12,99 €
Dank ihrer mächtigen Griffon-Garde sind die Sabiner fast unbesiegbar. Aber nur fast, denn es gibt ein Geschöpf, das noch tödlicher ist als Griffons, und das sind Drachen. Einzig die Barbaren aus dem hohen Norden kennen das Geheimnis, wie man einen Drachen zähmt, und gegen ihre Armee von Drachenreitern haben selbst die Sabiner keine Chance. Deshalb soll Titus, der arrogante Sohn des Kaisers, die schöne Tochter des Barbarenkönigs heiraten. Doch dann überschlagen sich die Ereignisse am Hof, und ausgerechnet Jai, ein Sklavenjunge aus der Steppe, kommt einem Komplott Titus' auf die Spur. Jai muss aus dem Palast fliehen. Als er dabei ein Drachenei findet, steht er vor der größten Entscheidung seines Lebens: Will er weiter davonlaufen oder nimmt er sein Schicksal an und wird zum größten Drachenreiter aller Zeiten?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 792
Dank ihrer mächtigen Greifen-Garde sind die Sabiner fast unbesiegbar. Aber nur fast, denn es gibt ein Geschöpf, das noch tödlicher ist als Greifen, und das sind Drachen. Einzig die Barbaren aus dem hohen Norden kennen das Geheimnis, wie man einen Drachen zähmt, und gegen ihre Armee von Drachenreitern haben selbst die Sabiner keine Chance. Deshalb soll Titus, der arrogante Sohn des Kaisers, die schöne Tochter des Barbarenkönigs heiraten. Doch dann überschlagen sich die Ereignisse am Hof, und ausgerechnet Jai, ein Sklavenjunge aus der Steppe, kommt einem Komplott Titus’ auf die Spur. Jai muss aus dem Palast fliehen. Als er dabei ein Drachenei findet, steht er vor der größten Entscheidung seines Lebens: Will er weiter davonlaufen oder nimmt er sein Schicksal an und wird zum größten Drachenreiter aller Zeiten?
Taran Matharu wurde 1990 in London geboren und entdeckte schon früh seine Leidenschaft für Geschichten. Nach seinem BWL-Studium und einem Praktikum bei Random House UK schrieb er 2013 seinen ersten Roman Die Dämonenakademie, der auf der Leserplattform Wattpad innerhalb kürzester Zeit zum Publikumsliebling avancierte. Seither widmet sich Taran Matharu ganz dem Schreiben. Der Autor lebt und arbeitet in London.
TARAN MATHARU
ROMAN
Aus dem Englischen von Bernhard Stäber
WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN
Titel der Originalausgabe:
DRAGONRIDER
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Deutsche Erstausgabe 11/2024
Copyright © 2024 by Taran Matharu
Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Joern Rauser
Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München, nach einem Design von Holly Macdonald © HarperCollinsPublishers Ltd. 2024
Umschlagillustration: Gaspar Costa/shutterstock.com
Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-30272-6V001
www.heyne.de
Für meine Mutter Liege, mit all der Liebe und Dankbarkeit, die mein Herz fassen kann
Bevor die Schlacht begann, servierten sie Süßigkeiten. Männer schwitzten unter ihren Rüstungen auf den Schlachtfeldern, während sich die Adligen des sabinischen Reichs – lachend und von ihren erhöhten Thronen aus auf sie zeigend – gezuckerte Kirschen in die Münder stopften.
Der pappsüße Geruch, der durch den großen Pavillon strich, ließ Jais Magen knurren. Das offene Zelt hatte man auf einer Plattform errichtet, die so groß war, dass er die gesamte sabinische Legion sogar auf den Knien an seiner Vorderseite überblicken konnte – und natürlich auch den Feind, der sich auf dem niedrigen, grasbewachsenen Bergrücken am Horizont sammelte.
Jai senkte den Kopf und fuhr damit fort, die Füße des Mannes zu massieren, der seinen Vater getötet hatte. Es waren die Füße des alten Kaisers. Die runzelige Hülle eines ehemals großen Machthabers, die in Seide und Kaschmir eingehüllt war. Der Mann, der die sabinische Dynastie und ein Reich gegründet hatte, das sich von den Silbernen Meeren bis zur Großen Steppe erstreckte.
Leonid der Große. Der Löwe der Sabiner. Er hatte die Herrschaft schon vor Jahren seinem Sohn übertragen, denn er, der Alte, war mittlerweile halb blind und senil. Leonid saß hier abseits von seinen Nachkommen und war inzwischen nicht viel mehr als ein Anhängsel, das man nur noch aus Pflichtgefühl zur Schlacht gebracht hatte. Seine Abkömmlinge verdankten ihm alles, und dennoch behandelten sie den Mann wie ein Relikt. Wenn Jai den Alten nicht so gehasst hätte, dann hätte er womöglich Mitleid mit ihm gehabt.
»Jai.«
Er blickte auf und sah, wie sich ein skelettartiger Finger krümmte. Er ließ den runzeligen Fuß in das parfümierte Wasser der Schüssel fallen und senkte den Kopf, als er sich neben den kleinsten der drei Throne stellte.
Der alte Mann saß dort gebeugt und starrte mit blinden Augen vor sich hin. Die einst großen Hände waren inzwischen so stark von Arthritis verknotet, dass sie kaum noch das dünne Haar aus seinem tief gefurchten Gesicht streichen konnten.
»Sag mir, was deine jungen Augen sehen«, forderte ihn Leonid mit diesem halben Krächzen auf, das Jai inzwischen so gut kannte.
Es war auch dieses Krächzen, das ihn anwies, wenn er den Rücken des Mannes wusch. Und das ihn tadelte, wenn er zu langsam war. Oder das eintönig weiter und weiter vor sich hin faselte, wenn der alte Mann von seinen ruhmreichen Taten aus früheren Zeiten erzählte. Jai war Leonids ständiger Begleiter, und er war das beinahe in den letzten zehn seiner insgesamt siebzehn Lebensjahre gewesen.
»Jetzt sammeln sie sich«, flüsterte Jai, der über die aufmarschierte Legion hinwegblickte. »Sie können nirgendwohin mehr fliehen.«
Zur Bestätigung stieß der alte Mann ein Grunzen aus, das sich bald in ein trockenes Husten verwandelte. Schnell kauerte Jai sich hin und rieb Leonids Rücken. Er fühlte die Rückgratwirbel des alten Mannes unter dem weichen Kaschmir seines Gewands.
Lange würde es nicht mehr dauern, bis der alte Mann ins Jenseits überging. Bis dahin würde Jai ein pflichtbewusster Diener sein. Nicht dass er in dieser Angelegenheit irgendeine Wahl gehabt hätte.
»Diese Barbaren waren Narren, sich nicht zu ergeben«, seufzte Leonid, nachdem er sich wieder beruhigt hatte. »Wir treten ihnen heute mit nur einer unserer acht Legionen entgegen, und sie haben trotzdem keine Chance.«
»Was wäre ihre Alternative gewesen?«, fragte Jai, der jedes Wort mit Bedacht wählte. »Ihre angestammten Länder zu verlieren und Untertanen eines ausländischen Reichs zu werden?«
Er hatte seine Frage keineswegs in unverschämtem Ton gestellt, sondern auf die Art, wie ein Student seinen Lehrer befragen mochte.
»Zu leben«, erwiderte Leonid. »Und frei zu leben. Jetzt …«
Ein Horn ertönte. Sein Klang hallte in dem großen Zelt nach und brachte selbst die Stimmen des Kaisers und seines Sohnes, die oben auf ihren Thronen wie im Amphitheater geplaudert hatten, zum Verstummen. Es war das Horn des Feindes auf dem Berghang. Dies waren die letzten der Hudditen.
