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Die wahre Geschichte eines unfassbaren Verbrechens
Thomas Quick ist das schlimmste Monster der schwedischen Geschichte – ein Serienkiller, Vergewaltiger, Sadist und Kannibale. So jedenfalls das Bild, das die Medien von ihm erschufen. In den Jahren zwischen 1992 und 2001 gesteht Thomas Quick dreißig Morde und wird für acht davon verurteilt. Nachdem immer wieder Zweifel an der tatsächlichen Schuld von Thomas Quick aufkommen, beginnt der bekannte Enthüllungsjournalist Hannes Råstam mit der Recherche. Das Ergebnis seiner Arbeit schlägt ein wie eine Bombe. Thomas Quick kann die Morde nicht begangen haben. Es gibt keinen haltbaren technischen Beweis. Thomas Quick ist unschuldig.
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Seitenzahl: 677
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
Fallet Thomas Quick – Att skapa en seriemördare
bei Ordfront, Stockholm
Unter www.heyne-hardcore.de finden Sie daskomplette Hardcore-Programm, den monatlichen Newslettersowie unser halbjährlich erscheinendesCORE-Magazin mit Themen rund um das Hardcore-Universum.
Copyright © 2012 by Hannes RåstamCopyright © 2013 der deutschen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHRedaktion: Isabella Kortz, www.isabella-kortz.deFür ihre Hilfe in juristischen Fachfragen danktdie Übersetzerin der Rechtsanwältin Iris Hell, München.Gesetzt aus der 10,3/13,6 Punkt The Antiqua B3von C. Schaber Datentechnik, WelsISBN 978-3-641-11373-5
www.heyne.de
Inhalt
Vorwort
TEIL I
Klinik für Forensische Psychiatrie Säter, Montag, den 2. Juni 2008
Der Säter-Mann
Schlagzeilen
Charles Zelmanovits
Appojaure
Yenon Levi
Therese Johannesen
Zweifler
Trine Jensen und Gry Storvik
Johan Asplund
Auszeit
Warum haben Sie gestanden?
Brief an Sture Bergwall
Meine Gespräche mit Jan Olsson
Der Eremit
Onkel Sture
Klinik für Forensische Psychiatrie Säter, Donnerstag, den 28. August 2008
Eine Entdeckung
Abschweifen
Tatortbegehung in Ørjeskogen
Klinik für Forensische Psychiatrie Säter, Mittwoch, den 17. September 2008
Die Wendung
TEIL II
Ein Leben aus Lügen
Der Serienmörder trifft ein
Ein sonderbarer Patient
Missbrauch und Therapie
Der Badeausflug
Aus dem Spiel wird Ernst
Irrfahrten und Umwege
Zeitreise
Stures Alibi
Der Ärztestreit
Birgitta Ståhle übernimmt
Geschlossene Fragen
Charles Zelmanovits’ Verschwinden
Kognitive Verhörmethoden
Eine makabre Show
Nächtliche Zweifel
Eine andere Vernehmungssituation
Der letzte Vorarbeiter
Abgeschriebene Geschwister
Eine gestrichene Stunde
Mehrere Persönlichkeiten
Ein wütender Schrei
Konfrontation
Das »Schalom-Ereignis«
Sten-Ove nimmt Kontakt auf
Der Prozess am Landgericht Gällivare
Widerstände
Die Quick-Kommission scheitert
Der Levi-Prozess
Auf nach Ørjeskogen!
Ein eingeschworenes Team
Archäologische Grabungen
Der geknackte Code
Da capo
Interview mit dem Staatsanwalt
Interview mit dem Rechtsanwalt
Fehler im System
Die Dokumentationen im SVT
TEIL III
Der Wind dreht
13 Ordner
Der Kriminaljournalist
Das letzte Puzzleteil
Treffen mit dem Journalisten
Nachwort von Mattias Göransson:
Das Vermächtnis des »Gräbers«
Chronologie zu Sture Bergwall/Thomas Quick
Für meine Kinder
Man will geliebt werden,mangels dessen bewundert,mangels dessen gefürchtet,mangels dessen gehasstund verachtet. Man willirgendein Gefühlin den Menschen wecken.Die Seele schrecktvor der Leere zurück undsucht um jeden Preis Kontakt.
Aus: HJALMAR SÖDERBERG, Doktor Glas.In der Übersetzung von Verena Reichel,Manesse Verlag, München 2012, S. 29
Vorwort
Dies ist die Geschichte des Serientäters Thomas Quick. Im Laufe von fast 30 Jahren wird er rund 30 Menschen umbringen: Frauen, Männer, Halbwüchsige, Kinder. Im Alter von nur 14 Jahren tötet er das erste Mal, und seine Art zu töten gibt das Muster vor für alle Morde, die folgen sollen. Es handelt sich um bestialische Sexualdelikte. Er vergewaltigt, quält, tötet und zerteilt seine Opfer. Er trinkt ihr Blut und verspeist Teile von ihnen. Wie Trophäen nimmt er ihre Körperteile an sich, um seine Fantasien zu befriedigen, bis er das nächste Opfer findet, und schließlich entledigt er sich der Überbleibsel, indem er sie massakriert, vergräbt oder einfach ins Gebüsch wirft.
Mit gewöhnlichem kriminologischem Maß gemessen, ist Thomas Quick bezüglich der Bestialität seiner Morde und der Anzahl seiner Opfer kein durchschnittlicher Serientäter. In der gesamten Kriminalgeschichte der westlichen Welt steht er ziemlich weit oben auf der Liste eben jener Täter, und was einige der Grausamkeiten betrifft, die auf sein Konto gehen, ist er sogar einzigartig.
Das Problem besteht jedoch vielmehr in dem Bild von ihm, das in unseren Medien und in unseren Köpfen 15 Jahre lang herumspuken soll: Denn nichts davon ist wahr. Alles war nur erfunden. Thomas Quick hat kein einziges seiner angeblichen Opfer jemals getroffen, geschweige denn umgebracht. Der Serientäter Thomas Quick ist ein Fantasiegeschöpf, das dem Bösen ein Gesicht gegeben und eine Gestalt verliehen hat, und das in erster Linie von anderen und nicht von ihm selbst geschaffen wurde.
Nun hat Hannes Råstam die wahre Geschichte erzählt. Die von Sture Bergwall, geboren 1950 in Korsnäs bei Falun, der seit früher Kindheit massiv an physischen und psychischen Krankheiten litt, sein halbes Leben lang in der Psychiatrie behandelt wurde und von früher Jugend an schwer alkohol-, drogen- und tablettenabhängig war. Råstam erzählt, wie es der schwedischen Justiz in Zusammenarbeit mit der Psychiatrie gelang, aus einem psychisch schwer kranken Drogenabhängigen und Mythomanen einen Serienmörder zu machen.
