Der Fluch des Feuerdrachens 2 - Felicitas Nicole Schwarz - E-Book

Der Fluch des Feuerdrachens 2 E-Book

Felicitas Nicole Schwarz

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Beschreibung

Die Welt scheint vergessen zu haben, dass sie aus dem Blut von Drachen geboren wurde. Die Drachen jedoch haben niemals vergessen. Wenige Monate in den Reihen der Armee von Calisira reichten aus, um Samantas Welt ins Wanken zu bringen. Bei ihrer Rückkehr liegt ihr Leben in Trümmern und dunkle Mächte bedrohen das Königreich. Sie begibt sich deshalb auf eine Reise in die Hauptstadt. Begleitet wird sie dabei ausgerechnet von Hauptmann Gerrit Southlake, der am meisten mit ihrer wahren Identität hadert. Während sie versuchen, die Geheimnisse der Drachen zu enträtseln, gerät Samanta in ein uraltes Geflecht aus Geheimnissen, Intrigen und Mysterien. Niemand ahnt, dass die größte Bedrohung tief in ihrer Vergangenheit verborgen liegt. Zweite Band der Drachenfluchsaga Band 1: Verrat (erschienen im Januar 2024) Band 3: Verlust (erscheint im Sommer 2024)

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Zweiter Band der Drachenfluchsaga

FÜR ALLE, DIE DEN PREIS DES SCHWEIGENS KENNEN …

… und verstehen, dass Vertrauen und Verrat oft in den gleichen Schatten tanzen. Möge euer Mut das Licht der Wahrheit entzünden und die Narben der Täuschung heilen.

Inhaltsverzeichnis

Was zuvor geschah …

Der Fluch der Drachen

Anders als früher

Der Sohn des Generals

Qualvolle Erinnerungen

In der Falle

Gefährliche Träume

Des Glücks Ende

Kontrollverlust

Die Befreiungszeremonie

Was zuvor geschah …

Wenige Monate in den Reihen der Armee von Calisira reichten aus, um meine Welt ins Wanken zu bringen. Dabei hätte es eine ganz normale Mission werden sollen: Eine Reise über das unüberwindbare Gebirge in den undurchdringlichen Wald.

Doch schon die Umstände dieser Mission waren rätselhaft. Warum sollte ausgerechnet Baroness Katharina von Freeland vier Mitglieder der berüchtigten Verbrechergilde Kristallmond bei einer Expedition der königlichen Armee von Calisira einschleußen? Besonders da meine Freunde Eolariell, Smith, Pferd und ich nicht wirklich geeignet dafür waren – zumindest ich, die einen merkwürdigen Trank einnehmen musste, um in den Körper eines Mannes zu schlüpfen. Merkwürdige Angelegenheit.

Schon seit Beginn der Expedition begleiteten mich seltsame Visionen von einem brennenden Turm. Nicht einmal Eolariell, der Magier war, konnte sich einen Reim darauf machen.

Aber es war das reinste Abenteuer im undurchdringlichen Wald! Gemeinsam mit dem jungen Hauptmann Gerrit Southlake, der die Expedition anführte, deckte ich die Existenz von Drachen auf und machte sogar einen von ihnen unschädlich. Oder zumindest einen Teil seiner Macht, der einer Waldhexe innewohnte. Um ein Haar hätte sie die gesamte Expedition ausgelöscht. Zum Glück konnte ich diese Tragödie abwenden. Nicht jedoch eine andere. Wenige Tage später starb Joel, ein guter Freund, an den Folgen einer Explosion. Und von da an ging es bergab. Der Hauptmann deckte meine wahre Identität auf. Ich war eine Abtrünnige. Ein Mitglied der Verbrechergilde Kristallmond. Seine Feindin.

Bei unserer Rückkehr lag mein Leben in Trümmern. Ich hatte Freunde verraten, betrauerte den Tod eines Kameraden – und ich ahnte nicht, dass kein Zuhause mehr existierte, in das ich zurückkehren konnte.

Der Fluch der Drachen

Ich erwachte nach einem langen, traumlosen Schlaf. Mein Körper, mein Kopf – sie rebellierten dagegen, aufzuwachen. Doch letztlich schlug ich trotzdem die Augen auf. Wie durch Nebel sah ich an die Decke, auf welcher sich geschwungene Formen abzeichneten. Das Tageslicht blendete mich. Ich blinzelte einige Male. Die Muster an der Zimmerdecke fügten sich zu kunstvollen Ornamenten zusammen. Ich befand mich nicht länger an dem Ort, an dem ich eingeschlafen war. Erschrocken von dieser Erkenntnis fuhr ich hoch. Mein Kopf pochte, die Sicht verschwamm, mir wurde schwindelig.

„Verdammt!“, knurrte ich.

Ich hatte auf dem Weg zurück nach Freeland wohl zu wenig gegessen. Kein Wunder, dass meine Gesundheit darunter litt. Man konnte gegen die geschmacklose Suppe sagen, was man wollte, aber nahrhaft war sie zweifellos. Ich tastete nach der Bettkante und öffnete erneut die Augen. Diesmal blieb ich sitzen, obwohl ich sofort ein starkes Unbehagen verspürte angesichts des Ortes, an dem ich mich wiederfand. Es musste ein Schlafzimmer in irgendeinem herrschaftlichen Gebäude sein. Bett, Beistelltisch und Kleiderschrank waren aus dunklem Holz gezimmert. Goldene Ornamente schmückten sie. Der Raum war mindestens so groß, dass ein Haus hineinpasste. Eine grässliche Blumentapete zierte seine Wände. Vor den Fenstern hingen helle, leicht durchsichtige Vorhänge. Sie versperrten mir den Blick hinaus.

Vorsichtig ließ ich die Füße auf den von Teppich bedeckten Boden gleiten und stand auf. Meine Beine zitterten etwas, trugen mich jedoch hinüber zum nächsten Fenster. Als ich den Vorhang zur Seite zog, blendete mich zuerst das strahlende Sonnenlicht. Dann eröffnete sich mir der Blick auf eine ausladende Gartenanlage. Ich erkannte diesen Ort sofort. Erschrocken stolperte ich zurück und verlor dabei das Gleichgewicht. Erst in letzter Sekunde fand ich Halt an einem Pfosten des Bettes. Wie war ich innerhalb einer Nacht ins Schloss der Baroness von Freeland gelangt?

Hinter mir öffnete sich just in dem Moment die Tür. Sofort war ich wieder auf den Beinen. Ein Mädchen mit schulterlangen, braunen Haaren stand im Türrahmen. Sie war jugendlich, vielleicht sechzehn Jahre alt. Ihre Klamotten glichen meinem eigenen Stil, weshalb ich sie nicht eindeutig zuordnen konnte. Weder mutete sie wie ein Mitglied der Garde von Freeland an, noch wie eine Adelige oder eine Angestellte der Baroness.

„Was ist hier los?“, presste ich hervor.

„Habe ich also richtig gehört“, stellte das Mädchen fest.

Ihre Stimme klang warm und freundlich.

„Es ist alles in Ordnung. Du bist in Sicherheit.“

„Was soll das heißen?“, fragte ich. „Wer bist du? Wie bin ich hergekommen und – warum?“

Angespannt tastete ich nach meinem Schwert. Es hing nicht an seinem Platz an Gürtel. Ich war außerdem bloß in ein Nachthemd gekleidet. Meine Sachen waren nirgendwo zu sehen.

„Ganz ruhig, Samanta!“, sagte das Mädchen und näherte sich mir vorsichtig.

Sie erweckte keinen bedrohlichen Eindruck. Eher im Gegenteil. Trotzdem läuteten alle meine Alarmglocken. Etwas stimmte nicht. Diese gesamte Situation ergab keinen Sinn.

„Die Garde hat dich nach der Zeremonie aufgelesen“, erklärte sie. „Es stand nicht gut um dich. Eolariell hatte die Hoffnung fast schon aufgegeben. Er wird sicher ganz aus dem Häuschen sein, wenn er von deinem Erwachen erfährt.“

Ich blinzelte das Mädchen irritiert an.

