Der Sargmann. Ein Nachschrei. - Melody Maurer - E-Book

Der Sargmann. Ein Nachschrei. E-Book

Melody Maurer

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Beschreibung

Der Sargmann. Ein Nachschrei. Teil 1 Mit diesem biografischen Politroman in Form eines "Nachschreis", puzzleartig, intuitiv und relativ unchronologisch aufgebaut, ist es Melody Maurer ausgezeichnet gelungen, den "Sargmann" Hubert Heidn, der von einer französischen Antiterroreinheit am 22.11.2020 im "Oasis Village" in Südfrankreich hinterrücks erschossen worden war (nachzulesen in "Sein Sarg" von Martin Christen, BoD 2022), überraschend originalgetreu und präzise zu porträtieren - als Mensch, Politiker, Lehrer und Vorbild - sowie die unglaublichen Vorfälle rund um das "Sargmuseum" zu beschreiben. Lesens- und empfehlenswert! Naledi Baumann, Ekaterina Pawlow

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«Die vorgefundene Unordnung war einfach zu gross, zu gewaltig und überstieg bei Weitem ihre zeitlichen Ressourcen.»

Inhaltsverzeichnis

0. Ein Nachschrei?

1. Kurz nach Heidns Kremierung

2. Ja zu einem relativ

3. Nach langer Suche

4. Am nächsten Morgen

5. Die Vertragsunterzeichnung

6. Voller Enthusiasmus

7. Nun wollte Melody

8. Bevor sie daran ging

9. Der nächste Tag

10. «Selbst den eifrigsten

11. Nun drohte ein Atomkrieg

12. Melody tat es gut

13. Eigentlich

14. Schrecklich!

15. «Du dreckige Stinkbock-Sau»

16. Heute war es Melody endlich

17. «Wie kann es sein

18. Ihr Leserinnenbrief

19. «Aus Freude am Hupen

20. Nun hatte es also auch Melody

21. Heute war Sonntag

22. Während ihrer Isolation

23. Heidns Erstaugustrede 1991

24. Heute stand das Interview

25. Seit über vier Wochen

26. Am heutigen Freitag

27. Obwohl es ihr schwer fiel

28. Die Welt schien aus den Fugen

29. Schnee!

30. Nach der erfolgreichen

31. Die Gräueltaten

32. «Der Umwelt den Tarif erklärt»

33. Von der russischen Botschaft

34. Diese konkrete Bedrohung

35. Warum war Heidn so

36. Wie Ekaterina auf die Drohung

37. Der Rasenmäher-Streichantrag

38. Dieser Sargtraum

39. Die Wahrscheinlichkeit

38. «Russinnen! Russen!

40. «Wie Lenin am 17. April 1917!»

41. Trotz dieser aufwühlenden

42. Heute war der 1. Mai

43. Richtiges Aprilwetter

44. Der Selbstmordversuch

45. Nun befanden sie sich also im

46. Nach dieser stressigen Zugfahrt

47. Um halb acht Uhr betrat Melody

48. «Nudité obligatoire»

49. Sie beschlossen, dem «Musée

50. Heute Dienstag ging Melody

51. Während Ekaterina

52. Stillschweigen sei Pflicht

53. Im ehemaligen Kinderzimmer

54. Melodys Überlegungen

55. Der Krieg Putins

56. Null Fortschritte

57. Punkt sechs Uhr dreissig

58. Bereits waren fünf Tage vorbei

59. Zu Tode

60. Und zwar subito

61. Unter dem Druck

62. Punkt zehn Uhr

63. Es war bestimmt kein Zufall

64. Herr Schwarz war beides

65. «Darf ich euch was fragen?»

66. Den Abend verbrachten sie

67. Melody sass gerade am Laptop

68. Um 11.17 Uhr sendete Melody

68. Jetzt hätten sie den Salat

69. War das ein Betrieb heute!

70. Die grosse Aussprache

71. Trotz warmer Sonnenstrahlen

72. Herr Schwarz war ja nicht so

73. Am Mittwochvormittag

74. «Chers invités!»

75. Nun trat Ekaterina

76. Als einen vollen Erfolg

77. Die Berichterstattung in «F5»

78. Das musste gefeiert werden!

79. Im «France-5»-Aussenstudio

80. Natürlich war die Antwort

81. Ihre letzte Gelegenheit

82. Die Bombe platzte

83. Fliehen – doch wohin?

84. «No problem»

Nachwort

0 Ein Nachschrei?

Jawohl, ein Nachschrei!

Am 22. Oktober 2020 war Hubert Heidn, der «Sargmann», um 02 Uhr 22 am Strand der Feriensiedlung «Oasis» in Südfrankreich hinterrücks erschossen worden, höchstwahrscheinlich von einem Mitglied der französischen Antiterrorgruppe im Auftrag der französischen Regierung.

Ein Nachschrei, weil es sich bei diesem Mord um eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, um einen kriminellen Terrorakt des französischen Staates, um ein verantwortungsloses Staatsverbrechen an einem unschuldigen Schweizer Bürger handelte.

Ein Schrei des blanken Entsetzens, ein Schrei nach Gerechtigkeit, Wiedergutmachung, nach Konsequenzen, Aburteilung, Bestrafung aller Beteiligten.

Und ein Nachschrei, weil der schweizerische Bundesrat, statt den Landsmann, Politiker und Lehrer Hubert Heidn vor der ungerechtfertigten Verfolgung durch den französischen Geheimdienst und die Gendarmerie zu schützen, sich willfährig hinter den französischen Präsidenten gestellt und sich an der gnadenlosen Jagd nach Heidn, der mit seiner Gefährtin Amélie Froidevaux in die Schweiz geflüchtet war, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln beteiligt hatte – inklusive der Aussetzung eines Kopfgeldes in der Höhe von CHF 20'000.

Wie ein Schwerverbrecher war er international verfolgt, gesucht und gejagt worden, nur weil er im Besitz eines Sargs war, der über aussergewöhnliche Fähigkeiten verfügte und der, weil er Heidn auf unerklärliche Weise bis an den Mittelmeerstrand gefolgt war, vom französischen Staat kurzerhand als Staatseigentum deklariert worden war.

Nachzulesen im Politroman «Sein Sarg» von Martin Christen, einem nahen Verwandten Heidns (BoD 2022, ISBN 978-3-7557-8558-3).

Kein Nachruf also.

Sondern ein Nachschrei!

Den «Sargmann» Hubert Heidn betreffend:

Geboren am 22.7.1949 in Rothrist, Aargau, Schweiz.

Ermordet am 22.10.2020 um 2 Uhr 22 in Leucate, Frankreich.

Heidn.

Wer.

Wie.

Was er gewesen war.

Und was er hinterlassen hatte.

Diesen Fragen wollte ich, Melody Maurer, nachgehen.

Ich hatte Heidn kennengelernt, als er und seine Vertraute Amélie sich auf der Flucht befanden, in der Schweiz, sich einige Tage versteckt gehalten hatten in Rothrist, meinem ehemaligen Wohnort.

Mit dabei gewesen war auch Heidns Sarg, dessen phänomenale Eigenschaften im Roman «Sein Sarg» vom Autor ausführlich, treffend und eindrücklich beschrieben werden und die ich selbst miterleben, überprüfen, testen und ausprobieren durfte.

In Christens Werk gibt es zwar zahlreiche Rückblenden, die ab und zu die Person, den Pädagogen und Politiker Heidn grob skizzieren, nicht jedoch wirklich biografische Elemente, die ihn als den einzigartigen und aussergewöhnlichen Menschen darstellen und charakterisieren, der er in Wirklichkeit war.

Diese «Lücke» zu füllen und damit die im Roman zu kurz gekommene Biografie des Opfers Heidn zu ergänzen, zu erhellen, zu vervollständigen, habe ich mir vorgenommen.

Da ich weder Historikerin, Journalistin noch Juristin bin, habe ich nicht den Anspruch, eine lückenlose und chronologisch aufgebaute Biografie des auf brutale Weise umgekommenen pensionierten Lehrers Hubert Heidn abzuliefern.

