der flohmarktbrief - melody maurer - E-Book

der flohmarktbrief E-Book

Melody Maurer

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Beschreibung

der flohmarktbrief auf einem flohmarkt erwirbt die autorin melody maurer einen 120 seitigen, vor etwa 35 jahren von hand geschriebenen liebesbrief eines unbekannten verfassers an eine junge frau, die offenbar dessen liebe nicht erwidert. die leserinnen und leser erhalten einen tiefen einblick in das leben, die psyche, die geistigen irrungen und wirrungen des sich in einer lebenskrise befindenden 44-jährigen marathonschreibers, der sich mit seinen zwei kindern im herbst 1988 ferienhalber in davos aufhält. mit pointierten kommentaren rückt die autorin die oft krassen briefzitate zurecht und setzt diesen die offensichtliche, die faktenbasierte wirklichkeit entgegen. ein "liebesroman" der besonderen art. ekaterina pawlow, zürich

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christen. flohmarktbrief. foto 1. 2023.

christen. flohmarktbrief. foto 2. 2023.

Inhaltsverzeichnis

eins: melody hatte genug

14. september 2023. 07.00 uhr

«2. januar 1989. 10.35 uhr

«12.10 uhr

23.30 uhr

zwei: schon wieder stress

«dienstag, 4.1.1989, 23.00 uhr

drei: skiwochenende

sonntagabend, 9. januar 1989, nach 23.00 uhr

vier: schulfächlein

«montag, 10. januar 1989, 22.30 uhr

fünf: korrekturarbeiten

«dienstag, 11. januar 1989, 21.30 uhr

«23.30 uhr

«12.1.1989, mittwoch, 15.30 uhr

22 uhr 40 uhr

sechs: sich verlieben

«13.1.1989, donnerstag, 23.30 uhr

«samstag, 15.1.1989, 15.20 uhr

22.00 uhr

«sonntag, 16.1.1989, 00.10 uhr

sieben: ferien

«2.10.1988, 14.30 uhr, davos."

19.30 uhr

acht: pergstigä

sonntag, 3.10.1988, davos, 07.15 uhr

13.20 uhr

14.45 uhr

20.15 uhr

23.45 uhr

neun: gemütlich

montag, 4.10.1988, 09.30 uhr

13.00 uhr

17.30 uhr

19.20 uhr

20.15 uhr

23.45 uhr

zehn: flohmarktbild

samstag, 30. september 2023

elf: sonnenschein

dienstag, 5.10.1988, 09.30 uhr

10.30 uhr

zwölf: eigentlich komisch

eigentlich sei es sehr komisch:

12.50 uhr

15.25 uhr

16.30 uhr

dreizehn: heute

20.55 uhr

vierzehn: was für ein datum

mittwoch, 6.10.1988

10.10 uhr

12.55 uhr

13.45 uhr

16.00 uhr

fünfzehn: herr alzheimer

ob herr alzheimer ihm mal eine frage beantworten

21.20 uhr

sechzehn: ausgehängt

donnerstag, 7. oktober 1988. 08.25 uhr

09.15 uhr

10.55 uhr

13.45 uhr

22.35 uhr

siebzehn: die flucht

freitag, 8.10.1988, 7.57 uhr

09.15 uhr

10.30 uhr

11.15 uhr

16.32 uhr

achtzehn: einkaufen

samstag, 8. oktober 1988. 08.35 uhr

09.20 uhr

16.55 uhr

18.35 uhr

20.15 uhr

neunzehn: voller emotionen

sonntag, 9. oktober 1988. 06.00 uhr

07.00 uhr

9.00 uhr

18.30 uhr

20.30 uhr

zwanzig: von bea geträumt

montag, 12. oktober 1988

08.00 uhr

12.00 uhr

23.25 uhr

einundzwanzig: heute rückkehr

dienstag, 13. oktober 1988. 07.10 uhr

07.30 uhr

08.40 uhr

16.30 uhr

23.45 uhr

zweiundzwanzig: berner orchester

mittwoch, 14. oktober 1988. 08.40 uhr

11.55 uhr

12.30 uhr

16.00 uhr

17.45 uhr

18.30 uhr

18.45 uhr

22.35 uhr

dreiundzwanzig: ohne kinder

donnerstag, 15. oktober 1988, 08.30 uhr

09.25 uhr

10.05 uhr

11.00 uhr

11.45 uhr

13.03 uhr

16.30 uhr

19.45 uhr

23.00 uhr

vierundzwanzig: pedalen

fünfundzwanzig: was für ein unglück

freitag, 16. oktober 1988, 09.40 uhr

20.30 uhr

sechsundzwanzig: nachts aufgewacht

samstag, 17.10.1988, 07.15 uhr

09.05 uhr

11.10 uhr

12.00 uhr

15.40 uhr

21.25

siebenundzwanzig: letzter ferientag

sonntag, 14.10.1988

achtundzwanzig: "meine dame."

montag, 18.10.1988. 06.14 uhr

06.50 uhr

07.10 uhr

08.50 uhr

09.50 uhr

10.20 uhr

neunundzwanzig: der briefschreiber k

donnerstag, 19. oktober 2023, 13.00 uhr

eins

melody hatte genug.