„Wovon redest du überhaupt?“, wollte ich wissen. „Ich habe gerade mal ein paar Stunden geschlafen, oder–?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Mehrere Tage“, sagte sie. „Du–“

Was auch immer sie hatte sagen wollen, ging nicht über ihre Lippen.

Sie starrte einen Augenblick lang vor sich auf den Boden, dann sah sie mich an. Ihre Pupillen zitterten. Doch offenbar hatte sie nicht vor, darüber zu sprechen.

„Kannst du dich überhaupt an irgendwas erinnern?“

„Woran soll ich mich denn erinnern?“, fragte ich. Das unwohle Gefühl in meinem Magen verstärkte sich.

„Was passiert hier? Wer bist du? Und was zur Hölle mache ich im Schloss der Baroness?“

Das Mädchen seufzte.

„Ich bin Adrina“, sagte sie. „Adrina Arden, von der Akademie im Westen. Meine Freunde und ich waren zufällig hier, als–“

Sie brachte auch diesen Satz nicht zu Ende. Stattdessen versteinerte sich ihr Blick. Ihr ganzer Körper verkrampfte sich und sie fixierte mich mit hasserfüllten Augen. Ihr Ausdruck jagte mir einen eiskalten Schauer über den Rücken.

„Ich war es“, zischte sie mit einer viel tieferen, furchteinflößenden Stimme. „Ich bin der Grund, weshalb du in diese Lage geraten bist. Du hättest sterben sollen.“

Ich wusste nicht, wie mir geschah. Erschrocken starrte ich Adrina an. Mein Herz raste in meiner Brust. Das Mädchen griff sich im nächsten Moment jedoch an den Kopf. Sie wandte den Blick wieder von mir ab, sah stattdessen auf den Boden, schwer atmend.

„Was –?“, presste ich hervor.

Sie machte eine Geste, die mich zum Schweigen brachte.

„Tut mir leid“, keuchte sie – nun sprach sie wieder mit weicherer Stimme. „Das war nicht ich. Er – ich habe es nicht immer unter Kontrolle.“

Sie brauchte einige Augenblicke, um sich zu beruhigen.

„Ich sollte irgendjemanden Bescheid geben, dass du aufgewacht bist“, sagte Adrina schließlich. „Wer ist dir am liebsten? Eolariell, die Baroness? Smith ist gerade mit Pferd unterwegs, soweit ich weiß. Oder Gerrit?“

Ich kann nicht sagen, was mich mehr beunruhigte: Ihr eigenartiges Verhalten oder die irreale Situation, in der ich mich wiederfand. Eigentlich war es Ersteres, worauf ich sie ansprechen wollte. Doch eine andere Frage entwich wie von selbst meinen Lippen.

„Gerrit ist hier?“ Das Mädchen nickte.

„Er hat dich aus dem Turm gerettet“, antwortete sie. „Seitdem treibt er sich hier im Schloss herum, spricht aber mit niemandem. Vor allem nicht darüber, was bei der Zeremonie vorgefallen ist. Du könntest dein Glück mal versuchen. Vielleicht erzählt er dir ja etwas. Immerhin warst du beteiligt.“

„Was für ein Turm?“, wollte ich wissen.

Das Mädchen stieß ein tiefes Seufzen aus.

„Du erinnerst dich wirklich an gar nichts, oder?“, fragte sie. „Was ist denn das Letzte, was du weißt?“

„Die Jungs und ich haben das erste Basislager vor dem Gebirge verlassen“, antwortete ich. „Wir haben etwa einen halben Tagesmarsch entfernt übernachtet.“

„Verdammt!“, entfuhr es Adrina.

Ich sah sie fragend an, woraufhin sie sagte: „Das ist mehr als zwei Wochen her.“

„Zwei Wochen?“, wiederholte ich ungläubig.

Sie nickte.

„Jemand sollte dir unbedingt erzählen, was seitdem passiert ist“, stellte das Mädchen fest. „Jemand, der dir näher steht als ich – und sich in einem weniger schwierigen Zustand befindet. Also, wem soll ich Bescheid geben?“

Es war mir unbegreiflich, zwei Wochen meines Lebens verpasst zu haben. So sehr ich versuchte, mich zu erinnern, gelang es mir einfach nicht. Ich wusste bloß, dass es unmöglich sein konnte, dass Gerrit sich im Schloss der Baroness aufhielt – mich sogar aus irgendeiner Situation gerettet haben sollte. Er hasst mich. Daran erinnerte ich mich sehr gut.

„Eolariell“, antwortete ich schließlich. „Sag es ihm.“

Es gab Dinge auf der Welt, die außerhalb meiner Vorstellungskraft lagen. Einmal mehr wurde mir diese Tatsache bitterlich bewusst. Eolariell fiel mir weinend um den Hals. Er bezeichnete es als ein Wunder, dass ich am Leben war. Dabei hatte ich nicht mal bemerkt, Gefahr ausgesetzt zu sein. Dass ich dem Tod nur knapp von der Schippe gesprungen war. Aber solche Gefühlsausbrüche beobachtete man nur selten bei ihm. Diese Tatsache genügte, damit ich ihm glaubte. Das bedeutete jedoch nicht, dass ich irgendetwas davon verstand.

„Wir waren bereits mehr als einen Tag vom Basislager entfernt“, berichtete mein Freund, nachdem er sich etwas beruhigt hatte. „Plötzlich tauchten Philip und Johnny auf. Es ging alles unfassbar schnell. Dein Bruder sagte, du seist in Gefahr, und dass ihr untertauchen müsstet. Ich habe ihn noch nie so panisch erlebt. Deshalb haben wir dich mit ihm gehen lassen.“

„Wieso?“, fragte ich. „Was war denn los?“

„Ich weiß es nicht“, gestand Eo. „Phil muss irgendwie von den Plänen der Gilde erfahren haben. Aber er hat nichts davon gesagt.“

„Was für Pläne?“

Ich beobachtete, wie mein Freund sich auf die Unterlippe biss.

„Es geht um die Drachen“, erklärte Eo. „Die Gilde wusste von ihnen.“

Seine Worte überraschten mich. Wir hatten erst vor kurzer Zeit von der Existenz von Drachen erfahren – nämlich als uns eine Waldhexe im undurchdringlichen Wald angegriffen hatte. Sie hatte die Macht eines Drachens genutzt und mich womöglich vor einem Weiteren gewarnt. Mehr wussten wir nicht über sie.

„Anscheinend wurde jedes Land einst von einem wahrhaftigen Drachen bewohnt“, berichtete Eolariell.

Offenbar hatte er bereits Nachforschungen angestellt.

„Calisira war das Herrschaftsgebiet des Feuerdrachens. Allerdings meinte er es nicht gut mit den Menschen. So wie viele anderen Drachen auch. Es muss ein sehr gefährliches Zeitalter gewesen sein. Der Konflikt spitzte sich vor fünfhundert Jahren schließlich zu. Die Menschen erfuhren damals, dass sie die Seelen der Drachen in einzelnen Personen versiegeln konnten. Auf diese Weise verschwanden sie zwar nicht aus dieser Welt, es ging jedoch keine Gefahr mehr von ihnen aus.“

„Wieso erzählst du mir das?“, fragte ich irritiert.

„Du musst es wissen“, sagte er. „Deshalb ist das alles passiert.“

„Was alles?“, drängte ich ihn.

„Die Zeremonie“, antwortete Eolariell.

Aus meinen verwirrten Blick hin erklärte er: „Ich weiß nicht, wie du dort gelandet bist. Philip hat dich jedenfalls nicht zu ihnen geführt. Seine Panik wirkte echt.“

Er konnte mir kaum in die Augen sehen, während er diese Dinge aussprach.