Ausnahmsweise ist es auch einmal so, dass Råstam nicht nur ein Buch darüber geschrieben hat, was wirklich passiert ist, sondern auch derjenige war, der dafür gesorgt hat, dass überhaupt erst Licht in das Dunkel kam, das die eigentlichen Schurken, die diese Lüge in die Welt gesetzt hatten, verbreiteten.
Zweifler und Skeptiker hat es sicherlich immer gegeben, seit der Serienmörder Thomas Quick ab Anfang der 90er-Jahre in unseren Köpfen ungehindert sein Unwesen trieb. Hannes Råstam ist gemessen daran erst spät aufgetaucht. Mit John Wayne, James Bond oder unserem Carl Hamilton hat er nicht besonders viel gemeinsam. Ein hochgewachsener, schlanker Journalist, nie laut und stets korrekt, bisweilen ein leichtes Lächeln auf den Lippen, der für das Fernsehen drei Sendungen über unseren landeseigenen Serienmörder gemacht und ihn in letzter Sekunde auch noch dazu bewegt hat zuzugeben, dass er leider alles erfunden hat. Und sogar auch dazu, uns zu erklären, warum er das getan und wer ihn dazu gebracht hat.
Das erinnert mich an die Filme aus meiner Kindheit, in denen die Wirklichkeit schwarz-weiß war und die Kavallerie im letzten Moment angeritten kam, mit donnernden Hufen, Fanfaren, gezogenen Säbeln, nur dieses Mal von einem Investigativjournalisten angeführt, der plötzlich und bei allem, was wirklich zählt, genauso aussieht wie der John Wayne aus meinen Kindertagen. Zweifler und Skeptiker in allen Ehren, aber es ist genau diese kleine, unscheinbare, tapfere Schar aus Journalisten, Wissenschaftlern, Juristen und all jenen, die für die gute Sache kämpfen, die den berechtigten Zweifeln nachgeht und sie zur Sprache bringt – und zwar bis ins letzte Detail. Wäre Hannes Råstam nicht gewesen, hätten viele mit ihren Zweifeln weitergelebt und sich damit abgefunden. Und die meisten von uns haben das Problem vermutlich gelöst, indem sie einfach nicht mehr daran dachten.
Dass Hannes Råstam auch ein Stück schwedische Rechtsgeschichte geschrieben hat auf seinem Weg zur Wahrheit über Thomas Quick, traue ich mich kaum zu sagen, ganz einfach deshalb, weil mit solch einem Verdienst selten sonderlich große Lesefreude verbunden ist. In diesem Fall ist das umgekehrt. Råstams Buch ist gut geschrieben und gut erzählt. Er schildert darin einen schwedischen Rechtsapparat, der von einer moralischen, juristischen und intellektuellen Kernschmelze erfasst wurde, und ein schwedisches psychiatrisches Gesundheitswesen, das Assoziationen weckt mit Ähnlichem in der frühen Sowjetunion, von dem wir bisher dachten, es geistere nur in Berichten herum. Und wenn wir doch einmal darüber lasen, so hatte das keinesfalls etwas mit uns zu tun.
Summa summarum: Wir haben ein Buch vor uns, in dem berichtet wird, wie schwedische Polizeibeamte, Staatsanwälte, Anwälte und Richter – mit geneigter Unterstützung diverser Ärzte, Psychologen, eines sogenannten Experten für Gedächtnisfunktionen und viel zu vielen Journalisten und Gesichtern aus dem Kulturbereich – aus einem psychisch kranken Mythomanen den schlimmsten Serienmörder der Kriminalgeschichte machten. Das ist furchtbar, das ist die Wahrheit und das ist vollkommen phänomenaler Lesestoff.
Leif GW Persson
TEIL I
»Wenn man die furchtbare Wahrheit kennt über das,was Thomas Quick seinen Opfern angetan hat –und wenn man ihn wie ein Tier aus tiefster Kehlehat schreien hören –, stellt sichnur eine Frage: Ist er wirklich ein Mensch?«
PELLE TAGESSON, Kriminalreporter,Expressen, am 2. November 1994
Klinik für Forensische Psychiatrie Säter, Montag, den 2. Juni 2008
Seit sieben Jahren hat der Serienmörder, Sadist und Kannibale Sture Bergwall keinen Besuch empfangen. Mich erfüllte eine ängstliche Neugierde, als mir Einlass in die Besucherschleuse der Regionalklinik für Forensische Psychiatrie in Säter gewährt wurde.
»Hannes Råstam, Schwedisches Fernsehen. Habe um einen Termin mit Sture Bergwall gebeten …«
Ich legte meinen Presseausweis in das Edelstahlschubfach unter dem Panzerglas, das mich von dem Wachmann trennte. Er überzeugte sich, dass mein Besuch genehmigt und eingetragen war.
»Gehen Sie durch die Sicherheitsschleuse. Kommen Sie nicht an die Tür!«
Ich gehorchte der schnarrenden Lautsprecherstimme, ging durch eine automatische Tür, anschließend an den Metalldetektoren der Schleuse vorbei und durch eine weitere automatische Tür in einen Warteraum, in dem eine Pflegerin meine Schultertasche durchwühlte.
Ich folgte den bestimmten Schritten meiner Begleiterin durch ein unüberschaubares System aus Korridoren, Treppen und Fahrstühlen. Dem Klappern ihrer Absätze auf dem Betonboden. Stille, Schlüsselrasseln bei jeder Stahltür, das Piepen elektronischer Schlösser, das Zuschlagen von Panzertüren.
Thomas Quick hatte rund 30 Morde gestanden. Sechs Gerichte hatten ihn einstimmig des achtfachen Mordes für schuldig befunden. Nach dem letzten Urteil 2001 hatte er sich für eine »Auszeit« entschieden, seinen alten Namen Sture Bergwall wieder angenommen und beschlossen zu schweigen. In den sieben Jahren, die seither verstrichen waren, flammte immer wieder eine hitzige Diskussion auf, inwieweit Quick ein Serienmörder oder Mythomane war. Wie der Betroffene selbst darüber dachte, wusste niemand. Jetzt würde ich ihm Auge in Auge gegenüberstehen.
Die Pflegerin führte mich in eine große, verlassene Abteilung mit blank gebohnertem Linoleumboden. Sie forderte mich auf, ein kleines Besucherzimmer zu betreten.
»Er ist unterwegs«, sagte sie.
