Hugo Merapis Metagogik. - Melody Maurer - E-Book

Hugo Merapis Metagogik. E-Book

Melody Maurer

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Beschreibung

Die Autorin Melody Maurer* versucht in ihrem vierten Roman, die METAGOGIK, das Lebens- und Gesamtkunstwerk von Hugo Merapi*, einem ehemaligen CEO und Finanzchef, in Form einer "Annäherung" zu beschreiben. Sie tut dies, indem sie Vorkommnisse ihres eigenen WG-Alltags mit lokal- und weltpolitischen Aktualitäten aus feministischer Sicht mit den metagogischen Grundsätzen, Fragestellungen und Erkenntnissen Merapis* kunstvoll verknüpft. Entstanden ist ein literarisches Werk, in dem fiktive und real existierende Ebenen, Erinnerungen, Biografien und Theorien auf spannende Weise miteinander verwoben werden. Lesenswert! Ekaterina Pavlov, Historikerin, Zürich. (*Pseudonym*)

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Was spiegelt sich wo, wann, wie, warum, wem, wohin, worauf, worunter?

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

28.03.2023: Der Plan

29.03.2024: Die Sitzung

31.03.2023: Endlich!

01.04.2023: So!

02.04.2023: Erstes Interview

03.04.2023: Erstes Beispiel

04.04.2023: «Regie im Kopf»

05.04.2023: Erster Besuch

06.04.2012: Karfreitag

11.04.2023: Regeneriert!

11.04.2023: «Metagogik 41»

08.04.2023: «Der Bestatter»

12.04.2023: Zweite Buchvernissage

13.04.2023: «41»

13.04.2023: Brigitte 70!

14.04.2023: Das Belegsexemplar

17.04.2023: Das Telefongespräch

18.04.2023: Jede Person

22.04.2023: Zweiter Besuch

23.04.2023: Zugesagt!

«’lieber kein klima als keine steingärten’

24.04.2023: Merapis Antworten

24.04.2022: Einwohnerratswahlen

25.04.2023: Im Atelier

29.04.2023: No visit

30.04.2023: «Weil 01»

01.05.2023: Privates privat

06.05.2023: Surprise-surprise!!

02.05.2023: «Weil 02»

06.05.2023: «INKOGNITO!»

03.05.2023: «Weil 03»

06.05.2023: Incroyable!

06.05.2023: «Weil 04»

06.05.2023: Hiltl, Zürich

10.05.2023: «98»

06.05.2023: Die Katastrophe

11.05.2023: CNN-Lügen

12.05.2023: «98».1

13.05.2023: Merapis Drehbuch

15.05.2023: Merapis Texte

15.05.2023: Biografie 1

«Veilchen»

17.05.2023: Scanner

18.05 2023: Biografie 2

21.05.2023: Kinderwunsch

22.05.2023: «Christine und Snuffys Ende»

27.05.2023: Stress

28.05.2023: «Chläb»

29.05 2023: «Die Ritterburgen»

31.05.2023: Überblick

01.06.2023: «98».2

02.06.2023: Babytalk

03.06.2023: «Ein Schulhaus wird gebaut»

«Snuffy gerettet»

03.06.2023: «Tag der offenen Tür»

07.05.2023: «Gut zu wissen»

08.06.2023: Die Zeugung eins

08.06.2023: «Moosseedorfsee»

10.06.2023: Die Zeugung zwei

12.06.2023: Genau 400 Jahre…

13.06.2023: Strahlen

«Strahlen»

14.06.2023: Feministischer Streik!

16.06.2023: Die «Mani-Matter-Äpp»

16.06.2023: Gino Mäder

17.06.2023: «Der Besenstiel und die Forelle»

18.06.2023: Der Zeugungs-Akt

19.06.2023: Merapis Gesamtkunstwerk

19.06.2023: Zeu.Gung

20.06.2023: «Auf der Suche nach Richard.»

20.06.2023: «Fräulein Müller und Ägypten»

21.06.2023: Vieles war los

22.06.2023: «Metagogik-Ebenen»

24.03.2023: Gesundheitlich ging es Merapi…

25.03.2023: Der Anti-Putin-Putsch

26.06.2023: Die Plan-B-Zeugung

27.06.2023: Die Mikro-Ebene

01. 07. 2023: Melodys Mutter

02. 07. 2023: Metagogische Grundsätze

03.07.2023: Die Rolle der Väter

04.07.2023: «Pentagogik»

05.07.2023: «7.540000 Bitcoins»

06.07.2023: «Offene Fragen»

07.07.2023: 10'000 Franken!

08.07.2023: «Kerninhalt der Metagogik»

09.07.2023: «Letzte Ferien-Vorbereitungen»

10.07.2023: Merapi-Zitate

11.07.2023: Tom Rüegger

12.07: Frühe Arbeiten

13.07.2023: Erster, ev. gelungener, Versuch

15.07.2023: Verfügt. Unfrei. Abgeschrieben

16.07.2023: Warten auf Godot

17.07.2023: Frühe Merapi-Gedichte

18.07.2023: Besuch aus Paris

19.07.2022: Wohin mit Merapis Archiv?

20.07.2023: Minigolf

20.07.2023: Verein «Metagogik»

21.07.2023: Die Frauenfussball-WM!

22.07.2023: «Aus Kindheitstagen»

23.07.2023: Die Namenssuche

24.07.2023: «Ältere Arbeitslose»

25.07.2023: Open-Air-Kino

26.07.2023: «Die Kunst des Verarmens.»

27.07.2023: Ernetschwil

28.07.2023: Letzte Metagogik-Worte

28.07.2023: Die Vereinsgründung

Anhang: Was ist, was will, was kann die Metagogik?

Vorwort.

Wer ist Hugo Merapi?

Und was ist unter dem Begriff der «Metagogik» zu verstehen?

Ich hatte keine Ahnung!

Bis mich einmal Hubert Heidn darauf ansprach:

«Versuch’s mal mit der Metagogik!»

Natürlich versuchte er’s mir zu erklären – erfolglos.

Und natürlich erkundigte ich mich in Wikipedia:

Null Eintrag, denn der Begriff existierte gar nicht, Merapi musste ihn und alles, was er darum erschuf, frei erfunden haben!

Einzig die Bezeichnung «Agogik» wurde erläutert:

«Agogik kommt aus dem Griechischen. Der ágein bedeutet zu Deutsch Anleiten, Führen oder Begleiten. Bei der Agogik handelt es sich um ein Berufsfeld aus dem Bereich der Sozialwissenschaften, das genau das tut. Der Agoge begleitet und führt Menschen, leitet sie an und hilft ihnen dabei, Probleme im Alltag zu lösen. Der Begriff Agogik ist deswegen Bestandteil vieler anderer Begriffe und Berufsbezeichnungen. Er findet sich zum Beispiel in den Wörtern Pädagogik oder Andragogik wieder. Eine Ausbildung im agogischen Bereich hat daher immer zum Ziel, die Sozial-, Fach- oder Selbstkompetenzen von Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen zu fördern.»

Immerhin hörte ich damals erstmals etwas über den Menschen Hugo Merapi , der ein eigenes, gigantisches Werk kreiert hätte, dem er den Oberbegriff «Metagogik» gegeben habe. Ein Werk, das Abertausende von beschriebenen und grafisch gestalteten A4- und A3-Seiten umfasse und «das die Welt erst noch entdecken» müsse.

Die Warum-, Wo-, Wann-, Wie- und weitere W-Fragen wurden mir aber erst fast drei Jahre später zufälligerweise beim Besuch der «alten Spinnerei» in Turgi anlässlich eines «Tags der offenen Tür» zu einem winzig kleinen Teil beantwortet, als ich vor dem riesigen Archiv stand, einige Ordner öffnete, darin blätterte und einzelne der «Sprachbilder» zu verstehen versuchte.

Damals wohnte ich seit einigen Monaten in Heidns ehemaliger Dachwohnung in Turgi, wo ich meine ersten drei «Politromane» verfasste – eben über diesen bei einem Attentat in Südfrankreich umgekommenen «Sargmann», das heisst den Aargauer Politiker Hubert Heidn, über dessen junge Begleiterin, die «Sargfrau», sowie die zwei mit diesen beiden Personen verknüpften Särge.

Und nach Abschluss dieser zweijährigen, intensiven Arbeit, nachdem ich das definitive Manuskript per Mail an den Verlag in Norddeutschland übermittelt hatte, kam ich fast augenblicklich auf die Idee, mich der Metagogik und deren Erschaffer zuzuwenden, der dieses riesige, im vierten Geschoss der «alten Spinnerei» in Turgi in mehreren Schränken und einem Atelier gelagerte, hunderte Kilogramm schwere Sprachund Bildwerk über Jahre in tausenden Stunden erarbeitet hatte.

