Mitleid zugewiesen hatte.

2

Es wurde allmählich Abend und so machte sich der Hausierer an diesem kühlen Septembertag auf den Weg zum Bahnhof, um mit dem 18.06 - Uhr Zug nach Hause zu fahren. Die Geschäfte waren heute schlecht gegangen; zu viele aus seiner Berufsgruppe waren unterwegs und so stumpfte das Mitleid langsam ab, das ihm manche seiner Kunden entgegenbrachten und sie zu einem kleinen Kauf veranlasste.

Auf seinem Heimweg zum Bahnhof des Dörfchens Altdorf musste er ein kurzes, ziemlich verwahrloses Waldstück durchqueren. Er war in quälenden Gedanken über sein derzeitiges Dasein versunken, als er meinte, ein Geräusch vernommen zu haben. Auch hatte er das Gefühl, jemand würde ihm folgen. Er drehte sich um, sah aber niemand. In diesem Moment löste sich eine dunkle Gestalt aus dem bereits im abendlichen Waldschatten liegenden Gebüsch und eilte mit raschen Schritten auf ihn zu. Sie hatte offensichtlich einen Gegenstand in der Hand, aber der Hausierer konnte nicht mehr erkennen, was es war. Er spürte noch einen heftigen, sehr schmerzhaften Schlag auf seinem Kopf, dann nichts mehr.

3

„Das sieht ja grauenhaft aus! So etwas macht doch nur ein Verrückter!“ meinte Kriminalkommissar Haider zu seinem Kollegen Rosenfelder und schüttelte entsetzt den Kopf, als er die blutverschmierte Leiche am Tatort untersuchte. „Wer überfällt einen Hausierer, der gewiss nicht mit Reichtümern gesegnet ist, zertrümmert ihm auf furchtbare Weise den Schädel, womit wissen wir noch nicht genau, und lässt ihn liegen, ohne ihm auch nur einen Pfennig abzunehmen. So etwas habe ich eigentlich noch nie gesehen und ich habe schon viel gesehen, glauben Sie mir!“ Auch Rosenfelder blickte mehr als entsetzt auf die entstellte Leiche. Er fühlte eine leichte Übelkeit in sich aufkommen, hatte aber trotzdem noch Kraft genug, Fotos vom Mordopfer anzufertigen.

„Was wissen wir denn bisher über den Ermordeten?“ fragte Haider zwei Tage später auf dem Revier in Balingen. Rosenfelder sah in die Unterlagen. „Bei dem Ermordeten handelt es sich nach den bisherigen Erkenntnissen auf Grund seiner Papiere und den Angaben unserer Kollegen von der Kriminalpolizei Stuttgart sowie einiger Zeugenaussagen von Dorfbewohnern aus Stetten und den umliegenden Gemeinden um den Hausierer Bernhard Berlinger, geboren in Stuttgart am 5. Mai 1912, zuletzt wohnhaft in der Gemeinde Stetten am Wald, Kriegsinvalide, und als Hausierer hier in den Albdörfern unterwegs. Sämtliche Familienmitglieder sind bei einem der letzten Bombenangriffe auf Stuttgart ums Leben gekommen.

Er wurde am Abend des 26. Septembers 1957 im Alter von 45 Jahren mit einem schweren Gegenstand, vermutlich einer Eisenstange, in einem Waldstück bei Altdorf ermordet. Der Täter ließ die Leiche unberührt. Bei ihr fand sich noch die Summe von DM 10,60, vermutlich die Tageseinnahmen des Hausierers“ schloss Rosenfelder seinen Bericht ab. Haider blickte seinen Kollegen an. „Gut! Das alles gibt natürlich leider noch nicht den geringsten Hinweis auf ein mögliches Tatmotiv! Wir wissen nur, dass es kein Raubmord war. Aber wir stehen ja auch erst am Anfang des Falls!“ „War es vielleicht eine Verwechslung?“ rätselte der Chef dann weiter, gab sich aber sofort darauf selbst die Antwort: „Eigentlich auf Grund des Gebrechens des Mannes kaum möglich! Ein Racheakt? Wer sollte sich an einem Kriegsinvaliden rächen wollen! Warten wir ab, denn im Moment können wir nicht viel mehr tun, fürchte ich!“