Als ausgebildete Psychologin wählte ich eine andere Vorgehensweise: Aus vielen einzelnen Puzzleteilen sollte schlussendlich ein möglichst facettenreiches und differenziertes Bild eines Menschen entstehen, der sich Zeit seines viel zu kurzen Lebens mehrheitlich für andere eingesetzt hatte und das der Wahrheit möglichst nahe kommen würde.

Dank des umfangreichen Archivs des Ermordeten und den vielen Gesprächen, die ich mit vielen seiner Verwandten und Bekannten führen durfte, ist eine eigenständige, spezielle Biografieform entstanden, die Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, hoffentlich ebenso gefällt wie mir selbst.

Ausserdem habe ich – aus Respekt – beschlossen, Heidns Familiennamen so zu schreiben, wie das Heidn selbst kurz vor seinem gewaltsamen Ende gewünscht hatte: Das unausgesprochene «e» in seinem Nachnamen «HeidEn» hatte er streichen lassen wollen – «unbedingt», wie mir Amélie bei der Trauerfeier am 25. 10. 2020 im «Oasis» in Südfrankreich versicherte.

Um zu den von mir verfassten Texten etwas Abstand nehmen zu können respektive um die Fakten objektiver erscheinen zu lassen, habe ich für mich, die Verfasserin, nicht die «ich»-Form gewählt, sondern die dritte Person Singular: Sie, Melody Maurer, recherchierte, fand heraus, zitierte, kombinierte, notierte, folgerte und fasste zusammen.

Zürich, 22. Juni 2022

Melody Maurer

«Was war Heidens letzter Gedanke?

Wem galt sein letzter, gewaltiger, stimmloser Schrei, sein kurzes Röcheln?

Seinen Kindern, seiner Mutter, Amélie?

Reglos lag Heiden im Sand.

Er war tot.»

aus: «Sein Sarg», Martin Christen, BoD 2021/22, S. 226

1 Kurz nach Heidns Kremierung

hatte sich Melody Maurer vorgenommen, ein Buch zu schreiben.

Darüber, was sie mit Heidn und dessen Sarg alles erlebt hatte.

Über welche sagenhaften Fähigkeiten der Sarg verfügte.

Über die unglaublichen Emotionen, Erkenntnisse, Zustände, die der Sarg bei jenen Personen auslösen konnte, die sich in diesen hineinlegten, rücklings oder bäuchlings, mit oder ohne Kleider.

Und über Heidn.

Wer er gewesen war, wie er gelebt, was er gearbeitet, bewirkt, erschaffen hatte, welche Eigenschaften, Charakterzüge, Besonderheiten ihn ausmachten, wie er gedacht, geschrieben, politisiert hatte.

Etc.

Nach Heidns Tod hatte Melody regelmässig Kontakt mit den Hinterbliebenen, insbesondere mit dessen Tochter – aber auch mit seinen drei Söhnen, allen voran dem jüngsten, der weiterhin in der Doppelstock-Mietwohnung lebte, die bis zum gewaltsamen Tod Heidns Wohnsitz gewesen war.

Da sie wusste, dass der «Sargmann» über ein umfangreiches Archiv verfügt hatte, erkundigte sie sich bei der Tochter, ob es eine Möglichkeit gäbe, diese Akten sichten zu können.

Sie habe sicher nichts dagegen, meinte sie, aber Melody müsse in erster Linie ihren Bruder fragen, der solle das entscheiden, da er ja immer noch dort wohne, wo Heidn gelebt gehabt habe.

Schliesslich kam es Anfang Februar 2022 zu einem Treffen zwischen Heidns jüngstem Sohn und Melody, bei dem sie die in verschiedenen Räumen gelagerten Boxen, Schachteln, Ordner, Fotobände etc. in Augenschein nahmen: Unmengen von Material, nicht sehr systematisch geordnet, mehr Chaos als Archiv...

Nun – sie wollte nicht werten: Wenn sie an ihre eigenen Schubladen bei sich zu Hause dachte, an all die Dinge, die noch im Haus ihrer Eltern aufbewahrt waren – viel ordentlicher als Heidn schien sie selbst nicht zu sein, im Gegenteil, denn

praktisch alle Archivschachteln waren gekennzeichnet mit einem passenden Begriff und

in Heidns Büro, in dem sich die meisten Dokumente befanden, schien durchaus eine gewisse Ordnung zu herrschen, die ermutigend wirkte und die zeigte, dass Heidn offenbar bis zuletzt daran gearbeitet hatte, die über Jahrzehnte gesammelten Informationen zu sichten, einzuordnen, einzuscannen und zu archivieren. Doch war Heidn offenbar nie so weit gekommen, ein übersichtliches System zu schaffen, das es ihm – respektive nun ihr, Melody – erlaubt hätte, jederzeit das Gesuchte oder Vermutete innert nützlicher Frist zu finden.

Ziemlich rat- und hilflos musste sie sich nach der Besichtigung zuerst einmal hinsetzen, einen heissen Kräutertee trinken, das Gesehene verarbeiten, das Gefühl der Überforderung wegwischen und sich eine Vorgehensweise zurechtlegen, die es ihr erlauben würde, von Anfang an «fündig zu werden» respektive, die es ihr ermöglichte, fortlaufend Heidns Biografie weiterzuentwickeln – wie bei einem Puzzle eben.

Ein weitere Schwierigkeit bildete die Zugänglichkeit zum Material: Es wäre für Melody schlicht nicht möglich gewesen, diese Hunderte von Kilogramm schweren Papierberge irgendwohin zu transportieren, zu sortieren und bis zum Abschluss ihrer dokumentarischen Arbeit zu lagern.

Es war deshalb ein Glücksfall, dass Heidns Sohn so unkompliziert und verständnisvoll reagierte:

«Hier hast du Heidns Schlüssel – du kannst kommen und gehen, wann du willst, du kannst auch hier übernachten, wir können auch mal zusammen essen – kein Problem!»

Ein geglückter Start also.

2 Ja zu einem relativ

umfassenden Tabakwerbeverbot sagte die Schweiz am 13. Februar 2022 – überraschenderweise. Unerwartet war dieser positive Ausgang deshalb, weil die Tabaklobby bis anhin in der Schweiz über einen grossen politischen Einfluss verfügt hatte.

Doch was hatte das mit dem toten Heidn zu tun?

Dieser hätte sich bestimmt über dieses Ergebnis gefreut – wenn es auch, verglichen mit den umliegenden Staaten, Jahrzehnte zu spät kam.

Aus Gesprächen mit ehemaligen Bekannten Heidns wusste Melody, dass sich dieser schon in den Achtzigerjahren auf politischer Ebene für Rauch- und Tabakreklameverbote eingesetzt hatte.

Diesem Thema sollte deshalb ihre erste Archiv-Recherche gelten.

Schon am Montag nach dem Abstimmungssonntag machte sie sich an die Arbeit: Bereits um neun Uhr öffnete sie die verschlossene Wohnungstüre im zentral gelegenen Mehrfamilienhaus. Die beiden Katzen, die sie schon bei ihrem ersten Besuch kennengelernt hatte, begrüssten sie aus Distanz, näherten sich dann vorsichtig, beschnupperten ihren Rucksack, ihre Hausschuhe, ihre Hände, liessen sich streicheln und verhielten sich bald so, als ob sie eine Mitbewohnerin wäre.

Zuallererst trank Melody eine Tasse Kaffee – der Kapselautomat stand ja bereit und innert einer Minute befand sich das fein duftende, heisse Kaffee-mit-Schäumchen-Getränk in der aufgewärmten Tasse.

Statt sich an den Wohnzimmertisch zu setzen, machte sie einige Schritte den zahlreichen Bücherregalen entlang, begutachtete die Bücherreihen und stellte mit Freude fest, dass Heidn offenbar nicht nur die klassischen und modernen Autoren gelesen hatte, sondern dass die feministische Literatur mit vielen bekannten, weniger bekannten und unbekannten Schriftstellerinnen einen Schwerpunkt seiner sicher weit über zweitausend Bücher umfassenden Bibliothek bildete.

Doch wie und wo sollte sie beginnen?