„Auf jeden Fall hat Kristallmond geglaubt, der Feuerdrache wäre in dir versiegelt, Samanta. Als Smith, Pferd und ich mitten in den Freewoods auf die Garde stießen, wusste Emil Kaaden sofort, dass du in Lebensgefahr schwebtest. Die Baroness hatte ihn nicht über die Drachen eingeweiht, aber den ausdrücklichen Befehl erteilt, die Gilde aufzuhalten. Kristallmond plante bereits seit Monaten eine Zeremonie, um die Seele des Feuerdrachen aus dir heraus zu holen. Und Baroness Katharina wusste, dass ein Mensch diese nicht überleben kann. Na ja, zumindest glaubte sie, das zu wissen.“

Er rang sich ein Lächeln ab.

„Das war der Grund, weshalb sie uns an der Expedition teilnehmen ließ. Und uns nur so viel Zaubertrank mitgab, dass du gerade zu dieser Zeit auffliegen musstest. Sie dachte, Hauptmann Southlake würde dich unter Arrest stellen und so unerreichbar für Kristallmond machen. Dieser Teil des Plans ist leider ordentlich daneben gegangen.“

Seine Worte überschlugen sich fast. Ich hörte, was er sagte. Die Bedeutung seiner Erklärung blieb mir jedoch unbegreiflich. Es war schlichtweg zu viel für mich.

„Du willst damit sagen, ich trage einen Drachen in mir?“, fragte ich ungläubig. „Und dass jeder es wusste, außer ich selbst?“

„Eben genau nicht“, antwortete Eo. „Die Gilde vermutete es bloß. Bei Katharina bin ich mir nicht ganz sicher. Aber Adrina ist die wahre Trägerin des Feuerdrachens. Das ist nicht zu übersehen. Sie hat ordentlich damit zu kämpfen.“

„Dann war sie es wirklich nicht selbst“, stellte ich nachdenklich fest, „die mir vorhin den Tod wünschte?“

„Das hat sie getan?“, fragte Eo verblüfft.

Ich nickte. Ihr plötzlicher Wandel und dieser starre, hasserfüllte Blick – aus dieser Perspektive betrachtet ergaben sie Sinn. In diesem Moment musste der Feuerdrache die Kontrolle übernommen haben. Ich hatte das bereits einmal erlebt. Im undurchdringlichen Wald, als erst der Drache, dann die Waldhexe zu mir gesprochen hatten.

„Er versucht immer wieder, Besitz von Adrina zu ergreifen“, erklärte der Magier. „Das geschieht vor allem in emotionalen Momenten.“

„Aber was hat das mit mir zu tun?“, wollte ich wissen.

„Wie ich schon sagte“, fuhr Eolariell fort. „Die Gilde hielt dich für die Trägerin des Feuerdrachens – weshalb auch immer – und irgendwie bekamen sie dich in die Finger. Die Befreiungszeremonie ist nur möglich, wenn die Sterne in einer bestimmten Konstellation stehen. Das ist uralte, dunkle Magie. Deshalb musste sie vor einigen Tagen stattfinden an dem Ort, auf den niemand zufällig stößt. Du hast mir doch von deinen Visionen erzählt. Erinnerst du dich? Du hast einen Turm gesehen.“

Ich nickte stumm.

„Das ist der Ort, an dem die Zeremonie stattfand. Ich weiß noch immer nicht, wieso du Visionen davon hattest. Auf jeden Fall brachten sie dich dorthin – und wir wären zu spät gekommen. Aber du hattest ungeheures Glück. Kurz nachdem wir die Front verlassen hatten, war auch Hauptmann Southlake zurückbeordert worden. Er kam gerade noch rechtzeitig, um dich zu retten. Die Zeremonie muss zu dieser Zeit bereits im vollen Gange gewesen sein. Deine Rettung war eigentlich schon unmöglich. Umso erstaunlicher ist es, dass du lebst. Irgendetwas ist wohl schiefgelaufen. Southlake spricht allerdings nicht darüber. Um ehrlich zu sein, sagte er überhaupt nichts. Hat ihn schwer getroffen, dass wir alle unter einer Decke stecken. Einschließlich der Baroness und Adrina. Hat sie dir das erzählt? Adrina wurde früher von Hauptmann Southlake trainiert. Schon verrückt, wie alles zusammenhängt, nicht wahr?“

„Ja, verrückt“, antwortete ich.

In Wahrheit waren mir das jedoch zu viele neue Informationen auf einmal. Die Geschichte war zu abenteuerlich und irreal, um sie begreifen zu können. Wie konnte sich das alles von mir unbemerkt ereignen? Es ergab schlichtweg keinen Sinn.

„Kommt jetzt der Punkt, an dem du zugibst, dass alles nur ein schlechter Scherz ist?“

Eolariell stieß ein tiefes Seufzen aus.

„Ich wünschte, es wäre so“, sagte er. „Aber ich sage die Wahrheit. Es ist das reinste Chaos.“

„Warum erinnere ich mich an nichts davon?“, fragte ich meinen Freund.

Eolariell sah mich mitleidig an.

„Ich weiß es nicht“, antwortete er. „Vermutlich war das alles zu viel für dich. Zu schrecklich, um dich daran zu erinnern. Ich meine, die Gilde–“

„Sag es nicht!“

Aufgrund von Eolariells Erzählung ahnte ich bereits, was mit Kristallmond geschehen war. Solange es jedoch niemand aussprach, konnte ich mir einreden, dass alles noch beim Alten war. Dass wir einen Ort hatten, an den wir zurückkehren konnten. All das war so unwirklich. Ich wusste nicht, was ich fühlen oder denken sollte. Da war – nichts.

„Das ist sicher zu viel auf einmal“, stellte nun auch der Magier fest. „Und dabei habe ich dir noch gar nicht von der Situation in Calisira erzählt.“

Seine Worte machten mich hellhörig.

„Was ist mit Calisira?“, fragte ich.

„Das hat Zeit“, antwortete Eo. „Du hast fürs Erste schon genug zu verarbeiten.“

„Nein, Eo“, sagte ich. „Bitte! Du kannst mir nicht nur die Hälfte von allem erzählen. Ich habe noch immer nicht verstanden, was die Baroness mit uns zu schaffen hat und wieso die Gilde glaubte, ich sei die Trägerin des Feuerdrachens. Ich weiß nicht, aus welchem Grund die Expedition abgebrochen wurde, was Gerrit dazu veranlasst hat, mich her zu bringen, und welche Rolle Adrina spielt. Und jetzt machst du Andeutungen, dass da viel mehr ist? Wie soll ich die Brocken verarbeiten, die du mir hinwirfst, ohne alle Zusammenhänge zu kennen?“

Mein Freund stieß erneut ein tiefes Seufzen aus.

„Du hast Recht“, räumte er ein. „Es tut mir leid. Weißt du, Samanta, ich habe mir in den letzten Tagen solche Sorgen gemacht, dass du nicht mehr aufwachst oder nicht dieselbe bist. Ich wünsche mir, dass das alles nicht passiert wäre – und dass ich dir nichts davon erklären müsste. Du hast schon genug gelitten.“

Für einen Moment lang trat Stille ein. Ich spürte deutlich, dass wir in etwas hineingeraten waren, das größer war als wir, was wir nicht kontrollieren konnten.

„Ich vermute, Katharina und die Jugendlichen sollten dir den Rest erzählen“, sagte Eolariell schließlich. „Meinen Teil der Geschichte kennst du jetzt.“

Er erhob sich und ging zur Tür hinüber, als ihm etwas einfiel.