Ich spürte plötzlich ein gewisses Unbehagen.
»Warten Sie so lange vor dem Zimmer?«
»Dies ist eine geschlossene Abteilung, hier gibt es kein Personal«, erwiderte sie schroff.
Als hätte sie meine Gedanken gelesen, zauberte die Pflegerin ein kleines schwarzes Kästchen hervor.
»Möchten Sie den Alarm?«
Ich betrachtete erst sie, dann das schwarze Kästchen.
Sture Bergwall war seit 1991 hier in Behandlung. Er galt als so gefährlich, dass er nur einmal alle sechs Wochen den Bunker für eine Fahrt mit dem Auto verlassen durfte, und das nur, wenn ihn drei Pfleger begleiteten. Damit der Spinner mal den Horizont zu Gesicht kriegt und nicht noch verrückter wird, dachte ich.
Nun sollte ich binnen Sekunden entscheiden, ob die Situation einen Alarm erforderlich machte, oder nicht. Ich blieb meine Antwort schuldig.
»Nebenan gibt es auch eine Notklingel«, sagte die Pflegerin.
Klang sie nicht ein bisschen zynisch?, überlegte ich. Sie wusste genauso gut wie ich, dass von Quicks Opfern kein einziges durch eine Notklingel in einem Nebenzimmer hätte gerettet werden können.
Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als Sture Bergwall mit seinen 1,89 Metern begleitet von zwei Pflegern im Türrahmen erschien. Er trug ein verwaschenes Sweatshirt, das einmal lila gewesen sein musste, zerschlissene Jeans und Sandalen und hielt mir mit einem unsicheren Lächeln seine Hand hin, leicht nach vorn gebeugt, damit ich nicht gezwungen war, ihm zu nahe zu kommen.
Ich musterte die Hand, die den Angaben ihres Eigentümers zufolge mindestens 30 Menschen getötet hatte.
Sein Händedruck war feucht.
Die Pfleger waren weg.
Ich war mit dem Kannibalen allein.
Der Säter-Mann
Die haarsträubende Nachricht wurde von den Medien überbracht. Wie immer. Der Reporter vom Expressen hatte es eilig und kam gleich zur Sache:
»Unten in Falun hockt ein Kerl, der den Mord an Ihrem Sohn Johan gestanden hat. Was können Sie dazu sagen?«
Anna-Clara Asplund stand in Hut und Mantel in der Diele, die Hausschlüssel in der Hand, und war gerade von der Arbeit nach Hause gekommen. Schon beim Eintreten hatte sie das Telefon klingeln hören.
»Ich bin etwas in Eile«, erklärte der Journalist. »Morgen wird mein Leistenbruch operiert, und ich muss den Artikel noch fertig machen.«
Anna-Clara Asplund hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Aber sie begriff, dass die offenen Wunden wieder aufreißen würden, und dass an jenem Montag, dem 8. März 1993, ihr Albtraum noch mal von vorn beginnen würde. Ein 42-jähriger Patient der Rechtspsychiatrischen Klinik Säter hatte den Mord an ihrem Sohn gestanden, berichtete der Journalist. »Ich habe Johan getötet«, habe der Mann gesagt. Anna-Clara fragte sich, warum die Polizei dies dem Expressen, aber noch nicht ihr mitgeteilt hatte.
Am 7. November 1980 stiegen Björn und Anna-Clara Asplund in die Hölle hinab. Es war ein ganz normaler Freitag. Es ist immer ein ganz normaler Tag, an dem so etwas passiert. Anna-Clara machte für ihren elfjährigen Sohn Johan Frühstück, bevor sie sich von ihm verabschiedete und zur Arbeit ging. Als ihr Sohn gegen 8.00 Uhr das Haus verließ, hatte er etwa 300 Meter bis zur Schule vor sich. Doch er kam nie dort an und blieb seitdem spurlos verschwunden.
Noch am selben Tag startete die Polizei eine umfassende Suchaktion mit Hubschraubern, Wärmebildkameras und Suchmannschaften, jedoch ohne eine Spur von dem Jungen zu finden. Der »Fall Johan« wurde zu einem der großen Kriminalrätsel Schwedens. Die Eltern meldeten sich in zahllosen Interviews, Reportagen und Talkrunden zu Wort. Immer wieder erzählten sie, wie es ist, sein einziges Kind zu verlieren, nicht zu wissen, was passiert ist, kein Grab zu haben, zu dem man gehen kann. Es half alles nichts.
Anna-Clara und Björn Asplund hatten sich getrennt, als Johan drei Jahre alt war, aber sie hatten ein gutes Verhältnis, waren sich gegenseitig eine Stütze auf der Golgathawanderung nach Johans Verschwinden und halfen einander bei den trostlosen Gesprächen mit Journalisten und Vertretern der Justiz.
Beide waren frühzeitig davon überzeugt, dass Johan von Anna-Claras ehemaligem Lebensgefährten entführt worden war. Unglückliche Liebe und übertriebene Eifersucht waren das angebliche Motiv, irgendetwas war aus dem Ruder gelaufen.
Der ehemalige Lebensgefährte gab an, er habe an jenem verhängnisvollen Morgen zu Hause im Bett gelegen und bis 9.00 Uhr geschlafen. Aber Zeugen hatten ihn um 7.15 Uhr das Haus verlassen sehen. Andere Zeugen hatten gegen 8.00 Uhr sein Auto vor Asplunds Haus gesehen. Seine Freunde und Arbeitskollegen sagten aus, dass er sich merkwürdig benommen habe, seit Johan verschwunden war. Selbst sein bester Freund teilte der Polizei mit, er sei überzeugt, sein Kumpel habe Johan mitgenommen. Im Beisein zweier Zeugen sagte Björn Asplund zu Anna-Claras früherem Lebensgefährten: »Du bist ein einfältiger Mörder, du hast meinen Sohn umgebracht, aber damit kommst du nicht davon. Ich werde jedem, den ich treffe, erzählen, dass du Johan getötet hast.«
Dass der Mann gegen solche Anschuldigungen nicht protestierte oder Björn Asplund wegen Verleumdung anzeigte, wurde von den Eltern als weiterer Hinweis für seine Schuld gedeutet. Es gab also Indizien, Zeugen und ein Motiv, aber keine sicheren Beweise.
Vier Jahre nach Johans Verschwinden beauftragte das Elternpaar Asplund den Rechtsanwalt Pelle Svensson, sich der Anklage gegen Anna-Claras ehemaligen Lebensgefährten anzuschließen, ein mutiges Unterfangen, das auch ein bedeutendes finanzielles Risiko barg, falls die Anklage nicht zugelassen oder es zu einem Freispruch kommen sollte.