Selbst aus meilenweiter Entfernung war der Tag klar genug, dass Jai sie dabei beobachten konnte, wie sie sich hastig auf die Schlacht vorbereiteten. Kinder klammerten sich an die Beine ihrer Eltern, auch dann noch, als man sie, wie Jai wusste, zurück in die zugreifenden Hände der Älteren und Schwachen stieß. Dunkelhäutige Männer und Frauen sammelten sich in den vorderen Reihen und umklammerten die Waffen – welche auch immer sie besaßen. Darunter gab es genügend Klingen, aber auch vereinzelte Heugabeln, Sensen, sogar selbstgemachte Knüppel. Das waren die Werkzeuge von Bauern. Kein einziges Stück Rüstung war zu sehen. Das war gar kein Heer, sondern der Überrest einer Zivilisation. Eine, die von ihrer Heimat bis zum äußersten Rand der Silbernen Meere vertrieben worden war; die See befand sich gerade außer Sichtweite jenseits des Hangs. Nur einen Monat zuvor war das Heer der Hudditen im Kampf geschlagen worden, und die Überlebenden hatte man, wie es Brauch war, als Gefesselte fortgeführt.
Die einfache Bevölkerung war alles, was jetzt noch übrig blieb. Diejenigen, die sich geweigert hatten, von dem Reich der Sabiner vereinnahmt zu werden, und es lieber vorzogen, fortzuziehen, als sich unter das Joch zu beugen. Doch die Sabiner waren unersättlich und würden es ihnen nicht erlauben zu entfliehen.
Dies war das letzte Aufgebot der Hudditen. Das Ende einer Kultur, einer ganzen Lebensweise. In ihrer Verweigerung, die Niederlage anzuerkennen, lag etwas so Tapferes. Tapfer war es zwar, aber auch vollkommen närrisch, denn alle, die gegen die Sabiner zu den Waffen griffen, waren Freiwild und konnten als Beute behandelt werden.
Narren waren das, ebenso wie Jais Vater.
»Sprich«, krächzte Leonid.
»Sie sammeln sich für einen Angriff«, flüsterte Jai. »Sie bilden eine große Menge. Mehr als die fünftausend der Legion. Vielleicht sogar zehnmal so viele.«
Mit einer Hand, die von blauen Venen durchzogen war, wischte Leonid Jais Worte fort. »Keine Armee kann eine sabinische Legion schlagen, schon gar nicht dieses unausgebildete Gesindel.«
Jai widerstand dem Drang zu erwidern, dass das Heer seines Vaters genau dies vor einiger Zeit getan hatte. Stattdessen beobachtete er die königliche Familie, die sich in gespannter Erwartung der bevorstehenden Unterhaltung vorlehnte. Eine Lässigkeit lag in der Art, wie sie sich auf ihren Thronen ausgebreitet hatten, mit Dienern, die sie umgaben, ihren Stirnen Luft zufächelten und ihre juwelenbesetzten Finger massierten. Für sie bedeutete es nicht mehr als ein Schauspiel. So wie das Hetzen eines Höhlenbären oder der Vortrag eines Barden.
Dann kamen noch das Brüllen des Angriffs und der Donner dazu, den eine Menge Füße verursachte. Jai wollte es nicht mitansehen, aber seine Augen gehörten nun einmal Leonid, also richtete er den Blick auf die Schlacht.
Die sabinische Legion schien sich kaum zu bewegen. Eine dunkle, zersplitterte Welle von Hudditen brach gegen das Bollwerk ihrer Frontlinie. Selbst aus beinahe einer Meile Entfernung konnte er das Klirren von Stahl und das Geheul aus Schmerz und Wut hören. Der Klang erhob sich und fiel mit dem Wind, erstarb aber nie.
Jenseits des Schlagabtauschs an der Frontlinie vermochte Jai allerdings kaum etwas von dem Schrecken zu erkennen, sondern konnte nur die Rücken von Männern sehen, die in diesem Augenblick vorwärts drängten. Er war ausschließlich dann in der Lage, ihn sich vorzustellen, wenn er sich auf das stützte, was er in Leonids Tagebüchern gelesen oder von betrunkenen Soldaten gehört hatte, sobald das Prahlen geendet und die Klagen über verlorene Freunde sich erhoben hatten.
Im Inneren des Pavillons war es eigenartig still, und eine ganze Minute verging, während der alle dem Schlachtlärm lauschten, ehe die Unterhaltungen der kaiserlichen Familie und der Adligen wieder einsetzten. Die ganze Zeit über wünschte sich Jai, die Hudditen mochten die Schlachtlinie brechen.
Schließlich brachte ein ungeduldiges Zucken von Leonids Hand Jai dazu, auch den Mund zu öffnen.
»Sie kämpfen«, war jedoch alles, was er sagte. »Die Erste Legion hält mit Stärke aus.«
»Armselige Taktik«, knurrte Leonid. »Wo bleibt die Einkesselung? Warum keine Reitertruppen? Mein Sohn ist selbstzufrieden geworden.«
Er lehnte sich vor, als könnten seine Augen, die von Katarakten durchzogen waren, dann aus irgendeinem Grund besser sehen.
»Kämpfen die Männer gut?«
Jai hatte keine Antwort für ihn. Sein Blick wurde von etwas anderem angezogen. Ein großer Schatten schwebte nun über die versammelte Legion hinweg, sodass Tausende beinahe wie ein einziger Mann innehielten und ihre Gesichter zum Himmel emporhoben.
Und dann folgte ein Brüllen. Tief und guttural hallte es in Jais Magen wider. Angst überkam ihn, ein tief sitzender, animalischer Instinkt, der seinen Körper erstarren und sein Herz hämmern ließ, obwohl jeder seiner Gedanken ihm sagte, dass er davonrennen sollte.
Doch irgendwie zeigte der alte Leonid keinerlei Furcht. Stattdessen sprach er sanft, kaum vernehmbar vor einem Hintergrund aus aufgeregten Rufen, die von der Anwesenden im Pavillon herrührten.
»Ah. Meine zukünftige Enkeltochter ist da.«
Er landete am Vordereingang des Pavillons, und das nicht mit einem dumpfen Aufschlag, sondern mit solcher Anmut, dass Jai kaum etwas hörte. Trotzdem fühlte er den Windstoß seiner großen Schwingen, der die Decke aus Stoffbahnen aufbauschte und Staub aufwirbeln ließ.
Dies war der erste Drache, den er je gesehen hatte. Tatsächlich war es wahrscheinlich sogar der erste Drache, den ein Sabiner überhaupt in seinem Leben zu Gesicht bekommen hatte, auch Leonid selbst. Wenn die Geschichten zutrafen, musste dieser einer der letzten seiner Art sein.
Zuerst sah er nur dessen Gestalt, umgeben von einem Dunst aus Staub, den das Wesen selbst hervorgerufen hatte. Man erkannte einen schlangenartigen Hals und träge Schwingen, die sich wie ein Umhang an seinem Rücken falteten. Einen Schwanz, der sich unter ihm zusammenrollte, in dem engen Raum zwischen den hinteren Rängen der Legion und der Plattform des Zelts. Der Drache war von seiner Nase bis zum Schwanz so groß wie drei Schlachtrösser.
Jai nahm seinen Farbton in sich auf. Die smaragdenen Schuppen, die wie eine polierte Rüstung glänzten, waren glatt, bis auf die Reihe von Zacken, mit denen sein Rücken bis zum Sporn an seiner Schwanzspitze besetzt war. Und dann vervollständigte den Anblick noch ein gehörnter Schädel. Er hatte eine lange Schnauze, und an den Rändern seines Mauls, das seine Lippen wölfisch kräuselte, deuteten sich scharfe Zähne an.
Da war so viel zu verkraften, dass Jai kaum den Reiter beachtete, der rittlings auf dem Rücken des Tieres saß. Erst als er auf die Plattform des Zelts sprang, riss er seinen Blick von dem Drachen los.