Also nichts wie hin: Der Atelierschlüssel lag noch immer in einem Glas auf einem von Heidns zahlreichen Büchergestellen, denn das Atelier wurde weiterhin von seinen ehemaligen zwei Kollegen benutzt, von denen der eine – genau! – Merapi hiess.

Und bis heute heisst.

Was effektiv an ein Wunder grenzt. Respektive eines IST.

Turgi, 28. Juli 2023

Melody Maurer

Hugo Merapi, Erfinder der «Metagogik», hier als Finanzchef einer bekannten Firma.

28.03.2023

Der Plan.

Nach drei geschriebenen Romanen verfügte Melody, nahm sie an, schon über brauch- und anwendbare Erfahrungen, wie sie bei einem vierten Buch, nämlich dem vorliegenden, vorgehen könnte.

Auf einen schriftlichen Vertrag würde sie diesmal verzichten, sofern sich der Künstler mit ihren mündlichen Erläuterungen einverstanden erklärte.

Was wahrscheinlich der Fall wäre, denn sie hatte ihm heute telefonisch einen entsprechenden Vorschlag gemacht, auf den er erfreulicherweise schon beinahe «begeistert» reagiert habe.

Sie hoffe natürlich, dass das so bliebe.

Zum ersten Mal sei sie Hugo Merapi begegnet bei ihrer Buchvernissage am 3. Dezember 2022 – als aufmerksamem Zuhörer und Fragensteller: Er scheine eine sehr rasche Auffassungsaufgabe, ein immenses Wissen und, wenn sie an sein riesiges Werk denke, einen unglaublichen Durchhaltewillen zu haben, so dass sie auf eine diesen ausserordentlichen Fähigkeiten entsprechende, optimal mögliche Zusammenarbeit hoffe.

Um im Folgenden ihre Projektziele auflisten zu können, müsse sie im Voraus etwas über sich und ihre gegenwärtige Wohnsituation sagen:

Ihr gegenwärtiger Wohnort sei Turgi, ein Agglodorf, das vor rund zwei Wochen, am 12. März 2023, an der Urne beschlossen habe, per Erstem Erstem 2024 mit der Stadt Baden zu fusionieren.

Sie wohne, wie sie bereits im Vorwort erwähnt habe, gegenwärtig in

der ehemaligen Dachwohnung von Hubert Heidn, der am 22. Oktober 2020 in Südfrankreich mit zwei gezielten Schüssen hinterrücks erschossen worden sei. Bis Anfang dieses Jahres hätte sie, neben Heidns Sohn, noch zwei weitere Mitbewohnerinnen gehabt, nämlich Amélie Froidevaux, eine ehemalige Bäckerei-Verkäuferin im «Village Naturiste Oasis» in Südfrankreich, und deren Partnerin Joline Barzeine, eine Journalistin, die beide von Turgi aus eine linke französisch-englisch-deutsche Youtube-News-Sendung produzieren und moderieren würden.

Momentan befänden sich Amélie und Joline jedoch in Paris – und zwar im Regierungsviertel: Einerseits seien sie weiterhin als News-Moderatorinnen tätig, andererseits würden sie aber auch die eminent wichtige Funktion von «persönlichen politischen Beraterinnen» des französischen Präsidenten Emmanuel Macron ausüben, – den sie selbst übrigens ebenfalls kenne, per Du und als «Emmanuel», und der sie, würde er ihr in Turgi oder irgendwo sonst begegnen, sofort herzlich begrüssen und zu «veganem Kaffee, Tee und Kuchen» einladen würde… (Angeberin!)

Da sie auch Hubert Heidn – und dessen Sarg! – kennengelernt hätte – als er sich zusammen mit Amélie Froidevaux auf der Flucht vor der französischen und der schweizerischen Polizei befunden habe (siehe «Sein Sarg», Martin Christen, BoD 2021), hätte sie beschlossen, eine Art Biografie über den ermordeten Schweizer zu schreiben, die schlussendlich den Umfang von drei Bänden («Der Sargmann», BoD 2022, «Die Sargfrau», BoD 2022, «Ihr Sarg», BoD 2023) angenommen habe.

Dasselbe strebe sie nun mit dem jetzigen Buchprojekt an, wofür, davon gehe sie aus, jedoch ein einziger Band genügen sollte.

Plan, Ziel, Vorgehen

1. Zeitlicher Rahmen

April bis Ende Oktober 2023.

2. Arbeitsorte

Turgi, Zürich, ev. Oasis.

3. Inhaltlicher Rahmen

«Infotainmentmässiger» biografischer Künstlerroman

4. Umfang

300-400 Seiten

5. Textsorten

Interviews, Berichte, Beschreibungen, Kommentare, Zitate, Bezüge zu aktuellen Ereignissen etc.

6. Illustrationen

Fotos s/w, Metagogik-Kopien

7. Finanzen

Keine Entschädigung; Eingabe/Antrag per 15.6.2023 an Kuratorium Aargau

8. Feedbacks, Austausch

Regelmässig mit Hugo Merapi.

Melody überlege sich gerade, ob sie – wenigstens vorübergehend – ihren Wohnort wieder nach Zürich verlegen und wieder in ihre ehemalige WG – zu Ekaterina, ihrer Partnerin, und Naledi und deren Freund Blerim – einziehen solle, damit sie sich jederzeit mit Merapi, der in einer Einzimmerwohnung im Englischviertel logiere, treffen könne.

Zudem würde sie auch jederzeit die Möglichkeit haben, einige Tage oder Wochen in Paris in Amélies und Jolines Sechszimmer-Superwohnung zu verbringen, wo für sie selbst und Ekaterina ein grosses, mondänes, luxuriöses Zimmer bereitstehe…

Und einige Tage am Meer in einem von Herrn Schwarz’ Ferienappartements zu geniessen, wäre auch nicht zu verachten…

Ihre, Melodys, gegenwärtige Aussichten seien deshalb geradezu fantastisch und traumhaft.

Ihr würden schwierige Entscheidungen bevorstehen.

Erfreulicher-, glücklicher-, überraschenderweise.

29.03.2024

Die Sitzung.

Die SP hatte zu einer Sitzung eingeladen – in die alte Spinnerei in Turgi.

Denn am 22. Oktober 2023 würden die Einwohnerratswahlen für die 8 Turgi zustehenden Sitze in das Badener Stadtparlament stattfinden, an denen auch Melody, falls sie überhaupt noch teilnehmen wollen möchte, von der SP Baden-Turgi nominiert würde.

Melody hatte, nachdem sie die zwei Heidn-Kollegen um Erlaubnis gefragt hatte, deren Atelier für diesen Anlass zur Verfügung gestellt, so dass sie als erste bereits eine Viertelstunde vor Sitzungsbeginn eintraf.

Sie stellte einige Stühle und die Getränke bereit, räumte ein wenig auf und wartete auf die ersten Gäste.

Die schon bald eintrafen.

Und die sich wunderten über die Menge des im Atelier gestapelten Materials: Dutzende von bis an die Decke aufeinander getürmte Plastikboxen, Plastikbehälter, Plastikkisten füllten einen grossen Teil des zwanzig Quadratmeter grossen Raums:

Das sei das notfallmässig im letzten Jahr hierher transportierte Metagogik-Archiv von Hugo Merapi, erklärte Melody, damit es vor der Vernichtung in der KVA Turgi, der Kehrichtverbrennungsanlage, habe gerettet werden können.

Und zur Illustration packte sie aus einer der am Boden liegenden Kisten zwei zufällig dort lagernde Ordner, legte einen davon aufgeschlagen vor den sieben Anwesenden auf die Tischplatte, stemmte den zweiten, durch die Dutzenden von A4-Klarsichtmäppchen mehrere Kilogramm schweren Büroordner senkrecht in geöffnetem Zustand vor ihrer Brust in die Höhe und erklärte das erste sichtbare, künstlerisch gestaltete Merapi-Werk, das, wie fast alle übrigen im Ringordner abgelegten Kunstdrucke, jeweils zuoberst das Logo «Metagogik» sowie darunter das diesem Blatt zugeordnete Thema enthielt:

«WORAUS

WORAUF

HERAUS

HINAUS

WORUM

HERUM

WORIN

WORÜBER

ICH MIR

WIR UNS

DU DIR

IHR EUCH

ER SICH

MAN SICH

SIE SICH

SIE SICH

EIGENE

DIE SICH

GEDANKEN

möchte

darf

will

MACHEN

soll

kann

muss»

Sie wies auch auf die jeweils im obersten und untersten Viertel hinzugefügten, teilweise farbigen Illustrationen hin und darauf, dass diese die verschiedenen Aspekte der aufgeführten Situationen oder Begriffe beleuchten würden.