Vorsichtig öffnete sie die Tür, die in Heidns Arbeitszimmer, in dem er offensichtlich auch geschlafen hatte, führte. Beide Katzen folgten ihr, beschnupperten die farbigen Kartonboxen, die sich aufgestapelt gleich neben dem Eingang befanden, die Kommode, die wahrscheinlich noch immer Heidns ehemalige Kleider enthielt, die fünf Büchergestelle, die die Wände bedeckten, sowie das Bett, das bezogen war, als ob Heidn immer noch leben würde.

Unheimlich.

Hier also hatte er gewohnt, gelebt, gearbeitet, hier in dieser Wohnung war also eines Nachts der Sarg aufgetaucht und hierher hatte Heidn zurückkehren und weiter arbeiten wollen, wäre er nicht auf so brutale Weise von der französischen Antiterrorgruppe, die selbst auf terroristische Weise agierte, hinterrücks und hinterhältig erschossen worden.

Jetzt sah sie sich die Archivschachteln etwas genauer an, notierte deren Namen, machte eine Liste, um eine grobe Übersicht zu erhalten über das in diesem Raum Gelagerte:

Sie zählte insgesamt

26 grosse Archivschachteln in den Farben grün, grau und schwarz,

6 bis zum und über den Rand hinaus gefüllte, schwarze oder farblose Plastikboxen,

10 prall gefüllte Schachteln oder Ablagefächer,

40 verschiedenfarbige, plastifizierte grosse und volle Aktenordner.

Die Archivschachteln waren bezeichnet mit «schule 1» (bis 3), «grosser rat 1» (bis 3), «hh 1» (d.h. Hubert Heidn bis 3), «fotos/bilder 1» (bis 3), «politik/presse», «sport», «steuern», «kp 1» (d.h. kunstpark 1 bis 4), «documents», «alles», «privat» etc.

Melody wurde es fast schlecht – einen derartigen Aktenberg hatte sie nicht erwartet, das würde ihre Kräfte, ihren Durchhaltewillen, ihre zeitlichen Reserven überstrapazieren...

Da sie wusste, dass das noch nicht alles war, schaute sie sich im Wohnzimmer nach weiterem Archivmaterial um. Und tatsächlich: In einem IKEA-Büchergestell fand sie in zwei weissen, geflochtenen, quadratischen korbähnlichen Schubladeboxen verschiedenfarbige, gefüllte, aufeinander gestapelte Sichtmäppchen, an denen, wie sie vermutete, Heidn noch bis kurz vor seiner Abreise nach Südfrankreich im September 2020 gearbeitet haben musste.

Einen kurzen Blick warf sie auch in die Abstellkammer, die fast bist an die Decke angefüllt war mit allerlei Gerümpel, alten Computern, einer vollständig zugemüllten Kommode, einem Büchergestell voller Ramsch und zahlreichen, zwischen dem Schubladenmöbel und der Wand vollkommen unsachgemäss gelagerten Leinwandgemälden. In diesem unübersichtlichen Haufen irgendwelches Archivmaterial orten zu können, war unmöglich, dazu hätte es der Räumung des ganzen fensterlosen Chaoszimmerchens bedurft.

Schliesslich stieg sie die steile Holztreppe hinauf in die Galerie, wo weiteres Aktenmaterial aufbewahrt war:

Beim Pult neben dem grossen Frontfenster zählte sie 12 schwarze Archivschachteln,

zwischen dem Doppelbüchergestell und der Dachschräge lagerten 7 grosse, mit Dokumenten gefüllte Plastikboxen sowie

14 graue, grüne und weisse Archivboxen,

entlang dem Balken, der den Fussboden abgrenzte und das weiss getünchte getäferte Holzdach trug, waren 38 grosse, meist rot gefärbte Ordner aufgereiht und

hinter dem Arbeitsplatz am Ende des zehn Meter langen offenen Dachbodens lagen lose verstreut zahlreiche weitere Sichtmäppchen, schmale Plastikordner, C4-Couverts, Fotobücher und eine ganze Reihe vollgeschriebener farbiger Tagebücher herum, gerade so, als ob Heidn in der nächsten Sekunde die Treppe erklimmen, sich an den Arbeitstisch setzen, den Laptop öffnen, einschalten und mit dem Tippen fortfahren würde.

Laptop?

Drei schwarze, etwas verstaubte Laptops, die mindestens zehn bis fünfzehn Jahre alt sein mussten, hatte Heidns Sohn für sie auf dem schwarzen Arbeitstisch bereitgestellt, jeder versehen mit einem Passwort: «hh1», «hh2», «hh3».

Offenbar hatte der Sohn, der Informatiker war, Vorarbeit geleistet und die ursprünglichen Heidn-Passwörter so angepasst, dass sie sich diese leicht merken können würde.

Alle schienen zu funktionieren, waren an die Stromversorgung angeschlossen, lagen für sie bereit, aufgeklappt, in Betrieb genommen, durchstöbert, durchleuchtet, inspiziert zu werden.

Melody fasste es nicht: Obwohl Heidn seit über einem Jahr und fast zwei Monaten tot war, hatte niemand etwas auf- oder umgeräumt, hatte niemand Heidns Hinterlassenschaft unter die Lupe genommen, hatte es niemand gewagt oder für nötig befunden, sich einen ungefähren Überblick über sein unübersichtliches Archiv zu verschaffen, lag alles Material noch so unberührt, ungeordnet und zufällig herum wie am

Tag von Heidns Abreise nach Südfrankreich am 6. September 2020.

Mit Ausnahme der drei Laptops.

Um die sich der Sohn vermutlich erst am Vortag gekümmert hatte.

Immerhin schien nichts entsorgt worden zu sein.

Und immerhin war ja jetzt Melody da.

Freiwillig.

3 Nach langer Suche

gelang es Melody bei ihrem nächsten Besuch zwei Tage später einige Puzzleteile zu Heidns politischem Antitabak-Engagement zu finden.

An die Laptops hatte sie sich nicht gewagt – da bestand doch eine Hürde, die sie noch nicht überspringen konnte: Nie würde sie sich in einen ihr fremden, unbekannten Computer einloggen, herumwühlen in Ordnern, Foto- und Videogalerien, die nicht ihr gehörten, nie persönliche, private Dateien öffnen, verändern, speichern, löschen, manipulieren – das waren schliesslich Heidns Laptops, das war Heidns privates Reich, das war, auch wenn er schon lange tot war, tabu – noch.

Also wandte sie sich den nicht digitalisierten, unelektronischen, nicht virtuellen Akten zu:

Mühsam schleppte sie eine vollgestopfte, alte, mit Metallkanten versehene, kartonierte Archivbox, die mit «grosser rat» beschriftet war, aus dem dunklen, engen, niedrigen Aktenlager zwischen Büchergestell und Dachschräge im Galerieraum zum hinteren Arbeitstisch, der sich direkt unter einem Dachfenster befand und auf dem die drei Laptops lagen, hob den Deckel und begann, die aufgestapelten, mehrere Zentimeter dicken farbigen Sichtmäppchen auf dem Boden und auf dem bis an die schrägen Dachbalken geschobenen Bett auszubreiten und zu durchforsten.

Dabei stellte sie mit einer gewissen Ernüchterung fest, dass in Bezug auf Chronologie und Thematik null Ordnung herrschte – einzig das Hauptthema «Grosser Rat» stand mehr oder weniger fest.

Doch nicht einmal das traf immer zu: So fand sie in einem grünen Plastik-Mäppchen nicht nur zahlreiche Kopien mehrerer Vorstösse, die Heidn in den Jahren 1987 bis 1997 zu unterschiedlichen Sachverhalten im Kantonsparlament eingereicht hatte, sondern auch ein von Heidn unterzeichnetes SP-Einwohnerrats-Fraktionssitzungsprotokoll vom 22. Januar 1976, eine Einladung des DRS-Regionalstudios Aargau/Solothurn zur Teilnahme an einer Direktsendung aus dem Einkaufszentrum Spreitenbach am 11. Juli 1990 sowie eine Einsprache gegen ein Quartierstrassen-Ausbauprojekt vom 25. August 1992.