Nach einem spektakulären Verfahren sah es das Landgericht als bewiesen an, dass der Angeklagte Johan entführt hatte. Er wurde wegen Menschenraubes zu zwei Jahren Haft verurteilt. Das war ein einzigartiges Ereignis und ein großer Sieg für Anna-Clara und Björn Asplund. Aus dem Erfolg am Landgericht wurde jedoch eine Niederlage, als das Oberlandesgericht ein Jahr später, nachdem die Verteidigung Berufung eingelegt hatte, das Urteil gegen den früheren Lebensgefährten aufhob. Da nach schwedischem Recht bei Freispruch die Verfahrenskosten nicht von der Staatskasse getragen werden, wurden Anna-Clara und Björn Asplund dazu verurteilt, für die aufgelaufenen 600000 Kronen aufzukommen. Die Regierung beschloss allerdings später »aus Barmherzigkeit«, dass Johans Eltern diese Summe nicht begleichen mussten.
Dann waren sieben Jahre vergangen ohne eine neue Spur von Johan. Es gab niemanden mehr, der noch nach seinem Mörder suchte.
Aber nun stand Anna-Clara wie angewurzelt in der Diele, in einer Hand den Telefonhörer, in der anderen den Schlüsselbund. Sie versuchte zu verstehen, was der Reporter erzählte, dass nämlich die Ermittlungen im Mordfall Johan wieder aufgenommen worden waren und ein Patient aus der Psychiatrie die Tat gestanden hatte. Aber ihr fiel kein Kommentar ein, der in die Zeitung gepasst hätte.
Anna-Clara Asplund nahm Kontakt mit der Polizei in Sundsvall auf, die die Informationen des Journalisten bestätigte. Der Ausgabe des Expressen vom folgenden Tag konnte sie entnehmen, dass der Psychiatriepatient zu Protokoll gegeben hatte, er habe Johan erwürgt und die Leiche vergraben.
Der Reporter hatte außerdem Björn Asplund erreicht, der die neuen Informationen skeptisch zur Kenntnis nahm. Er war noch immer davon überzeugt, dass Johans Mörder derjenige war, gegen den Anklage erhoben worden war. Aber er wollte sich auf nichts festlegen:
»Wenn sich herausstellen sollte, dass ein anderer Johan getötet hat, muss ich zu meinem Irrtum stehen«, sagte er dem Expressen. »Hauptsache, wir bekommen endgültige Gewissheit.«
Der Expressen blieb an dem Fall dran, und wenige Tage später konnte Anna-Clara Asplund weitere Details über das Geständnis des Säter-Patienten lesen.
»Ich habe Johan vor der Schule in mein Auto gelockt«, sagte der Säter-Mann, wie er genannt werden sollte, am 15. März dem Expressen. »Ich bin in ein Waldstück gefahren und habe mich dort an dem Jungen vergangen.«
»Ich wollte ihn nicht töten. Aber ich habe Panik gekriegt und Johan erwürgt. Dann habe ich ihn vergraben, damit er nicht gefunden wird.«
Der 42-Jährige war offensichtlich ein schwer kranker Mann. Schon 1969 hatte er sich sexuell an minderjährigen Jungen vergangen. Zuletzt war er 1990 gemeinsam mit einem jüngeren Komplizen wegen Bankraub in Grycksbo verhaftet und in die Psychiatrie in Säter eingewiesen worden, wo er in Therapiegesprächen den Mord an Johan gestanden hatte. Laut Expressen hatte er gesagt:
»Ich kann nicht länger damit leben. Ich will das aus der Welt schaffen; ich will Versöhnung und Vergebung, um wieder nach vorn zu blicken und weiterzukommen.«
Du kannst nicht mehr?, dachte Anna-Clara und ließ die Zeitung sinken.
Oberstaatsanwalt Christer van der Kwast war ein energischer Mann, 50 Jahre alt, mit ordentlich gestutztem Bart und kurz geschnittenem dunklem Haar. Er war bekannt für seine Gabe, mit sonorer Stimme derart überzeugend seine Ansichten darzulegen, dass sie sowohl von seinen Untergebenen als auch von Journalisten für die Wahrheit gehalten wurden. Kurz gesagt, war er ein Mann, der Selbstvertrauen ausstrahlte und es zu genießen schien, die Führung für seine Mannschaft zu übernehmen und mit ausgestrecktem Arm die Marschrichtung anzuzeigen.
Ende Mai ließ van der Kwast eine Pressekonferenz einberufen. Den erwartungsvollen Journalisten berichtete der Staatsanwalt, der Säter-Mann habe verschiedene Orte genannt, wo er Teile von Johans Leiche versteckt habe, und Techniker der Polizei würden nun in der Nähe von Falun nach den Händen suchen. Weitere Leichenteile seien angeblich in der Gegend von Sundsvall versteckt worden, doch trotz sorgfältiger Suche mit Spürhunden war an besagten Orten noch nichts gefunden worden.
»Dass wir nichts gefunden haben, muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass es auch nichts gibt«, lautete der Kommentar des Staatsanwalts.
Andere Beweise, die den Verdächtigen mit Johan Asplunds Verschwinden in Zusammenhang brachten, gab es nicht, und van der Kwast sah sich gezwungen zuzugeben, dass er für eine Anklageerhebung nicht genug in der Hand hatte. Der Verdacht bleibe dennoch bestehen, erklärte er, denn auch wenn Beweise fehlten, stünde der Säter-Patient mit einem anderen Mord in Zusammenhang.
Van der Kwast erläuterte den Anwesenden, dass jener 1964 einen Jungen im gleichen Alter in Växjö getötet hatte. Das Opfer war der 14-jährige Thomas Blomgren.
»Die Angaben des Säter-Patienten sind sehr detailliert und decken sich mit den Ergebnissen der Ermittlungen in diesem Mordfall, sodass ich unter normalen Umständen nicht gezögert hätte, gegen den Mann Anklage zu erheben«, sagte van der Kwast.
Diese Schlussfolgerung war aus zwei Gründen hypothetisch: Zum einen war die Verjährungsfrist für Mord, die zu dem Zeitpunkt 25 Jahre betrug, bereits überschritten, zum anderen war der Säter-Mann zur Tatzeit erst 14 Jahre alt und deshalb nach dem schwedischen Rechtssystem noch nicht schuldfähig gewesen. Dennoch war der Mord an Thomas Blomgren für das Verfahren im Fall Johan von großer Bedeutung – dass der Säter-Mann als 14-Jähriger einen Mord begangen hatte, war ohne Frage kompromittierend.