Eine offensichtlich an der Sprachwissenschaft interessierte JUSO-Teilnehmerin hatte blitzschnell auf ihrem Handy gegoogelt und gab ihr Recherche-Ergebnis bekannt:

Das sei wirklich sehr interessant! Den Begriff «Metagogik» gäbe es tatsächlich nicht – da sei Merapi eine ihrer Meinung nach geniale Wortschöpfung gelungen – aus der Kombination «META» und «AGOGIK» zur neuen Kreation «METAGOGIK», was sie für super gut gelungen erachte: Die Verbindung aus «Meta»-Ebene und «Agogik» sei eigentlich logisch, sinnvoll, vernünftig, naheliegend, zielführend – und dass bis heute niemand ausser Merapi diese Idee gehabt hätte, sei wirklich erstaunlich – und beeindruckend…

Die Sitzung danach war anregend, motivierend, informativ:

Potentielle Kandidatinnen und Kandidaten waren fast in genügender Zahl vorhanden, weitere sollten angefragt, ermuntert, überzeugt werden, um zu einer qualitativ guten SP-Liste zu gelangen, die beste Chancen haben würde, mindestens zwei Sitze zu gewinnen.

Auch Melody war zur Kandidatur bereit.

Und bereit, im Wahlausschuss mitzuarbeiten.

Sich einzusetzen.

Für die SP.

Für die Bewohnerinnen und Bewohner des neuen Stadtteils Turgi.

31.03.2023

Endlich!

Nach jahrelangen Untersuchungen werde Trump nun doch noch angeklagt – am kommenden Dienstag.

34 Anklagepunkte solle die Anklageschrift des Staatsanwalts umfassen, ausgehend von den 130'000 Dollar Schweigegeldzahlungen Trumps zur Vertuschung seiner «Stormy-Daniels-Sex-Affäre», die ihm in der Präsidentenwahl 2016 hätte schaden können.

Worauf er tatsächlich gewählt wurde trotz weniger Stimmen und trotz seiner x Millionen frommer, evangelikaler, weisser Anhängerinnen und Anhänger, die ihn damals noch kaum als «orangen Jesus» verehrt und angebetet hatten und ihm deshalb, hätten sie von seinen un- und antichristlichen Ehebrüchen und seinen weiteren Sexsklavinnen-Exzessen Kenntnis gehabt, kaum ihre Stimme gegeben hätten.

Inzwischen jedoch hat sich seine ihm komplett ergebene republikanische Gefolgschaft, die über 60 Prozent der Mitglieder ausmacht – pausenlos marktschreierisch, hemmungslos und primitiv-vulgär beschallt von den immer zahlreicher werdenden, extrem rechtslastigen, faschistischen Fake-News-Sendern wie «Fox-News» – vollkommen von der real existierenden Wirklichkeit, von jedem Körnchen Wahrheit, und sei dieses noch so winzig, von jeglicher Vernunft verabschiedet, so dass ihnen alle kriminellen, betrügerischen, respektlosen, aufhetzerischen, gemeinen, hinterhältigen, bösartigen, wahnwitzigen, gesetzeswidrigen MAGA-Trump-Aktivitäten als deren totales Gegenteil in einem heiligen, hehren, göttlichen Licht erscheinen, das jede auf den Fakten, der Wahrheit, der Wirklichkeit beruhende Kritik, jede Berichtigung, Anklage, Zurechtweisung, jede verbale Attacke, jede ehrliche Antwort augenblicklich in dessen hasserfüllten fundamentalen Gegensatz umkehrt:

Trump ist für diese armen Umnachteten DER «Heiland», DER «Guru», DER «Führer», DER «Halbgott», DER von Gott persönlich entsandte «Übermensch», der über jedem menschlichen Gesetz steht und der sich alles leisten und erlauben könnte, was er nur immer wollen und wünschen würde:

Er könnte – sein eigenes, von ihm selbst schon mehrmals verwendetes Beispiel – mitten auf der Strasse einen Menschen abknallen und würde keine einzige und keinen einzigen seiner Wählerinnen und Wähler verlieren.

Er könnte und kann seine Anhängerinnen und Anhänger so oft belügen, betrügen und hinters Licht führen, wie er wollte und will – seiner Popularität im eigenen Lager würde und wird das kein bisschen schaden – was er schon mehrfach bewiesen hat.

Natürlich könnte er tagtäglich auch mehrere Sex-Affären haben – denn auch diese würden ihm, dem heiligen, orangen Gottessohn, dem «American King», augenblicklich verziehen – obwohl er, der Windeln-Träger, zu Derartigem in seinem körperlichen Zustand nicht mehr in der Lage ist.

Denn das ist fraglos der Fall: Erwiesenermassen ist er, das inkontinente Monster-Baby, gezwungen, mit Windeln Schlimmes, Peinliches, Unsägliches zu verhindern.

Trüge Joe Biden Windeln, Trump würde das täglich genüsslich auf allen seinen Kanälen breitschlagen.

Er hingegen, der Rüpel, kann sich auf den Anstand und die Rücksichtnahme seiner politischen Gegner, der Demokratinnen und Demokraten, verlassen, diese Schwäche nie zu einem Wahlkampfthema machen zu wollen.

Und an dieser Stelle machte Melody eine Pause:

Sie würde gerne Merapis Haltung zu Trump und den USA kennenlernen.

Überhaupt interessierte sie sich für dessen politische Grundsätze, denn, so wie sie das Wenige beurteilte, das sie bis jetzt über seine Metagogik hatte in Erfahrung bringen können, bildete «Politik» auch eine der tragenden Säulen seines Sprach-Bild-Kunstwerks und -Sys-tems.

Sie würde ihn bei nächster Gelegenheit darauf ansprechen.

Nachtrag respektive Update:

Bei Melodys Überarbeitung des Texts eine Woche später hatte Trump die Verhaftung und den Gerichtstermin bereits hinter sich: Wie ein Häufchen Elend hatte er auf der Anklagebank gesessen, weder Mucks noch Pieps gemacht und war der Verhandlung folgsam, unterwürfig und widerspruchslos gefolgt – ein mutloses, feiges, schwaches, ängstliches Männchen ohne jedes Selbstvertrauen.

Und erst, als er sich wieder auf seinem Anwesen in Mar-a-Lago in Florida befand, umgeben von seinen fanatisierten Fans, kehrten seine ohrenbetäubenden, von überlauten Lautsprechern verstärkten, faktenlosen, komplett erlogenen Attacken gegen alle und alles, die und was nicht MAGA war, zurück und er beleidigte nicht nur die für seine 34 Kriminalfälle, deren er angeklagt war, zuständigen Staatsanwälte, -anwältinnen, Richterinnen und Richter, sondern bedrohte auch die Frau und die Tochter des Hauptstaatsanwalts.

So etwas hatte die Welt noch nicht gesehen: Einen ehemaligen, vollkommen ausser Rand und Band geratenen US-Präsidenten, der vier Jahre lang das amerikanische Justizministerium geführt, verpolitisiert und missbraucht hatte, der ohne jegliches Rechtsbewusstsein und -verständnis das gesamte amerikanische Regierungs- und Justizsystem abkanzelte, verdammte und sogar einzelne US-Bürgerinnen und Bürger, die nichts als ihre Pflicht getan hatten oder mit dem Ankläger einfach nur verwandt waren, verbal aufs Schändlichste angriff und auf diese Weise für seine einfältige Anhängerschaft zum Freiwild erklärte.

Melody konnte nur den Kopf schütteln: Wie konnte ein «Rechtsstaat» wie die Vereinigten Staaten von Amerika so ein Verhalten, so einen Tyrannen weiterhin tolerieren und ohne jegliche Konsequenzen gewähren lassen?

Ein derart brandgefährliches Subjekt gehörte lebenslang eingesperrt!

Zu welchem Schluss käme Melody wohl, wenn sie hier die Metagogik-Prinzipien einsetzen würde?

Denn so viel hatte sie bereits verstanden: Das von Marapi erschaffene Kunstwerk konnte nicht einfach nur betrachtet und oberflächlich interpretiert, sondern gleichzeitig auch als Methode, Instrument, als zu verschiedenen Zielen führende Arbeitsweise angewendet werden.

Ob ihre Vermutung wohl stimmte?

Melody würde es demnächst herausfinden.

01.04.2023

So!