„Alle deine Sachen sind verloren gegangen“, sagte er. „Katharina hat dir zumindest einige Kleidungsstücke hingelegt. Ich warte draußen auf dich, in Ordnung?“

Ich nickte und sah zu, wie er das Zimmer verließ. Wie Eo gesagt hatte, fand ich auf einem Hocker liegend ein paar Klamotten. Bei der grauen Hose, dem hellblauen Hemd und Schuhen handelte es sich wohl um Teile der Uniform der Leibgarde. Das Hemd war mit drei silbernen Sternen bestickt. Die weinrote Jacke stammte wiederum zweifellos aus der Sammlung der Baroness. Davon zeugten die Rüschen an Kragen und Ärmeln. Von meinem Schwert fehlte hingegen jede Spur. Dabei musste es doch an meinem Gürtel hängen, damit ich mich vollständig fühlte. Ebenso wie mein Dolch, der ebenso nicht auffindbar war.

Ich zog mich an und wagte einen Blick in den Spiegel, welcher an der Wand neben der Tür hing. Die Person, die mich daraus ansah, war mir fremd. Sie zeigte keine Gefühlsregung. Die Situation hätte mich womöglich erschrecken müssen, aber – da war nichts. Keine Angst, keine Trauer. Nur Leere.

Wie ferngesteuert folgte ich Eolariell hinaus auf den Gang. Diesen Teil des Schlosses hatten wir bei unserem ersten Besuch nicht betreten. Der Magier schien sich jedoch bestens auszukennen. Er führte mich zielstrebig zu einer großen Treppe und weiter hinunter ins Foyer, an welches ich mich gut erinnerte. Ich sah den verunsicherten Blick des Gardisten noch genau vor mir, als Smith, Eo und ich vor mehreren Wochen auf jener Bank saßen. Wie unser Leben wohl verlaufen wäre, hätten wir damals nicht eingewilligt, die Baroness zu treffen?

„Hier hat alles angefangen“, stellte ich fest.

„Für uns jedenfalls“, fügte Eo hinzu. „Die ganze Geschichte begann jedoch–“

Er kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden, denn ich diesem Augenblick öffnete sich das Eingangsportal. Ich hatte nicht erwartet, Hauptmann Gerrit Southlake wieder zu sehen – nicht nach meinem Vertrauensbruch. Und doch war er hier. Im Schloss der Baroness. Es war bloß nicht mehr das Gleiche zwischen uns, wie vor noch nicht allzu langer Zeit im undurchdringlichen Wald. Er trug wie üblich die unverwechselbare Uniform aus dunkelblauem Stoff mit roten Applikationen. Seine Haltung war aufrecht, obwohl sein linker Arm in einer Schlinge lag.

Als er Eo und mich sah, hielt er in der Bewegung inne. Ich war wie gelähmt. Ich bedauerte nicht, dass ich ihn verraten hatte, sondern bloß, dass mir vom Anfang an vorbestimmt war, ihn zu enttäuschen. Ich hatte es mir anders eingeredet. Eine Freundschaft zwischen Gerrit und mir war allerdings zum Scheitern verurteilt. Auch dieses unverhoffte Wiedersehen vermochte nichts daran zu rütteln. Wir stammten aus zwei von Grund auf verschiedenen Welten. Doch das spielte keine Rolle. Wahrscheinlich erfüllte er mit seiner Anwesenheit bloß seine Pflicht.

„Samanta?“

Eolariell holte mich vorsichtig auf den Boden der Tatsachen zurück. Es fiel mir jedoch schwer, meinen Blick von Gerrit abzuwenden. Auch auf die Entfernung erkannte ich das blaue Funkeln in seinen Augen. Es wirkte hypnotisierend auf mich und – wie ein Fenster in die Vergangenheit. Nur mit Mühe gelang es mir, Eo anzusehen.

„Die anderen warten in der Bibliothek“, sagte er.

Ich nickte.

Während wir den mir bereits bekannten Weg zu dieser einschlugen, wandte ich mich noch einmal um. Gerrit hatte sich abgewandt. Strammen Schrittes eilte er in den Ostflügel des Schlosses – ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen. Ich versuchte, an etwas anderes zu denken. Mich auf das zu fokussieren, was mir Eo wenige Augenblicke zuvor erzählt hatte. Meine Gedanken kreisten jedoch noch um Gerrit, als wir die Bibliothek betraten.

Es war eine eigenartige Situation. Eolariell wirkte sehr vertraut mir der Baroness, Adrina und den vier Jugendlichen, denen ich noch nie zuvor begegnet war. Ich hatte nicht mit so vielen Menschen gerechnet. Schon gar nicht mit Fremden, während die Garde durch Abwesenheit glänzte. Eo gab sich alle Mühe, mir die Lage verständlich zu machen.

„Adrina hast du ja bereits kennengelernt“, sagte er. „Und das sind ihre Freunde Caitlin, Chelsey, Maximilian und Raven.“

„Ist mir eine Freude“, versicherte ich und rang mir irgendwie ein Lächeln ab.

Ich bemühte mich, mir ihre Namen einzuprägen. Die fünf Jugendlichen wären nicht anwesend, wenn sie nichts mit den Drachen zu tun hätten.

„Wie schön, dich endlich persönlich kennen zu lernen!“, rief Caitlin, ein großes, schlankes Mädchen mit blonden Locken. „Wir haben so viel von dir gehört. Du bist irgendwie eine echte Heldin – ich meine, du warst im undurchdringlichen Wald und hast die Zeremonie überlebt. Wie genial ist das?“

„Cat!“, unterbrach sie einer der Jungen, Maximilian. „Gib ihr Luft zum Atmen! Sie ist doch gerade erst aufgewacht.“

Er erinnerte mich ein wenig an Eolariell. Die Stimme der Vernunft der Gruppe. Allerdings schien er kein Magier zu sein. Er trug Reitklamotten und ein Schwert. Sie alle waren bewaffnet.

„Willst du dich nicht setzen? Du hast sicher viele Fragen“, meldete sich nun die Baroness zu Wort.

Ich nickte dankbar und ließ mich auf einem der Stühle nieder. Sie standen um den runden Tisch inmitten der Bibliothek herum. Einige Bücher und Karten lagen darauf ausgebreitet. Die anderen setzten sich ebenfalls. Bloß Raven, der seines Äußeren nach zu urteilen Caitlins Bruder war, blieb stehen. Ich erkannte, dass er Bogen und Köcher trug. Schützen waren bekannterweise nicht die geselligsten Zeitgenossen.

„Also“, sagte ich. „Was ist hier los? Eo hat mir vom Feuerdrachen und der Zeremonie erzählt. Aber ich verstehe es noch nicht. Besonders Ihre Rolle, Katharina – und weshalb ihr hier seid.“

Ich warf einen Blick in die Runde. Ein wissendes Lächeln schlich sich auf die Lippen der Baroness.

„Ich sagte es bereits bei unserer ersten Begegnung“, antwortete sie. „Nur weil ich in einem Schloss sitze, bedeutet das nicht, dass ich ahnungslos bin. Ich verfolge genau, was sich in Freeland und dem Rest von Calisira ereignet.“

„Das erklärt gar nichts“, warf ich ein. „Nicht, warum sie uns auf diese Expedition geschickt haben, und mich offenbar vor dieser Zeremonie retten ließen. Es hätte Ihnen egal sein können. Sie kennen meine Strafakte. Eine Verbrecherin weniger auf dieser Welt.“

„Ich habe vor einigen Jahren ein Versprechen gegeben“, antwortete die Baroness. „Um das zu verstehen, musst du allerdings erfahren, was vorher passiert ist.“

Sie sah zu Adrina hinüber. Das Mädchen verstand offenbar sofort, worauf sie hinaus wollte. Sie wandte sich in meine Richtung.

„Wir sind weit im Westen aufgewachsen“, erklärte sie. „In den Dörfern kurz vor der Grenze nach Moltonia. Bestimmt hast du von ihnen gehört – oder zumindest von der Katastrophe vor einigen Jahren. Ein verheerendes Feuer machte damals alles dem Erdboden gleich. Es ging unfassbar schnell und – niemand außer uns überlebte.“

Sie unterbrach ihre Erzählung, um einen tiefen Atemzug zu nehmen. Natürlich hatte ich von dem Feuer gehört, obwohl ich selbst noch ein Kind gewesen war. Jeder hatte damals davon gesprochen. Ich konnte mir jedoch nicht ausmalen, was die Jugendlichen durchgemacht hatten. Sie hatten in einer einzigen Nacht einfach alles verloren. Ihr Zuhause, ihre Familien.