Christer van der Kwast verriet jedoch nicht, auf welche Weise der Säter-Mann mit dem Mord an Thomas Blomgren in Zusammenhang stand, und da in diesem Fall niemals Anklage erhoben werden würde, fand das Verfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Der Anwalt des Säter-Mannes, Gunnar Lundgren, teilte die Ansicht des Staatsanwalts voll und ganz und hielt die Aussage seines Mandanten für glaubhaft.
Die Medien lieferten immer gruseligere Details über die Vergangenheit des Säter-Mannes sowie seine persönlichen Neigungen. Er habe im Krankenhaus Falu Lasarett einen »Lustmordversuch« an einem neunjährigen Jungen begangen, wusste der Kriminalreporter des Dala-Demokraten, Gubb Jan Stigson, zu berichten: »Als der Neunjährige schrie, versuchte der Mann, ihn zu erwürgen. Der 43-Jährige schilderte in seiner Vernehmung selbst, dass er die Kehle des Jungen so lange zugedrückt hatte, bis dem Opfer das Blut aus dem Mund lief.«
Laut Dala-Demokraten hatten die Ärzte bereits 1970 darauf hingewiesen, dass der Säter-Mann wahrscheinlich ein Kindsmörder sei, und die Zeitung zitierte ein psychiatrisches Gutachten, das besagte, er leide an »einer konstitutionell bedingten, hochgradig sexuellen Perversion der Kategorie pedophilia cum sadismus«. Er stelle »unter gewissen Umständen eine ausgesprochen große Gefahr für die Sicherheit von Leib und Leben anderer« dar.
Am 12. November 1993 konnte Gubb Jan Stigson vermelden, dass die polizeilichen Ermittlungen im Zusammenhang mit dem Säter-Mann auf insgesamt fünf Morde ausgeweitet worden waren. Außer Johan Asplund 1980 und Thomas Blomgren 1964 wurde er des Mordes an drei weiteren Personen verdächtigt: Alvar Larsson aus Sirkön, der 1967 im Alter von 15 Jahren verschwand, Ingemar Nylund, der 1977 im Alter von 48 Jahren in Uppsala ermordet wurde, und Olle Högbom, der mit 18 Jahren 1983 in Sundsvall spurlos verschwand.
Laut Stigson hatte der Säter-Mann alle fünf Morde gestanden. Immer mehr Journalisten schrieben, er sei Schwedens erster richtiger Serienmörder.
»Er sagt die Wahrheit bezüglich der Morde an den Jungen«, stellte der Expressen in der Überschrift zu einem ganzseitigen Artikel am 17. Juni 1994 fest. Der Säter-Mann hatte einen weiteren Mord gestanden, und die Ermittler hatten endlich einen Durchbruch. Es ging um den 15-jährigen Charles Zelmanovits, der 1976 nach einem Schulfest in Piteå verschwunden war.
Der Säter-Mann hatte zugegeben, dass er und ein älterer Freund von Falun nach Piteå gefahren waren, um nach einem Jungen zu suchen, an dem sie sich vergreifen konnten. Sie waren Charles begegnet und hatten ihn in ihr Auto gelockt. In einem Wäldchen hatte der Säter-Mann den Jungen erwürgt und die Leiche zerstückelt. Einige Leichenteile hatte er vom Tatort entfernt und an sich genommen.
Den Ermittlern zufolge hatte Quick nicht nur Angaben gemacht, durch die es gelungen war, die verschiedenen Körperteile zu finden, sondern auch aufgezählt, welche davon er nach Hause mitgenommen hatte.
Nun verfügte van der Kwast zum ersten Mal über Beweise, die zu erbringen der Polizei in den vorangegangenen Ermittlungen nicht gelungen war: ein Geständnis, in dem Leichenteile benannt wurden, und eine Schilderung, die zeigte, dass der Säter-Mann Details über den Mord wusste, die nur der Täter kennen konnte.
»Der 43-jährige Mann ist ein Lustmörder«, titelte der Expressen in dem Artikel vom 17. Juni.
»Wir wissen, dass er in zwei Mordfällen die Wahrheit sagt«, bestätigte van der Kwast.
Schlagzeilen
Als Birgitta Ståhle, die Therapeutin des Säter-Mannes, im Juli 1994 in Urlaub ging, rief das allgemeine Besorgnis darüber hervor, wie er ohne die eng gesteckten Sitzungen, die für ihn immer wichtiger geworden waren, zurechtkommen würde. Am Montag, den 4. Juli, hatten die Pfleger der Abteilung ein Mittagessen in einem Golfrestaurant in Säter geplant. Der Säter-Mann wurde auf diesem Ausflug von Ståhles Vertretung, einer jungen Psychologiestudentin, begleitet.
Sie und ihr Patient verließen um 11.45 Uhr die Station 36 und gingen Richtung Golfplatz, als der Patient plötzlich vorgab, dringend austreten zu müssen. Er entschuldigte sich und ging hinter ein verfallenes Gebäude, das früher der Pavillon in Säter gewesen war. Sowie er außer Sichtweite war, bog er blitzschnell auf einen Weg, der durch ein Waldstück zum Smedjebacksvägen führte. Dort wartete, wie geplant, ein alter Volvo 745 mit laufendem Motor. Am Steuer saß eine junge Frau und neben ihr ein 20-jähriger Mann, der auf Bewährung aus der Psychiatrie Säter entlassen worden war. Der Säter-Mann sprang auf den Rücksitz, und die Fahrerin gab Gas.
Alle im Auto waren aufgekratzt und lachten, weil die Flucht genau nach Plan gelungen war. Der Mann auf dem Vordersitz reichte ein Briefchen aus Folie mit einem weißen Pulver nach hinten, das der Säter-Mann mit unfehlbarer Routine öffnete und mit angefeuchtetem Zeigefinger bis auf den letzten Rest leerte. Er führte den Finger zum Mund und presste die bittere Masse an den Gaumen, lehnte sich zurück und schloss die Augen.
»Verdammt gut«, murmelte er, während er die Amphetaminpaste verarbeitete. Amphetamine waren seine Lieblingsdroge, und er hatte die besondere Eigenart, dass er auch den Geschmack mochte.
Sein junger Kumpel auf dem Beifahrersitz gab ihm einen Rasierer, Rasierschaum, eine blaue Schirmmütze und verpasste dem Ausreißer ein paar aufmunternde Knuffe.