Melody war in den letzten Tagen zu beschäftigt gewesen, um ernsthaft mit ihrem Metagogik-Projekt beginnen zu können:

Erstens hatte sie ihre neueste Produktion, den zweiten Roman «Ihr Sarg», inklusive Cover und definitiver Druckvorlage, beenden, zweitens ihr erstes Werk, den «Sargmann» in Form einer Neuauflage redigieren und an den Verlag senden, und drittens endlich wieder einmal aufräumen, putzen, Recyclierbares entsorgen, in Turgis «marta» einen Kaffee trinken, einen Ausflug nach Zürich machen, um dort im «enzian» ein feines, veganes Menue geniessen zu können, in Baden Leute treffen, einkaufen, die «Langmatt», die «Unvermeidbar» besuchen müssen – und so weiter und so fort…

So dass sie nun wirklich bereit gewesen wäre, sich seriös mit ihrem jetzigen, zwar immer noch provisorischen, aber bereits zu neunzig Prozent definitiven Projekt auseinanderzusetzen:

Am nächsten Mittwoch würde sie sich erstmals mit Merapi, dem Künstler, in Zürich treffen, um mit ihm die Vorgehensweise und das bis dann bereits Verfasste und Gestaltete intensiv zu besprechen.

Sie hätte auch vorgehabt, mit ihm ein allererstes Interview durchzuführen, das sie natürlich hätte aufnehmen und danach «zu Hause» in der Heidn-Dachwohnung in adäquater Form literarisch verschriftlichen müssen.

Hätte, wenn gestern Abend nicht noch ein vierter Punkt hinzugekommen wäre: Luna.

Denn, als Melody sich bereits daran gemacht hatte, ins Bett zu gehen, bemerkte sie kleine, hellrote Blutlachen rund um eines der Katzenklos, für die sie ebenfalls verantwortlich war, falls sie sich allein in Heidns ehemaliger Wohnung aufhalten würde, was jeweils dann zutraf, wenn Heidns Sohn, der für die Katzen zuständig war, gerade in den Ferien irgendwo in Europa weilte, wie zum Beispiel gerade jetzt – genauer: seit gestern Abend – in Hamburg bei einem einem IT-, Gaming- und VR-Kollegen, wo er beabsichtigte, rund zehn Tage zu bleiben.

Also betreute Melody in dieser Zeit sehr gerne Laimo und Luna, die ihr ans Herz gewachsen waren, mit denen sie gerne spielte und von denen sie fast täglich frühmorgens um sechs Uhr auf eine angenehm-ekelhafte Weise geweckt wurde: Indem sie sie mit ihren Schnurrhaaren an der Nase kitzelten, bis sie niesen, aufspringen, ins Wohnzimmer fliehen musste.

Doch ausgerechnet jetzt, als sie sich vorgenommen hatte, voller Elan, ernsthaft und intensiv an ihrem neuen Buchprojekt zu arbeiten, musste ihr eine der beiden Katzen einen Strich durch die Rechnung machen, indem sie erkrankte und blutigen Urin ausschied.

Was bedeutete: Tierärztin.

Verbunden mit grossem zeitlichem, emotionalem und finanziellem Aufwand.

Punkt acht Uhr – die Kleintierpraxis war an einem Samstagvormittag geöffnet von 8 bis 12 Uhr – vereinbarte sie einen Konsultationstermin um halb elf Uhr und suchte darauf die besten Zugs- und Busverbindungen heraus:

Um 09:58 mit der S27 ab Turgi Bahnhof, um 10:11 ab Baden mit dem Vierer-Bus bis zum Schulhausplatz um 10:13, danach ein fünfminütiger Fussmarsch zur Tierärztin.

Um viertel vor zehn, als sie sich und Luna bereit gemacht hatte, regnete es in Strömen, so dass sie neben der mit Luna gefüllten Katzenbox auchnoch einen sperrigen, geöffneten Schirm zu tragen hatte.

Sie schleppte sich, ihren Rucksack, den Käfig und den Schirm die metallene Aussentreppe hinunter, überquerte den heute besonders trostlosen Parkplatz, bog in die Bahnhofstrasse ein, wo sie, auf der Höhe der Post, der Bäckerei, des Kunstladens und des Abgangs in die Bahnhofsunterführung jeweils kurz anhalten, zum Ausgleichen der unterschiedlichen Gewichte die Box mit mit dem Schirm und den Schirm mit der Box vertauschen musste, bevor sie dann, schon beinahe ausser Atem, Perron drei erreichte und Schirm, Käfig samt Katze und sich selbst auf der glücklicherweise leeren Sitzbank abstellen und für zwei Minuten etwas ausruhen konnte.

Die wenigen Leute, denen sie begegnet war, hatten sie angestarrt, als ob sie eine Tierquälerin, Katzenräuberin, -entführerin wäre, denn Luna miaute wie eine Geschlagene, Gemarterte, Gefolterte herzerweichend und Mitleid erregend ununterbrochen, erbärmlich laut und klagend.

Melodys Sportschuhe, der untere Teil ihrer Jeans waren durchnässt, und obwohl sie durch die Anstrengung schwitzte, erschauderte sie, denn sie hatte die herrschende Eiseskälte unterschätzt und sich zu wenig warm angezogen.

Trotzdem schaffte sie es.

Und zum Glück hatte sie ihre Kreditkarte nicht vergessen.

Denn es kostete Fr. 283.85.

Teuer.

Doch sie liebte Luna.

Und die Metagogik musste warten.

Denn Luna war wichtiger im Moment.

Auch mittelfristig.

Wie konnte Melody so etwas denken: Falls sie wirklich ein Buch über Merapi und dessen Metagogik schreiben wollen wollte, müsste sie andere Prioritäten setzen:

Metagogik VOR Katze.

Katze VOR Haushalt.

Haushalt VOR Ordnung.

Genau: Ordnung käme zuletzt.

Zuallerletzt:

Metagogik hundert Prozent.

Ordnung null Prozent.

02.04.2023

Erstes Interview.

Dennoch wollte Melody nun das erste Interview vorbereiten.

Denn ein Gespräch ohne entsprechende Vorarbeit führte selten zum erhofften Ergebnis – wie sie selbst mehrfach erlebt hatte.

Also: Was wollte sie von Hugo Merapi zuerst erfahren?

Eigentlich ging es um zwei Dinge: Biografie und Kunst.

Merapi und Metagogik.

Und was zuerst war.

Eine überflüssige Frage: Ohne Merapi gäb’s seine Metagogik nicht, ohne Metagogik würde sie mit ihm kein Interview durchführen.

Die Fragen müssten sich also hauptsächlich auf sein Kunstwerk konzentrieren, Biografisches wäre eher nebensächlich.

Die erste Frage könnte also lauten, aus welchen – drei, vier, fünf? – Gründen er sein Werk «Metagogik» genannt habe.

Wie er diese Wortschöpfung definiere. Ob er diese auch als «geniale Idee», wie das eine ihrer Kolleginnen getan hätte, betrachte.

Wann das etwa gewesen sei und wie er auf diese Idee gekommen wäre.

Wie seine Anfänge ausgesehen hätten.

Auf welche Weise er seine Ideen weiterentwickelt und habe und wo, wie, wie lange er am Anfang gearbeitet habe.

Ob er noch andere Ideen verfolgt hätte.

Was seine Anfangsziele gewesen seien.

Ob er schon von Anfang an mit anderen über seine Metagogik gesprochen habe.

Wann ihm bewusst geworden sei, dass es sich bei seinem Werk auch um ein Kunstwerk, ähnlich wie bei Emma Kunz, handeln könnte.

Auf welche hauptsächlichen Schwierigkeiten er bei der Weiterentwicklung der Metagogik gestossen sei.

Wie andere Leute, denen er sein Werk habe erklären wollen, reagiert hätten.

Welche Rolle die Metagogik, wenn er auf sein bisheriges Leben zurückblicke, gespielt habe und noch immer spiele.

Ob er jemals daran gedacht habe, die tausende Stunden umfassende Beschäftigung mit seinem Werk könnte sinnlos verschleuderte Lebenszeit gewesen sein und dass er mit diesem riesigen, jahrelangen Einsatz anderes, Besseres hätte erreichen und was das denn hätte gewesen sein können.

Was er von ihrem Buchprojekt halte, ob er nicht denke, es wäre besser, wenn er selbst ein Buch schriebe, das dann wirklich Wort für Wort und Bild für Bild das beinhalte, was er sich optimalerweise wünsche.

Wie oft und intensiv er gegenwärtig an der Metagogik arbeite.

Ob ihm die Beschäftigung mit der Metagogik nicht manchmal verleidet sei.