„Dank der Baroness wissen wir heute, dass der Feuerdrache für die Zerstörung verantwortlich war“, fuhr Adrina schließlich fort. „Mein Vater trug zu dieser Zeit dessen Seele in sich. Er kam in dieser Nacht ums Leben und der Drache nistete sich in mir ein.“

„Dein Verlust tut mir sehr leid“, sagte ich betroffen. „Aber was hat das alles mit mir zu tun?“

„Nur eine Hand voll Menschen sind in die Geheimnisse der Drachen eingeweiht“, erklärte Baroness Katharina. „Neben mir ist das zum Beispiel der General der Armee. Er befahl die Unterbringung der Kinder aus den vernichteten Dörfern an der Akademie im Westen.“

Das war keine Antwort. Ungeduldig sah ich Eolariell an. Er nickte kaum sichtbar. Offenbar kannte er die Geschichte bereits und am Ende würde alles Sinn ergeben. Seufzend richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder zur Baroness.

„Wenige Tage nach diesem tragischen Ereignis bist du in Freeland City aufgetaucht“, fuhr sie fort. „Henry schloss sich zu dieser Zeit Kristallmond an. Die Gildenmitglieder glaubten wohl, du stammtest aus den zerstörten Dörfern.“

„Sie kannten meinen Mentor?“, fragte ich überrascht.

Ich hatte seinen Namen lange nicht mehr gehört. In der Gilde sprach man nicht von ihm und Phil, sein Sohn, nannte ihn immer nur seinen Vater – unseren Vater.

„Nur flüchtig“, antwortete die Baroness. „Er gehörte ebenfalls dem Kreis der Geheimniswahrer an.“

„Das bedeutet, er war in die Geheimnisse der Drachen eingeweiht“, erklärte Eo. „So wie Katharina, der General, König Richard und ein Mann aus Riverview.“

„Monty“, sagte die Baroness. „Er ist der Älteste von uns – und verfügt womöglich über das größte Wissen über die Drachen.“

Diese Information schien ihr wichtig zu sein. Mich bewegte jedoch vor allem eine Frage.

„Phils Vater wusste von den Drachen?“

Die Baroness nickte.

„Und Kristallmond erfuhr ebenfalls vom Feuerdrachen“, sagte sie. „Ich weiß nicht wie, aber Henry bat mich ein paar Jahre nach dem Feuer um Hilfe, als die Sterne zum ersten Mal günstig für eine Befreiungszeremonie standen. Es gelang uns, Goldstaub zu einem Angriff auf eure Gilde anzustiften. So verhinderten wir die erste Zeremonie. Uns war jedoch bewusst, dass Kristallmond beim nächsten Versuch entschlossener vorgehen würde. Ich versprach Henry deshalb, dich zu beschützen. Er selbst zahlte in jener Nacht den Preis für die Vereitelung der Pläne der Gilde.“

„Das ist also damals passiert“, hauchte ich.

Ich hatte die letzten Worte meines Mentors niemals verstanden. Er hatte angedeutet, dass er um meinetwillen ging, und mir das Versprechen abgenommen, mein Schicksal eines Tages selbst abzuwenden. Wenn ich jetzt darüber nachdachte, war es ganz klar. Er hatte sich damals für mich geopfert. Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter.

„Du warst zu jung, um dir alles zu erklären“, sagte Baroness Katharina. „Und deine Bindung zur Gilde war bereits zu stark. Henry brachte es nicht über sich, dich von Eolariell und Smith zu trennen.“

Der Magier schenkte mir ein Lächeln. Es vermochte meine Stimmung jedoch nicht zu heben.

„Wenn Sie so lange von dieser Verwechslung wussten“, sagte ich leise, „wie konnte dann alles derart aus dem Ruder laufen?“

Die Baroness hob eine Augenbraue.

„Offenbar sind meine Pläne zu kompliziert“, antwortete sie. „Das sagt jedenfalls Kaaden. Aber seien wir ehrlich. Die einzige Schwachstelle war der junge Hauptmann Southlake.“

„Du hast ihn wohl zu weich gekocht“, bemerkte Chelsey schmunzelnd.

Sie war ein kleines, dunkelhaariges Mädchen. Während sie schweigend zwischen ihren Freunden gesessen hatte, war sie mir kaum aufgefallen. In ihrer Stimme klang jedoch eine Menge Energie mit.

„So kann man es auch ausdrücken“, sagte die Baroness. „Ich hatte keine Ahnung, dass gerade du über die Fähigkeit verfügst, solchen Einfluss auf Hauptmann Southlake auszuüben. Dass er im entscheidenden Moment von seinen Überzeugungen abweicht – damit hat nicht einmal der General gerechnet.“

„Wie konnte er mich denn eigentlich retten?“, fragte ich. „Warum war er nicht mehr auf Expedition? Und wieso ist er jetzt noch hier?“

„Das hat auch mit mir zu tun“, gab Adrina zu. „Der Feuerdrache rebelliert. Du hast es selbst bereits erlebt. Das – tut mir übrigens schrecklich leid.“

Ihr hasserfüllter Blick tauchte unwillkürlich vor meinem inneren Auge auf. Womöglich würde ich ihn nie wieder vergessen. Sofort bildete sich eine Gänsehaut auf meinen Armen. Ich schob die Bilder schnell von mir weg.

„Kein Problem“, behauptete ich.

„Er gewinnt an Macht“, fuhr Adrina fort. „Jeder Wechsel seines Trägers schwächt den Zauber, mit dem er versiegelt wurde. Mittlerweile ist er wieder mächtig genug, um Kontakt zur Außenwelt aufzunehmen und dadurch auch seine Magie zu wirken.“

„Kontakt zur Außenwelt?“, wiederholte ich.

„Er erschafft eine Armee von Schattengeistern“, erklärte Maximilian. „Sie kommen aus Nevermoor und dringen immer weiter nach Calisira vor. Dabei greifen sie jeden an, der sich ihnen in den Weg stellt. Als wolle der Drache die ganze Menschheit auslöschen.“

Auf meinen fragenden Blick hin erklärte Eolariell: „Schattengeister sind Kreaturen der Dunkelheit. Sie nähren sich von Angst und schlüpfen in tote Körper, um anzugreifen. So wie die Waldgeister es mit Pflanzenmaterial getan haben.“

„Eine Armee aus lebenden Leichen?“, fragte ich. Ein Gefühl der Übelkeit stieg in mir auf.

„Und sie greifen Calisira an?“

„Es muss Jahre gedauert haben, diese Armee aufzubauen“, sagte die Baroness. „Nevermoor ist ein totes, verlassenes Land. Deshalb hat es niemand bemerkt, bis ein paar Späher gesichtet wurden. Sie werden kommen. Daran besteht kein Zweifel.“

„Es wird also Krieg geben?“, fragte ich. „Aus diesem Grund wurde Gerrit zurückgerufen?“

Die Baroness nickte.

„Er empfindet es als Schande, jetzt hier in Freeland festzusitzen“, bemerkte Caitlin. „Du hättest ihn sehen sollen, als der Befehl ankam, dass er hier auf deine Genesung warten muss.“

„Alleine unter Verrätern“, witzelte Chelsey.

„Es ist unwichtig, was Hauptmann Southlake denkt“, sagte die Baroness, „solange er Adrina trotz allem weiterhin hilft. Sie braucht die Unterstützung aller Menschen, die ihr nahestehen.“

„Gerrit sieht sicher ein, dass ich auf Ihr Wissen über die Drachen angewiesen bin“, bemerkte diese.