Die Gestalt wirkte geschmeidig und war in ein weißes Gewand aus Musselin gekleidet, das sich an ihre Beine schmiegte, während sie näher an die Throne heranschritt. Ihr Gesicht und ihr Haar waren mit einem Schleier bedeckt. Obwohl Jai aufgrund der Anmut ihrer Bewegungen vielleicht schon erraten hätte, dass der Besucher weiblich war, bestätigte es schließlich eine goldene Locke, die bis zur Taille reichte und von dem Haar herrührte, das sich hinter dem dünnen Stoff gelöst haben musste.
Mit einer juwelenbesetzten Hand strich sie die Strähne fort, während sie sich dem Thron des Kaisers näherte – dem Sitz von Constantin, dem Gesegneten. Oder von Constantin, dem Grausamen, als den ihn die meisten kannten.
Sie hielt vor den beiden Thronen des Kaisers und des Prinzen an und schwieg, während die Schreie der Schlacht im Wind dahintrieben.
Neben dem Kaiser zuckten die Hände der Wachen näher zu ihren Schwertknäufen, und ein Gemurmel erhob sich, als sie nicht niederkniete. Sogar Prinz Titus musste sich vor seinem eigenen Vater verbeugen, doch dieses Mädchen stand weiter unerschrocken aufrecht. Ganz langsam wandte sich ihr Kopf neugierig angesichts des Schauspiels der erhöhten Throne vor ihr von einem zum anderen.
»Wir bringen Euch ein Geschenk, Kaiser Constantin«, rief sie aus. Dabei erklang ihre Stimme laut und hart, mit einem Akzent, in dem Jai sofort den Tonfall der Dansken erkannte. So hieß das Volk der Nördlichen Tundra, ein Königreich, das nicht von den Sabinern erobert worden war. Offenbar hatten sie beschlossen, lieber in die Dynastie einzuheiraten, statt sie zu bekämpfen.
Constantin gab seinen Wachen zu beiden Seiten mit den Händen ein Zeichen, und die Spannung im Zelt lockerte sich mit dem plötzlichen Lächeln des Kaisers.
»Was für ein Geschenk mag das sein, Prinzessin Erica?«, fragte er und lehnte sich dabei vor, um sie genauer zu betrachten. »Vielleicht die frühzeitige Freude deiner Gesellschaft? Wir hatten dich nämlich erst in einigen Wochen erwartet.«
»Wir bringen den Sieg«, erwiderte das Mädchen.
Wie auf ein unsichtbares Kommando hin hob der Drache seinen Kopf zum Himmel. Das große Maul öffnete sich und offenbarte einen mit Zähnen gespickten Rachen, der leicht einen Mann im Ganzen verschlingen konnte. Der Anblick ließ Jai den Atem stocken.
Dann … ein Aufbrüllen.
Der Laut fuhr durch das Zelt und stieg zum Himmel empor. Sogar noch über den Schlachtlärm hinweg hallte er in der Ebene wider. Und er setzte sich weiter und weiter fort, während sich die Brust des großen Tiers vor Anstrengung hob. Mit jeder verstreichenden Sekunde musste Jai den Drang unterdrücken davonzurennen.
Dann folgte eine Stille im Zelt, bis der ferne Zusammenstoß von Waffen und die Schreie der Sterbenden auf dem Schlachtfeld hörbar wurden. Und schließlich kam eine Antwort: ein weiteres Brüllen, aber weit entfernt. Jetzt konnte Jai noch einen Drachen am Himmel sehen, der über dem Höhenrücken segelte. Doch nicht von ihm wurde sein Blick angezogen, sondern von der dunklen Welle, die sich formte, wo der Hügelkamm auf den Horizont traf. Sie glitzerte im Sonnenlicht über dem Morast der Hudditenhorde.
Ein Heer war eingetroffen, nur einhundert Fuß hinter den rückwärtigen Reihen der Hudditen. Tausende Männer, die Äxte gegen Schilde schlugen im Einklang mit dem Rhythmus einen kehligen Kriegsgesang anstimmten. Jetzt wandten sich die erschöpften Hudditen der neuen Bedrohung zu. Ihre Schreckensschreie waren gerade noch über dem Schlachtlärm hörbar.
Constantin stand auf, um von seinem Thron aus besser sehen zu können, und dann klatschte er begeistert in die Hände.
»Du wirst es wirklich nicht leicht haben, mein Junge«, lachte er. »Deine Frau wird dich zum Frühstück verspeisen, wenn du nicht aufpasst. Und wenn ihr Drache dich nicht zuerst frisst.«
Erneut lachte Constantin über seinen eigenen Witz, während er sich wieder hinsetzte, wie es auch sein Gefolge tat, das hinter ihm gestanden hatte. Titus, der neben seinem Vater auf seinem eigenen Thron saß, machte bei dessen Worten nur ein mürrisches Gesicht und wandte sich seiner Leibwache zu, um ihr etwas zuzuflüstern.
Wie immer staunte Jai darüber, wie unscheinbar der Kaiser mit seinem gestutzten Kinnbart und dem dünnen Schnurrbart aussah. Er wies die gleiche aufwärts gerichtete Nase auf, die auch im Gesicht seines Sohnes zu sehen war, der den Vater unter einem dicken Schopf blonden Haars finster anstarrte. Die scharfen Gesichtszüge des Prinzen verzogen sich, und er kräuselte die Lippen. Seine zukünftige Braut begrüßte er nicht.
Neben Jai mokierte sich Leonid leise über die Szene, die sich vor seinen trüben Augen abspielte. Mit dem Abstand von einem Dutzend Schritten konnte der alte Mann die Interaktion zwischen der Drachenreiterin und dem Kaiser gerade so ausmachen. Jai war erleichtert, dass er keine Beschreibung verlangte, denn er wollte die relative Stille im Zelt nicht unterbrechen. Wenn Constantin sprach, wagten wenige, etwas anderes zu tun als zuzuhören.
Das Mädchen stand beinahe linkisch in ihrer Haltung für sich, bis sie der königlichen Familie den Rücken zuwandte. Ihr Drache gab ein leises Grollen von sich. Von der Stelle, an der er neben der Plattform Platz genommen hatte, streckte er seinen anmutigen Hals nach ihr aus.
Angesichts dieser Unhöflichkeit runzelte sogar Constantin die Stirn, aber der Grund für die Bewegung des Mädchens wurde bald deutlich. Jai konnte kaum glauben, mit welcher Geschwindigkeit der andere Drache den Malstrom der Schlacht überquerte, aber binnen Augenblicken landete das zweite Tier neben dem ersten, und Jai zog den Kopf ein, als abermals Staub aufgewirbelt wurde.
Dieser Drache sah älter aus als Ericas, denn seine schwarzen Schuppen strahlten nicht mit dem gleichen Glanz, und außerdem fehlten einige seiner Zähne. Narben überzogen kreuz und quer seinen Rücken, das Zeugnis eines Lebens voller Kämpfe gegen die Greifen des Kaiserreichs. Inzwischen wusste Jai, wer gleich auf die Plattform springen würde, gekleidet in all der Pracht, die die Nördliche Tundra zu bieten hatte.
Das war König Ivar, Ericas Vater. Er trug das weiße Fell eines Höhlenbären so um seine Schultern, dass dessen Unterkiefer auf seinem Kopf ruhte. Auf seiner zerfurchten Stirn war ein Reif aus Silber zu sehen, und Ringe klirrten an seinen Armen, die trotz des fortgeschrittenen Alters des Königs noch immer muskulös wirkten.
Der danskische König hob sein Kinn. Sein Gesicht war ebenso undurchschaubar wie das von Erica unter ihrem Schleier. Nur seine Blicke, die zwischen den Gesichtern des Kaisers und seines Sohns hin und her zuckten, deuteten an, dass er Gedanken folgte.