Was die Metagogik den Leuten, die sich mit ihr beschäftigen und auseinandersetzen und die einzelne Elemente des Werks betrachten und analysieren würden, bringen könnte.

Ob er schon daran gedacht habe, aufzuhören mit der Metagogik.

Und was er von Trump und den USA halte.

Hier musste Melody das Fragenstellen unterlassen, denn sie hatte bemerkt, dass es Luna in keiner Weise besser ging und sie unbedingt, laut der Tierärztin, so schnell wie möglich nach Oberentfelden in die Tierklinik zur Ultrabeschallung ihres Herzens gebracht werden müsste, um abzuklären, ob sie eine Blasensteinoperation überhaupt überleben können würde.

Also hatte Luna trotzdem Priorität.

Zudem war sie sehr verständnisvoll und hilfsbereit: Sie umschmeichelte Melody, wenn sie ihre zwei Medikamente vom Bücherregal hinüber auf den Wohnzimmertisch legte, die Kapselpackung, die Leberwurst-Creme-Packung öffnete, deren Inhalt, den die Katze bisher immer verschmäht hatte, auf einen farbigen Bopla-Kaffeetassenunterteller hinausdrückte, eine Medikamentenkapsel öffnete, das feine Kügelchenpulver über den Nahrungsbrei verstreute, mit einem Kaffelöffel vermischte und Luna ohne zu zögern mit ihrer rauen Katzenzunge den Löffelinhalt scheinbar genüsslich aufleckte, bis nichts mehr vorhanden und auch der Bopla-Teller vollkommen blank und sauber war, als ob dieser gerade aus dem Geschirrspüler herausgeklaubt worden wäre.

Und um zeigen zu können, ob es ihr und ihrer Blase schon besser gehe, verrichtete sie ihre Geschäftchen weiterhin ausserhalb des Katzenklos innerhalb der grossen Plastikbox, die verhinderte, dass sich einzelne Katzenstreuholzpellets im Bereich von Korridor und Wohnzimmer verteilen konnten, so dass für Melody auf den ersten Blick ersichtlich war, wie tiefrot, hellrot oder gar-nicht-mehr-rötlich Lunas gepinkelte Flüssigkeit war.

Und am Sonntagabend stand fest: Leichte Besserung…

Doch wahrscheinlich nicht genug.

Sie würde am nächsten Morgen die Tierärztin konsultieren.

Und schon mal den öV-Fahrplan: Turgi-Oberentfelden-retour.

03.04.2023

Erstes Beispiel.

Irgendwo müsste es sein, das Beispiel.

Denn beim Herumwühlen, Herumsuchen, beim Öffnen von Schachteln, Kisten, Boxen, Ordnern war ihr dieses Klarsichtmäppchen aufgefallen, ohne dass sie es geöffnet hätte.

Und, daran erinnerte sie sich ganz genau: Sie hatte es wieder dorthin zurückgelegt, wo sie es gefunden hatte.

Doch wo war es?

Wo?

Und weil sie es sich in den Kopf gesetzt hatte, dieses Beispiel als erstes zu beschreiben, begann sie überall dort, wo sie es zurückgesteckt gehabt haben könnte, die Papier-, Ablagemäppchen und vollen C4-Briefumschlagstapel zu durchforsten, zuerst im Wohn-, dann in Heidns ehemaligem Schlaf- und Arbeitszimmer und schliesslich oben in der Galerie rings um den Arbeitstisch neben dem Bett sowie den Tisch beim grossen, halbrunden, zwei Meter hohen Dachfenster.

Und jetzt läutete Melodys Smartphone.

Irgendwo hatte sie es abgelegt, bevor sie mit der Suche nach dem Metagogik-Mäppchen begonnen hatte.

Endlich, nachdem das Vogelgezwitscher, das sie ausgewählt hatte, um den hier im Agglo-Dorfzentrum wahrscheinlich seit mehreren Jahren herrschenden «stummen Frühling» ein wenig zu kompensieren, schon lange verstummt war, entdeckte sie es unter der gestrigen Ausgabe der Aargauer-Zeitung, die nun neuerdings auch noch den Kanton Solothurn abdeckte und die sie aus Versehen auf ihr hauptsächliches Kommunikations- und Social-Mediagerät gelegt hatte, um Platz zu machen für einen der zahlreichen Stapel, die sie zum Zweck der genaueren Überprüfung auf auf dem grossen Wohnzimmertisch ablegte.

Aha, die Kleintierpraxis.

Sofort rief sie zurück und erfuhr den Luna-Katzenherz-Ultraschall-Termin in der westaargauischen Tierklinik:

Morgen, 15.00 Uhr.

Schon morgen also?

Schnell die SBB-Fahrpläne und die Google-Earth-Karte konsultiert:

Abfahrt in Turgi 14:08, Umsteigen in Lenzburg, nach 6 Minuten mit der S28 bis zur Station «Muhenstrasse 56, Oberentfelden» um 14:49 Uhr, dann 744 Meter Fussweg Richtung Zofingen:

Eine «halbe Weltreise» – mit einem vollen Katzenkäfig…!

Das würde auch bedeuten: Mindestens zehnmal die Box von links nach rechts und von rechts nach links zu wechseln, nicht nur, falls es, was sie nicht hoffte, regnen würde…

Also rief sie ihre Mutter in Rothrist an, die zufälligerweise nicht am Arbeiten, sondern am Herumhängen war, denn Hausarbeit galt und gilt ja hierzulande noch immer und sicher noch lange als arbeitsfreie, vorwiegend weibliche Freizeitbeschäftigung und als Hobby, an dem halt nur Frauen ihre helle Freude haben.

Und nach anderthalb Stunden konnte Melody erleichtert ihre Metagogik-Mäppchen-Suche wieder aufnehmen:

Ihre Mutter würde sie und Luna morgen um 14 Uhr abholen, in die Tierklinik fahren, sie zurückbringen und mit ihr danach gemeinsam das Abendessen zubereiten und einnehmen.

Cool!

Und nun zum Merapi-Mäppchen.

Und diesmal läutete die Wohnungsglocke.

Der Nachbar war’s, der ein persönliches Problem besprechen wollte, nicht, weil er gewusst hätte, dass sie eine universitär ausgebildete Psychologin war, sondern weil er mit Heidns Sohn zu reden beabsichtigte, der nun aber in der Nähe von Hamburg weilte, so dass ihm nichts anderes übrig blieb, als mit Melody vorlieb zu nehmen, was er jedoch ohne Weiteres tat, denn diese hatte ihn spontan zu Tee, Kaffee und / oder veganem Ostercake eingeladen.

Worauf sich eine spannende Konversation entwickelte.

Ohne den geringsten Metagogik-Bezug.

Denn wüsste jemand von Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, was «Metagogik» auf Englisch heisst?

Spiegel spiegeln das Gespiegelte als gespiegelte Spiegelung x-fach gespiegelt.

04.04.2023

«Regie im Kopf».

Das Klarsichtmäppchen hatte sich auf der Rückseite eines Bilderrahmens befunden, der in einem Stapel von Zeitungsausschnitten, A4-Kopien, Zeitschriften, Magazinen, Zeichnungen, Notizblättern, Katalogen, A4-Kartons etc. steckte, den Melody bereits einmal vergeblich untersucht hatte.

Wie sie nachträglich feststellte, hatte sie die rund 30 Zentimeter hohe Papierbeige relativ sorgfältig Element für Element ab- und gleich daneben wieder aufgebaut – jedoch dabei die vertiefte Rahmenrückseite nicht beachtet und so die in dieser Vertiefung liegende C4-Klarsichtmappe übersehen.

Doch am Abend, beim nochmaligen Durchstöbern aller in Frage kommenden Stapel hatte sie die «Metagogik»-Blätter nach nur zehn Minuten entdeckt und sich dabei die selbstkritische «Wie-blöd-bin-ich-eigentlich»-Frage gestellt.