14. september 2023. 07.00 uhr.

melody hatte genug.

sie war zwar schwanger.

und glücklich über ihren zustand.

mehr als glücklich.

doch:

sie vermisste das schreiben.

die pause

hatte ihr sehr

gut getan.

doch jetzt hatte sie

genug geruht.

sie wollte, sie musste wieder

zum laptop greifen.

sie hatte allen grund dazu.

weil sie am 20. juli auf dem badener flohmarkt für

25 franken ein graues umweltschutz-c4-couvert

gekauft hatte, in dem ein 120-seitiger,

handgeschriebener umweltschutzpapier-brief

eines unbekannten steckte, der schwer

entzifferbar zu sein schien und der sie aus

irgendeinem unerklärlichen grund interessierte,

sie magisch anzog, sie dazu brachte, die etwa 82-

jährige verkäuferin zu fragen, wieviel er koste, der

brief, worauf sie zur antwort erhielt:

«fünfundzwanzig».

die frage, ob sie auch «per twint» zahlen könne,

liess sie jedoch bleiben, denn ein derart blöder

scherz schien ihr wegen des ernsten und etwas

traurigen gesichtsausdrucks der

flohmarkthändlerin und des kostbaren

umschlaginhalts unangebracht zu sein.

eher hätte sie sich, obwohl sie üblicherweise

jeden franken, bevor sie diesen ausgab, zweimal

umdrehte, erkundigt, ob sie ihr auch dreissig

geben könne, was ihr aber im letzten moment

doch als zu absurd erschien, so dass sie die

zwanzigernote und einen ihrer zwei fünfliber aus

ihrer dunkelblauen secondhand-stoff-geldbörse

herausklaubte und ihr wortlos überreichte.

so war das gewesen.

zu hause hatte sie, weil sie sowieso total

überbeschäftigt war mit ihrem tsunamihaften

schwangerschaftswunsch, dem merapi-buch, der

vereinsgründung, der metagogik, der frauen-

fussball-wm, den katzen, dem haushalt, der lokal-,

der weltpolitik, der sp, den bevorstehenden

einwohnerratswahlen und ekaterina, ihrer

partnerin, das couvert nicht achtlos auf die seite

gelegt, sondern sorgfältig, wohlüberlegt und

-bedacht in der zweitobersten, linken schublade

des weissen schubladengestells, das ein wenig den

küchenbereich vom wohnzimmer abtrennte,

verstaut, an einem ort, den sie sich garantiert gut

würde merken und einprägen können.

und den sie dann trotzdem, wahrscheinlich

aufgrund ihrer sie rund um die uhr

beschäftigenden schwangerschaft, sofort wieder

vergass.

und erst am dreizehnten september, als sie ein

ziehen in ihrem schon bald sichtbar werdenden

bäuchlein verspürte, das sich bis in ihre unteren

lendenwirbel ausdehnte, durchwühlte sie, weil sie

ihr einziges allerweltsheilmittel – zur

homöopathischen tröpfchenweisen einnahme

oder zur äusseren anwendung – gesucht und

nicht gleich gefunden hatte, alle schubladen und

entdeckte dabei das dicke c4-couvert wieder,

nahm die 120 seiten heraus und begann, das

oberste blatt zu lesen.

die schrift war doch lesbarer, als sie sie in

erinnerung hatte.

offenbar war der rund 35-jährige wahnsinnsbrief

von einem männlichen unbekannten verfasst

worden, gerichtet an sich selbst – ohne jedoch

den eigenen namen zu verraten. einzig der

anfangsbuchstabe hätte einen hinweis geben

können, wäre melody dieser person in ihrem

leben je einmal begegnet.

«lieber k.»,

begann er, was konrad, karl, kurt, klemens –

andere namen fielen ihr nicht ein – hätte

bedeuten können.

und ganz zuoberst stand das datum:

«2. januar 1989. 10.35 uhr.

allein zuhause.

es hat geschneit.»

«aha: damals vor 34 jahren hat es im winter also

noch geschneit», dachte melody, «nicht so wie

heute...»

und sie dachte an die vergangenen, praktisch

schneelosen, nicht sehr kalten winter und die

vergangenen septembertage mit

hochsommerlichen temperaturen um oder über

30 grad.

«lieber k.

das ist die richtige anrede: «lieber k.»...

du wirst dieses jahr 45 – wer hätte das gedacht:

45!

so alt war dein vater, als du bereits im

lehrerseminar in wettingen warst..."

zweites melody-aha:

also wahrscheinlich ein lehrer – wie hätte es auch

anders sein können... nur männliche lehrpersonen

können auf die verrückte idee kommen, endlos

lange briefe zu schreiben – wer stundenlang

dauerreden kann, wird auch pausenlos tagelang

notizen machen können, ohne einen

schreibkrampf zu bekommen...

und: lehrperson im mittelalter – in den kritischen

jahren – noch nicht richtig alt, aber auch nicht

mehr jung.

"45:

ein grufti?

ein oldie in den «besten jahren»?

45:

es ist an der zeit, dass du dich überdenkst, dich,

dein leben, deine zukunft – denn du hast noch eine

zukunft vor dir, deine eigene, die deiner kinder...

die nächsten 10, 15 jahre werden, sollen, müssen

entscheidend sein:

du musst jetzt die weichen stellen, diese eventuell

neu einstellen und vielleicht umgestalten...»

drittes m.-aha:

aha: vater mehrerer kinder ist er, dieser k. – und

offenbar an einem scheideweg (kein mann, den

sie kannte, würde bei diesem begriff nicht an

etwas anderes denken und sich das nicht auch

noch bildlich vorstellen) angelangt – ganz klar:

midlife-crisis.

die typische, männliche midlife-krise also, ein

zustand der unsicherheit, die maskulinen

"wechseljahre".

interessant-interessant!

das würde etwas neues werden für sie, mit

diesem thema hatte sie sich noch nie beschäftigt...

und bei ihrem vater hatte sie sowas nie

festgestellt... oder doch? wann hatten sich ihre

eltern getrennt?