Also:

Aktenchaos pur...

Dennoch war sie auch «fündig» geworden:

27. Oktober 1987: «Motion betreffend Schaffung von rauchfreien Zonen in Restaurants»

In der Begründung hatte Heidn unter anderem geschrieben:

«Vor allem Familien mit Kindern haben grösste Schwierigkeiten, ein Restaurant mit einigermassen befriedigender Luftqualität zu finden. ... Aufgrund der Tatsache, dass Passivrauchen nicht nur eine Belästigung darstellt, sondern auch die Gesundheit gefährden kann, sollten eigentlich rauchfreie Räumlichkeiten in Restaurants schon längst eine Selbstverständlichkeit sein. Doch leider sind solche Lokale noch immer sehr selten.»

Von Hand hatte Heidn noch das Ergebnis der Abstimmung im Aargauer Parlament festgehalten: «38:93».

Eine überwiegende Mehrheit hatte also dieses zu 100,0 Prozent berechtigte und absolut notwendige Anliegen abgelehnt!

Unglaublich!

Melody konnte fast nicht glauben, dass damals sogar Leute, die nicht

rauchten und offenbar diesem giftigen Qualm fast überall schutzlos ausgeliefert waren, eine derartige Minimalstforderung nicht unterstützen konnten!

Crazy!

Sie hoffte, dass sich irgendwo in diesem riesigen Aktenberg auch das entsprechende Grossratsprotokoll befände, so dass sie auch einige «Gegenargumente», die ja allesamt unzutreffend und lügenhaft sein mussten, zitieren können würde.

Im gleichen Mäppchen befanden sich zwei herausgerissene Seiten der «Aargauer Zeitung» vom 14. Januar 1987, auf denen das Porträt des lachenden Heidn prangte, versehen mit dem einfältigen Titel «Kein Nichtraucherdiktat».

Heidn hatte es nämlich gewagt, bei der Behandlung des Geschäftsreglements die Verankerung rauchfreier Kommissionssitzungen zu beantragen, was dann mit 76 zu 38 Stimmen abgelehnt worden war.

Hier fand Melody tatsächlich einige scheinheilige «Argumente», die von FDP- und SVP-Seite vorgebracht worden waren:

Ausserhalb des Sitzungssaales könne man

«auf die Rauchgewohnheiten keinen Einfluss nehmen»,

dies sei

«Sache jedes einzelnen.»

Es müsse

«auch das Verantwortungsbewusstsein der einzelnen angesprochen werden»

und man dürfe

«nicht alles auf Gesetze abwälzen».

«Der Entscheid über einen Verzicht auf Rauchen

(solle)

den einzelnen Kommissionen überlassen werden.»

Heidns Votum wurde in der Zeitung u.a. wie folgt zusammengefasst:

«Ein Rauchverzicht für Raucher ist eher zumutbar als ein Rauchzwang für Nichtraucher. Die Luft in einem Sitzungszimmer gehört allen, und nicht nur den Rauchern.»

Wie primitiv und uneinsichtig mussten damals gewisse Leute gewesen sein!

Kein Mensch käme heute auf die Idee, sich an einer Sitzung eine Zigarette anzuzünden. Und wenn eine Person das trotzdem täte, würde sie von allen Teilnehmenden augenblicklich zurechtgewiesen oder zum Verlassen des Raums aufgefordert.

Melody konnte es kaum glauben, dass jemals in der Schweiz derartige Zustände geherrscht hatten:

In ihrem Elternhaus hatte nie jemand geraucht, sie konnte sich nicht erinnern, je ein Restaurant besucht zu haben, in dem gepafft wurde und in ihrer WG rauchte sowieso niemand – es galt ein absolutes und selbstverständliches Rauchverbot, ohne dass das überhaupt je hätte thematisiert werden müssen. Sie war in einer sportbegeisterten Familie aufgewachsen und wohl deshalb auch nie in Versuchung geraten, jemals mit diesem Laster anzufangen.

Beim Durchforsten einer weiteren Archivschachtel, die sie aus Heidns Arbeitszimmer heraufholte und die die Aufschrift «gr1» (Grosser Rat) trug, entdeckte Melody weiteres Material zum Thema Tabak, nämlich ein Postulat vom 1. Juli 1986, das vom Regierungsrat «Massnahmen zur Einschränkung des Tabakkonsums» verlangte:

Um die «nicht rauchende Bevölkerung vor den Immissionen des Tabakrauchs zu schützen», seien u.a. folgende Massnahmen zu prüfen respektive umzusetzen:

Rauchverbote in öffentlichen Gebäuden,

Reklameverbote für Raucherwaren auf öffentlichem Grund,

Nichtraucherschutz am Arbeitsplatz.

Seinen Antrag begründete Heidn u.a. wie folgt:

Obwohl schon längst erwiesen sei, dass der Tabakrauch der Hauptverursacher der Innenraumluftverschmutzung sei, würden kaum Massnahmen zur Einschränkung des Rauchens getroffen. Dabei übersteige der Schadstoffgehalt der Luft in verrauchten Räumen bei weitem die Werte, wie sie an verkehrsreichen Kreuzungen gemessen würden. ... Leider gelte es heute noch als selbstverständlich, dass die nicht rauchenden Menschen den Qualm ihrer rauchenden Mitmenschen zu inhalieren hätten, dass die Freiheit, die Raumluft verschmutzen zu dürfen, mehr gelte als das Recht, möglichst unverschmutzte Luft einatmen zu können.

«Gut formuliert!», dachte Melody beim Lesen von Heidns Vorstoss, «das sind doch alles glasklare Argumente, gegen die keine Person, die über einen normalen Verstand verfügt, etwas einzuwenden haben könnte.»

Doch sie ging auch hier davon aus, dass die damalige bürgerliche Parlamentsmehrheit dieses Begehren ebenfalls grundlos abgeschmettert hatte.

Bei der relativ oberflächlichen Durchsicht zweier weiterer mit «grosser rat» gekennzeichneten Boxen stiess sie auf weitere Belege, die Heidns Kampf gegen die Tabaklobby und die damit verbundene Kontaminierung der Innenluft dokumentierte:

«

ANTRAG vom 17. Juni 1986 betreffend Ergänzung des Geschäftsreglementes des Grossen Rates ...

Die Sitzungen des GROSSEN RATES UND DESSEN KOMMISSIONEN SIND RAUCHFREI.»

«Wow! Was für ein Erfolg!», dachte Melody beim Lesen dieser Artikel. Ganz so aussichtslos war Heidns Kampf gegen die Raucherei offenbar doch nicht gewesen.

Irritiert war sie jedoch von der Stellungnahme des zuständigen CVP-Regierungsrats, der wie folgt zitiert wird:

«Wir wollen ... nicht mit Verboten operieren. Sektiererische Verbote können nämlich auch eine kontraproduktive Wirkung haben.»

Weitere Vorstösse Heidns respektive entsprechende Zeitungsartikel, auf die Melody stiess:

«INTERPELLATION vom 27. Oktober 1992 betreffend Folgen des Tabakkonsums respektive Massnahmen des Kantons zum Schutz der nicht rauchenden Bevölkerung vor dem Tabakkonsum»

«MOTION vom 27. Oktober 1992 betreffend Erlass von Rauchverboten»

«Leserbrief zum Artikel «Rauchen verboten» im «Aargauer Kurier» vom 11.2.93»

«INTERPELLATION vom 10. November 2009, betreffend Vollzug des Bundesgesetzes zum Schutz vor Passivrauchen und dessen Verordnung im Kanton Aargau»

Nach der Lektüre aller politischen Antirauch-Vorstösse und verschiedener Presseberichte war sie zwar beeindruckt von Inhalt, Stossrichtung und Stil dieser Anträge und hundertprozentig einverstanden mit jedem einzelnen Wort von Heidns Begründungen, musste aber trotzdem eine Pause einlegen – denn sie war plötzlich nicht mehr ganz sicher, ob ihr eingeschlagener Weg zu irgendeinem brauchbaren Ziel führen könnte – die vorgefundene Unordnung war einfach zu gross, zu gewaltig und überstieg bei Weitem ihre zeitlichen Ressourcen.