Denn sie musste sich eingestehen, dass Heidns jahrzehntelang systematisch betriebenes, gelebtes und gewohnheitsmässig und nicht unabsichtlich produziertes Durcheinander während ihrer Beschäftigung mit diesen aus dieser unkontrolliert-archaisch-wilden und haarsträubenden Arbeitsweise entstandenen unglaublichen Chaos-Archiv-Tsunamis bei ihr selbst offenbar gewisse Spuren hinterlassen haben mussten:

Sie erinnerte sich, dass sie bis vor zwei Jahren alle ihre Kleidungsstücke sorgfältig zusammengefaltet und in den Schubladen aufbewahrt oder in Reih und Glied im klinisch sauberen Kleiderschrank an Kleiderbügeln aufgehängt, nicht virtuelle Briefe, Dokumente, Texte, Tabellen, Grafiken, Fotos etc. übersichtlich alphabetisch geordnet oder durchnummeriert in neuen Ordnern, Archivschachteln oder Fächern abgelegt und ihren Laptop stets vorbildlich, nachvollziehbar, nach logischen Kriterien und clean aufgeräumt hatte, so dass sie auf Anhieb alles, wonach sie gesucht, auch gefunden hätte, während sie sich heute immer wieder dabei ertappte, all das, was sie früher automatisch sofort am richtigen Ort verstaut, ver- und entsorgt, gelagert oder aufbewahrt hätte, heute aus-den-Augen-aus-dem-Sinn-mässig irgendwo hin- oder in eine Ecke zu schmeissen, hineinzustopfen, auf einen Schrank zu werfen oder in irgendeinen zufälligerweise aufgetauchten Ordner zu speichern, in der Annahme, sie würde die richtige Aufräumarbet auf jeden Fall dann nachholen, «wenn sie dazu Zeit hätte», was natürlich nie, einfach NIE-NIE-NIE der Fall war.

War sie nun erwachsen geworden oder etwa an einem schweren, unüberwind-, unkorrigier- und nicht wiederherstellbaren phlegmatischen Gleichgültigkeits-, Unordentlichkeits- und typischen Messisyndrom erkrankt?

Oder arbeitete sie einfach zuviel?

Das konnte kaum der Fall sein – denn erst, seit sie sich mit dem Heidn-Archiv beschäftigte, verbrachte sie immer mehr ihrer Arbeitszeit mit Suchen.

Und zwar nicht mit der Suche an oder nach sich.

Sondern jener nach Schlüsseln, Verlegtem, Vergessenem, achtlos Hingeworfenem, Kreditkarten, Smartphones, Terminen, Geschenken, Kugelschreibern, Scheren, Pässen, Verträgen, Einmaligem, nach Ringen, Erinnerungen, Gefühlen, Gedanken, Worten, endgültig und definitiv Verlorenem…

Und was sollte der Titel?

Ach ja – wie hatte sie das vergessen können:

Das erste von Hugo Merapis Metagogik-Blättern befasste sich mit der «Regie im Kopf»:

«REGIE

IM KOPF

WORAUS

heraus

WORAUF

hinaus

WORIN

sich’s dreht

WORUM

herum

MENTAL

REGIE»

05.04.2023

Erster Besuch.

Heute besuchte Melody Merapi zum ersten Mal.

In Zürich. Im Englischviertel.

Bis am 31. März 2023 hatte er in einem vornehmen Zürcher Pflegeheim gewohnt, wo er sich von seinen schweren Sturzverletzungen hatte erholen können.

Und seit genau viereinhalb Tagen logierte er nun in einer frisch renovierten Zweiundzwanzig-Quadratmeter-Einzimmerwohnung mit neuem Badezimmer und neuwertig-modernem Balkon.

Und einem Blick auf eine Riesentanne, einige Gartenelemente und zahllose Dächer.

Denn das Appartement befand sich oben im dritten Stock, war nur mit Treppen erreichbar, achtmal treppauf-treppauf, den schmalen, mit schwarzem Läufer bedeckten Korridor entlang bis zu Nummer zwanzig auf der rechten Seite, erste Türe, zweite Türe geöffnet und schon stand man im nicht sehr geräumigen Wohnzimmer, das man wieder auf die gleiche liftlose, sportliche, achtmalige trepp-ab-trepp-ab-Weise verliess.

Wer hier zu Hause war, hatte nur wenige Möbel:

Erstens null Aufzug.

Zweitens wenig Platz.

Drittens noch weniger Einkommen.

Dafür eine kleine Kochnische, einen alten, frisch gestrichenen Einbauschrank aus den Fünzigerjahren, eine vornehme Glas-Schnörkeltüre als Entrée vom Ein-Quadratmeter-Vorraum in den siebzehn Quadratmeter grossen Wohn-, Ess-, Schlaf- und Arbeitsraum mit neuem, holzgemaserten Kunststoffboden, sehr weissen Wänden, sehr weisser Decke, an der eine an mehreren aus einem Loch quellenden, verschiedenfarbigen Stromkabeln befestigte Glühbirne baumelte.

1 weisses Kunststoffbett, 1 weinfarbenes Nachttischchen, 2 alte Holztische mit schön geschwungenen Tischbeinen, 3 plastikgepolsterte Metallstühle, ein grosser, goldgerahmter Spiegel und ein riesiger Spiegel-Schiebetür-Kleiderschrank bildeten das auf den ersten Blick erkennbare Anti-IKEA-Interieur:

Klein, aber fein.

Und Melody durfte sich, nach der Begrüssung, setzen.

Ob sie einen Kaffe oder Tee möchte.

Er sei der Hugo und freue sich, dass sie erstens zu ihm in seine neue Wohnung gekommen sei – sie sei übrigens der erste ausserfamiliäre Besuch – und zweitens, dass sie ein Buch über ihn und die Metagogik schreiben wolle.

Er fühle sich geehrt.

Freue sich auf die Zusammenarbeit.

Hoffe, dass das Buch ein Erfolg werde.

So sehr, dass er sich, und das müsse er ihr wirklich zuerst erzählen, vorgestellt hätte, er würde durch ihr Buch eine bekannte VIP-Persönlichkeit, worauf er sich kurzerhand entschlossen hätte, zwei nigelnagelneue Hemden zu kaufen – speziell modisch geschnittene und sehr teure – um jederzeit bereit zu sein für jegliche Fernsehinterviews, Talkrunden und TV-Shows.

Diese Hemden, die er auf einer Einkaufstour in der Bahnhofstrasse irgendwo in einem teuren Laden für über 200 Franken gekauft hätte, habe er in seinem Rucksack verstaut, den er danach in irgendeinem anderen Geschäft irgendwo abgestellt hätte, diese Wahnsinnshemden also müssten darauf irgendwie, irgendwann, irgendwo unbemerkt herausgefallen sein, so dass sie, als er deren Verlust endlich-endlich, wahrscheinlich nach über einer halben Stunde, festgestellt und dann den Laden ein zweites Mal aufgesucht hätte, unterdessen von irgendjemandem mitgenommen worden sein könnten und sich nun irgendwo in der näheren oder ferneren Umgebung befänden, einfach nicht mehr bei ihm, wahrscheinlich zu Hause bei einem skrupellosen Dieb, der jedoch offensichtlich immerhin über einen sehr guten Hemdengeschmack verfüge.

Das habe er ihr einfach erzählen wollen zur Illustration seiner grossen Erwartungen, die, das sähe er inzwischen ein, tatsächlich vollkommen unrealistisch und übertrieben gewesen seien.

Das Verschwinden dieser zwei tollen Hemden hätte ihn natürlich sehr beschäftigt und mitgenommen, denn er sei sonst normalerweise immer in allem und jedem ausgesprochen exakt, zuverlässig, wenn nicht pingelig.

Übrigens habe er die Absicht, an der Wand oberhalb des Bettes 3 grosse Spiegel aufzuhängen, die dann, weil sich diese in den Spiegeln des Wandschranks spiegeln würden, den Raum wesentlich grösser erscheinen lassen würden, als er mit seinen 22 Quadratmetern tatsächlich sei. Ob sie denke, dass das eine gute Idee wäre.

Ja, antwortete Melody, das sei sicher so, dass der Raum dann grösser wirke.

Was sie denn von der Wohnung und der Wohnlage halte.

Da sie lange in der Nähe der Station Stadelhofen in einer WG gewohnt und an der Uni studiert hätte, kenne sie das Englischviertel einigermassen – das sei eine ruhige, eher «gehobenere» Wohngegend. Wie er überhaupt zu dieser Wohnung gekommen sei.

Das sei pures Glück gewesen. Der Eigentümer habe ihn aufgrund seiner Bewerbung und zwei, drei Gesprächen ausgewählt – er habe sich nur um diese Wohnung bemüht – und schon habe es geklappt – erstaunlicherweise.

Was sie denn koste, die Wohnung, wenn sie fragen dürfe.

Da das Appartementhaus 28 Kleinwohnungen aufwies, berechnete Melody auf die Schnelle die ungefähren Brutto-Jahreseinnahmen des Vermieters – unter der sicher zutreffenden Annahme, dass sämtliche Wohnungen während des ganzen Jahres vermietet wären, denn die Wohnungsnot sei gewaltig in Zürich, und viele würden überrissene Mieten verlangen, da ja allein der Markt den Preis bestimme.