45+34 1/2: heute wäre der verfasser dieser 120

seiten also beinahe 80. ob der wohl noch lebte?

irgendwo allein in einem einfamilienhäuschen mit

garten? in einer kleinen einzimmerwohnung? in

einem alters-, einem pflegeheim? oder ruhte er

eventuell schon eingeäschert in einer urne auf

irgendeinem friedhof?

dass der brief auf einem flohmarkt verkauft

wurde, legte jedenfalls die vermutung nahe, er

könnte bereits tot sein und irgendein in diesem

bereich tätiges unternehmen hätte die wohnung

oder das haus geräumt und alles, was irgendwie

verwertbar gewesen wäre, im internet, bei

secondhand-, ramsch- und flohmarkthändlerinnen

etc. verscherbelt...

im internet? nein, das gab’s damals bestimmt

noch nicht: weder internet, noch handy, laptops,

ricardo, amazon, ebay und wie die alle heissen...

und lehrpersonen leben normalerweise länger als

leute, die harte körperliche arbeiten verrichten:

also könnte der noch immer quicklebendig sein

und das schulfreie ahv-leben geniessen – hier oder

irgendwo auf der welt...

wie wahr!

«du sitzt am esstisch, trinkst eine tasse kaffee –

die zweite bereits heute – draussen ist es weiss:

eine zwanzigzentimeter-schneeschicht bedeckt die

dächer, felder, den wald – und du denkst nach,

schreibend – noch hast du etwas zeit – nutze sie!

deine familie kehrt frühestens in zwei, drei stunden

nach hause zurück...

lass alles stehen und liegen, vergiss die schule und

was du sonst noch alles «dringend» erledigen

solltest, müsstest, gib dich deinen gedanken hin

und schreib sie auf...»

von hand, denn damals gab’s ja wahrscheinlich

höchstens schreibmaschinen, eventuell sogar

elektrische, vermutete melody.

irgendwo lagerte im haus ihrer mutter im gfill in

rothrist noch eine alte, hellblaue olivetti, jedoch

ohne farbband, und als sie und ihr bruder noch

kinder waren, hatten sie so lange darauf

herumgetrommelt und

-gehämmert, bis fast alle metallenen

buchstabenärmchen unentwirrbar und fest

miteinander verhängt waren:

kein einziger buchstabe hätte mehr geschrieben

werden können, kein einziger...

eventuell hatte ihre mutter dieses defekte ding

sowieso schon lange entsorgt...

«du weisst: das ist wichtig, sehr wichtig, eminent

wichtig...

du stehst am anfang eines neuen jahres:

ein guter zeitpunkt, um etwas ändern zu wollen, zu

können, um motiviert zu sein, «vorsätze zu

fassen», etwas bewirken zu wollen – wie schon so

oft, leider – ohne dass daraus allzuviel geworden

wäre.

frag dich, wie du vorgehen willst:

denn mit diesen zwei, drei stunden, die dir heute

zur verfügung stehen, darfst du’s nicht bewenden

lassen. erst wenn du dir im klaren bist, wenn du dir

rechenschaft abgelegt hast, wenn du mit dir im

reinen bist, kannst du anfangen zu planen, dich

neu zu orientieren.»

nächstes melody-aha:

der briefschreiber hatte also im sinn, neujahrsvorsätze

zu fassen und diese auch umzusetzen.

inzwischen gab es wohl niemanden mehr, der so

etwas versuchte, denn alle wissen und wussten

aus eigener erfahrung und jener der urgrosseltern,

grosseltern und eltern, dass das sinnlos,

chancenlos ist und war und nie und nimmer

klappte, klappen kann und wird...

«konzentrier dich, lass dich nicht ablenken, bleib

am ball, bei dir, in dir:

heute ist der richtige zeitpunkt, jetzt ist der

moment gekommen, der richtige, nicht einfach der

letzte...

du hast viel gutes getan, vieles «richtig» gemacht

– vergiss das falsche nicht, das negative, das

schlechte:

nur, wenn du bereit bist, dich kritisch über dich zu

äussern, selbstkritisch, aber immer mit der nötigen

selbstliebe («liebe dich so, wie du deine nächste

liebst»), kannst du dich auf den weg machen zu dir

selbst, zu dir und deiner zukunft..."

oh: etwa ein evangelischer, christlicher,

sektiererischer lehrer, der sich und seine

schülerinnen und schüler zum einzig richtigen

glauben anhalten und eventuell bekehren wollte?

eventuell ein missionar mit missionarischem eifer

und geifer?