Verglichen mit dem Kaiser erschien Ivar in seinem Auftreten beinahe wie ein Barbar. Der Eindruck wurde durch die gelbe Farbe seiner Zähne und die Tätowierungen, die sich in Wirbeln über seine entblößte Brust und den Hals entlang zogen, noch verstärkt – obwohl letztere von einem dunkelblonden Bart halb verdeckt wurden. Im Gegensatz zu ihm machte Constantin in einer faltenlosen purpurnen Robe und einer aufwendigen goldenen Krone einen prächtigen Eindruck.
Ivar breitete seine Arme weit aus, und ein Lächeln erschien auf seinem wettergegerbten Gesicht.
»Wir bitten für unsere frühe Ankunft um Verzeihung, Constantin«, sagte er, und Jai konnte dabei, wenn er auch einen Steinwurf weit entfernt stand, das Bier in Ivars Atem riechen. »Die Winde über den Silbernen Meeren sind unseren Schiffen freundlich gesinnt gewesen, als wir die Küste hinab reisten.«
Er weigerte sich ebenfalls, sich zu verbeugen, stattdessen nickte er dem Kaiser und dessen Sohn zu. Leonid gegenüber erwies er die meiste Hochachtung, wobei sein verschmitztes Lächeln verblasste, als er sich vor dem alten Mann verneigte. Dann legte er einen Arm um seine Tochter und zwinkerte Titus zu. Wieder verzog der Prinz das Gesicht und rückte auf seinem Thron unbehaglich hin und her. Erica zog am Arm ihres Vaters, bis er sie mit einem Knurren losließ.
»Wie könnten wir deine vorzeitige Ankunft nicht verzeihen?«, fragte Constantin. »Wenn du uns ein so großzügiges Geschenk machst.«
Er deutete auf das danskische Heer.
»Unsere Legion braucht deine Hilfe zwar nicht, aber wir begrüßen sie dennoch. Allerdings muss ich darauf hinweisen, dass du das Überraschungselement so ziemlich verschenkt hast.«
Ivar stieß ein tiefes, dröhnendes Lachen aus.
»Wir haben keinen Ärger mit den Hudditen«, bemerkte er kopfschüttelnd. »Es ist … wie soll ich es sagen … eine Vorführung von dem, was unser neues Bündnis bringen könnte. Für heute sollte das ausreichen. Denn noch sind wir keine Verbündeten. Jedenfalls nicht, bevor das Hochzeitsbett blutig ist, stimmt’s, Titus?«
Der bärenartige König stieß seine Tochter an und lachte wieder. Das Mädchen blieb hinter ihrem Schleier still, aber Jai entging nicht, wie sich ihre behandschuhten Finger zu einer Faust ballten.
Constantin schürzte die Lippen, aber falls Ivar dies bemerkte, ließ er es sich nicht anmerken. Stattdessen strich er sich über seinen nicht unbedeutenden Bauch und deutete auf die Schlacht hinter sich.
»Kommt jetzt, lasst uns feiern«, sagte er. »Erlaubt diesem Pack, sich zu ergeben. Schaut, sie haben schon angefangen, ihre Waffen niederzulegen.«
Ein Schnippen von Leonids Fingern in die Richtung von Jais Ohr brachte ihn dazu, seinen Kopf zurück zur Schlacht zu wenden. Tatsächlich, der Kampflärm nahm so weit ab, dass nur noch das Klirren und Skandieren der danskischen Krieger verblieb. Die Hudditen hatten sich von den in Reih und Glied stehenden Rängen der Legion zurückgezogen. Zehntausende liefen zwischen dem Hammer der Dansken und dem Amboss der Sabiner hin und her.
»Er hat recht«, war alles, was Jai in Leonids Ohr zu flüstern wagte.
Zwar waren nicht alle Waffen zu Boden gefallen, aber die Hudditen mussten längst wissen, dass es jetzt kein ruhmreiches letztes Gefecht geben würde. Nur ein Gemetzel, oder Unterwerfung als Gefesselte – gezwungen, bis ans Ende ihrer Tage für das Reich zu arbeiten. Kriegsgefangene waren nach dem Gesetz des Reichs Freiwild.
Selbst aus der Ferne sah Jai, wie Männer und Frauen flehend auf die Knie fielen. Ein paar Hundert blieben aber widerspenstig und rissen an denen, die knieten, und versuchten sie davon zu überzeugen, doch lieber standzuhalten. Diese wenigen würden bis zum bitteren Ende kämpfen, aber der Rest würde womöglich verschont bleiben, um als Gefesselte weiterzuleben. Wenn man so etwas überhaupt noch ein Leben nennen konnte.
Constantin räusperte sich und erhob sich von seinem Thron. Er näherte sich Ivar. Der behäbige kleine Mann blickte zu dem sechs Fuß großen, kampferprobten König auf. Bis zu diesem Augenblick waren die beiden Männer Rivalen gewesen. Feinde sogar, wenn auch selten in unmittelbarem Konflikt.
Dann öffnete Constantin weit seine Arme und umschlang Ivar. »Gesegnete Gnade also!«, verkündigte er, während er zurücktrat. »Um die Vereinigung zweier großer Dynastien zu feiern. Gnade!«
Leonid grunzte zustimmend und zog Jais Ohr nahe an seinen Mund.
»Behalt diese Dansken im Auge«, zischte er. »Dieses Bündnis ist noch nicht besiegelt.«
Die Reise zurück zum imperialen Palast war von Gerempel auf den Kissen und von Peitschenknallen geprägt, als Jai und Leonid in der Kutsche des alten Imperators die Kaschmirstraße entlangfuhren. Zu Jais Bestürzung hatte Leonid wieder beschlossen, die Vorhänge ihres gepolsterten Innenraums zugezogen zu halten, und er konnte kaum etwas anderes tun, als den alten Mann während der zwei Tage langen Reise von der Küste zurück nach Latium beim Schnarchen zuzusehen.
Jai sehnte sich nach seinen Büchern. Nach richtigem Essen anstatt dem dünnen, aber leicht hinunter zu bekommenden Haferbrei, von dem sich Leonid auf Reisen ernährte und den Jai mit ihm teilen musste. Aber mehr als alles andere ersehnte Jai einen Blick nach draußen.
Beinahe sein gesamtes Leben hatte er am sabinischen Hof verbracht. In dem Jahrzehnt, seitdem er dort angekommen war, hatte er das Gelände des kaiserlichen Palastes kaum verlassen. Es war, als wäre er dort ein Gefangener. Und auf eine gewisse Art stimmte das ja auch, wie er vermutete.
Jai war eine Art bessere Geisel.
Als er ein Kind gewesen war, hatte sich sein Vater Rohan, der König des Kidara-Stamms, mit den anderen Stämmen der Großen Steppe gegen das sabinische Kaiserreich verbündet. Rohan war der Hohe Khan des Steppenvolks geworden. Er hatte sein Volk in einen blutigen Feldzug des Widerstands geführt, der in einer Pattsituation mit großem Leid auf beiden Seiten geendet hatte. Schließlich war es zu einer letzten Schlacht gekommen, die Jais Vater verloren hatte. Nach seiner Gefangennahme hatte Leonid den Hohen Khan persönlich hingerichtet.
Aber damals war Leonid bereits ein alter Mann gewesen, und das umso mehr wegen des jahrelangen Krieges. Noch an dem Tag von Rohans Hinrichtung hatte er seinem Sohn Constantin erschöpft die Kaiserkrone ausgehändigt. Constantin hegte kein Verlangen danach, in die schier endlosen Graslande einzufallen – nicht mit der Unruhe, die, inspiriert durch das Beispiel von Jais Vater, in den vielen Kulturen aufkeimte, die sein Imperium vereint hatte.