Wer dieses Gebäude besitze, habe definitiv ausgesorgt: Der Besitzer kassiere jährlich rund 400'000 Franken! Ziehe man davon die Unterhalts-, Hypothekar- und Verwaltungskosten ab, würden bestimmt über 300'000 Franken übrigbleiben – also eine gewaltige Summe, die ihres Erachtens vollkommen ungerechtfertigt sei! – Von der Wohnungsnot würden viele Leute unangemessen viel profitieren, was doch eine grosse soziale Ungerechtigkeit sei. Was er persönlich denn davon halte.

Ja, das sei so. Andererseits sei er natürlich sehr froh, dass er überhaupt diese Wohnung gefunden hätte und der Eigentümer ausgerechnet ihn als AHV-Bezüger und Pflegeheiminsassen aus den dutzenden Bewerberinnen und Bewerbern ausgewählt hätte: Der habe damit gezeigt, dass er nicht nur an den Profit denke, sondern auch eine soziale Ader habe.

Nach rund zwei Stunden war Schluss.

Fazit: Ein vielversprechender Start.

06.04.2012

Karfreitag.

Merapi hatte dann Melody noch bis an den riesigen Kreuzplatz begleitet, wo sie im Migros auf der gegenüberliegenden Seite, wofür sie vier Zebrastreifen und zwei Tramgeleise überqeren mussten (!), etwas zu essen kauften:

Wenn Merapi mit seinen alle Aspekte berücksichtigenden und erfassenden Metagogik-Fragen komplexe Gesamtsituationen analysieren, in sämtliche Einzelteile zerlegen und bis zur abschliessenden Entscheidungsfähigkeit aufbereiten konnte, wie konnte er da in diesem konkreten Fall die Seite der Tiere, der jungen Hähne, ausklammern, die unter unglaublich brutalen Umständen fliessbandartig irgendwo im Ausland – hier aufgrund der Beflaggung offenbar sogar in der Schweiz – auf ausgesprochen tierquälerische, robotermässig-emotionslos-perverssadistische Weise abgemurkst worden waren?

Aber natürlich: Wenn sie etwas vermeiden wollte, dann war es das, was allen den sich vegan Ernährenden stets und ständig vorgeworfen wurde:

«Hör auf zu missionieren!»

Denn diesem Grundsatz stimmte sie hundertprozentig zu – der auf purstem Machtdenken basierende imperialistisch-religöse Missionierungswahn der vergangenen Jahrhunderte hatte hunderte Millionen Menschenleben gekostet.

Weshalb sie auch nichts zu Merapis Fleischeslust sagte.

Ausser, dass sie selbst lieber verhungern als so etwas essen würde.

Zu Hause hatte sie dann wieder die Realität eingeholt:

Luna hatte erneut eine kleine Blutlache hinterlassen, die Tierärztin einen Operationstermin für nächsten Mittwoch reserviert, dem, da laut der Ultraschalluntersuchung keine Herzkrankheit vorlag, nichts mehr im Wege stand, ausser dass sich Heidns Sohn als Lunas «Eigentümer» mit der OP einverstanden erklären musste, was Melody sofort via «telegram» einzuholen versuchte.

Und statt die Ostertage, wie vorgehabt, in Paris zu verbringen, würde sie nun zu Hause bleiben und mit Ekaterina zusammen ihre Mutter am Sonntag in Rothrist besuchen, denn Luna benötigte morgens und abends ihr Antibiotika-Medikament, um die Entzündung der Blaseninnenwände in Grenzen zu halten.

Ausserdem wollte sie mit Ekaterina wieder einmal lange Pausen des Nichtstuns einlegen, einfach Herumhängen, das Leben, die Liebe, die Freuden des Beisammenseins geniessen.

Einfach sein.

Null Stress.

Erholung pur.

Mit einigen Prisen Sport, Gymnastik, Yoga.

11.04.2023

Regeneriert!

Wow! Diese Osterpause hatte Melody gutgetan!

So dass sie am Osterdienstag voll motiviert war, dort weiterzufahren, wo sie am Karfreitag aufgehört hatte.

Selbstverständlich erst, nachdem sie die Katzen versorgt, die Katzenklos und die Küche erledigt, das Bett gemacht, eingekauft und ein wenig aufgeräumt hatte.

Denn das hatte sie sich vorgenommen: Eine gewisse Ordentlichkeit musste sein – sie wollte fortan so wohnen, dass nicht jede einzelne Suche automatisch zu einer nach der Nadel im Heuhaufen werden würde…

Als erstes machte sie einen Besuch in Heidns ehemaligem Atelier, dessen Mietkosten von 307 Franken noch immer aus Heidns Bankkonto – dank Dauerauftrag – pünktlich auf Monatsende überwiesen wurden. Offenbar hatten die Steuerbehörden Heidns Tod noch immer nicht abgeschlossen und ad acta gelegt, so dass der so schändlich hinterrücks Umgebrachte auf virtuell-finanzielle Weise immer noch, zweieinhalb Jahre nach dessen Tod, weiterhin aktiv und als seine-Mietrechnungenzuverlässig-bezahlender-Mieter existent war.

Nach 77 Treppenstufen erreichte sie den vierten Stock und den 40 Meter langen DDR-mässigen Korridor mit den beidseitigen rund zwanzig Ateliers und Büroräumen.

Sie begegnete niemandem, obwohl es bereits halb acht Uhr an einem gewöhnlichen Arbeitstag war: Das Ende der Osterferien schien hier in der alten Spinnerei in Turgi noch nicht angekommen zu sein.

Bevor sie sich auf die Suche nach konkreten, typischen Merapi-Metagogik-Beispielen machte, die hier natürlich zuhauf vorhanden waren, knipste sie mit ihrem hochauflöslichen Smartphone einige Fotos von ebendiesen Archivbergen, die sie dann eventuell irgendwo in ihrem Buch unterbringen können würde.

Die Ausbeute dieses Ausflugs, zwei Ordner, «Metagogik 41» und «Metagogik 98» sowie einen 15 Zentimeter hohen A4-«Skriptogogik»-Skizzen-Papierstapel überprüfte sie danach, um sich einen Überblick zu verschaffen, am grossen Wohnzimmertisch in Heidns Dachwohnung nach den Kriterien «aufschlussreich 1-5», «aussergewöhnlich 1-5» und «unbedingt 1-5», was in Bezug auf ihre Entscheidfindung, was sie berücksichtigen wollte und was nicht, doch ziemlich hilfreich war.

«Wissen

Tut er’s schon

Aber

Er fühlt es

Nicht mehr»

war der Inhalt des obersten Papierbeigenblatts.

«Wissen ist

Macht

Wissen ist

Für den

Macht

Der etwas

Daraus

Macht»

Melody hatte grosse Mühe, Merapis kunstvoll aussehende Schrift zu entziffern. Schrieb er bewusst unleserlich oder war es die Folge einer

Einschränkung der Feinmotorik?

«Die Wut des Pädagogen

Jetzt erklär ich’s

Bald zum hundertsten Mal

Und es kommt immer noch nicht heraus

Was herauskommen soll

Jetzt muss ich repressiv werden

Wer nicht hören will

Muss fühlen»

Von zehn Texten war eine lesbar. Waren es eigene Kreationen oder Zitate?

«Wohlstands

Verluderung

Wir müssen die

Erfassen

Die verludert sind

Und nicht die

Die sich einfach

Nicht mehr

Wehren können

Weil sie

Ihre materielle finanzielle

Basis verloren haben»

Oder:

Wirkung

Wir können nicht

Nicht wirken

Also wirken wir

Immer

Kaum entzifferbar war für Melody der Schluss des folgenden «Gedichts»:

«Wer

In einem

Funktionierenden

System

Funktioniert

Merkt nichts

Von einer Welt

Ausserhalb

Des Systems

Kein Wunder

Sagt er immer

Kein Problem!»

Die Texte stammten, wie aus einzelnen Zahlen hervorging, aus den Jahren vor 2010, als Merapi begonnen hatte, seine Metagogik zu entwickeln, wie Melody bei ihrem ersten Besuch erfahren hatte.

«Werden Sie

Ein interessierter

Und informierter

Zeitgenosse

Der das Geschehen

Für seine Bedürfnisse

Einordnen kann»

Sie fand es äusserst schade, dass sie bei der Durchsicht all dieser von Hand mit blauem und schwarzem Filzstift geschriebenen und teilweise voll gekritzelten A4-Seiten sehr oft nur in der Lage war, einzelne Satzfragmente herauszufiltern: Merapi hatte sich zu vielem, offensichtlich meist selbst Erlebtem, grundsätzliche, kurzgefasste, auf den Punkt gebrachte, lesens- und publizierungswerte Gedanken gemacht, die sie an Mani-Matter-Song-Texte erinnerten und die, wie sie vermutete, häufig auch mit Situationen am Arbeitsplatz zu tun hatten:

«Versage(r)

Es mag sein dass ich

In den Augenen derer

Die eine Brille tragen

Ein Versager bin

Manchmal weiss ich nicht

Ob sie sogar recht haben

Aber eines weiss ich

Ich habe immer an mir gearbeitet

Und (endgültige) Versager

Tun genau das:

Nicht!»