"erkenne dich selbst... denk positiv... begeistere

dich... sei spontan...

geh also vor ohne dispositiv:

das wird sich ergeben:

sei sicher:

der aufbau kommt von selbst, wird dir gegeben

werden, «eingegeben», und es wird richtig sein:

sei zuversichtlich, es wird gut herauskommen,

positiv, erfreulich, sehr erfreulich...!

halte dich nicht an vorbilder – halte dich an dich

selbst, denn du bist das grösste, wichtigste,

richtigste vorbild für dich selbst:

sei dein eigenes vorbild, denn deshalb bist du

mensch, deshalb kannst du denken, hast du ein

bewusstsein, hast du tausend fähigkeiten und

träume, hast du gefühle, empfindungen – und

alles ist bereits vorhanden, alles ist in dir, allesalles."

immerhin: "gott" fehlt, also doch ziemlich neutral

und "unchristlich", das heisst, wohl eher die

neujahrsansprache eines esoterischen

mentaltrainers...

sei bescheiden... sei nicht nachtragend... sei

freundlich, höflich auch zu leuten, die dir nicht

freundlich gesinnt sind... verurteile niemanden

vorschnell, denn alle haben ihre geschichte...

kämpfe, kämpfe, kämpfe:

- für dich

- für das leben

- für das positive

- für alles, für was es sich zu leben lohnt

- für die zukunft

- für die gegenwart

- für die kinder, die frauen, die unterdrückten, die

vernachlässigten

- für die natur, für jeden baum, jeden strauch,

jedes tier, denn alles ist eins..."

für melody klang das nun doch etwas politisch:

eher eine erste-mai-rede als die eines heilands,

eher die erstaugustrede eines linken als das wort

zum sonntag..., was immerhin bedeuten würde,

politisch nicht allzuweit von ihr selbst, melody,

entfernt...

"sei stark... sei mutig... wage viel... habe

zivilcourage... setz dich ein... nutze deine zeit,

denn noch hast du im überfluss – noch:

bevor es zu spät ist, und irgendeinmal ist es zu

spät:

in zehn jahren könnte es zu spät sein, bereits

definitiv zu spät..."

sehr pathetisch zwar, etwas übertrieben, ein

wenig zu theologisch, zu pädagogisch, zu

missionarisch – doch wenn der mann sich

tatsächlich in einer krise, einer lebenskrise befand,

waren das wahrscheinlich durchaus angebrachte

rhetorische mittel...

"beginne mit deiner gegenwärtigen situation,

damit, was du bist, was du kannst, wie du lebst,

wie du denkst, wie du schreibst, wie du dich siehst,

wie du über das leben, deine situation, die anderen

denkst...

was willst du zuerst klären, geklärt haben?

deine arbeitshaltung? deine selbstdisziplin? deine

ständige unordnung? deine zerfahrenheit? deine

emotionalen und sexuellen ausschweifungen? dein

familiäres verhalten? deine unzuverlässigkeit?

deine rücksichtslosigkeiten? deine negativen

seiten? deine vielen unvollkommenheiten? deine

«abstürze»? deine verschwendungssüchte? deine

motivationsprobleme? deine oberflächlichkeit?

deine gedankenlosigkeit? deine peinlichen seiten?

deine früste?

noch steht der künstliche weihnachtsbaum auf

dem holztisch:

das jahr ist noch jung, noch nicht 2 tage alt.

ein anfang ist immer positiv:

setz dir ein ziel, setz dich in bewegung, mache

einen schritt:

den ersten, den richtigen..."

melody war nun doch schon beinahe beeindruckt

von der wortwahl dieser mitten in einer krise

steckenden lehrperson, denn dieser mann schien

vor 35 jahren wild entschlossen gewesen zu sein,

sich, seine situation zu analysieren, zu beurteilen,

entscheidungen zu treffen, sich zu ändern, sein

umfeld zu ändern, alles, was in seiner macht

stünde, zu ändern... und wenn einer es schaffte,

120 seiten darüber zu schreiben, dann musste er,

davon war melody fast überzeugt, bis zu einem

gewissen grad auch erfolg gehabt haben.

wenn sie selbst etwas ändern wollte, was

manchmal vorkam, dann spielte sich alles in ihrem

kopf, in ihrer gefühlswelt ab – sogar fast

ausschliesslich auf der ebene der empfindungen:

sie fühlte, spürte, dass es zeit war, irgendetwas

anders zu machen als bisher – ihr kopf war da

wenig gefragt – es war ihr gemüt, das ihr ihre ziele

vorgab.

bestes beispiel schwangerschaft:

mit ihrem intellekt, ihrem geist, ihrem willen, mit

vernunft hätte sie sich diesem wunsch niemals

widersetzen können – dieser war ein einfach ein

blanker befehl, ein hundertprozentiges

kommando, dem sie sich zu beugen hatte, eine

mächtige innere stimme, der sie nichts

entgegensetzen konnte.

doch dieser briefschreiber hier versuchte

offenbar, sich selbst in eine neue richtung zu

lenken, neue, unbekannte wege zu gehen,

unbekanntes neuland zu betreten, bewusst seine

eigene zukunft in die hand zu nehmen.

sollte sie ihn dafür etwa bewundern? – nein,

natürlich nicht – er war ja ein mann, und da war

sowieso immer vorsicht geboten...