„Ich verstehe nicht“, gab ich zu. „Die Schattengeister erklären zwar, dass die Expedition abgebrochen wurde, aber weshalb sollte Gerrit hier in Freeland City bleiben? Er wird doch sicher irgendwo zur Verteidigung Calisiras gebraucht.“

„Es kam ein Befehl für ihn aus Lavinia“, antwortete Baroness Katharina. „Hauptmann Southlake wartet, bis du wieder auf den Beinen bist, und begleitet dich anschließend in die Hauptstadt.“

„Er – was!?“ Ich blinzelte sie ungläubig an.

„Er reist mit dir nach Lavinia“, wiederholte sie.

Es war unmöglich, dass ich mich zweimal verhört hatte.

„Was soll ich denn in Lavinia?“, fragte ich.

„Ich weiß nicht, weshalb der König dich sehen will, aber–“

„Der König!?“

„Aber ich wäre froh, wenn du die Reise zur Unterstützung von Adrina antreten würdest“, fuhr die Baroness fort, ohne meinen Ausruf Beachtung zu schenken. „König Richard und der General gehören, wie bereits erwähnt, dem Kreis der Geheimniswahrer an. Sie wissen von den Drachen. Vielleicht haben sie eine Idee, wie man Adrina helfen und die Schattengeister aufhalten kann. Oder sie gewähren dir zumindest Zugang zur Nationalbibliothek. Wir brauchen so viele Informationen über Nevermoor, wie wir finden können.“

„Sie werden mich einsperren“, warf ich jedoch ein. „Wenn Gerrit mich nicht vorher umbringt. Lavinia ist kein sicherer Ort für Mitglieder Kristallmonds.“

„Samanta, die Gilde–“, begann Eolariell, doch da war ich schon vom Stuhl aufgesprungen.

„Nein!“, rief ich. „Sprich es nicht aus!“

Mit einem Mal trat Stille ein. Ich spürte die Blicke aller Anwesenden auf mir ruhen. Der Druck auf meinen Schultern drohte, mich in die Knie zu zwingen. Ich war noch nicht bereit, die Dinge zu akzeptieren, die sich in den vergangenen Wochen ereignet hatten. Trotzdem verlangten sie so viel von mir. Ich sollte diesen Krieg mit ihnen führen – mit dem ich nichts am Hut hatte. Ich war nur wegen einer Verwechslung in die Geschichte hineingeraten – in Angelegenheiten, die ich nicht verstand. Woher kamen diese plötzlichen Erwartungen?

„Das reicht jetzt“, sagte ich. „Ich muss hier raus.“ Ich kämpfte gegen das sofort eintretende Schwindelgefühl an, stolperte irgendwie zur Tür und fand mich auf dem Korridor wieder.

„Lavinia“, keuchte ich. „Mit Gerrit? Das muss ein schlechter Scherz sein!“

Als der Schwindel nachließ, rannte ich zum Foyer und durch das Eingangsportal ins Freie. Ich wusste nicht mal, wohin ich eigentlich lief. Weg von der Bibliothek. So viel stand fest. Meine Beine trugen mich wie von selbst. Kaum hatte ich das Tor passiert, welches den Schlossgarten vom Wald trennte, brach ich jedoch zusammen. Ich hatte die Kontrolle verloren. Nicht nur, dass ich mich an nichts erinnerte, was in den letzten zwei Wochen geschehen war. Meine gesamte Existenz hatte sich außerdem in Luft aufgelöst. Es war kein bisschen aus meinem früheren Leben übrig. Ich fühlte mich hilflos. Leer. Verloren.

Sterne funkelten am Nachthimmel.

Ich zog die Decke enger um die Schultern und lauschte den Geräuschen des Forstes. Blätter raschelten im Wind. Hin und wieder durchbrach der Ruf einer Eule die Stille. Die Laute beruhigten mich. Sie klangen anders als der undurchdringliche Wald – nicht bedrohlich, sondern wie ein Stück von mir selbst. Ich sog die frische Luft tief in mich auf. Dieser Geruch weckte Erinnerungen an eine Zeit, die ich nicht zurückholen konnte.

An diesem Ort war ich aufgewachsen. Hier an der Waldhütte hatte ich viele unbeschwerte Stunden mit Phil und meinen Freunden erlebt. Smith hatte einmal eine ganze Nacht in einem der Bäume verbracht, als ich einen Hausarrest aussitzen musste. Ich erinnerte mich, wie mein Mentor mir auf eben dieser Lichtung die erste Lektion im Schwertkampf erteilt hatte. Es war ein Ort der Freude gewesen.

Doch jetzt entdeckte ich nichts als Einsamkeit. Kälte kroch mir die Glieder empor. Die Waldhüte war bloß noch ein Schatten der Vergangenheit. Kein Zuhause mehr. Tränen stiegen mir in die Augen. Ich wehrte mich nicht dagegen. Was geschehen war, ließ sich nicht rückgängig machen. Das war mir bewusst, aber – ich war nicht bereit, loszulassen. Nicht einfach so! Hatte mein Mentor mich nicht geleert, dass man nicht verlieren konnte, wenn man nur hart genug kämpfte? Wie war also möglich, dass alles in Trümmern lag?

Bevor ich eine Antwort fand, färbte sich der Himmel lila. Nebelschwaden legten sich über die Lichtung. Ich wollte vor der Waldhütte sitzen bleiben, doch mein Körper bewegte sich wie von selbst. Ich folgte dem Pfad, der nach Norden führte. Wahrscheinlich hätte ich ihn blind gefunden. Ich kannte jeden Baum, jeden Strauch. Deshalb wusste ich auch genau, wann das Dorf in Sicht kam. Der Hauptsitz Kristallmonds. Die Häuser waren in Dunkelheit gehüllt. Kein Licht brannte hinter ihren Fenstern. Trotzdem kam es mir vor, als hörte ich Gelächter und das Klirren von Gläsern aus der Dorfkneipe. Den Lärm eines Kampfes vom Trainingsgelände bei den Schlafquartieren drang in meine Ohren. Ich glaubte, aus einigen Schornsteinen glitzernder Qualm aufsteigen zu sehen – verursacht von einem experimentierenden Magier. Doch in Wahrheit war das Dorf verwaist.

Ich gelangte an den Brunnen auf dem Hauptplatz. Die ersten Sonnenstrahlen tauchten die Dächer und Baumkronen in goldenes Licht. Dieser Anblick hatte immer ein Gefühl der Wärme in mir hervorgerufen. Jetzt spürte ich bloß Kälte. Meine Hände zitterten, als ich die Augen schloss – der Wirklichkeit zu entkommen versuchte. Ein Teil von mir hatte wohl gehofft, dass sich nichts geändert hatte. Dass die Geschichte über die Drachen und die Zeremonie am Turm nicht der Wahrheit entsprach. Doch ich musste der Realität ins Auge sehen. Es gab keinen Ausweg aus diesem Albtraum. Stimmen näherten sich. Ich war mich sicher, sie mir bloß einzubilden. Kinder lachten und ich hörte den Hufschlag eines Pferdes. Überrascht fuhr ich herum. Wenn ich etwas nicht erwartet hatte, dann echtes Gelächter.

„Langsam, Kinder!“, rief eine vertraute Stimme. „Er kann euch nicht alle gleichzeitig tragen.“

„Warum nicht?“, fragte ein Junge.

„Na, weil sein Rücken zu kurz ist.“

Ein helles Wiehern hallte durch das Dorf.

„Siehst du?“, sagte eines der Kinder. „Pferd glaubt auch, dass er stark genug ist.“

Ich folgte ihren Stimmen um die nächste Hausecke. Ehe ich mich versah, stand ich einem Schimmelhengst gegenüber. Auf seinem Rücken saß eine ganze Schar von Kindern. Und neben ihm ging mein Freund Smith mit seinen wilden, roten Haaren.