Denn in einer einzigen «gr»-Schachtel hatte sie Material zu verschiedensten Themen und aus verschiedensten Jahren gefunden – «gr 1» enthielt zum Beispiel Dokumente von 1986 bis 2009! – , was ein einigermassen chronologisches Vorgehen verunmöglichte.

Zudem enthielten sie auch viele handschriftliche Texte in Form von Entwürfen, Checklisten, Notizen, Einfällen etc., Bleistift- und Kugelschreiberskizzen, Sitzungsprotokolle, regierungsrätliche Vorlagen und jede Menge herausgetrennter Zeitungsseiten mit jeweils farbig markierten Presseartikeln.

Im Vorfeld hatte sie sich alles viel einfacher vorgestellt – viiiel einfacher:

In einem «normalen», sauberen, perfekt aufgeräumten Bürozimmer würde sie abschliessbare Aktenschränke mit alphabetisch geordneten, durchnummerierten und mit einem Datum versehenen Ordnern oder Ordnerschachteln vorfinden, dazu ein alphabetisches Stichwortregister, das gleichzeitig auch auf die entsprechende Nummer hinwies, zwei bis drei grosse Arbeitstische, die Platz boten für perfekte Recherche-Arbeiten sowie einen Computer, in dem sie das gesamte papierene Archiv in professionell aufbereiteter digitaler Form abrufen und bearbeiten können würde.

Was sie jedoch hier in der Wohnung des toten Heidn vorfand, war das komplette Gegenteil!

Und sie war nahe daran aufzugeben:

Soll doch eine andere Person diese mühsame, nervige, nicht zu bewältigende Aufgabe übernehmen!

Sollen sich doch die Tochter und die drei Söhne Heidns um diese chaotische Hinterlassenschaft kümmern!

Sollen doch Pensionierte, die sowieso die meiste Zeit nutzlos herumhängen, zur Abwechslung einmal etwas Sinnvolles tun!

Melody hatte die Nase voll – eigentlich.

Wenigstens in diesem Moment...

Nachdem sie eine Tasse Pfefferminztee getrunken, ein Stück Urdinkelvollkornbrot, drei orange-gelbe Bio-Karotten und ein veganes Müsli gegessen, mit den beiden Katzen gespielt und sich etwas beruhigt hatte, nahm sie ein Blatt Papier zur Hand, setzte sich an den grossen Wohnzimmertisch und begann zu überlegen, ob und allenfalls wie sie weiterfahren sollte respektive wollte.

«1. Faktor Zeit», notierte sie.

Darüber hatte sie sich bisher kaum Gedanken gemacht, da sie zuerst einmal einsteigen, irgendwie anfangen und dann loslegen wollte. Und das war definitiv keine gute Strategie gewesen.

Immerhin hatte sie jetzt erste Erfahrungen gesammelt, die jedoch allesamt nichts Gutes verhiessen.

«2. Das Ziel ist das Ziel. Und nicht der Weg.»

«Genau!», stimmte sie sich zu. «Ein puzzleartiges, spontanes, unstrukturiertes Vorgehen nach Lust und Laune ist bestimmt eher zum Scheitern verurteilt, als wenn ich mir vorher jeden einzelnen Schritt genau überlege.»

«Das Buch ist das Ziel, und nicht der Prozess! Das Produkt muss ich wollen, nicht das Herumwursteln, nicht das Beschreiben des Stöberns in Aktenbergen, nicht die Darstellung der Suche nach den Nadeln in den hundert Heuhaufen!»

«3. Das Vorgehen.

Systematisch, logisch, effizient, aufs Ziel fokussiert.»

«Richtig!», lautete ihr Kurzkommentar.

«4. Die Rechtsfrage.»

Dieser Punkt war ihr nämlich eingefallen, als sie eine mit «privat» beschriftete Box geöffnet und in einer mit «hh-fotos» bezeichneten Kartonkiste herumgewühlt hatte.

«Jawohl, das muss sein!», unterstützte sie ihren Gedankengang, denn es gab da offenbar auch Fotos Heidns, die sie nichts angingen:

Nacktfotos.

Jetzt klappte Melody ihren Laptop auf und begann zu tippen.

4 Am nächsten Morgen

um elf Uhr siebenundzwanzig unterschrieb sie den Vertrag.

Ihren eigenen Buch- und Arbeitsvertrag.

Denn das war genau jene Motivationsspritze, die sie brauchte!

Die ihr dabei helfen würde, das angetroffene Aktenchaos zu bewältigen, ihr Vorhaben mit Bedacht, konsequent, unbeirrt, zielorientiert, erfolgreich, durchdacht umzusetzen, ihr Ziel fristgerecht, in guter Qualität und aufbau- und inhaltsmässig mindestens zufriedenstellend zu erreichen.

«

Buch- und Arbeitsvertrag

zwischen der

Auftraggeberin

Melody Maurer,

Zürich

und

der

Buchautorin

Melody Maurer,

Zürich

Vertragsinhalt

Biografischer Roman

Titel

Der Sargmann. Ein Nachschrei!

Umfang

300 Seiten

Beginn

22. Februar 2022

Ende

22. November 2022

Arbeitsorte

WG Zürich, Heidns Wohnung, «Oasis», Südfrankreich

Vorgehen

Sichten, Ordnen, Beschreiben, Beurteilen, Zusammenfassen, Digitalisieren – mit Mut zur Lücke!

Hauptkriterium

Chronologisch geordnete einheitliche Themen

Illustrationen

Eingestreute Heidn-Skizzen, Fotos, Arbeitszimmer Heidns inkl. Aktenchaos, Oasis inkl. Museum, Flucht-Appartement

Produktivität

> 10 Seiten / Woche

Talks mit Bekannten Heidns

> 1 / Woche

Überarbeitungsrhythmus

> 1 x / 2 Wochen

Rechtslage regeln

Vertrag mit Heidns Erbengemeinschaft

Bemerkungen

Yes, I can! Yes, she can!

Datum

22.2.2022

Unterschriften

Auftraggeberin

Buchautorin

.........................

.......................

M. Maurer

M. Maurer»

Die Daten hatte sie bewusst so gewählt, denn vom 22.2.22 bis zum 22.11.22 waren es genau neun Monate – eine Art «Buch-Schwangerschaft» also, was immerhin einer «Vorstufe» glich, denn an ein reales eigenes Kind hatte sie bis jetzt nicht gedacht, dazu fühlte sie sich zu jung und vollkommen unbereit – und ein Vater, der diese Rolle hätte übernehmen können, war weit und breit sowieso nicht in Sicht.

Denn nach den negativen Erfahrungen mit ihrem letzten Freund – siehe «Sein Sarg» – hatte sie null Interesse an einer Männer-Beziehung – zudem wohnte sie mit zwei Freundinnen zusammen, die mit dem männlichen Geschlecht Ähnliches erlebt hatten, in einer reinen Frauen-WG.

Bevor sie den Vertrag, den sie mit der Tochter und den drei Söhnen Heidns abschliessen wollte, ausarbeitete, buchte sie als Autorin noch schnell und nebenbei ein Ferienappartement im «Oasis-Village» in Südfrankreich, um sich, der Auftraggeberin, zu beweisen, dass es ihr wirklich ernst war mit diesem Buchprojekt.

Sie stellte sich vor, in jener Ferienanlage, in der Heidn umgekommen war und in der das «Musée du Cercueil», das «Sargmuseum», stand, weiter am Buch zu arbeiten, Leute, die Heidn gekannt hatten, zu befragen, Heidns Flucht-Appartement, das Museum, die Bäckerei, die benachbarten FKK-Dörfer zu besuchen, den Ferien-Resort-Verwalter Herrn Schwarz und wenn immer möglich auch Amélie Froidevaux zu interviewen.

Nach kurzer Suche hatte sie eine Wohnung für maximal vier Personen, die direkt am Strand lag, gebucht, – eventuell würde ja eine ihrer Mitbewohnerinnen mitkommen wollen – für zwei Wochen ab Mitte Mai und auch gleich die zwanzig Prozent Reservationsgebühr überwiesen.