«werde dir bewusst,

wie das vergangene jahr zu ende gegangen ist, wie

das neue angefangen hat.

denn dass du über bea schreiben willst, mit ihr

beginnen willst, habe ich gleich gedacht und

gewusst – du willst unbedingt mit etwas

angenehmem anfangen, mit gedanken, die dich

und dein herz erfreuen, dich aufheitern."

als ob sie es geahnt hätte: die "krise" dieses

manns bestand also aus einer frau, wahrscheinlich

einer jüngeren, in die er sich verliebt zu haben

glaubte...

so simpel waren sie also, die männer...

simpel, simpel – und so berechenbar. denn so und

nicht anders funktionierten die männchen: nicht

ihr kopf lenkte sie, sondern ihr schwanz...

ihr eingebauter mechanismus funktionierte

automatisch – wie auf knopfdruck: hopp! mach

dich auf! und vergiss alles um dich herum.

ein einziges, drei buchstaben langes zauberwort

genügte, und alles und jedes konnte sich ändern,

auf einen schlag und in alle richtungen:

s.e.x.

und darum war melody lesbisch.

geworden.

und eine gewisse ähnlichkeit mit dem

diktatorischen wunsch, schwanger werden zu

wollen, stellte sie gar nicht in abrede...

kaum tauchte also eine junge, frische, fröhliche,

sympathische frau in ihrer nähe auf – und schon

genügte 1 kleines weibliches, jugendliches lächeln

und die männlein waren hin und weg, vergassen

frau, familie und kinder, vergassen

verpflichtungen, beruf und ehre, machten sich

zum trottel, zum affen, zum hoffnungslosen fall...

also sicherlich nichts, absolut nichts

"bewundernswertes" – ganz im gegenteil...

"lies noch einmal ihre letzte karte, die sie am

freitag, dem 23.12., geschrieben hat:

lies und denk nach... vielleicht fällt dir dabei etwas

auf oder ein über dich.

nun: wie ein elefant im porzellanladen hast du dich

benommen:

frech, rücksichtslos, peinlich...

und trotzdem ist was schönes draus geworden:

bea hat dich nicht verdammt, verletzt,

abgekanzelt, hat sich wunderbar und klar

verhalten, hat zum schluss einen so schönen brief

geschrieben, den du schon zehnmal gelesen hast.

und es war richtig gewesen, ihr nochmal zu

schreiben zum schluss, ihr das nichtgesandte auch

noch zu übergeben und ihr nochmals zu

bestätigen, dass sie "eine wunderbare frau" sei...

wie’s weitergehen soll, weisst du nicht – das

müsste vielleicht doch noch besprochen werden:

das «knallharte» nein ist ja ein verlässlicher

rahmen..."

"das knallharte nein ist ja ein verlässlicher

rahmen": offenbar nicht, wie es schien. sonst

hätte der typ auch nicht ein derartiges briefbuch,

einen soo langen buchbrief verfasst...

gab's damals, vor 35 jahren, etwa die klare

verhaltensbotschaft an die gesamte männerwelt

"nein heisst nein!" noch nicht? vermutlich – und

vor allem nicht in der schweiz: denn die frauen

hier galten bis 1982 zum dirigierbaren,

unterdrückbaren, versklavbaren gut – denn erst

von diesem jahr an wurden die ehefrauen

gesetzlich gleichberechtigt neben ihre männer auf

die gleiche stufe gestellt. die unterdrückung der

frauen durch die machos dauerte in der schweiz

besonders ewig lange, nämlich bis 1971, bis

endlich die macho-diktatur beendet werden

konnte – ein zentraler grund übrigens, weshalb

sie, melody, der sp beitrat, denn diese ehemalige

männerpartei hatte bereits nach dem ersten

weltkrieg die gleichberechtigung der frauen

gefordert.

"bald ist es zwölf, bald kommt die familie nach

hause, bald musst du aufhören mit schreiben... du

hast es auch bea versprochen – und dass du nun

dir selbst – statt an sie – schreibst, ist pure

projektion...

hast du dich selbst in bea gesucht?

was hätte sie dir bedeutet?

was wäre aus dir geworden – zusammen mit ihr?

bea konnte ja gar nicht und nie anders, auch wenn

sie eventuell gewollt hätte...

alles war so angelegt, von anfang an, dass sie

keine chance gehabt hätte, anders zu reagieren –

es sei denn, sie wäre ebenso rücksichtslos gewesen

wie du...

du kannst froh sein, dass es so herausgekommen

ist, wie es ist...

du musst ihr dankbar sein, dass sie sich so

wunderbar verhalten hat...

bea hat dir – trotz allem – sehr viel gegeben:

hast du’s überhaupt bemerkt?"

melody konnte nur ahnen, was hätte passiert,

vorgefallen sein können vor 35 jahren:

1. k. gestand ihr ev. seine liebe (dumm-dümmeram

dümmsten), wahrscheinlich schriftlich...

2. b. ("bea") wies ihn darauf hin, dass er

verheiratet sei und kinder habe.

3. k. habe eventuell darauf geantwortet, dass er

nur noch seine kinder liebe und er vor dem schritt

stehe, sich trennen zu wollen.

4. für eine affäre sei sie nicht zu haben – wenn er

irgendwelche absichten hege, solle er sich zuerst

trennen, jedenfalls würden die voraussetzungen

für eine liebesbeziehung fehlen.

5. aber ... etc. etc.