»Los, Mensch! Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
Als der Volvo schon auf den Riksväg 70 Richtung Hedemora bog, stand die Psychologiestudentin noch immer neben dem Pavillon und überlegte, ob sie sich langsam Sorgen machen sollte. Sie rief, aber es kam keine Antwort, und daraufhin stellte sie fest, dass ihr Patient nicht hinter der Hausecke und auch sonst nirgends war. Sie konnte es nicht glauben, dass ihr mitteilsamer und freundlicher Patient sie auf diese Weise hintergangen hatte, aber als die Suche nach ihm ergebnislos blieb, musste sie auf die Station 36 zurückkehren und den Patienten als vermisst melden. Zu dem Zeitpunkt war der Flüchtige bereits glatt rasiert und umgezogen. Er genoss die Freiheit und den Amphetaminrausch, während die planlose Fahrt auf der 270 in Richtung Norden weiterging.
Als die Polizei von Borlänge den Säter-Mann zur Fahndung ausschrieb, waren 42 Minuten verstrichen, und niemand hatte eine Ahnung, dass er sich in einem alten Volvo der Ortschaft Ockelbo näherte.
Die Abendzeitungen reagierten sofort und druckten Sonderauflagen über die Flucht. Die Schlagzeile des Expressen ging in die Vollen:
POLIZEI jagte gestern Nacht
den flüchtigen
SÄTER-MANN
»Er ist sehr gefährlich«
Bisher hatten die Zeitungen aus presseethischen Gründen die Identität des Säter-Mannes nicht preisgegeben, aber wenn Schwedens gefährlichster Mann türmt, verlangt das Interesse der Allgemeinheit Name, Bild und biografische Angaben:
Der 44-jährige flüchtige Säter-Mann heißt heute, nach einer Namensänderung, Thomas Quick. Er hat gestanden, fünf Jungen ermordet zu haben, und für Polizei und Staatsanwaltschaft steht er in Verbindung mit zwei dieser Morde. Der Mann sagte gegenüber dem Expressen, er wolle am liebsten mit seinen Hunden im Wald leben – und vergangene Nacht suchte die Polizei in den Wäldern um Ockelbo nach ihm.
Als die Autofahrerin begriff, welche Taten Thomas Quick zur Last gelegt wurden, bekam sie kalte Füße. Irgendwo in Hälsingland hielt sie vor einem einsamen Bauernhof und setzte die beiden Männer ab. Dort fanden sie zwei Fahrräder, die nicht abgeschlossen waren. Es gelang ihnen, diese wieder in einen fahrbaren Zustand zu versetzen, um damit die nächste Ortschaft zu erreichen. Unterwegs begegneten ihnen mehrere Streifenwagen, und sie wurden außerdem von einigen überholt, während Polizeihubschrauber über ihnen knatterten, ohne dass das ungleiche Paar auf den rostigen Drahteseln Misstrauen erweckte.
Ein großes Polizeiaufgebot mit Maschinenpistolen, Schutzwesten und Hundestaffeln suchte bis Mitternacht nach ihnen, ohne jede Spur.
Nachdem sie die Nacht im Zelt verbracht hatten, trennten sich die beiden entwichenen Gefangenen am folgenden Morgen. Sie hatten keine Amphetamine mehr, sie waren müde, und es war nicht mehr so lustig, auf der Flucht zu sein.
Während die Polizei im Wald suchte, betrat ein Mann mit Baseballkappe die Statoil-Tankstelle in dem kleinen Ort Alfta.
»Haben Sie ein Münztelefon, das ich benutzen kann?«, fragte er.
Der Tankwart erkannte den Mann nicht, dessen Porträt auf der ersten Seite beider Abendzeitungen prangte, und lieh ihm seelenruhig das Telefon der Tankstelle. Der Kunde führte ein kurzes Gespräch mit der Polizei in Bollnäs.
»Ich will aufgeben«, sagte er.
»Wer sind Sie?«, erkundigte sich die Polizei.
»Quick. Thomas Quick.«
Die Flucht löste eine hitzige Debatte über die Nachlässigkeiten in der Forensischen Psychiatrie aus, und Polizeichef Björn Eriksson war besonders entrüstet.
»Es ist so zermürbend, dass solche Dinge geschehen«, sagte Eriksson. »Es gibt so wenige derart gefährliche Personen, dass es möglich sein sollte, sie zu beaufsichtigen. Die Polizei gibt dem Schutz der Allgemeinheit höhere Priorität als der Rehabilitierung.«
Die Kritik war gegen die Klinik für Forensische Psychiatrie Säter gerichtet, aber am 10. Juli 1994 wurde auf der Meinungsseite DN debatt ein Artikel publiziert, der die Institution vehement verteidigte. Es war Thomas Quick, der das Wort ergriffen und einen hymnischen Text auf das Personal und die Pfleger von Säter verfasst hatte. Gleichzeitig verpasste er den Journalisten einen soliden Tritt:
»Ich heiße Thomas Quick. Nach der Flucht, die mir vergangenen Montag (4. 7.) gelungen ist, und dem darauffolgenden Gebell der Massenmedien sind weder mein Name noch mein Aussehen unbekannt.
Ich kann und will mein Fernbleiben von der Säter-Klinik nicht rechtfertigen, aber ich betrachte es als äußerst notwendig, hier die erfolgreiche Arbeit anzusprechen, die die Klinik geleistet hat und leistet; etwas, das vollkommen verloren gegangen ist in dem Gegröle, das die Journalisten auf der Jagd nach Sensationen veranstalten, und die selbst gute intellektuelle Kräfte in ihren Versuchen scheitern lassen, in diesen lauten Chor miteinzustimmen und ihn besser noch zu übertönen.«
Viele wunderten sich über diesen Text, der deutlich machte, dass Quick ein eloquenter und intelligenter Mann war. Zum ersten Mal erhielten die Menschen hiermit Einblick in die Gedankenwelt eines Serienmörders und in den Prozess, aus dem sämtliche Geständnisse resultierten, die Thomas Quick ablegte.
»Als ich hier in die Regionalklinik für Forensische Psychiatrie nach Säter kam, hatte ich keine Erinnerungen an die ersten zwölf Jahre meines Lebens. Ebenso effektiv wie diese Jahre habe ich auch die Morde verdrängt, die ich nun gestanden habe und die von der Polizei in Sundsvall untersucht werden.«
Thomas Quick lobte das Personal in höchsten Tönen, das ihm geholfen hatte, die verdrängten Erinnerungen an die Morde wieder zurückzuholen, und er beschrieb, wie die Therapeuten ihn bei dem schmerzhaften Unterfangen unterstützt haben, alles zu erzählen:
»Meine Angst, meine Schuldgefühle und meine Sorge über das, was ich getan habe, sind grenzenlos, so groß und schwer, dass man sie nicht länger schultern kann. Ich trage die Verantwortung für das, was ich getan habe, und damit auch für das, was ich immer noch tue. Die Verbrechen, derer ich mich schuldig gemacht habe, lassen sich in keiner Hinsicht wiedergutmachen, aber heute kann ich reden. Ich bin bereit, das in dem mir möglichen Maße zu tun.«
Quick erklärte, er sei nicht geflohen, um neue Verbrechen zu begehen, sondern weil er Selbstmord begehen wollte.