Sie hatte zwar kaum FKK-Erfahrungen, doch keinerlei Bedenken – die aufkommende Vorfreude war stärker: Der zweiwöchige Aufenthalt sollte auch eine Art Belohnung sein für das bevorstehende aufwendige, schwierige und komplizierte Buchprojekt.

Und jetzt verfasste sie jenen Vertrag, der sie juristisch absichern, ihr eigenes Risiko minimieren sollte und ihr eine komplett eigenständige und eigenverantwortliche Arbeitsweise garantieren würde:

«Einverständniserklärung

betreffend Nutzung des Archivnachlasses von Hubert Heidn, geb. 22. 7.1949 in Rothrist, Schweiz, gest. 22.10.2020 in Leucate, Frankreich, durch Melody Maurer, geb. 14.7.1994, Zürich, zu Recherche- und ev. anderen Zwecken

Die unterzeichneten Mitglieder der Erbengemeinschaft Hubert Heidn erklären sich hiermit einverstanden,

dass Melody Maurer, Zürich,

ab sofort und bis auf Weiteres

das alleinige Verfügungsrecht über das gesamte von H. Heidn hinterlassene Archivmaterial (Akten aller Art, Briefe, Skizzen, Zeichnungen, Texte jeder Art, Fotos, Fotobücher, Agenden, Tagebücher, Dias, Videos, 3 Laptops etc.) erhält, was u.a. Folgendes beinhaltet:

uneingeschränkte und jederzeitige Zugänglichkeit und Einsichtnahme;

uneingeschränktes Recht auf Neuordnung, Neugruppierung, Neu-Archivierung, Katalogisierung, Digitalisierung des gesamten Archivmaterials nach eigenen Kriterien;

uneingeschränkte Verwendung zur eigenen literarischen u.a. Nutzung unter strikter Einhaltung des Quellenschutzes und des Urheberrechts.

Als unwichtig erachtetes Archivmaterial darf nur nach Rücksprache und im gegenseitigen Einvernehmen vernichtet werden.

Die Privatsphäre der Hinterbliebenen darf nicht verletzt werden.

Äusserungen und Fakten, die den Ruf H. Heidns beschädigen könnten, dürfen nur nach Rücksprache und im gegenseitigen Einvernehmen publiziert werden.

Das gesamte Archivmaterial bleibt im Eigentum der Gemeinschaft der

Erb*innen.

M. Maurer orientiert die Erbengemeinschaft einmal vierteljährlich per Mail über den Stand der Arbeiten.

Die Einverständniserklärung kann von M. Maurer jederzeit einseitig per sofort und von der Erbengemeinschaft unter Einhaltung einer Frist von zwei Monaten – respektive von zwei Wochen bei Vorliegen schwerer Verstösse – gekündigt werden.

Zürich, 22. Februar 2022

............................................

...............................................

Melody Maurer

Erbengemeinschaft Heidn»

Uff! Geschafft!

Sie war ja keine Juristin...

Jetzt erhob sich Melody, öffnete die Tür zu Heidns ehemaligem Arbeitszimmer, legte sich langsam, rücklings, flach auf Heidns Bett, schloss die Augen, streckte, reckte, entspannte sich und wäre beinahe eingeschlafen, wären da nicht die Katzen gewesen, die aus dem Nichts auftauchten, aufs Bett sprangen, sich an sie schmiegten und zu schnurren begannen.

5 Die Vertragsunterzeichnung

erfolgte dann am 19. Februar 2022 im Rahmen eines Raclette-Essens, das in Heidns Wohnung stattfand und zu dem Heidns Tochter und der jüngste Sohn eingeladen hatten.

Die Stimmung war gelöst, das gegenseitige Vertrauen gross und die Katzen hatten sichtlich Spass an dieser Abwechslung.

Melody kannte zwar alle vier erwachsenen Kinder Heidns, hatte aber noch nie mit allen zusammen einen gemeinsamen Abend verbracht.

Alle erzählten von ihren gegenwärtigen Arbeiten, von Ferienerlebnissen, von Heidn, von der Zeit, als sich ihr Vater auf der Flucht befand, wie sie die Todesnachricht erfahren, die Trauerfeier im Oasis erlebt, die Zeit danach verbracht hatten und wie toll, schön und cool sie es fänden, dass sich Melody nun doch noch daran mache, das im biografischen Krimi-Roman «Sein Sarg» angekündigte Buch zu schreiben.

Sie ihrerseits berichtete von ihren ersten Erfahrungen mit dem umfangreichen Archiv, ihren ersten «Entdeckungen», ihren Schwierigkeiten und dem vorgefundenen Chaos, das ein systematisches Arbeiten verunmöglichen würde.

«Ja, ja, wir sind halt alle etwas chaotisch veranlagt!», meinten die vier Nachkommen einhellig, und Heidn hätte sowieso nie die Zeit aufwenden können, um all die Arbeiten, die er ständig Tag und Nacht erledigt habe, auch noch mehr oder weniger professionell so zu archivieren, dass das Gesuchte mit einem Griff hätte gefunden werden können.

Im Gegenteil: Manchmal habe er wirklich stundenlang gesucht – nach Schlüsseln, seinem Handy, wichtigen Dokumenten und Unterlagen, nach diesem und jenem. Sie würden sich noch heute wundern, wie er das geschafft habe, während vier Jahrzehnten Tausende von Schülerinnen- und Schülerarbeiten zu korrigieren, zu bewerten, die Noten einzutragen, die Verbesserungen zu kontrollieren und zurückzugeben, ohne je einen dieser Aufsätze, Geschichts-, Grammatik-, Englisch-, Lektüre-etc.-Tests zu verlegen oder zu verlieren.

Episoden, auch peinliche, wurden zum Besten gegeben, denn man war ja unter sich – die Biografin Melody gehörte inzwischen auch dazu.

Besonders nervig respektive schlimm sei es jeweils vor der Abfahrt in die Ferien gewesen, wenn Heidn vor lauter Nervosität, sie könnten den Zug, das Flugzeug, den Bus oder das Auto verpassen, ungeduldig herumgetigert sei, alle dreissig Sekunden die Uhrzeit verkündet habe und beinahe schon laut geworden sei.

Oder wenn das Chalet am Ferienende aufgeräumt, geputzt, in den bei Ferienbeginn angetroffenen klinisch-sauberen Zustand habe zurückversetzt werden müssen, da habe er manchmal so richtig nerven und alle Anwesenden auf die Palme bringen können – so ein Stress sei das immer gewesen...

Oder wenn er sich bei Diskussionen, insbesondere bei politischen Themen, so ereifert habe, dass er andere kaum habe ausreden, nur seine eigene Meinung habe gelten lassen und er manchmal das Gleiche zehnmal wiederholt habe, sei das nicht wirklich lustig gewesen.

«Manchmal war er wirklich mühsam, besonders dann, wenn er den Standpunkt vertrat, dass er der Einzige sei, der recht habe.»

«Und dass er die billigsten und schlechtesten Lesebrillen trug, die er auftreiben konnte! Die er dann auch immer verlegte, die beim Herunterfallen zerbrachen oder auf die er trat, wenn sie irgendwo auf dem Boden lagen. Sein Lesebrillenverschleiss war wirklich phänomenal, und wenn er nicht ständig mindestens fünf davon hatte, kam er sich fast verloren vor.»

«Sie lagen auch überall herum, auch die bereits defekten!»

«Und er war sogar noch stolz darauf, dass er den allerbilligsten Brillenschrott – Landi für zwei neunzig! – auf der Nase trug!»

All das wollte Melody eigentlich gar nicht wissen – trotzdem lachte sie herzlich mit bei der postmortalen «Verspottung» von Heidns Marotten.

Jedenfalls war es ein vergnüglicher Raclette-Abend mit 50% Prozent veganem Käse – denn Heidns Tochter und Melody ernährten sich ohne tierische «Produkte», im Gegensatz zu Heidn, der zwar seine letzten vierzig Lebensjahre als Vegetarier verbracht, es jedoch bis zu seinem Tod nicht mehr geschafft hatte, seine Ernährung umzustellen.