4

Die Kirchenuhr des kleinen Dorfes Altdorf verkündete mit wuchtigen Schlägen, dass es viertel nach elf Uhr war. Lisa, eine bildhübsche, noch ziemlich junge Sintezza, also eine Zigeunerin, wie dieser Personenkreis in den 50er Jahren und noch lange danach genannt wurde, klingelte an der Haustür einer „Stammkundin“. „Ach, du bist es! Komm herein, aber ich sage es dir gleich: ich kaufe dir diesmal nichts ab!“ meinte die etwa 40-jährige Frau, die ihr die Haustür öffnete. Sie gingen in die Küche, wo sie sich setzten. Lisa öffnete eine große lederne Tasche, der sie eine gehäkelte Decke entnahm. „Da, schau! Ist sie nicht wunderschön? Eigentlich kostet sie 35 Mark, aber weil du es bist, kannst du sie für 25 haben! Und wenn sie dir nicht gefällt: ich habe noch einige andere dabei!“ „Lisa, was soll ich damit? Ich kann doch nicht meine sämtlichen Möbelstücke mit deinen Häkeldecken verzieren! Nein, auch brauche ich keine Hosenträger und Schnürsenkel mehr! Ich habe es dir doch bereits gesagt!“ entgegnete die Kundin und ging an den Herd, auf dem sie gerade das Mittagessen für ihren in einer Fabrik arbeitenden Ehemann und ihren kleinen Sohn zubereitete. „Kauf mir doch irgendetwas ab, bitte!“ bettelte die Zigeunerin und holte noch einige weitere Erzeugnisse der Häkelkunst aus ihrer nahezu unergründlich scheinenden Ledertasche, wobei sie die Hausfrau erwartungsvoll ansah. „Da, setz dich! Wie ich dich kenne, hast du sicher Hunger! Du kannst einen Teller Suppe haben; es reicht für dich und unsere Familie“ meinte die Hausfrau. Lisa schmunzelte und setzte sich an den Tisch. „Danke“, sagte sie freundlich und schaute auf den kleinen, etwa fünfjährigen Sohn ihrer Gastgeberin, der sie neugierig in Augenschein nahm, während er ein Spielzeugauto in seiner Hand hielt. „Ein hübscher Junge! Ganz seine Mutter!“ bemerkte sie mit einem Seitenblick auf ihre Suppe, die heiß in ihrem Teller dampfte. „Alte Schmeichlerin!“ lachte die Hausfrau. „Bilde dir bloß nicht ein, dass ich dir dafür etwas abkaufe! Und jetzt iss und erzähle mir noch, was es Neues gibt! Du weißt, um 12 Uhr kommt mein Mann und der ist alles andere als entzückt, wenn er dich hier sieht!“

Natürlich hatte Lisa die Besuchszeit vor 12 Uhr mit Absicht gewählt, denn sie wusste, dass sie bei der gutmütigen Frau immer etwas zu essen erhalten würde. Aber sie hielt es nun für besser zu verschwinden, bevor der Ehemann nach Hause kam. Sie verabschiedete sich gerade noch rechtzeitig und setzte ihre Verkaufstour fort

5

Lisa erfuhr natürlich viele Neuigkeiten, während sie in den Albdörfern ihrer Tätigkeit als Hausiererin nachging. Sie kannte den neuesten Tratsch, die neuesten Gerüchte und viele Hausfrauen waren aus diesem Grund in gewisser Weise beinahe begierig auf ihre Besuche, die etwas Abwechslung in ihr graues, von Alltagstätigkeiten wie Kochen, Waschen und Bügeln gekennzeichnetes Dasein brachte. Den meisten von ihnen konnte sie immer etwas verkaufen, denn sie vereinte in ihrem Charakter einen angeborenen Charme, der manchmal auch mit einer gewissen, aber nie verletzenden Frechheit verbunden war. Außerdem verfügte sie über die durch in ihrem harten Leben erworbene notwendige Courage. Diese Eigenschaften waren dann besonders nützlich, wenn Männer ihr gegenüber auf Grund ihres Herkommens und ihres Aussehens anzügliche Bemerkungen nachriefen oder zweideutige Angebote machten, weil sie sie als Zigeunerin für eine Art Freiwild hielten, aber bisher war sie mit allen mehr oder weniger plumpen Annäherungsversuchen gut fertig geworden. Eigentlich war ihr nur einer dieser Männer in äußerst unangenehmer Erinnerung geblieben, ein Mann, der sie mit unverhohlenem Hass von Kopf bis Fuß gemustert hatte, um dann vor ihr auszuspucken. Er war gut gekleidet gewesen, musste ungefähr zwischen 40 und 50 Jahre alt sein und hatte sich danach dann langsam in Richtung Dorfmitte Altdorf entfernt. Etwas Unheimliches hatte zusätzlich in diesen hasserfüllten Augen gelegen.