Also kam es zu einem Friedensabkommen. Und zwar zu einem, bei dem die Anführer der Stämme den Sabinern einen jährlichen Tribut zahlten und die bereits gefangen genommenen Krieger Gefesselte blieben.
Die Anführer sandten also ihre Kinder aus, damit sie am sabinischen Hof aufwuchsen, bis sie das zwanzigste Lebensjahr erreicht hatten. Sollten die Khans der verschiedenen Stämme den Frieden brechen oder sich weigern, ihren Tribut zu zahlen, dann würden ihre Kinder getötet werden.
Als der dritte Sohn in der Erblinie seines Vaters und von einer namenlosen Kurtisane geboren, war Jai am Hof so bedeutungslos, wie er es auch zu Hause gewesen wäre. Während seine beiden älteren Brüder, die Prinz Titus als Jagdführer und Begleiter dienten, mit einem Anflug von Respekt behandelt wurden, bestand Jais Los darin, Sabber von Leonids dünnem Bart zu streifen, und in anderen noch unwürdigeren Aufgaben. Sein Spitzname, »Arschwischer«, mochte zwar grausam sein, war aber nicht unzutreffend.
Er hatte keine Bestimmung, weder an diesem Hof noch zu Hause in der Großen Steppe. Er war nichts als eine Fußnote in den Annalen der Geschichte. Und Jai war das ganz recht so. Er wollte einfach nur ein friedliches Dasein an einem Ort, den er als seine Heimat bezeichnen konnte … obwohl er sich manchmal schon fragte, ob er die Große Steppe noch sein Heimatland nennen konnte, wenn er sich doch nicht mehr an sie erinnerte.
»Sind wir bald zu Hause?«
Leonids Frage riss ihn aus seinen Gedanken. Der alte Mann hob den Kopf, und Jai stützte schnell dessen Nacken und führte eine Kürbisflasche voll Wasser an Leonids Lippen.
»Ich hoffe, bald«, antwortete Jai. »Wenn ich nach draußen schauen könnte, wäre ich vielleicht imstande, Euch eine bessere Antwort zu geben.«
Leonid schaute zu Jai hoch und suchte sein Gesicht ab. Erblickte er Jais gemischtes Erbe darin, die blassere Haut seiner Mutter, die ihn von den anderen Steppenvölkern abgrenzte? Oder sah Leonid in dem Schwarz seines schulterlangen Haars und der Haselnussfarbe seiner Augen einfach den Steppenmann, also jemanden wie seinen Vater? Bestimmt sahen ihn alle anderen so.
Nach einem Augenblick knurrte er seine Zustimmung, und Jai grinste, als er vorsichtig einen Spalt in den Vorhängen öffnete, um den Alten nicht mit dem zusätzlichen Licht zu blenden.
Er presste sein Gesicht gegen das Glas und betrachtete die sanften Hügel des sabinischen Herzlands. Auf jemand anderen hätten sie vielleicht langweilig wirken können, denn außer dichten Feldern mit Weizenhalmen, die in der Nachmittagssonne wogten, gab es wenig zu sehen. Aber für Jai war es eine unbekannte Aussicht, eine nämlich, über die er nur in Leonids umfangreicher Bibliothek gelesen oder von der er immer dann etwas zu hören bekam, wenn der alte Mann in Erinnerungen schwelgte. Er fragte sich, wie sehr sich seine Heimat wohl von diesen Hügeln unterscheiden mochte, und suchte in seinem Gedächtnis.
All seine Erinnerungen an die Landschaft, wo er herkam, waren verschwommen. Schließlich war er nur vier Jahre alt gewesen und kaum von der Brust seiner Amme entwöhnt, als man ihn fortgeschickt hatte. Obwohl er noch ein paar Erinnerungsfetzen besaß.
Von Männern und Frauen, die in Kreisen saßen, wobei sie einander das Haar einölten und flochten. Von Essen, das ihm im Mund brannte, aber ein Gefühl von Wärme hinterließ, und davon, einfach am Leben zu sein. Und besonders ärgerlich: von Gerüchen, die er nicht benennen konnte, und von Geschmacksvarianten, die er nur in Träumen auszukosten vermochte.
Armselige Wurzeln für einen Prinz der Steppe.
Wäre Balbir nicht gewesen, die Frau, die man mitgeschickt hatte, damit sie sich um ihn und seine Brüder kümmerte, hätte er womöglich überhaupt niemals Wissen über sein Volk angesammelt.
Aber sogar sie wurde inzwischen von ihm ferngehalten. Sie arbeitete für eine adlige Familie in Latiums Handelsbezirk. Zu den seltenen Anlässen, an denen es Jai erlaubt war, den Palast zu verlassen, gab er sein Bestes, sie zu sehen. Aber Balbir war nur selten zu viel mehr in der Lage, als ein paar Worte mit ihm zu tauschen, während sie die Vorderstufen des Hauses schrubbte, ehe sie von ihrer Herrin nach drinnen gescheucht wurde.
»Na?«, fragte Leonid.
Jai seufzte und ließ den Vorhang zurückfallen.
»Ich sehe nur Felder.«
Mit säuerlicher Miene nickte Leonid und machte es sich tiefer in den Kissen gemütlich.
»Wir sind nahe«, sagte er. »Die Stadt war immer von Feldern umgehen. Alle Angreifer konnten schon lange gesehen werden, bevor sie die Mauern erreichten.«
»Angreifer?«, fragte Jai. »So weit im Süden?«
Leise lachte Leonid.
»In den alten Tagen hatten wir viele Feinde. Und Rebellionen, Aufstände. Aber das ist kein Problem mehr. Jetzt sind nur noch die Dansken übrig.«
Jai schob sich näher.
»Immer noch? Ihr habt mir aufgetragen, sie für Euch zu beobachten. Warum?«
Leonid seufzte und rieb sich die Augen.
»Seit Jahrzehnten haben sie unsere Küsten und die nördlichen Bereiche unseres Imperiums überfallen. Frag mich, Jai: Warum habe ich sie nicht vernichtet, so wie all meine anderen Feinde?«
»Natürlich wegen der Drachen«, sagte Jai.
Leonid kicherte, und das Lachen verwandelte sich in ein trockenes Husten. Jai setzte ihn aufrecht und rieb den Rücken des alten Mannes, bis es vorbei war.
Drachen. Selbst in einem Land wie dem sabinischen Reich, in dem die Wildnis von vielen gefährlichen Kreaturen bevölkert war, erfüllte schon das bloße Wort alle, die es hörten, mit Furcht und Schrecken. Legenden erzählten davon, wie diese Raubtiere jeden Himmel auf der ganzen Welt heimgesucht hatten. Jetzt waren nur noch ein paar Dutzend von ihnen übrig, die flogen, wo sie wollten, aber jedes Jahr für ihre Nachkommenschaft zu den eisigen Bergen der Nördlichen Tundra zurückkehrten, wo sie Narwale und Robben in den Silbernen Meeren jagten.
Leonids Husten endete bebend, und er stürzte etwas mehr Wasser die Kehle hinunter.
»Drachen. Pah! Das würden die Dansken gerne glauben«, krächzte er. »Aber unsere Greifengarde nähme es mit ihren Drachen auf, sofern es dazu käme. Zahlen, mein Junge. Wir haben einhundert oder mehr Greifen, um ihr Dutzend Drachen zu bekämpfen. Das ist ein fairer Kampf.«
Bei dem Gedanken an die persönlichen Beschützer des Kaisers, die Reiter ihrer eigenen großen Tiere, schlug Jais Herz ein wenig schneller. Es stimmte schon, Greifen waren kleiner und schwächer als Drachen, aber Leonid hatte damit recht, dass es mehr von ihnen gab – und sie waren alle mit einer militärischen Wache verbunden. Soweit er wusste, waren Drachen nur mit den oberen Rängen der danskischen Gesellschaft eine Seelenverbindung eingegangen.