Das Hauptthema blieb natürlich der Vertrag, den Melody noch allen per Mail zugestellt und den offenbar mehr oder weniger alle gelesen hatten.

Einwände hatte niemand – nur Fragen:

Ob sie wirklich diese Riesenarbeit auf sich nehmen wolle und warum.

Woher sie denn die Zeit nehme für dieses Buchprojekt – das sei, wenn sie innerhalb von neun Monaten fertig sein wolle, doch mindestens ein 50-Prozent-Job.

Ob sie denn einen Nebenjob oder Stipendien habe, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können.

Ob sie daran gedacht habe, beim Bund, beim Kanton oder bei privaten Kulturstiftungen oder -organisationen um einen Buchprojekt-Beitrag nachzusuchen.

Ob sie sich das wirklich gut überlegt habe: Heidn sei zwar kantonal bekannt gewesen, aber sicher keine so bedeutende Persönlichkeit, dass über diese ein Buch geschrieben werden müsse. Zudem gelte er immer noch als eine Art «Krimineller» – jedenfalls sei er noch weit davon entfernt, rehabilitiert zu werden.

Melody fand es wirklich toll, dass ihr alle diese Fragen gestellt wurden und sie bemühte sich, diese so offen und ehrlich wie möglich zu beantworten. Gleichzeitig spürte sie, dass sie dieses Projekt wirklich wollte, nur schon, um dabei mitzuhelfen, Heidns Ruf wiederherzustellen und der Wahrheit über die Hintergründe dieses Mordes einen Schritt näher zu kommen. Ihre Hauptmotivation jedoch galt ganz klar dem Sarg und den Erfahrungen, die sie mit und in diesem vom 3. bis 7. Oktober 2020 hatte machen dürfen, Erlebnisse, die weit jenseits des «Normalen» lagen, die als «überirdisch, unglaublich intensiv, unvorstellbar tief und existenziell» bezeichnet werden konnten, vergleichbar eventuell mit einem LSD-Trip oder Ähnlichem, jedoch ohne negative Nebenwirkungen.

Ihr Psychologiestudium hatte sie im Sommer 2021 erfolgreich abgeschlossen – trotz Pandemie und den damit verbundenen Einschränkungen. Danach folgte ein dreimonatiges Praktikum in einer psychiatrischen Klinik, das sie aber nicht wirklich befriedigte, denn ihr einziges wirkliches und wahrhaftiges Ziel waren der Sarg und Heidn, die ihr einen freien, offenen, phantastischen Blick hinter Leben, Psyche und Tod vermittelt hatte, der nichts mit Kirche, Religion und Glauben zu tun hatte, sondern nur mit der Wahrheit, DER Wahrheit.

Jener, über den elementaren Sinn von Leben und Tod.

Ihre Eltern seien bereit, sie weiterhin finanziell zu unterstützen, insbesondere ihre Mutter, die Heidn persönlich gekannt und ihn und Amélie bei sich aufgenommen und einige Tage versteckt gehalten habe.

Und sie sei wirklich bereit, alles zu geben – für sie sei das nicht nur ein 50-Prozent-Job, sondern eine zentrale Lebensaufgabe, IHRE Lebensaufgabe, der sie sich stellen und die sie mit ihrem Herzen, ihrem Geist, ihrem Verstand und ihrer Energie erfüllen wolle.

Die vier Heidn-Geschwister waren tief beeindruckt – und begeistert von Melodys Worten und Bekenntnis.

Dass sie deshalb Melodys Vertragsentwurf ergänzten mit einer monatlichen finanziellen Unterstützung von CHF 1600, die sie in Form eines Dauerauftrags Heidns Konto, das noch nicht an die Erbengemeinschaft ausbezahlt worden war, entnahmen, war nicht verwunderlich.

Sondern erfreulich.

6 Voller Enthusiasmus

machte sich Melody am nächsten Morgen daran, mit ihrer Projektarbeit zu «beginnen» – denn laut ihrem eigenen «Arbeitsvertrag» war der 22.2.22., dieser «Schnapszahl»-Tag, an dem sich zum Beispiel unzählige Paare trauen lassen, ihr erster wirklicher Arbeitstag.

Begeistert schilderte sie ihren beiden WG-Mitbewohnerinnen, die inzwischen längst zu ihren besten Freundinnen geworden waren, am Frühstückstisch den Verlauf der vorabendlichen «Vertragsverhandlungen», wie sympathisch Heidns Nachkommen seien, wie verständnisvoll und hilfsbereit, und dass sie sich vertraglich bereit erklärt hätten, ihre Arbeit mit monatlich 1600 Franken zu unterstützen, was genau doppelt so viel sei, wie sie während ihres Praktikums verdient habe.

Ekaterina, eine russische Geschichtsstudentin mit dem Schwerpunktfach «Osteuropäische Geschichte», die bei ihrer Grossmutter in einfachsten Verhältnissen aufgewachsen und der es dank herausragender schulischer Leistungen gelungen war, ein vierjähriges Stipendium an einer schweizerischen Universität zu ergattern, gratulierte ihr von Herzen zu diesem Erfolg.

«Du wirst sehen: In zehn Jahren bekommst du den Nobelpreis für Literatur!»

Naledi, Melodys zweite WG-Freundin, deren Name aus der Bantu-Sprache stammte und «aufgehender Stern» bedeutete, pflichtete ihr bei: «Ich werde die erste sein, die dein Buch liest, bestimmt!»

«Du darfst gern mein Manuskript korrigieren – ich bezahl dich auch dafür!»

«Jetzt spinnst du aber – das mach ich doch gratis! Ich bin ja jetzt schon gespannt auf deine Texte!»

Naledi, in der Schweiz aufgewachsen, studierte Germanistik im siebten Semester – und schon bald würde sie mit ihrer Master-Arbeit beginnen können. Sehr gern würde sie nach abgeschlossenem Studium an einem Gymnasium oder einer Kantonsschule Deutsch unterrichten. Als Pfadileiterin war sie den Umgang mit Jugendlichen gewohnt – und trotz einiger negativer – rassistischer – Erlebnisse liebte sie es, mit Kindern und jungen Erwachsenen zu diskutieren, ihnen nützliche Fertigkeiten beizubringen, Ferienlager zu organisieren, gemeinsam mit Jungs und Mädchen bei jedem Wetter spannende Events durchzuführen, englische, französische, italienische, spanische und neuerdings auch russische, manchmal sogar auch deutsche Lieder zu singen, die sie auf der Gitarre begleitete – jedoch keine Pfadisongs, die waren für sie tabu...

Erst um Viertel nach elf Uhr traf sie bei Heidns ehemaliger Wohnung ein – rund eine Stunde später, als sie sich vorgenommen hatte. Normalerweise hätte sie sich über diese «Disziplinlosigkeit» geärgert, doch die inspirierenden und motivierenden Gespräche mit Ekaterina und Naledi hatte sie sehr gefreut und sie gestand sich ein, dass der Projektstart kaum optimaler hätte ausfallen können.

Am Arbeitsplatz oben in der Galerie hatte sich nichts verändert – die Laptops, die geöffneten Archivschachteln, die vielen Sichtmäppchen lagen genau so dort, wie sie sie vor zwei Tagen hinterlassen hatte.

Wo war sie denn stehen geblieben?

Natürlich: Bei Heidns Kampf gegen den giftigen Tabakrauch, gegen die von der schweizerischen Gesellschaft tolerierte Unsitte, überall und jederzeit rauchen zu können, egal, ob damit auch die Lungen von Kindern, jungen und alten Erwachsenen vergiftet würden.

Vier Boxen hatte sie schon untersucht, das zutreffende Material diesen entnommen, gelesen und in mehreren Sichtmäppchen, die nun auf dem Bett zwei Meter neben dem Galeriearbeitstisch lagen, abgelegt.