Lisa lebte zusammen mit ihren Angehörigen am Dorfrand in einem der größeren Albdörfer, Grödingen. Die Gemeinde hatte der Sippe ein Haus als Unterkunft angeboten, das nach dem Niedergang der sich vorher darin befindlichen Ziegelei leer stand. Der Standort hatte den Vorteil für die Grödinger, dass die Zigeuner weit genug vom Ort entfernt waren, denn man traute ihnen, wie an den meisten Orten, nicht so ganz über den Weg. Sie galten als Diebe, „Igelfresser“ und wurden mit ähnlichen, wenig schmeichelhaften Bezeichnungen belegt. Auch trug das äußere Escheinungsbild ihres Anwesens nicht gerade zur Verschönerung des Dorfbildes bei und wurde von den ordnungsliebenden Dorfbewohnern schlichtweg als „Sauerei“ bezeichnet. Die verschiedensten Gegenstände, angefangen von alten Autoreifen über rostige Gartentüren bis hin zu aufgestapelten Dachplatten und noch vielen anderen kaputten, teilweise undefinierbaren Materialien kennzeichneten die Umgebung des Hauses. Aber manchmal zogen die Dorfbewohner auch ihren Nutzen aus ihren misstrauisch beäugten und im Grunde verachteten Mitbürgern, denn man konnte bei ihnen so manche Gegenstände oder Geräte für Haus und Hof in gebrauchtem Zustand und daher ziemlich billig erwerben, viel billiger als im Laden. So funktionierte das Zusammenleben beider Bevölkerungsgruppen auf der Basis der Einhaltung eines durch gegenseitige Vorsicht geprägten Abstands.

6

Lisa ging in Gedanken vertieft den schmalen Pfad hinunter zum Bahnhof von Altdorf. Dieser Pfad führte für ein kurzes Stück durch ein dicht bewachsenes, jetzt kahles Buchenwäldchen. Es begann bereits zu dunkeln; ein vielleicht für die Jahreszeit etwas zu warmer Dezembertag neigte sich langsam dem Ende zu. Es war ein guter Tag für Lisa gewesen; sie hatte einige ihrer Waren an den Mann oder besser gesagt, an die Frau bringen können. Solche Tage gab es nicht so oft; sie überlegte, woran es gelegen haben könnte. Vielleicht wirklich an ihrem unbestreitbar vorhandenen Verkaufstalent oder nur am guten Wetter, das die Leute freundlich stimmte?

Plötzlich glaubte sie, das Knacken eines trockenen Astes vernommen zu haben. Sie hatte immer schon über ein gutes Gehör verfügt, auf das sie sich verlassen konnte. Sie schaute sich schnell um und erblickte eine dunkel gekleidete Gestalt, die sich aus dem Dickicht am Waldrand löste und mit raschen Schritten auf sie zukam. In der Hand trug die Gestalt einen Gegenstand, der die Form einer kurzen Eisenstange aufwies; soviel konnte Lisa jedenfalls erkennen.

Lisa hatte in ihrem jungen Leben bereits so viel an entsprechenden Situationen erlebt, so dass sie es instinktiv nicht zuließ, von dem jetzt aufkommenden Gefühl einer Panik überwältigt zu werden. Hier galt es, einen kühlen Kopf zu bewahren. Sie drehte sich um und begann ohne lange Überlegung sofort zu laufen, so schnell sie nur konnte. Um noch besser voran zu kommen, ließ sie geistesgegenwärtig ihre Tasche samt dem darin enthaltenen Geld auf den Boden fallen. Mit einer gewissen Erleichterung bemerkte sie, dass ihr Verfolger sie nicht einholen konnte. Sie hörte am Geräusch seiner Schritte, dass er nicht mehr näher kam. Sie war jung und schnell; ihr Verfolger offensichtlich nicht. Er hatte sich verkalkuliert, er war zu früh aus seinem Versteck hervor gekommen. Lisa atmete erleichtert auf. Das Geld, der Verdienst eines langen anstrengenden Tages, war zwar weg, aber sie lebte. Das war die Hauptsache, alles andere war unwichtig!