»Warum dann also?«, fragte Jai.
Leonid zog ein Fell über seine Beine und zuckte zusammen, als seine Schulterknochen bei der Bewegung knackten.
»Die Kälte«, sagte er schlicht. »Die Dansken leben in einem beinahe ständigen Winter, und ihr Königreich erstreckt sich über Hunderte von abgelegenen Dörfern. Von ihren Kriegern, die sich in Hinterhalten auszeichnen, gar nicht erst zu sprechen – frag nur irgendeine unserer Grenztruppen. Um da einzumarschieren, würden wir unsere Heere und Versorgungslinien ausbluten und dann ein Pfund eigenes Fleisch bezahlen, um den eroberten Grund zu halten. Und wofür? Für ein ärmliches Land, auf dem kaum Feldfrüchte wachsen? Pah!«
Einmal mehr spuckte er vor Verärgerung aus.
Wie immer hörte Jai aufmerksam zu und lernte alles, was ihm erreichbar war. Es erstaunte ihn immer noch, dass sich Leonid dazu herabließ, überhaupt auf diese Art mit ihm zu sprechen. Es erstaunte ihn noch mehr, dass Leonids Verwandte und tatsächlich sogar die Adligen des sabinischen Hofs ihren Ältesten ignorierten. Der alte Mann hatte schon alle seine Zeitgenossen überlebt. Er hatte beinahe einhundert Ernten gesehen.
Leonids Sohn Constantin sah seinen eigenen Vater kaum. Er bevorzugte es, mit seiner Gefolgschaft von Speichelleckern Gelage abzuhalten. Was seinen Enkel betraf, so empfand Titus eine Faszination für das Erbe des früheren Kaisers, besuchte ihn aber kaum jemals, sondern ähnelte da eher seinem Vater. Der Palast war gewaltig genug, dass Monate vergehen konnten, ohne dass irgendjemand aus der kaiserlichen Familie einem anderen begegnete.
»Stimmt Ihr dieser Heirat zu?«, fragte Jai. »Ich wusste nicht einmal, dass sie stattfinden wird.«
Leonid kicherte.
»Ich bin zwar nicht um Rat gefragt worden, aber ich wusste doch, dass es passieren würde. Es ist ein kluger Zug von Constantin. Er ist ein Kaiser für Friedenszeiten, aber nicht ohne seine eigenen Schliche. Die Heirat wird es uns erlauben, unsere Legionen von den nördlichen Grenzen abzuziehen, was wiederum unsere Kassen stärkt. Aber am wichtigsten von allem ist: Wenn Titus’ zukünftiger Sohn den Thron besteigt, wird die Nördliche Tundra zu einem Teil unseres Imperiums werden.«
Jai nickte zustimmend, aber er kannte den alten Mann lange genug, um zu wissen, dass Leonid nicht die ganze Wahrheit aussprach. Er ließ seine Stimme leichthin klingen. »Aber man kann ihnen nicht trauen?«
Leonid zog eine Augenbraue hoch. Dies war mehr an Unterhaltung, als Leonid Jai normalerweise gönnte, denn der abgedankte Kaiser war viel häufiger daran interessiert, vergangenen Ruhm zu schildern. Jetzt schweifte Jai in die Politik des gegenwärtigen Hofs ab. Aber endlich neigte der alte Mann seinen Kopf.
»Sie landeten hundert Langschiffe an unserer Küste und ließen ein Heer über unsere hoheitlichen Länder marschieren. Hätte die Greifengarde ihr Herankommen nicht gesehen und unsere Küstenverteidigung gewarnt, sie nicht anzugreifen, wäre bei ihrer Ankunft vielleicht sogar ein Kampf ausgebrochen. Es war leichtsinnig von ihnen – und all das nur für ein belangloses Schauspiel. Ein leichtsinniger Feind ist gefährlich. Unberechenbar. Deswegen hat auch Rohan mir so viel Ärger bereitet.«
Leonid bemerkte Jais niedergeschlagenen Ausdruck angesichts der Erwähnung seines Vaters und räusperte sich. Selbst nach einem Jahrzehnt war sein Vater ein Thema, das sie lieber vermieden.
Zum Glück unterbrach jetzt der dumpfe Schlag, mit dem ihr Kutscher seine Faust auf das Dach hieb, die unbehagliche Stille.
»Fünf Minuten!«, rief die gedämpfte Stimme.
Jai zog die Fenstervorhänge ein weiteres Mal zurück, was Leonid ein missfallendes Brummen entlockte. Er war bereit, dessen Unmut dafür zu riskieren. Nun sah er Latium zum ersten Mal von außerhalb.
Eine Felsklippe ragte aus der Landschaft heraus – eine riesige schräge Steigung, die auf ihrer gegenüberliegenden Seite in einem steilen Abhang endete. Aber diese Kuriosität der Geographie wurde von dem ausgedehnten Marmorpalast überschattet, der an ihrem Hang erbaut worden war, durchbrochen von mit Bronze bedeckten Kuppeln und Zikkuraten. Überall in den weißen Gebäuden waren Lustgärten eingestreut, aber Jais Augen wurden eher von der hohen Turmspitze des Horstes der Greifengarde angezogen. Er wollte einen flüchtigen Blick auf die größten Krieger des Reichs erhaschen, die zu ihren Schlafplätzen zurückkehrten. Niemand war zu sehen. Wahrscheinlich befanden sie sich hinter ihnen in der Luft und hatten ein Auge auf die danskische Armee, die ein paar Meilen hinter dem königlichen Zug marschierte.
»Genug gesehen?«, fragte Leonid scharf.
Jai ließ den Vorhang fallen, und erneut kehrte die Dunkelheit zurück.
»Ihr erwartet von mir, die Dansken zu beobachten, aber ich weiß nicht, wie«, murmelte Jai. »Ihr verlasst doch kaum jemals Eure Unterkunft.«
Leonid lachte trocken in sich hinein.
»Titus und seine neue Braut Erica werden am Morgen jagen gehen. Ich werde mich ihnen anschließen … und du ebenfalls.«
Bei ihrer Ankunft hatte Jai Leonid eilig durch den Palast geschoben und war dabei hektischen Dienern ausgewichen, die sich beeilten, ein Fest zu arrangieren, das wegen der frühen Ankunft der Dansken noch nicht geplant gewesen war. Obwohl sie die ganze Nacht über und auch während des folgenden Tages Zeit hatten, würden sie unter Druck stehen, um alles rechtzeitig fertig zu haben.
Leonid brummte jedes Mal ungeduldig, wenn Jai seinen Rollstuhl verlangsamte, damit er um einen gehetzten Diener herum steuern konnte, bis sie endlich die großen Türen zu Leonids Gemach durchquert hatten.
Schnell zog Jai an einem kleinen Seil neben Leonids Bett, um Bedienstete mit Eimern voll von heißem Wasser herbeizurufen. Der alte Mann wollte den Straßenstaub abwaschen, bevor er sich schlafen legte, und so fand sich Jai dabei wieder, dass er die Abläufe seiner Morgenroutine durchging, obwohl schon die Abenddämmerung einsetzte.
Jeden Morgen musste der alte Mann gewaschen, zurechtgemacht und angezogen werden, was bedeutete, ihm ein Bad einzulassen, sein Haar zu waschen und sich dem langen Ablauf zu widmen, solche Gewänder auszusuchen, die er akzeptabel finden würde. Dass Leonid beinahe nie seine Gemächer verließ und ihn auch kaum jemand aufsuchte, spielte keine Rolle.
Als Nächstes entzündete Jai im Kamin ein prasselndes Feuer, um das er sich oft zu jeder Stunde kümmern musste – Leonid mochte es warm, damit er sich an die Jahre seiner Feldzüge im tropischen Süden erinnerte, wo er sich den Großteil seines Imperiums erkämpft hatte.