"bea ist – trotz ihres alters – eine reife, kluge,

eigenständige frau – wunderbar eben... das

hättest du ruhig etwas deutlicher schreiben

können in deinem letzten brief...!

nun:

du kommst vom thema ab, weichst dir aus, wählst

immer gerade das aus, was dir gerade passt, was

dir einfällt, was dir am angenehmsten ist, was

wenig arbeit erfordert...

weich nicht immer aus!

geh den problemen nicht aus dem weg!

gehe auf sie zu, analysiere, löse sie!

dann bleibt auch kein schlechtes gewissen übrig,

dann tust du auch etwas für dein gefühlsleben, für

deine gesundheit, für deine umgebung."

genau: melody registrierte sogar eine gewisse

form von selbstkritik – ob die jedoch wirklich ernst

gemeint gewesen sein könnte, bezweifelte sie –

denn k. hatte definitiv noch zur

"familienoberhaupts-generation" gehört, die

beispielsweise mietverträge unterzeichnete, ohne

dass ihre ehefrauen irgendein recht gehabt

hätten, dagegen etwas einzuwenden...

"morgen wirst du bea wieder sehen, ihr erneut

begegnen:

was sagst du ihr? was fragst du sie?

wie verhält sie sich?

lass bea den vollen handlungsspielraum!

misch dich nicht mehr in ihr leben ein!

lass bea los... definitiv...

aber sei ihr dankbar, achte sie, freue dich, dass du

ihr begegnen kannst..."

jemand, der nicht loslassen, ein "nein" nicht als

"nein" akzeptieren kann, schreibt und drängt und

immer weitermacht, würde heute als "stalker"

bezeichnet... so weit wollte melody im moment

noch nicht gehen, denn wie gesagt: eine gewisse

form von selbstkritik schien bei k. vorhanden

gewesen zu sein...

"thema liebe:

die wichtigste kraft, die «sanfte gewalt», die

energie, die «berge versetzen» kann, die alle

probleme, konflikte lösen, die wunden heilen, die

kinder «erziehen», die welt retten kann!

die liebe kann wunder vollbringen!

liebe kann totes zum leben erwecken!

die möglichkeiten der liebe sind grenzenlos!»

hatte k. etwa die idee, seine eigene, unerwiderte

liebe würde "berge", also auch herzen, konkret:

beas herz, so versetzen können, dass ein

"wunder" geschähe und sie ihn plötzlich ebenfalls

lieben würde?

denn genauso interpretierte melody k.s

klischeehaften, weinerlich-esoterisch-kitschig-religiösen,

männlichen herzschmerz-text...

melody war etwas ratlos, was sie von so einem

menschen, so einem brief, so einem gelaber

halten sollte.

doch immerhin war bea standhaft geblieben,

hatte ihn zurückgewiesen...

war das nun positiv oder negativ?

wie hätte sie an ihrer stelle reagiert?

aber natürlich: sie war ja lesbisch, hatte jedoch

einige männliche typen als freunde gehabt, war

mit ihnen auch ins bett gegangen und

ausnahmslos enttäuscht worden.

aus-nahms-los!

s-e-h-r enttäuscht!

«12.10 uhr.

das ist ein anfang.

fahr weiter.

immer, wenn du zeit hast.

und du hast sehr oft zeit.

denn nur dann lebst du, wenn du zeit hast – für

dich, für die andern, für deine gedanken...

nimm dir die zeit, die du brauchst, nimm sie dir!

23.30 uhr.

viel zu wenig

erledigt! viel zu wenig...

um 21.00 gemerkt, dass du noch einige arbeiten

korrigieren müsstest, arbeiten, die du schon längst

hättest korrigieren können...

also erledige sofort, was du erledigen kannst, auch

das unangenehme!

was du erledigt hast, liegt dir nicht mehr auf dem

magen, macht dir freude...

versuche, zuverlässiger zu sein, nichts mehr zu

verschlampen:

die schülerinnen und schüler, die dir anvertraut

sind, haben ein recht darauf, prompt bedient,

ernst genommen zu werden:

bemühe dich, diesen ansprüchen gerecht zu

werden...

noch einmal beas karte gelesen:

weshalb freut sie sich so «riesig»?

das muss sie offenbar sehr belastet haben, das

gefühl, du könntest das vertrauen in sie verloren

haben – aber das hast du ja gar nicht, nie – nur für

eine ganz kurze zeit, wenige minuten waren es...

und du denkst an den film «when sally met harry»

mit der frage, ob ein mann und eine frau «einfach

so» befreundet sein könnten, ob das überhaupt

funktionieren würde...

und was alles hast du über weihnachten/neujahr

nicht erledigt!!

kein einziges deutschprojekt hast du beurteilt! kein

einziges...

na ja – die arbeitswoche beginnt ja erst morgen

beziehungsweise gerade in diesem moment:

es schlägt nämlich mitternacht...»

melodys fazit:

k. schien ein hoffnungsloser, wirklich

hoffnungsloser fall gewesen zu sein, der die

einfachsten dinge, nämlich dass ein "nein" nichts

anderes als ein "nein" sei und nichts anderes als

"nein" bedeute, nicht checkte, nicht checken

wollte.

was konnte daran kompliziert, unklar, ungewiss

sein?

k. war von vorgestern, ungegenwärtig, respektlos,

konnte nicht unterscheiden zwischen realer welt

und fiktion, zwischen fake und wahrheit...

christen. flohmarktbrief. foto 3. 2023.

zwei

schon wieder stress.