7

„Die gleiche Stelle und wieder ein Überfall auf einen Hausierer! Und wieder das gleiche Muster! Ich bleibe dabei – beim Täter handelt es sich um einen Verrückten!“ Kriminalkommissar Haider schüttelte ungläubig den Kopf und schaute zu Lisa Richard hinüber, die den Beamten ziemlich misstrauisch musterte. Ihre Erfahrungen mit der Polizei waren nicht die besten, aber sie hatte sich sofort auf das kleine Polizeirevier von Altdorf begeben und von dort aus wurde die Kriminalpolizei in Balingen verständigt. Darauf war ein Beamter des Reviers von Altdorf mit Lisa an den Tatort gefahren, um das Eintreffen des Kommissars und seiner Mitarbeiter abzuwarten.

Die bald darauf einsetzende Spurensuche ergab lediglich, dass sich der Täter im Dickicht versteckt hatte, um Lisas Kommen abzuwarten. Es handelte sich offenbar um einen Raucher der Marke „Overstolz“, denn es fanden sich dort nach ziemlich kurzer Suche noch die Spuren zweier ausgetretenen Kippen. Das Merkwürdigste an der Geschichte war aber, dass Lisas Tasche genau an der Stelle gefunden wurde, wo sie sie fallengelassen hatte. Der Täter hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihren Inhalt zu untersuchen und wie bei dem vor drei Monaten erschlagenen Hausierer Bernhard Berlinger fehlte kein Pfennig. „Ein Verrückter, ganz klar!“ wiederholte der Kommissar kopfschüttelnd seine Worte von vorhin. „Da war eine ganz schöne Summe in der Tasche, wenngleich das Zeug, das die Zigeunerin den Leuten andreht, nicht viel wert zu sein scheint, soweit ich das als Laie in diesen Dingen beurteilen kann!“ meinte er dann halblaut zu seinen Kollegen. „Und dieses Geld lässt er einfach liegen!“ fuhr er dann fort, Lisa zugewandt. „Wie erklären Sie sich das, junge Frau? Es dürfte sich wohl nicht um eine beabsichtigte Vergewaltigung gehandelt haben. Dazu benützen die Typen meistens keine Eisenstange, es sei denn, sie wollen ihr Opfer danach töten, um die Spuren zu verwischen!“ Haider überlegte weiter: „Wenn der Kerl es also nicht auf Ihr Geld abgesehen hat; haben Sie irgendwelche Feinde, die Ihnen nach dem Leben trachten könnten? Handelt es sich eventuell um die Rache eines verschmähten Liebhabers“, Haider grinste anzüglich, „oder um einen Mordversuch, bei dem es irgendwie um die Ehre der Familie geht? In Zigeunerkreisen soll es ja in dieser Hinsicht nicht immer gerade friedlich zugehen, wie man so hört!“ Der Kommissar sah die junge Frau immer noch leicht grinsend an. „Bei uns geht es auch nicht anders zu als in euren Kreisen!“ sagte Lisa mit einem auf innere Empörung schließen lassenden Unterton in ihrer Stimme. „Nur weil wir Zigeuner sind, glaubt jeder von euch, uns in eine Schublade stecken zu können und hält uns automatisch für Diebe und noch Schlimmeres! Wir sind auch nicht anders als ihr, die sogenannten ehrbaren Bürger!“