Nach so vielen Jahren des Schleppens von Feuerholz aus den Palastküchen hatte sich Jai inzwischen eine sehnige Stärke angeeignet. Dies war ein Lichtblick, denn sonst hätte er vielleicht schon vor Langem Fett angesetzt.
Das ständige Herumschleppen und Umorganisieren trugen ebenfalls zu Jais Statur bei: Leonids Gemach hätte man für eine Bibliothek halten können, hätte nicht das enorme Bett mitten im Raum gestanden. Jede Wand war voll von Büchern, und der bevorzugte Zeitvertreib des alten Mannes bestand darin, am Feuer zu sitzen und durch seine alten Tagebücher zu blättern, wobei er an den Rändern oftmals Abänderungen und Ergänzungen vornahm.
Obwohl Jai es niemals zugegeben hätte, war dies ebenfalls eine seiner liebsten Beschäftigungen. Dieser Raum beinhaltete nicht nur die Erzählung von Leonids Leben, sondern auch die von jedem militärischen Denker im Lauf der Geschichte. Die Texte waren, wie Leonid ihm erzählt hatte, die Quelle seines Erfolgs.
In vielen Nächten hatte Jai darüber Fantasien gesponnen, wie er seine eigenen Männer in die Schlacht führte, wie er sogar an ihrer Spitze auf einem Greifen ritt. Es machte Spaß, sich Tagträumen hinzugeben, wenn man innerhalb der Grenzen dieses staubigen Raums gefangen war. Während er blieb, konnte sich sein Verstand zu jedem gedanklichen Höhenflug aufschwingen, der ihn erfasste.
Die meisten Bücher in diesen Gemächern hatte er mindestens einmal gelesen, aber eines blieb seit jeher unberührt und sammelte auf einem niedrigen Regalbrett in der Ecke Staub an. Es war das zerfledderte Tagebuch von Leonids Kriegen gegen Jais Vater. Er konnte es einfach nicht über sich bringen, diesen Band zu lesen.
Es lag nicht daran, dass Jai eine tiefe Liebe für seinen Vater gehegt hätte – obwohl Rohan allen Berichten zufolge ein guter Herrscher gewesen war, der sein Volk geliebt und ehrenhaft gekämpft hatte. Tatsächlich war das alles, was er für Jai gewesen war, denn dieser erinnerte sich nicht einmal mehr richtig an das Aussehen des Vaters. Auch seine Mutter war nur noch eine flüchtige Erinnerung – eine Frau mit bleichem Gesicht, die über sein Haar gestrichen und Wiegenlieder gesummt hatte. Selbst Balbir wusste nicht, was aus ihr geworden war.
Nein, es lag an der Schande. Denn innerhalb dieser Seiten lag der Grund dafür, weshalb die Menschen ihn auf der Straße anspuckten oder seine Hautfarbe verfluchten. Er benötigte keine Erinnerung an die angebliche Minderwertigkeit seines Volkes – über die Tatsache hinaus, dass das Steppenvolk beinahe die Hälfte der Gefesselten im Reich ausmachte. Er brauchte nicht einmal einen weiteren Grund, um den alten Kaiser zu hassen. Es war auch so schon schwer genug, ihm zu dienen.
»Eine Partie Tablus«, rief Leonid und klatschte in seine dünnen Hände. »Während ich bade.«
Jai verzog das Gesicht. Nicht, dass ihm das Spiel keinen Spaß gemacht hätte. Tatsächlich pflegte er zu den seltenen Gelegenheiten, bei denen er den Palast verlassen konnte, immer auf dem Hauptplatz der Stadt vorbeizuschauen und ein paar Partien mit den alten Männern dort zu spielen, wobei er die meisten gewann.
Nein, er mochte das Spiel durchaus. Nur hatte er keine Lust dazu, Leonid gegenüber zu verlieren, den er nie geschlagen hatte. Die Augen des Mannes mochten umwölkt sein, sein Verstand war es allerdings nicht.
Jai wünschte sich bloß, es würde jemand anderen im Palast geben, der mit ihm spielte. Aber nur wenige Diener blickten ihm überhaupt in die Augen, geschweige denn, dass sie ein Gespräch mit ihm angefangen hätten. Er war eine barbarische Kuriosität. Ein Angehöriger eines Königshauses und ein Diener. Ein sabinischer Steppenmann. Ein Feind – und zugleich ein Verbündeter. Das war ein Widerspruch, dem man am besten aus dem Weg ging. Er bedeutete Ärger, und bestimmt dachten die meisten, dass es seine Freundschaft nicht wert war, den Ärger von vielen zu riskieren, die das Steppenvolk hassten. Rohans Überfälle auf ihre Grenzstädte waren noch lange nicht vergeben.
Die Diener, die Eimer herbeischafften, um die Badewanne mit den goldenen Klauen in der Mitte des Gemachs zu füllen, machten diese Wahrheit nur noch offensichtlicher. Sie vermieden es sogar, ihn anzusehen, und Jai seufzte.
»Danke«, sagte er.
Sie erwiderten kaum seinen Blick und waren bald verschwunden. Es blieb Jai überlassen, Leonids Gewand abzulegen und seinen schwachen Körper aus dem Rollstuhl und in das dampfende Wasser zu heben.
Der alte Mann stöhnte, und Jai setzte das karierte Spielbrett und einen Stuhl neben der Badewanne auf. Er starrte auf die Spielfiguren. Ihre Anordnung war dem Schlachtfeld, das sie an diesem Morgen gesehen hatten, gar nicht unähnlich. Figuren von Fußtruppen in der vorderen Reihe, mit Reiterei an den Rändern. Und dahinter die nützlicheren Figuren in Form von seltenen Tieren, je nachdem aus welchem Land das Spielbrett stammte. Da es sich um ein sabinisches Brett handelte, waren die Figuren Greifen, Chamroschen, Mantikore und dergleichen. Jai wusste, dass zu den Figuren in der Nördlichen Tundra Höhlenbären und Drachen gehörten, während sein eigenes Volk Mammute und Khiroi verwendete. Dennoch wurden die Figuren unabhängig von der Kreatur auf die gleiche Weise bewegt.
»Komm jetzt, ich lass dich auch den ersten Zug machen«, schnaufte Leonid, während er sich tiefer in das dampfende Wasser schob.
Jai zuckte mit den Schultern und bewegte die erste Figur. Ein üblicher Eröffnungszug: ein tastender Vorstoß von einem beschützten Legionär. Dennoch schaffte es Leonid, darin eine Schwäche zu finden, und schnaubte flüsternd.
»Sag mir, Jai«, sagte Leonid, während er einen Greifen vorwärts auf den Legionär zubewegte, »was hätten die Generäle meines Sohns mit den Hudditen in der Schlacht tun sollen?«
Jai musste nicht einmal über eine Antwort nachdenken. Er hatte eine Menge Zeit gehabt, während ihrer langen Reise darüber nachzudenken. Er hatte ausreichend viele von Leonids Tagebüchern gelesen, um zu wissen, dass er bei den Hudditen die Taktiken eines Kindes wahrgenommen hatte.
Jai legte den Kopf schief und brachte einen zweiten Legionär voran, um den ersten zu decken, den der Greif bedrohte.
»Sie haben es dem Feind erlaubt, das Schlachtfeld zu wählen«, erklärte Jai. »Der Hang gab den Hudditen eine überlegene Position und ihren Anführern einen Blick über die Umgebung.«
»Umgebung«, murmelte Leonid. »Das ist ein gutes Wort.«
Über eine Diagonale brachte er seine nächste Figur voran, einen Chamrosch. Die aus einem Knochen geschnitzte Kreatur war eine gut gearbeitete Replik des realen Wesens, ein falkenköpfiger und geflügelter Hund. Die angehenden Krieger, die Knappen der Greifengarde, bevorzugten sie als seelenverbundenes Tier. Jai konnte seinen Fehler bereits erkennen, seine beiden Legionäre standen verwundbar und eingekreist in der Mitte des Spielfelds. Umgeben, tatsächlich.