Noch einmal überflog sie die darin enthaltenen Dokumente und fand, dass der Interpellationstext vom 27.10.1992 derart überzeugend formuliert war, dass sie diesen ohne Weiteres praktisch vollständig zitieren respektive in ihr Buch aufnehmen könne:

«INTERPELLATION Hubert Heiden vom 27. Oktober 1992 betreffend die Folgen des Tabakkonsums respektive Massnahmen des Kantons Aargau zum Schutz der nicht rauchenden Bevölkerung vor dem Tabakrauch

In vielen fortschrittlichen Staaten sind in den letzten Jahren Vorschriften in Kraft getreten, die das grundsätzliche Recht auf tabakfreie Luft garantieren: In den USA, in Belgien, Italien, Frankreich, Neuseeland beispielsweise gelten vielerorts strikte Rauchverbote, so in öffentlichen Gebäuden, in Restaurants, am Arbeitsplatz, teilweise auch auf öffentlichen Plätzen und in Bahnhöfen.

In der Schweiz hingegen tut man sich schwer mit derartigen Erlassen: Das Recht, überall rauchen zu dürfen, wird noch immer höher eingestuft als das Recht auf frische und rauchfreie Luft.

Auch in unserem Kanton werden nur wenige Massnahmen getroffen, um Kinder, Jugendliche und nicht rauchende Erwachsene zu schützen, denn das Gesundheitsdepartement vertritt nach wie vor die Meinung, mit Appellen an die Vernunft und die Einsicht der Raucherinnen und Raucher lasse sich mehr erreichen als mit Rauchverboten...

Aufgrund der Stellungnahme des Gesundheitsdepartements zu meinem Postulat «betreffend Massnahmen zur Förderung des Nichtrauchens bzw. zur Eindämmung des Tabakkonsums» auf Seite 204 des Rechenschaftsberichts 1991 («... Entgegen den Erwartungen – es war kurz vor Mittag, und die Raucher waren schon in der Mittagspause – wurde der Vorstoss mit 61 zu 59 Stimmen aufrechterhalten. ...») und verschiedener Äusserungen des Gesundheitsdirektors bestehen berechtigte Zweifel darüber, ob sich das Gesundheitsdepartement überhaupt der Tragweite und Ernsthaftigkeit dieses Problems bewusst ist.

Ich bitte den Regierungsrat um die Beantwortung der folgenden Fragen:

1. Wieviele Todesfälle sind im Kanton Aargau jährlich direkt oder indirekt auf das Rauchen zurückzuführen?

2. Auf wie hoch schätzt der Regierungsrat die volkswirtschaftlichen Kosten des Tabakmissbrauchs pro Jahr in unserem Kanton? Wie hoch sind ungefähr die weiteren, indirekten Folgekosten (Beeinträchtigung der Gesundheit der «Passivrauchenden»; höhere Reinigungskosten; höhere Energiekosten z.B. durch zusätzliche Lüftungsmassnahmen; Brände u.a.)? In welchem Ausmass belastet der Tabakmissbrauch das aargauische Gesundheitswesen?

3. a) Wie hoch ist schätzungsweise der jährliche Gesamtaufwand der Tabakindustrie für die Propagierung des Rauchens resp. der Tabakprodukte in unserem Kanton?

b) Wie hoch ist der Aufwand des Kantons zur Bekämpfung des Tabakmissbrauchs resp. zur Propagierung des Nichtrauchens pro Jahr?

c) Wie beurteilt der Regierungsrat den Vergleich dieser Zahlen?

4. Wie beurteilt der Regierungsrat die Rechtslage in Bezug auf den Erlass von generellen Rauchverboten in öffentlichen Gebäuden, am Arbeitsplatz, an den Volks-, Berufs- und Mittelschulen, in den Spitälern, in Sportanlagen, auf öffentlichen Plätzen, in Bahnhöfen?

a) Teilt der Regierungsrat die Ansicht, das grundsätzliche Recht auf tabakfreie Luft sei höher einzustufen als das Recht der Raucherinnen und Raucher, die Luft mit Tabakrauch verschmutzen zu dürfen?

b) Auf welchen Rechtsgrundlagen basiert das hierzulande heute noch praktizierte «Gewohnheitsrecht» der Raucherinnen und Raucher, praktisch überall und jederzeit die nicht rauchenden Mitmenschen zum Mitrauchen zwingen zu dürfen?

c) Teilt der Regierungsrat die Ansicht, dass auch das «Passivrauchen» resp. das «Zwangsrauchen» die Gesundheit gefährdet bzw. das Wohlbefinden der unfreiwillig Mitrauchenden massiv beeinträchtigt?

Ist sich der Regierungsrat bewusst, dass täglich Zehntausende von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in unserem Kanton durch Tabakrauch massiven Belästigungen ausgesetzt sind?

Teilt der Regierungsrat die Ansicht, dass aufgrund der Rechtslage und des Rechtsempfindens das Rauchen eigentlich nur überall dort zulässig ist, wo keine anderen Personen in ihrer Gesundheit oder in ihrem Wohlbefinden beeinträchtigt werden?

Ist der Regierungsrat nicht auch der Meinung, dass zumindest überall dort, wo eine Person aufgrund eines Arbeitsvertrags, einer Wahl, eines Auftrags, einer Vereinbarung etc. verpflichtet ist, sich aufzuhalten, ein Rechtsanspruch auf rauchfreie Luft besteht resp. auch nicht mit einem Mehrheitsbeschluss von dieser Person verlangt werden kann, den Rauch der anwesenden Raucherinnen und Raucher zu inhalieren? Das heisst: Teilt der Regierungsrat nicht auch die Ansicht, dass jede nicht rauchende Person grundsätzlich das Recht besitzt zu verlangen, dass in ihrer Anwesenheit auf das Rauchen verzichtet wird?

d) Teilt der Regierungsrat die Ansicht, dass die Rechtsgrundlagen für den Erlass weitreichender und strenger Rauchverbote durchaus gegeben sind? (Beispiele: Art. 15 Abs. 1 Kantonsverfassung (KV): «Jedermann hat das Recht auf ... körperliche ... Unversehrtheit.»; Art. 15 Abs. 4 KV: «Beeinträchtigungen der Willensfreiheit... sind in keinem Falle zulässig.»; § 47 Abs. 1 Gesundheitsgesetz (GesG): «Der Kanton trifft Massnahmen der Gesundheitsvorsorge. Diese dienen insbesondere der Gesundheitsförderung und Gesundheitserziehung, der Eindämmung von Suchtmitteln und Suchtmittelreklamen, der Verhütung von Krankheiten... sowie der Früherkennung von... Gesundheitsgefährdungen durch Umwelteinflüsse.»; § 48 Abs. 2 GesG: «Anlagen und Betriebe mit Publikumsverkehr haben den Anforderungen der Hygiene zu zu entsprechen. Der Regierungsrat kann nähere Vorschriften erlassen, soweit es die Wahrung der öffentlichen Gesundheit erfordert.»; § 45 Abs. 1 GesG: «Die Sorge für seine Gesundheit obliegt dem einzelnen Menschen.»)

5. Auf welche andere Weise als mit Rauchverboten glaubt der Regierungsrat die nicht rauchende Mehrheit der Bevölkerung vor dem Tabakrauch schützen zu können, zum Beispiel am Arbeitsplatz, in Restaurants, an Schulen, in Spitälern, an Versammlungen, in Gebäuden mit Publikumsverkehr...?

6. Ist der Regierungsrat bereit, überall dort, wo es rechtlich möglich ist, generelle Rauchverbote zu erlassen, insbesondere

am Arbeitsplatz,

an den Schulen,

in den Spitälern,

in allen übrigen öffentlichen Gebäuden,

in Sportanlagen?

7. Ist der Regierungsrat bereit, für die Propagierung des Nichtrauchens mehr Mittel zur Verfügung zu stellen?

8. Ist der Regierungsrat bereit, sich beim Bund für eine massive Erhöhung der Tabaksteuer einzusetzen und dafür, diese zusätzlichen Mittel für Massnahmen zur Bekämpfung des Tabakmissbrauchs zu verwenden?

9. Teilt der Regierungsrat die Ansicht, dass Tabakwaren auch als «Einstiegsdroge» bezeichnet werden können resp. dass Kinder und Jugendliche, die bewusst auf das Rauchen verzichten, sich mit grosser Wahrscheinlichkeit auch nicht zum Konsum illegaler Drogen verführen lassen?