«dienstag, 4.1.1989, 23.00 uhr.

stress, schon wieder stress:

gestern von 22 uhr bis halb zwei uhr kopiertkopiert...

die projektarbeiten der klasse 4e –

teilweise absolut beeindruckend!

richtige bücher, seminararbeiten! kompliment!

und um 6 uhr 30 bereits wieder in der schule:

englisch vorbereiten...

planen:

besser planen. die eigene arbeit, die arbeit der

schülerinnen und schüler.

mach es wie früher:

plane am wochenende mindestens die ganze

woche im voraus – und erledige nicht immer alles

im allerletzten moment – daher der stress.

bereite, wie früher manchmal, detailliert zwei tage

im voraus vor – inklusive kopieren etc., das gibt

gleich ein anderes gefühl – von ruhe und

gelassenheit..."

k. war also einer, der zwar viel arbeitete, jedoch

bei vernünftiger planung und besserer

selbstorganisation mehr und auf effizientere weise

hätte leisten können – was sie aber auch an sie

selbst erinnerte – ihre eigene selbstdisziplin war

oft ebenfalls nicht über jeden zweifel erhaben.

"und was hast du sonst noch erledigt? dem

erziehungsdepartement telefoniert, abteilung

administration, auskunft erhalten betreffend

geburtsdatum von bea... – und wurdest prompt

bedient: am 7. 2., am montag, mitten in den

ferien!

du hast es ja fast geahnt:

du setztest auf den 6.2., wie sabine damals, nun ist

es halt der 7.2..."

was erlaubte sich dieser kerl? heute wäre das

undenkbar, dass einer bei der kantonalen

verwaltung einfach so eine derartige auskunft

erhielte! doch vor 35 jahren war das scheinbar

ohne weiteres möglich: die weitergabe

persönlicher, vertraulicher daten!

was waren das für zeiten und zustände gewesen –

unglaublich!

"kein wort gesprochen übrigens heute, keine

gelegenheit, keine notwendigkeit?

du ertapptest dich dabei zu denken, du müssest

dich zwingen, negativ zu denken:

«blöde kuh» oder ähnlich – das würde helfen, sie

«zu vergessen»...

doch was soll das eigentlich?

du hast mühe, das zu tun, sie als «kuh» zu sehen,

als «blöd und dumm», als «nicht ganz hundert»

und die gründe fehlen natürlich ebenfalls:

es gibt höchstens einen einzigen grund, so zu

denken:

mit keinem einzigen wort hat bea nämlich dir

gegenüber bisher zu verstehen gegeben, ob sie das

nachträglich geschickte – den zweiten (und

letzten) teil des «letzten kalenderblattes»

überhaupt irgendeinmal erhalten und zur kenntnis

genommen hat...

wie du dich verhalten müsstest, musst, scheint klar

zu sein:

kein einziges schriftliches wort mehr, keine infos

mehr, nichts-nichts-nichts...

oberflächliches, belangloses geschwätz, wenn

überhaupt...

du hast dich lange und intensiv genug um sie

bemüht – nun ist schluss – diesen emotionalen

aufwand willst und kannst du dir nicht mehr

leisten...

war sie’s überhaupt wert, dass du ihr um die 150

seiten geschrieben hast? dass du ihr bücher

gekauft und geschenkt hast?

und was kam zurück?

wenige zeilen auf «fresszetteln» – das war’s dann

gewesen...

«undankbare, eingebildete, saudumme kuh!»

nun konnte sich melody nicht mehr zurückhalten:

was für ein a. k. doch gewesen war – nicht zu

fassen!

wenn sich die männer damals so idiotisch,

respekt- und rücksichtslos, bar jeden anstands

verhalten konnten, wie schlimm musste das dann

vor hundert oder zweihundert jahren gewesen

sein?

unerträglich! katastrophal! grauenhaft schlimm!

"natürlich bist du jetzt unfair, ungerecht, und was

du eben geschrieben hast, ist komplett daneben!

wer ist schliesslich an allem schuld? wer hat das

ganze überhaupt angezettelt und inszeniert? wer

hat mit allem – ohne veranlassung – angefangen?

sei also nicht gemein, sondern nett, höflich,

dankbar, so, wie es richtig ist, so wie sie es

tatsächlich und wirklich verdient!"

und zum essen am donnerstag ist nicht nur der

klassenlehrer, bist also nicht nur du eingeladen,

sondern auch weitere...

etwa eifersüchtig oder was?

statt dich zu freuen, regst du dich auf...!

bea misstraut dir:

zu recht, das musst du doch zugeben!

denn du tust es ja selbst!

du musst dich zwingen, nicht ständig an sie zu

denken, sie nicht ständig in deine

handlungsweisen einzubeziehen!

bea hat recht, wenn sie dir misstraut, wenn sie

vorsichtig ist, wenn sie’s nur schwer glauben kann,

du hättest es endlich überstanden...

ach, wie schön ist das leben...!

schön einfach, schön kompliziert!»

hier schaltete melody eine pause ein:

ununterbrochen hatte sie abgetippt, was kaum

leserlich und in kleiner kugelschreiberschrift auf

hellbraunem umweltschutz-briefpapier

festgehalten war, machte sich eine tasse

max-havelaar-kaffee, setzte sich hin, reflektierte, was

sie eben geschrieben hatte.

dieser mann, ein oberstufen-, wahrscheinlich ein

bezlehrer, wie’s den anschein machte – sie selbst

hatte die bezirksschule in rothrist besucht, erste,

zweite, dritte, vierte bez, bei einer tollen,

kreativen, empathischen klassenlehrerin, die ihren

schülerinnen und schülern zu vielen positiven

erlebnissen und erinnerungen verhalf – diese

männliche lehrperson hier versuchte also, sich aus

der perspektive eines zweiten ichs zu beobachten,

zu kommentieren, zu beurteilen.