»Als ich und mein Kamerad uns getrennt haben, saß ich 13 Stunden lang mit einer abgesägten Schrotflinte da, abwechselnd an meine Stirn, in meinen Mund, auf meine Brust gedrückt. Ich konnte nicht. Heute kann ich Verantwortung für gestern übernehmen, und vielleicht war es diese Verantwortung, die den Suizid verhindert und mich dazu gebracht hat, die Polizei zu verständigen, um gefasst zu werden. Das will ich glauben.«
Charles Zelmanovits
Am 18. Oktober 1994 ging am Landgericht in Piteå eine Anklageschrift des Staatsanwalts Christer van der Kwast mit der folgenden Tatbeschreibung ein:
»Quick hat in der Nacht auf den 13. November 1976 in einem Waldstück bei Piteå den Tod Charles Zelmanovits, geboren 1961, durch Erdrosseln herbeigeführt.«
Das gerichtliche Verfahren sollte am 1. November beginnen, und im Vorfeld dieser rechtlichen Prüfung von Quicks Geständnissen enthüllten die Medien mehr und mehr Details über den persönlichen Hintergrund des unter Verdacht stehenden Serienmörders. Waren es bisher in erster Linie die Kriminaljournalisten der Abendzeitungen gewesen, die sich für Quicks bizarre Geschichten interessierten, beteiligten sich nun auch die Morgenzeitungen ernsthaft an der Berichterstattung.
Das Svenska Dagbladet veröffentlichte am 1. November einen Artikel, der sehr genau das wiedergab, was von nun an als harte Tatsache über Thomas Quick gelten sollte. Der Journalist Janne Mattsson schrieb:
»Thomas Quick war Nummer fünf von sieben Geschwistern. Der Vater war Pfleger in einem Heim für Alkoholiker, die Mutter Hausmeisterin und Reinigungskraft in einer Schule, die inzwischen geschlossen wurde. Heute sind beide Eltern tot. […] Was sich hinter der Fassade verbarg, blieb ein streng gehütetes Familiengeheimnis. Bereits im Alter von vier Jahren war Thomas Quick, laut eigener Aussage, ein permanentes Missbrauchsopfer für die sexuelle Neigung des Vaters und wurde von ihm zu Oral- und Analsex gezwungen.
Bei einem solchen Missbrauch geschah das, was Quicks Leben und seine sexualmorbide Neigung prägen sollte – plötzlich tauchte die Mutter auf und sah, was passierte. Sie erlitt einen Schock, hatte daraufhin eine Fehlgeburt und beschuldigte schreiend den vierjährigen Thomas, seinen kleinen Bruder getötet zu haben.
Der Vater beteiligte sich an den Anschuldigungen und behauptete, der Junge habe ihn verführt.
Die Beziehung der Mutter zu ihrem Sohn war von Hass geprägt, seit sie ihr Kind verloren hatte. Sie gab ihrem Sohn die alleinige Schuld für das, was passiert war – eine Bürde, die dieser nicht zu tragen vermochte.
Quick zufolge begann auch die Mutter, sich gemeinsam mit dem Vater an ihm zu vergreifen.«
Janne Mattsson stellte weiterhin fest, dass Quick schon als Halbwüchsiger zwei Morde begangen hatte:
»Im Alter von 13 Jahren hatte Quick genug von den Übergriffen seines Vaters und konnte sich bei einem letzten Vergewaltigungsversuch befreien. In diesem Moment hatte Quick, wie er sagt, seinen Vater töten wollen, es aber nicht gewagt.
Stattdessen übernahm er die perversen Neigungen seines Vaters, jedoch mit sadistischerem und morbiderem Einschlag. Ein halbes Jahr später tötete er einen gleichaltrigen Jungen in Växjö. […] Drei Jahre später, am 16. April 1967, fiel ein 13-jähriger Junge Thomas Quicks Hand zum Opfer.«
Obwohl Quick noch mit keinem der Morde in Verbindung gebracht, geschweige denn dafür angeklagt oder verurteilt worden war, gingen die Medien davon aus, dass er schuldig war. Das Gleiche galt für die öffentliche Beschuldigung der Eltern, von denen behauptet wurde, sie hätten ihren Sohn systematischer Vergewaltigung, Misshandlungen und Mordversuche ausgesetzt.
Die Verhaltensweise der Medien während dieser Jahre kann mit drei Faktoren begründet werden:
1.Mit Thomas Quicks Geständnissen.
2.Mit den kategorischen Behauptungen des Staatsanwalts Christer van der Kwast, es gäbe weitere Beweise, die Quick mit mehreren Taten in Zusammenhang brächten.
3.Mit der Tatsache, dass diese Aussagen mit Angaben über die sexuellen Misshandlungen vermengt wurden, die Thomas Quick erwiesenermaßen im Jahr 1969 an vier Jungen verübt hatte sowie mit Zitaten aus psychiatrischen Gutachten über die große Gefahr, die er darstellte.
Auf diese Art wurde eine vollständige und in gewisser Weise logische Lebensgeschichte geschaffen, die einen monströsen Mörder hervorgebracht hatte, der nun für die ersten Morde einer ganzen Serie verurteilt werden sollte.
In dem Artikel des Svenska Dagbladet wurde erneut der Gerichtspsychologe zitiert, der Quick 1970 untersucht hatte und nach dessen Ansicht Quick an einer »konstitutionell bedingten, hochgradig sexuellen Perversion der Kategorie pädophilia cum sadismus« litt.
Das Landgericht in Falun verurteilte Quick für die Misshandlungen der Jungen, und er wurde in die Klinik für Forensische Psychiatrie überstellt. Nach vier Jahren befand man den damals 23-jährigen Quick für so weit geheilt, dass er entlassen wurde.
»Bei dem, was später folgte, war es natürlich falsch, ihn zu entlassen«, stellte der Artikel zusammenfassend fest und schloss damit, dass der Reporter der Schuldfrage des bevorstehenden Verfahrens wegen Mordes an Charles Zelmanovits zuvorkam:
Sie hatten eine ungesicherte Bombe abgeworfen, gefüllt mit aufgestauter Angst. Eine Angst, die Quick und einen homosexuellen Kumpel nach Piteå führen sollte, um einen 15-jährigen Jungen zu misshandeln, zu töten und zu zerteilen.