„Sammy!“

Für einen Moment starrte er mich an. Dann fand ich mich in seinen Armen wieder. Ein Schluchzen entwich meiner Kehle, woraufhin er mich bloß noch fester umarmte. Ich vergrub mein Gesicht in seiner Schulter und war nicht länger imstande, die Tränen zurückzuhalten. Schmerzlich wurde mir bewusst, dass er, Eolariell und Pferd alles waren, was aus meinem Leben übrig war. Unsere Freundschaft, die ich manchmal für selbstverständlich gehalten hatte. Ich konnte nicht anders, als mich daran festzuklammern.

„Warum weinst du denn, Samanta?“

Ich löste mich nur widerwillig aus Smith Umarmung und wischte mir die Tränen aus den Augen. Irgendwie gelang es mir, das Mädchen anzulächeln.

„Das sind Freudentränen“, behauptete ich. „Ich habe Smith eine ganze Weile nicht gesehen.“

„Du bist ´ne schreckliche Lügnerin“, stellte ein Junge fest.

Er legte den Kopf schief und sah mich mit finster Miene an.

„Wisst ihr was, Kinder?“, eilte mir Smith zur Hilfe. „Geht mit Pferd doch schon vor zum Trainingsgelände. Ich komme gleich nach. Aber niemand reitet, bis ich da bin, verstanden?“

Die Kinder protestierten, rutschten jedoch unter leisem Protesten von Pferds Rücken. Der Hengst schnaubte in meine Richtung. Dann trabte er hinter den Knirpsen her.

„Das sind die Waisenkinder“, stellte ich fest. „Für die Kristallmond verantwortlich war.“

Smith nickte.

„Ich halte hier die Stellung, bis sie in Nicrum aufgenommen werden“, sagte er. „Sie haben niemanden mehr, weißt du?“

Es war eigenartig, ihn so ernst zu erleben. Früh aufgestanden war er auch. Sonst dauerte es bis zum Mittag, bis mein Freund ausgeschlafen wirkte. Ich erkannte Smith kaum wieder – aber im positiven Sinne.

„Sie können froh sein, dich zu haben.“

Der Rotschopf kratzte sich am Hinterkopf.

„Was ist mit dir?“, fragte er. „Wann bist du aufgewacht?“

„Gestern Abend“, antwortete ich. „Wie du siehst, hab ich es nicht lange im Schloss ausgehalten. Ich – das ist mir einfach alles zu viel.“

„Wem sagst du das?“

Smith seufzte.

„Da gehen selbst mir die Scherze aus“, sagte er. „Ich hab das nicht kommen sehen. Wirklich nicht.“

Ich nickte betreten.

„Und jetzt soll ich nach Lavinia reisen“, sagte ich. „Ich meine, wie absurd ist das?“

„Klingt doch gar nicht schlecht“, bemerkte Smith. „So kannst du die ganze Scheiße hier hinter dir lassen. Das sollten wir alle tun, wenn das erledigt ist mit den Kids. Was hält uns denn noch hier?“

„Ist das dein Ernst?“

„Klar!“

Der Rotschopf verschränkte die Arme vor der Brust.

„Wir vier gegen den Rest der Welt“, sagte er. „So war es doch schon immer. Wir brauchen keine Gilde oder ein Hauptquartier. Und ganz sicher kein Schloss oder die Baroness. Keine Regeln, keine Vorschriften. Nur wir. Das hat uns bisher doch auch gereicht.“

„Nur wir“, wiederholte ich.

Mein Blick schweifte über die Baumkronen bis zu der Richtung, in der das Schloss der Baroness lag. Es wirkte unendlich weit entfernt. Eine Welt, in die ich nicht gehörte. Aber sehr reale Probleme.

„Ich kann nicht davonlaufen, oder?“, fragte ich.

„Wäre jedenfalls nicht deine Art“, bemerkte Smith. „Wenn jemand Hilfe braucht, aktivierst du deinen Heldenmodus und wendest alles zum Guten. Langsam glaube ich wirklich, wenn du es einmal nicht tust, geht die Welt unter.“

„Mein Heldenmodus wird überbewertet“, sagte ich.

„Rede dir das ruhig ein“, antwortete Smith.

Er lächelte. Keine Ahnung, woher er die Kraft dazu nahm.

„Gib dir einen Ruck, Sammy!“, sagte er. „Lavinia wird dein nächstes Abenteuer.“

„Vielleicht hab ich genug von Abenteuern.“

„Als ob!“, rief Smith. „Als Nächstes hängt Eo dann seine Magie an den Nagel, oder wie?“

„So meinte ich das doch gar nicht“, warf ich.

„Wenn du das sagst“, antwortete der Rotschopf. „Aber ich meine es ernst. Lass uns das alles zu Ende bringen und danach sehen wir, wie es weitergeht.“

Ich seufzte.

„Na schön“, sagte ich. „Wahrscheinlich hast du recht.“

„So wie immer.“

Ein fettes Grinsen schlich sich auf seine Lippen. Ich schüttelte nur den Kopf. Er war also doch noch er selbst. Manche Dinge ändern sich wohl tatsächlich nie.

Das Tor zur Parkanlage des Schlosses stand offen. Normalerweise bewachten es mindestens zwei Gardisten. Womöglich sah die Baroness keinen Grund mehr dafür. Nicht nach alldem, was passiert war. Oder die Garde kämpfte irgendwo gegen Schattengeister. Trotzdem befiel mich ein beklemmendes Gefühl. Ich hatte niemals erwartet, so selbstverständlich durch den Vordereingang des Schlosses zu treten.

Ich hatte kein konkretes Ziel. Umso erleichterter war ich, als ich im Foyer auf Eolariell traf.

„Da bist du ja wieder!“, rief der Magier. „Geht es dir etwas besser?“

„Erwartest du wirklich eine Antwort darauf?“, fragte ich.

Eo schüttelte den Kopf.

„Ich habe Smith getroffen“, erzählte ich. „Drüben im Dorf.“

„Er leistet dort ausgezeichnete Arbeit“, bemerkte Eo. „Obwohl ich mir wünschen würde, dass er uns hier hilft. Ich habe ihn kaum gesehen, seit – jener Nacht. Aber, na ja – ich schätze, die Kinder brauchen ihn dringender.“

Ich nickte stumm.

„Southlake möchte dich übrigens sehen“, sagte der Magier. „Ich musste gestern Abend noch die Schiene von seinem Arm nehmen. Vermutlich will er zeitnah nach Lavinia aufbrechen.“

„Hat er denn heute mehr zu sagen?“, fragte ich.

Eo ging nicht auf meine Bemerkung ein.

„Er ist im Garten“, sagte er.

Ich seufzte, konnte mich jedoch nicht dazu durchringen, zu gehen. Alles in mir wehrte sich dagegen.

„Warum fällt mir das so unfassbar schwer?“, fragte ich leise.

„Er ist dir wichtig“, antwortete mein Freund.

„Aber es wird nie mehr sein wie auf Expedition“, warf ich ein. „Er hasst mich, Eo.“

„Es wird anders sein“, sagte der Magier. „Aber anders ist nicht immer schlecht. Sprich mit ihm, Samanta. Irgendwo musst du anfangen.“

Anfangen. Ich wünschte mir einen Neuanfang. Wirklich! Mir war jedoch wohl bewusst, dass ich ein komplett anderer Mensch sein musste, um von Hauptmann Gerrit Southlake akzeptiert zu werden. Es lag nicht in seiner Natur, hinter die Fassade von Verbrechern zu sehen – von Verräterinnen ganz zu schweigen.

Eo nickte mir aufmunternd zu. Irgendwie gelang es mir dadurch, mich auf den Weg zu begeben. Ich wusste nicht, was mich erwartete. Ebenso wenig wusste ich, was ich zu ihm sagen sollte. Und ich habe keinen Schimmer, wie ich den Weg durch das Schloss zu den Gärten fand. Ich hatte ihn nie zuvor bestritten. Als ich schließlich ins Freie trat, war Gerrit das Erste, was ich sah. Dabei war das Gelände weitläufig genug, dass selbst Pferd sich stundenlang hätte verstecken können.