Der Kommissar, der Lisa bisher routinemäßig mit „Sie“ angeredet hatte, sagte darauf mit erhobener Stimme: „Sei etwas vorsichtig mit dem was du sagst und werde nicht frech! Ich kenne euch! Ich habe in den letzten Jahren so allerhand Erfahrungen mit euch gesammelt! Trotzdem: Ich werde deinen Fall genauso behandeln wie ich das mit jedem Fall tue, egal, ob Zigeuner oder nicht! Für mich gibt es dabei keine Unterschiede! Es ist ein Kriminalfall, egal, welche Personen darin verwickelt sind!“ Er rief seinem Kollegen Rosenfelder. „Manfred, nehmen Sie bitte die Personalien der jungen Dame auf! Und Sie, Herr Kollege aus Altdorf, fahren sie anschließend an den Bahnhof, damit sie noch rechtzeitig den letzten Zug nach Grödingen, ihrem Heimatort erreichen kann! Aber seien Sie nett zu ihr, dann liest sie Ihnen vielleicht kostenlos Ihre berufliche Zukunft einschließlich steiler Beamtenkarriere aus der Hand! Wir melden uns morgen bei Ihnen, Fräulein Richard. Bis dann!“ Er wandte sich ihr noch einmal zu. „Die Tasche brauchen wir noch für Untersuchungszwecke! Ich versichere Ihnen, dass danach noch alles drin sein wird, was vorher auch drin war!“ Er verneigte sich leicht vor ihr. „Gute Heimreise! Wir werden also wie gesagt, morgen früh einmal bei Ihnen vorbeischauen!“ Anschließend ärgerte er sich über sich selbst und seine verbale Entgleisung der jungen Zigeunerin gegenüber. Eigentlich passierte ihm so etwas selten. Lisa musste auf irgendeine Art und Weise eine Stelle in seinem Wesen getroffen haben, an der er empfindlich war, aber er wusste nicht genau durch welche ihrer Äußerungen. Wahrscheinlich war es ihr Vorwurf der ungerechten Einschätzung ihres Volks gewesen, denn er wusste nur zu gut, dass auch er nicht frei von Vorurteilen gegenüber den Zigeunern war.

„Fassen wir einmal alles kurz zusammen!“ Manfred Rosenfelder rekapitulierte. „Zwei Mordversuche an derselben Stelle, in einem Abstand von drei Monaten, einer davon erfolgreich, der andere missglückt. Die Opfer waren in beiden Fällen Hausierer. Dass dadurch eine Verbindung zwischen den beiden Überfällen besteht, dürfte klar auf der Hand liegen, nur welche, werden wir noch herausfinden müssen. Vom Täter wissen wir bisher nur, dass er wahrscheinlich Raucher ist und sein erstes Opfer möglicherweise mit einer Eisenstange getötet hat, die er auch dieses Mal wieder eingesetzt hätte. Das Geld der Opfer scheint ihn nicht zu interessieren. Mehr haben wir im Moment leider nicht!“ „Bald werden wir mehr wissen, lieber Kollege“ entgegnete sein Vorgesetzter. „Nur Geduld, die Zeit ist auf unserer Seite – jedenfalls war sie das in den meisten Fällen! Kommen Sie, wir fahren zurück. Morgen werden wir also der jungen Dame aus Grödingen einen kleinen Besuch abstatten! Ich bin sehr gespannt auf die wohnlichen Verhältnisse unserer Zeugin und jetzt bereits aufs Schlimmste gefasst!“ „Passen Sie bloß auf, dass sie Ihnen nicht so nebenbei eine gehäkelte Decke andreht!“ witzelte Assistent Manfred Rosenfelder. Sein Chef lachte. „Ich glaube nicht, dass mir so etwas passieren wird!“ Kommissar Haider und sein Kollege stiegen in ihren VW-Käfer und fuhren nach Balingen zurück.

Im Polizeiauto des jungen Polizisten aus Altdorf sagte Lisa zum ihr bereits durch frühere Begegnungen bekannten Polizisten: „Was für ein gefühlloser Mensch! Und so etwas dünkt sich besser als unsereins! Ich bin gerade beinahe ermordet worden und er…“ „So ist er halt nun einmal; Lisa“ meinte der junge Polizist nur. „Er ist nun mal Kriminalbeamter durch und durch. Und er wird den Täter finden, verlass‘ dich drauf! Er ist äußerst ehrgeizig und daher sehr hartnäckig! Übrigens, ich kann dich natürlich auch heimfahren!“ „Ja, danke, das ist sehr nett von Ihnen! Ich bin einfach nur unheimlich müde und am Ende meiner Kraft!“ „Du kannst mich auch duzen, wenn du willst! Wir kennen uns nun seit einiger Zeit und sind ja beide aus dem gleichen Dorf!“ schlug der junge Polizist vor, als sein Wagen Altdorf hinter sich ließ. „Nein, lieber nicht! In ein paar Wochen habe ich wieder Ärger mit irgendwelchen Leuten, die behaupten, ich hätte sie beim Verkauf betrogen oder im Wohnzimmer Geld gestohlen und Sie stehen dann wieder auf der anderen Seite! Das würde nichts bringen!“ Sie schaute nachdenklich aus dem Fenster, während sie durch den Nachbarort von Altdorf fuhren. „Sehen Sie, meinen Zug hätte ich auch nicht mehr erreicht! Dort steht er bereits am Bahnhof. Also noch einmal danke!“