---

«Was ein Machtmensch

Nicht aus (seinem) Wege räumen kann

Umgeht er eben.

Wie?

- Ignoranz / Ignorieren

- Austricksen

- Verächtlich Machen»

---

«Wenn du dich

Über eine ‘gewisse’ Art

Von Menschen

Ärgerst

Gibst du ihnen eine Macht

Die sie nicht verdienen»

---

Weitere erwähnenswerte Merapi-Kürzesttexte:

«Beim Denken

Ans Vermögen

Leidet oft

Das Denkvermögen»

---

«Wie muss sich

Ein Mensch fühlen

Wenn er glaubt

Er könne eigentlich alles

Aber nur nicht gerade

Jetzt!!»

---

«Widerspruch

Es gibt Leute

Die suchen immer

Nach Widersprüchen

Um dann den Widersprüchen

Zu widersprechen

Man kann auch sagen

Sie hätten

Eine ganzheitliche Art

Mit Widersprüchen umzugehen»

---

«Wer seine Augen

Auf Weit stellt

Sollte zumindest daran denken

Dass dabei

Das Naheliegende

Übersehen wird»

---

«Wenn

Unser Leben nicht gelingt

Dann liegt es nur an uns

Warum?

Weil wir positiv denken

KÖNNEN

Aber

Nicht

MÜSSEN»

---

«Die ganze Wahrheit

Sagt dir keiner

Was ein Beweis

Dafür ist

Wieviel Weisheit

Selbst im angeblich

Dümmsten Menschen steckt»

---

«Verrückung

Der menschliche Geist

Ist normalerweise

Justiert auf diese Welt

Aber es kann

Vorkommen

Dass wir mit dieser Welt

Nicht zurechtkommen

Dann gibt es die

Möglichkeit

Sich zu ver-rücken

In eine andere

Welt

Verrückt zu werden

Eben»

---

«Verletzungen

Meine Vergangenheit

Hat Spuren und Narben hinterlassen

Ich werde damit leben

Meine Narben werden mir

Noch manches Mal weh tun

Ich werde mich pflegen

Wenn ich kleinmütig bin

Besehe ich meine Narben

Und denke

Siehst du

All das

Hast du über-lebt»

---

«Verträge

Merkformel:

Wer

Will

Was wo

Von wem

Bis wann

Und

wieviel an

Leistung gegen

Geld»

---

«Ich kann

Nichts

Verstehen

Was ich nicht

Selbst erlebt habe

Das ist der Grund

Warum ich nichts

Von Leuten halte

Die abschätzig

Von Vergangenheits-

Bewältigung reden

Und schreiben»

---

«Was wir verstehen

Nimmt Dingen

Und Menschen

Den Zauber

Und ist so

Für den menschlichen Geist

Und dessen Seele

Als Quelle der Inspiration

Versiegt»

---

Melody war überrascht, erstaunt, berührt, wie feinfühlig, mitfühlend, tiefgründig-zärtlich er Probleme mit wenigen Worten beschreiben, auslegen, definieren und analysieren konnte.

Und mittendrin in dieser Vielfalt und Menge fand sie eine Skizze, auf der einige Grundelemente der Metagogik festgehalten waren:

Die mit Bleistift geschriebenen und umkreisten Fragewörter «was, wer, warum, wie, wo, wann».

Tatsächlich: Melody hatte zufälligerweise den richtigen Blätterstapel mit nach Hause genommen!

Die Mittagspause hatte sie sich nun redlich verdient.

11.04.2023

«Metagogik 41».

Am Nachmittag hatte Melody nichts anderes vor, als sich Merapis nach Hause gebrachten Ordner «41» vorzuehmen, der den Titel trug

«Weil Sie der Frage nachgehen möchten, wollen, können, dürfen, sollen, müssen, wer sich durch welchen Glücksfall dem Bannkreis bisheriger Such-Strategien entziehen möchte, will, kann, darf, soll, muss».

Natürlich versuchte sie, dem Inhalt dieser mit den verschiedenen Modalverben beliebig veränderbaren, kompliziert aufgebauten deutschen Satzkonstruktion auf den Grund zu kommen.

Den Begriffen «Bannkreis», «Glücksfall», «Suchstrategien» und den damit offensichtlich vorhandenen Verknüpfungen.

Sich mögliche konkrete Situationen vorzustellen, die eine – welche Funktion ausübende? – Person veranlassen könnte, einen derartigen Problemkreis zur Sprache zu bringen.

Welche Anlässe Merapi dazu gebracht haben könnten, auf der Metaebene diese Frage zu stellen und zudem als Titelblatt dieses Ordners zu verwenden.

Exakt 50 Klarsichtmäppchen, die je zwei farbig bedruckte A4-Blätter enthielten, füllten den weiss plastifizierten Ordner perfekt, dessen Grösse offenbar von der Büromaterialien produzierenden Firma genau für diese Menge berechnet, designt, hergestellt und vertrieben worden war und der auch eine Rückseite aufwies, die ein weiteres, Merapis abschliessendes «Metagogik»-Werk, enthielt:

«Weil Sie der Frage nachgehen möchten, wollen, können, dürfen, sollen, müssen, wer mit welchen Treibern welchen Bogen über welches Thema spannen möchte, will, kann, darf, soll, muss».

Hier lauteten die Schlüsselbegriffe «Treiber», «Bogen» und «Thema», die Melody an Reportagen, literarische Texte, Ereignisse jeder Art erinnerten, wobei ihr nicht ganz klar wurde, was Merapi hier mit der Bezeichnung «Treiber» hätte gemeint haben können:

Software-Treiber?

Treiber in einer Treibjagd?

Eine Person, die eine getriebene Person zum Getriebenwerden treibt?

Eine Person, die sich, bedingt durch ihren psychischen Zustand, selbst irgendwohin «treibt»?

Sie würde Merapi respektive Hugo beim nächsten telefonischen Kontakt darauf ansprechen.

Falls der Ordnerinhalt keine befriedigenden, nachvollziehbaren Erklärungen liefern würde.

Und siehe da:

Schon das erste Blatt lieferte einen Teil der Antwort:

«Journalismus» und dessen Fragestellungen zur objektiven und subjektiven Erfassung der Realität, der Wahrheit, der Gegebenheiten.

Die folgenden Blätter befassten sich mit den «verborgenen Strukturen der deutschen Sprache, … warum ich wann, wo, wie … mit allen Sinnen erfragen möchte, will, kann, soll, darf, muss: Wer bin ich? Was ist das?», den «strategischen, taktischen, operativen und den nicht gestellten Fragen», dem Zusammenhang zwischen «spielerischem Denken und dem etwas «mit allen Sinnen Erleben-Können, Sollen, Wollen, Müssen, Dürfen…»

Und dann, auf Seite 6, die «Treiber»-Definition!

Die einen sind die W-Wörter, die andern die «Aussageweisen», das heisst die sechs Modalverben «mögen, wollen, können, dürfen, sollen, müssen», die in Merapis Metagogik zu den Treiber-Hauptrollen gehören und offensichtlich dazu dienen, sämtliche denkbaren und möglichen Perspektiven und Ebenen einnehmen zu können.

Während Melody einen Verveine-Tee konsumierte, stellte sie sich verschiedene Fragen, die sie später mit Merapi besprechen wollen würde:

Nach welchen Kriterien war sein riesiges Werk aufgebaut?

Bildeten die «Metagogik»-Bände 1 bis mindestens 98 eine logisch, folgerichtig und wissenschaftlich aufgebaute Reihe, die schlussendlich zu einem abgerundeten und übersichtlichen Gesamtergebnis führte?

Wollte er in erster Linie eine Art Lehrmittel für Erwachsene schaffen oder stellte das Ganze doch eher ein Gesamtkunstwerk dar, mit dessen Hilfe und Aussagen er sich und der Welt alle Zusammenhänge, Abhängigkeiten und Verknüpfungen des Lebens bis in die kleinsten Verästelungen erklären wollte?

Hatte er alles und jedes einzelne Blatt ganz allein erschaffen oder gab es Themen, bei deren Bearbeitung ein aus mehreren Köpfen bestehendes Team beteiligt war?