Der Hauptmann trainierte mit Maximilian, einem der Jugendlichen. Ich war nicht sicher, ob die beiden mich bemerkten oder zu konzentriert auf ihren Trainingskampf waren. Sie sahen nicht in meine Richtung. Der Klang von aufeinandertreffenden Schwertern weckte mich auf. Er erinnerte mich jedoch auch daran, dass mir etwas fehlt. Zum ersten Mal seit vielen Monaten war ich unbewaffnet – und das gerade jetzt, da ich jemandem entgegentreten musste, der mich als Feindin ansah.

Ich hielt mich im Hintergrund. Gerrit war dem Jugendlichen weit überlegen, spielte dies jedoch nicht gegen ihn aus. Es war offenbar nicht seine Absicht, Maximilian eine Lektion zu erteilen. Er gab ihm sogar Gelegenheiten, in die Offensive zu gehen. Gebannt folgte ich den Bewegungen der beiden. Der Junge machte eine gute Figur. Womöglich fehlte ihm bloß die Erfahrung echter Kämpfe. Schließlich beendete Gerrit das Gefecht. Ich bemerkte ein Zucken in seiner linken Hand. Ob die Verletzung ihm zusetzte?

„Das war gar nicht schlecht“, sagte er. „Dir fehlt noch etwas Flexibilität. Risikobereitschaft. Du bleibst zu sehr in einem Rhythmus. Brichst du aus, kannst du deinen Gegner damit überraschen.“

Maximilian nickte. Sicher wollte er den Ratschlag sofort in die Tat umsetzen. Er warf mir jedoch einen flüchtigen Blick zu.

„Ich lasse euch wohl besser alleine“, sagte er.

Gerrit hatte mich ebenfalls bemerkt. Er wartete ab, bis der Junge im Schloss verschwunden war. In der Zwischenzeit ließ er sein Schwert in die Scheide fahren. Ich atmete unwillkürlich auf. Zwar hatte ich keinen Angriff erwartet, aber – man weiß ja nie.

„Sie haben dir alles erzählt?“, fragte er, ohne mich anzusehen.

„Feuerdrache, Schattengeister, Lavinia“, antwortete ich. „Ja, ich denke, ich bin im Bilde.“

„Gut“, sagte Gerrit.

Nun wandte er sich zumindest in meine Richtung um, obgleich er mir nicht direkt in die Augen sah.

„Du verstehst deshalb sicher, dass ich schnellstmöglich aufbrechen will.“

„Dachte ich mir“, antwortete ich.

Ich hatte mit dieser Kälte gerechnet. Trotzdem taten seine Worte weh – die Ablehnung, die in seiner Stimme mitklang. Ich stieß ein tiefes Seufzen aus.

„Das ist nicht, worüber du reden wolltest, oder?“, fragte ich.

„Da hast du Recht“, sagte Gerrit. „Ich würde es gerne von dir selbst hören. Einfach um zu wissen, woran ich bin.“

Endlich sah er mich direkt an.

„Wer bist du wirklich?“

„Sag du es mir“, antwortete ich. „Ich habe nämlich keinen blassen Schimmer.“

„Das ist keine Antwort“, bemerkte er kühl.

„Was willst du denn hören?“, fragte ich sehr bemüht darauf, nicht allzu gereizt zu klingen. „Ich bin Samanta Stardawn, Mitglied von Kristallmond, eine einfache Verbrecherin aus Freeland.“

Erneut seufzte ich. Die Wahrheit auszusprechen, änderte bestimmt nichts an Gerrits Meinung über mich. Davon mal angesehen, wusste er diese Dinge bereits. Er erwartete eine andere Antwort, so viel stand fest.

„Du solltest eines wissen“, sagte ich deshalb. „Während der Expedition habe ich mich nicht verstellt. Dort hast du mich kennengelernt, wie ich bin.“

„Und die Drachen?“, fragte Gerrit.

„Keine Ahnung“, antwortete ich. „Offenbar wussten alle davon – die Gilde, Baroness Katharina – nur ich nicht.“

Für einen Moment glaubte ich, ein Nicken zu erkennen. Die Miene des Hauptmanns blieb jedoch versteinert.

„Wirst du mir in Lavinia – oder auf dem Weg dorthin – Schwierigkeiten machen?“, wollte Gerrit wissen.

„Du wirst mich sowieso mitnehmen“, sagte ich. „Es wurde dir befohlen, nicht wahr? Oder denkst du etwa darüber nach, mich besser in Ketten zu legen?“

„Wirst du mir Schwierigkeiten machen?“, wiederholte er.

„Wahrscheinlich nicht“, antwortete ich. „Es überrascht dich vielleicht, aber ich bin nicht dein Feind.“

„Das reicht mir fürs erste“, sagte Gerrit.

In jedem Einzelnen seiner Worte hörte ich die Enttäuschung heraus. Sie versetzen mir einen Stich ins Herz. Womöglich würde er mir niemals verzeihen, sein Vertrauen verletzt zu haben.

„Wir brechen morgen bei Sonnenaufgang auf“, sagte er. „Wenn wir keine Zeit verlieren, schaffen wir es in drei Tagen nach Lavinia.“

Ich nickte. Bei dem Gedanken, drei Tage lang alleine mit Gerrit unterwegs zu sein, stieg Unbehagen in mir auf. Ebenso wenn ich darüber nachdachte, was mich in der Hauptstadt wohl erwartete. Zumindest würde ich viel Zeit haben, über all das nachzudenken, was ich über die Drachen erfahren hatte. Zu verarbeiten, was geschehen war.

„Dann informiere ich jetzt Baroness Katharina“, sagte Gerrit.

„Ich komme mit“, platzte aus mir heraus.

Sein Blick gab mir zu verstehen, dass er keinen Wert auf meine Gesellschaft legte. Ich verschränkte die Arme vor der Brust.

„Hast du etwa jetzt schon genug vor mir?“, fragte ich. „Dann werden die nächsten paar Tage ja spaßig.“

„Tu, was du nicht lassen kannst“, entgegnete Gerrit kühl.

Er ging voraus zum westlichen Flügel des Schlosses, in dem sich die Bibliothek befand. Diese war wohl der Lieblingsort der Baroness. Jedenfalls hatte ich sie bisher nur dort getroffen. Kein Wunder, dass der Hauptmann sofort den Weg dorthin einschlug. Und wir behielten Recht. Sie hatte sich hinter einem Stapel Bücher vergraben. Als wir aus dem Schatten einiger hoher Regale traten, stand Baroness Katharina auf und eilte an Gerrit vorbei direkt auf mich zu.

„Da bist du ja wieder, Samanta“, sagte sie. „Konntest du deine Gedanken ordnen? Oh, und hast du in der Zwischenzeit etwas gegessen? Du bist sicher halb verhungert.“

„Ich habe keinen Hunger“, antwortete ich.

Ihre unerwartete Fürsorge überforderte mich. Eigentlich hatte ich sie eher distanziert eingeschätzt – wenn auch sehr mitteilsam.

„Du musst trotzdem essen“, entschied Baroness Katharina. „Ich sage sofort in der Küche Bescheid. Meine Köche zaubern uns im Nullkommanichts ein Festessen.“

„Warten Sie!“, bat ich. „Hauptmann Southlake hat Ihnen etwas zu sagen und – ich wüsste gerne, wie ich Sie unterstützen kann. Sie sprachen von Recherchen in der Bibliothek von Lavinia?“

„Das besprechen wir am besten während des Essens“, sagte die Baroness. „Ich nehme an, Sie möchten sich uns nicht anschließen, Hauptmann?“

„Gewiss nicht“, antwortete Gerrit kühl.

„Furchtbar beleidigt, der Gute“, erklärte mir Baroness Katharina. „Dabei schweigt er sich doch selbst über die Geschehnisse im Turm aus. Ich sollte diejenige sein, die einen Groll hegt.“

„Ich war immerhin im Auftrag der Armee dort“, knurrte der Hauptmann.