8

Es war ungefähr etwas mehr als eine Stunde nach Eintritt des Feierabends vergangen und die Gaststube der Wirtschaft „Zum Ochsen“ in Altdorf begann sich so langsam mit Männern aus der Ortschaft zu füllen. Ein eigenartiger, für den „Ochsen“ charakteristischer Geruch erfüllte die Räume des alten Hauses, ein Geruch nach Rauch und Bratenfett, durchsetzt mit dem Dunst von abgestandenem Bier. Bald würde noch der Geruch nach Schweiß, Seife, Kölnisch Wasser und Handwaschpaste „Reinol“ dazu kommen, sobald die hauptsächlich in der feinmechanischen Industrie tätigen Männer des Ortes am Stammtisch Platz genommen haben würden. Dieser Geruch nach Kneipe haftete hartnäckig in der Kleidung der Besucher und ließ sich nur durch gründliches Waschen daraus vertreiben; das Lüften, das von pingeligen Hausfrauen sofort nach dem Eintreffen ihrer Gatten energisch eingefordert oder manchmal auch mit leicht brachialer Gewalt in die Tat umgesetzt wurde, zeigte keine große Wirkung. Andererseits konnten gewitzte Gattinnen sofort an der Eigenart des Geruchs feststellen, in welcher Wirtschaft sich der Gatte aufgehalten hatte, denn jede dieser Altdorfer Wirtschaften wies einen für sie charakteristischen „Duft“ auf. Man musste also den Ehemann gar nicht lange fragen, wo er einen gemütlichen Abend verbracht hatte: im „Ochsen“ herrschte der Geruch nach Zigaretten vor, im „Adler“ ebenfalls, im „Löwen“ nach Zigaretten und billigen Stumpen; dagegen dominierte im „Kutscherstüble“ das Aroma von teuren Zigarren und Wein die Ausdünstungen der Jacken. Nach einiger Zeit, in der sie ihre diesbezüglichen Erfahrungen gesammelt hatte, konnte jede Frau aus Altdorf, die mit einem halbwegs funktionierenden Geruchssinn ausgestattet war, mindestens zwei Gaststätten am Kleidergeruch olfaktorisch voneinander unterscheiden. Das Gerücht aber, dass die Altdorfer Hausfrauen insgeheim unter sich Wettbewerbe austrügen, wer über das beste Näschen verfügte, entsprach absolut nicht der Wirklichkeit, sondern entsprang dem etwas boshaften Altdorfer Humor.

Die Anzahl der freien Plätze um den großen runden Stammtisch mit dem überdimensionalen Aschenbecher in der Mitte begann langsam abzunehmen; schließlich waren alle der üblichen Holzstühle besetzt. Die Neuankömmlinge begrüßten sich freundlich mit einem „N’Abend“, auch wenn sie sich erst vor ungefähr einer Stunde am Fabriktor gesehen oder sogar den ganzen Tag nebeneinander am Arbeitsplatz gestanden hatten. Man bestellte ein Bier, zog eine der damals üblichen weit verbreiteten Zigaretten der Marken „Reval“, „Overstolz“, „Eckstein“ oder „Rothändle“ aus der Jackentasche, auch Seltenere wie „Supra“ oder „Mercedes“ waren vertreten, selbstverständlich in der überwältigenden Mehrzahl Zigaretten ohne Filter. Man rauchte, denn ein richtiger Mann musste einfach rauchen, das war ein ungeschriebenes Gesetz, eine Selbstverständlichkeit. Viele der Männer hatten im Krieg damit angefangen, entweder um ihren Hunger oder ihre allgegenwärtige Angst oder beides zu bekämpfen.

Wie immer wollte das Gespräch anfangs nicht so richtig in die Gänge kommen. Die Männer starrten etwas verlegen in ihre Biergläser oder auf den sich oben auf dem Regal befindlichen kleinen Fernsehapparat, auf dem sie die Fußballweltmeisterschaft von 1954 verfolgt hatten und auf dem sie auch die kommende des Jahres 1958 verfolgen würden, denn außer den wenigen wohlhabenden Einwohner des Dorfes besaß niemand ein solches Gerät. Aber irgendwann würde dann in der Gaststätte aus anfänglichen allgemeinen Floskeln über das Wetter oder die Arbeit eine Unterhaltung entstehen.