was ihr eigentlich als gar nicht so schlechte

methode erschien – vielleicht sollte sie ihre

schwangerschaft, ihr leben, ihre beziehung zu

ekaterina auch einmal «von ausserhalb», aus der

sicht einer anderen person zu betrachten

versuchen:

«melody, melody, das hast du gut hingekriegt: vier

romane in zwei jahren! wer schafft das schon!

und schwanger! – ohne sich auf einen mann und

dessen problembeladenes ego einlassen zu

müssen!

das hast du toll gemacht, ist dir phänomenal

gelungen!

du bist beinahe schon genial! schon fast ein genie!

und dann erst noch dieser zufall da mit diesem

brief!

wie machst du das bloss, melody?»

um sich selbst loben zu können, brauchte sie

keinen perspektivenwechsel – das war nur sinnvoll

und nötig, wenn man «mit sich ins gericht gehen»,

sich kritisieren, sich «auseinandernehmen» wollte,

wenn man sich vornahm, sich oder etwas

wichtiges verändern zu wollen:

«so, melody, jetzt stehst du aber auf und –

marsch! – in die küche! mach endlich den

haushalt, wie es sich gehört! schau dir mal den

boden an! grauenhaft! grässlich! unerträglich!

überall krümel, flecken, katzenhaare!

was bist du für eine unordentliche, unfähige,

schlampige person! und erst die fensterscheiben!

der kühlschrank! das puff in den schubladen!

wie soll das noch herauskommen, wenn dein

töchterchen oder dein söhnchen geboren ist!

willst du, dass es in einem schweinestall

aufwächst? willst du das wirklich? melody,

melody! reiss dich zusammen, streng dich an! tu

das, was jede normale frau tut! putz! reinige! bis

alles glänzt!

melody: ich bin enttäuscht von dir!»

auch für einen knockout war die aussensicht

offenbar ungeeignet, schlussfolgerte sie und

wandte sich wieder der siebten männlichen

briefseite zu.

«die einzige, die wirklich einzige chance, die du

hast, ist, bea zu «vergessen», zu «ignorieren», ist,

sie zu behandeln, als wäre sie «irgendeine»

kollegin, irgendeine-irgendeine...

du darfst nicht mehr agieren oder reagieren:

tu einfach ab sofort nichts mehr, nichts, nichts,

n-i-c-h-t-s! und zwar ab genau jetzt!

und wenn das nicht helfen sollte:

denk, wie gemein sie sich dir gegenüber verhält,

wie abweisend, unklar, gleichgültig! doch lass es

sie nicht merken, dass du so negativ über sie

denkst."

wirkungslos: k. hatte null autorität über sich

selbst, war steuerungsunfähig, sein gehirn befand

sich in seiner hose, sein kopf war und blieb

schwanzgesteuert.

schwanzgesteuert.

christen. flohmarktbrief. foto 4. 2023.

drei

skiwochenende.

sonntagabend, 9. januar 1989, nach 23.00 uhr.

skiwochenende mit der 2f!

alles klappte, null probleme, deine schülerinnen

und schüler waren die ganze zeit sehr nett und

pünktlich, «anständig» zur hotelchefin und zum

begleiter, einem mitglied der schulpflege.

wirklich: eine freude!

sogar das skifahren hat dir einigermassen spass

gemacht!

doch dafür erneut dieser arbeitsrückstand, dieses

puff:

wie immer, keine besserung des zustands, und das,

was du noch in den weihnachtsferien erledigen

wolltest, hast du noch immer nicht geschafft...!

grässlich!

hier noch eine ergänzung zu oder über bea:

erneut hast du ihre karte vom 23.12. gelesen:

warm, gefühlvoll, empathisch...

erstaunlich, dass sie mich nicht liebt..., nicht lieben

soll..., dass sie vorgibt, keine beziehung mit mir

eingehen zu wollen..."

melody:

zwar wirklich toll, ein skiwochenende mit

der eigenen klasse zu organisieren, wirklich super,

doch vollkommen unnachvollziehbar deine

verstocktheit, deine verbohrtheit, dein brett vor

dem kopf!

du warst verheiratet, hattest zwei kinder!

welche normale frau würde da schon eine

beziehung eingehen wollen?

keine! keine einzige!

warum u.g.w. konntest du, wolltest du das nicht

einsehen, k.?

warum?

"mittagessen am donnerstag:

gemüselasagne – sehr gut.

du sassest als klassenlehrer die ganze zeit neben

bea, hattest oft gelegenheit, einige worte mit ihr

zu wechseln...

dein «paketchen» erwähnte sie mit keinem wort,

...»

wie auch?

wenn melody das richtig verstand, hatte die klasse

gekocht und einige lehrpersonen zum

gemeinsamen essen eingeladen – wie hätte sie,

bea, die fachlehrerin, da «private dinge», die

«nicht an die grosse glocke gehängt» werden

sollten, mit ihrem kollegen, der mit ihr «ein

verhältnis eingehen wollte», besprechen sollen?

wahrscheinlich war den schülerinnen und schülern

sowieso schon längst aufgefallen, dass ihr

klassenlehrer ein auge auf eine ihrer sie

unterrichtenden lehrerinnen geworfen hatte und

sie waren deshalb bestimmt hellhörig und erpicht

darauf, neues über die sich anbahnende

beziehung zu erfahren, zum beispiel dass es da ein

ominöses «päckchen» gäbe, das er, der