Auch wenn viele haarsträubende Details bereits in den Zeitungen veröffentlicht worden waren, wurde die Begegnung mit Thomas Quick im Landgericht von Piteå zu einem traumatischen Erlebnis für die Zuhörer. Die Journalisten wetteiferten darum, ihrer Verachtung und Abscheu gegenüber dem angeklagten Monster Ausdruck zu verleihen.
»Wie kann ein Mensch so grausam sein?«, lautete die Überschrift im Expressen nach dem ersten Verhandlungstag. Der Quick-Experte dieser Zeitung, Pelle Tagesson, schrieb:
»Wenn man die furchtbare Wahrheit kennt über das, was Thomas Quick seinen Opfern angetan hat – und wenn man ihn wie ein Tier aus tiefster Kehle hat schreien hören –, stellt sich nur eine Frage:
Ist er wirklich ein Mensch?
Die Szenen, die sich gestern im Landgericht von Piteå zugetragen haben, müssen zu den schlimmsten zählen, die jemals in einem schwedischen Gerichtssaal vorgekommen sind.
Der Säter-Mann, Thomas Quick, musste sich vor Gericht wegen Mordes an Charles Zelmanovits verantworten.
Er hat geweint – aber er hat niemandem leidgetan.«
Im Aftonbladet schrieb Kerstin Weigl, Thomas Quick sei »jenseits des Fassbaren«. Glücklicherweise war der Gerichtspsychologe Sven Åke Christianson vor Ort, um zu erklären, was gewöhnliche Menschen nicht begreifen konnten.
»Ich glaube nicht, dass gewöhnliche Menschen sich vergegenwärtigen können, was er getan hat. Es ist unbegreiflich. Deshalb wehren wir uns dagegen«, sagte er, fügte aber hinzu, dass es dennoch eine »Logik« in seinem Verhalten gebe.
»Thomas Quick wird seit seinem vierten Lebensjahr von seinem Vater missbraucht. Ihm wird seine Kindheit ›gestohlen‹. Er hält seine Angst nicht länger aus und versucht, dieses Gefühl auf jemand anderen zu übertragen, der es an seiner Stelle auf sich nehmen kann. Seine Illusion besteht darin zu glauben, er könne sein eigenes Leben wiederherstellen, indem er ein anderes zerstört. Aber die Linderung ist nur von kurzer Dauer. Er muss wieder morden.«
Schon nach dem ersten Tag der Hauptverhandlung schien jeder Zweifel bezüglich Thomas Quicks Schuld wie weggeblasen:
»Der Mann ist ein Serienmörder, Pädophiler, Nekrophiler, Kannibale, Sadist. Er ist sehr, sehr krank«, schrieb das Aftonbladet.
Ein Videofilm aus dem Wald in Piteå, der zeigte, wie Quick unter Tränen und herzzerreißendem Gejammer die Ermordung und Zerstückelung von Charles Zelmanovits schilderte, ließ keinen im Gerichtssaal unberührt.
Kerstin Weigl fuhr fort:
»Nachdem ich diese Laute gehört habe, habe ich keinen Zweifel mehr. Die Worte kommen stoßweise, mit starken Konvulsionen, als würde er sich übergeben. Doch – eine solche Erzählung muss der Wahrheit entsprechen.
Quick konnte 17 Jahre nach dem Mord den Ort angeben, an dem man die Leichenteile des Jungen gefunden hatte. Er setzte sich auf den Stein, auf dem er die Leiche misshandelt und zerteilt hatte. Er erläuterte exakt, wo er was versteckt hatte.«
Der Prozess am Landgericht in Piteå im November 1994 war für Staatsanwalt Christer van der Kwast ein leichter Sieg. Die Mitglieder der Strafkammer, bestehend aus dem Richter sowie zwei bis fünf Laienrichtern, verurteilten Thomas Quick einstimmig wegen Mordes an Charles Zelmanovits.
Mit gestärktem Selbstvertrauen fuhren die Ermittler fort, den Fall zu durchforsten. Bisher waren sie darauf eingeschossen gewesen, Quicks Alibi zu den jeweiligen Zeitpunkten aller ungelösten Mordfälle an Jungen landesweit sowie die Fälle zu überprüfen, in denen Jungen unter ungeklärten Umständen verschwunden waren. Doch keine Woche nach dem Urteil von Piteå wurden die Kenntnisse der Ermittler auf den Kopf gestellt. Thomas Quick rief Polizeiassistent Seppo Penttinen von der Polizei in Sundsvall zu Hause an und sagte:
»Es wäre nicht schlecht, wenn ich mit den Informationen über den Doppelmord in Norrbotten von vor zehn Jahren konfrontiert werden würde. Ich weiß, dass ich da oben schon einmal gewesen bin …«
Appojaure
Marinus und Janny Stegehuis aus den Niederlanden waren ein kinderloses Paar im Alter von 34 und 39 Jahren. Drei Jahre lang hatten sie für ihren Traumurlaub im hohen Norden gespart, und im Sommer 1984 sollte es endlich so weit sein.
In der Morgendämmerung des 28. Juni verließen sie ihr Haus in der Stadt Almelo und fuhren in einem durch bis nach Ödeshög in Östergötland, wo Verwandte von Marinus wohnten. Die Reisekasse war überschaubar und nicht für Hotelübernachtungen ausgelegt. Nach drei Tagen in Ödeshög ging die Reise weiter nach Finnland, wo das Paar Freunde hatte, die sie durch ihr Engagement in einem Kirchenchor kennengelernt hatten.
Als Janny und Marinus den Ort Mustasaari in Österbotten wieder verließen, fuhren sie in ihrem Toyota Corolla weiter nordwärts, dem richtigen Abenteuer entgegen. Die Reiseroute verlief über den Nordpolarkreis und das Nordkap und weiter durch die schwedischen Hochflächen, wo sie in der Wildnis leben und den Tag so nehmen wollten, wie er kam. Sie freuten sich auf das Tierleben und darauf, zu fischen und die Natur zu fotografieren.
Die Reise wurde strapaziöser, als sie dachten; es regnete und stürmte viel, die Temperaturen lagen knapp über dem Gefrierpunkt. Die Mücken wurden ihnen zur Plage. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Wegen eines Motorschadens vor Vittangi mussten sie zweimal den Abschleppdienst rufen, eine Hotelübernachtung sowie eine hohe Werkstattrechnung in Kauf nehmen.
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