»Wie werden Schlachten gewonnen?«, fragte Leonid leichthin.
»Die Schlacht ist nicht gewonnen, wenn der letzte Gegner tot ist, sondern wenn der erste Gegner besiegt ist«, sagte Jai, indem er die Worte wiederholte, die ihm Leonid über die Jahre hinweg eingebläut hatte.
Mit einem ironischen Lächeln rückte Jai den vordersten Legionär wieder zurück und stellte ihn hinter den ersten. Leonid war immer ein aggressiver Spieler gewesen, und Jais defensive Position hielt den Attacken des alten Mannes selten lange stand.
»Ich habe in Schlachten gekämpft, in denen der Gegner davonrannte, noch bevor er auch nur einen einzigen Mann verloren hatte. Eine Schlacht ist kein Fleischwolf, auch wenn mein Sohn das zu glauben scheint. Was hätten wir heute tun sollen, Jai?«
Jai wählte seine Worte mit Bedacht. Leonid liebte seinen Sohn, auch wenn der Kaiser grausam sein konnte.
»Majestät, eine einzelne Legion hätte zahlenmäßig unterlegen gewirkt und dem Gegner die Zuversicht gegeben, eine Chance zu haben. Drei dagegen hätten die Zwecklosigkeit des Widerstands demonstriert und eine Kapitulation erzwungen.«
Er erwähnte nicht, dass eine Kapitulation mehr Gefesselte ergeben hätte, obwohl dies zweifellos einer der Gründe war, weshalb Constantin die Horde der Hudditen überhaupt gejagt hatte. Da sich das ausgedehnte Ackerland der Hudditen plötzlich in seinem Besitz befand, brauchten die Sabiner neue Gefesselte für die Feldarbeit.
Leonid hob einen Finger.
»Was noch?«
Jai überlegte einen Augenblick lang, dann sagte er: »Mit der See im Rücken konnten sie nirgendwohin fliehen. Also waren ihre Alternativen, bis zum Tod zu kämpfen oder aufzugeben. Aber wenn sie einen Ausweg gehabt hätten …«
Leonid unterbrach ihn, als Jai an Schwung verlor.
»Eine Schlacht wird im Herzen des gewöhnlichen Soldaten gewonnen«, erklärte er. »Es bedeutet, deine eigenen Soldaten davon zu überzeugen, dass es besser ist zu kämpfen als davonzulaufen, und die Soldaten deiner Gegner müssen glauben, dass das Gegenteil stimmt. Kessle niemals einen Gegner ein, ohne ihm einen Weg für den Rückzug zu geben. Auf dem Rückzug wurden mehr meiner Feinde erschlagen oder gefangen genommen als je in einer offenen Schlacht.«
Leonid rückte einen Reiterkrieger heraus, und damit hatte Jai keine andere Wahl, als seinen Legionär wieder zurückzubewegen. Das Spielbrett bildete bereits eine Katastrophe ab. Leonid hatte viele seiner besten Truppen nach vorn gebracht und bedrohte nun seine gesamte Schlachtreihe. Inzwischen war Jai wieder so gut wie zurück am Anfang, mit einem einzigen Legionär, der allein in der Mitte des Spielbretts stand.
»Dein Vater …«, murmelte Leonid, während er den einsamen Legionär mit seinem Greifen umstieß, »er wusste das ganz gut. Verpasste mir meine erste echte Niederlage.«
Jai runzelte die Stirn. Das war heute das zweite Mal, dass Leonid seinen Vater erwähnt hatte. Also zweimal mehr als im letzten Jahr. Offensichtlich beschäftigte den alten Mann etwas.
»Oh?«, war alles, was Jai einräumte. Es war das Einzige, was er sagen konnte, ohne zu verraten, wie sich ihm die Kehle zusammenschnürte.
Leonid betrachtete das Spielbrett, seine Backen hingen ihm bis zum Hals. »In unserer ersten Schlacht hat er mir eine Falle gestellt. Schickte seine Armee nach vorn und ließ sie dann innerhalb von Minuten in angeblicher Panik davonrennen. Und als meine Männer ihre Formation brachen, um sie zu verfolgen, und meine Reitertruppen den Reihen der Fußsoldaten voranstürmten, um sie niederzuhauen … da formierten sie sich neu. Wandten sich um und trafen uns frontal, eine perfekte Linie von hundert Khiroi, die meine verstreuten Reiter verschlangen, als wären sie nichts. Ich konnte nur noch das einsammeln, was von meiner Infanterie übrig war, und dann zu unserem Lager zurückkehren. Das Heer deines Vaters schlachtete an einem Tag mehr Sabiner ab als jeder Feind in meinem ganzen Leben.«
Jai starrte Leonid an. Er wusste über diese Schlacht Bescheid. Wirklich jeder tat das. Aber die Einzelheiten, wie Jais Vater Leonid besiegt hatte, waren durch Gerüchte von Verrat schlammig gemacht worden, um das Gesicht der Sabiner zu wahren.
Jai empfand etwas Seltenes, vor allem wenn es sich um seine Familie und sein Volk handelte. Stolz.
Er bemerkte, dass er lächelte, und wischte den Ausdruck schnell von seinem Gesicht. Falls Leonid die Veränderung in Jais Stimmung bemerkt hatte, ließ er es sich nicht anmerken. Stattdessen wurde er still und grübelte eine Weile über das Spiel nach. Dann rümpfte er die Nase.
»Vier oder fünf Züge, und ich hab dich.«
Leonid nickte auf die Kaiserfigur in der Mitte von Jais Formation zu – sie wies eine verblüffende Ähnlichkeit zu einem jüngeren Constantin auf. Und Jai stieß sie pflichtschuldig um, womit er seine Niederlage eingestand.
Leonid schnaubte und verteilte die Figuren mit einem Wischen seiner knorrigen Hand auf dem Boden.
»Du bist zu furchtsam. Hast zu sehr Angst, einen Fehler zu machen, ein Risiko einzugehen. Du bist der Sohn deines Vaters. Benimm dich so.«
Jai lag auf dem Rücken und lauschte den morgendlichen Rufen der Pfauen in den Lustgärten. In seinem Zimmer war es dunkel, denn es hatte kein Fenster. Tatsächlich konnte er es kaum ein Zimmer nennen, sondern eher eine Garderobe, die sich als seine Stube verkleidete, seitdem er in den Dienst des früheren Kaisers getreten war. Es befand sich in einer Ecke von Leonids eigenem Schlafgemach, damit der alte Mann nach ihm rufen konnte, wenn er ihn brauchte.
Aber heute war es anders. Heute war kein Tag für Körperpflege oder etwa einer, an dem er Leonids Diktate aufschrieb, ein Tag der kratzenden Schreibfeder und der trocknenden Tinte. Und auch war es keiner, an dem er dem alten Mann laut Bücher vorlas oder seinen schmerzenden Rücken rieb.
Heute … würde er jagen.
Oder genauer gesagt, er würde eine Jagd beobachten, falls die Einladung, die an dem vorherigen Abend für Leonid eingetroffen war, irgendeinen Hinweis darauf gab. Er hoffte, dass es nur darum ging, zu beobachten – auf Pferden zu reiten hatte ihn immer nervös gemacht.
Jais Name hatte, aus welchem Grund auch immer, ebenfalls auf der Einladung gestanden. Vielleicht wollte man auf die Dansken damit gastfreundlicher wirken, da sie die sabinische Strategie, die Kinder ihrer besiegten Feinde als Geiseln zu halten, womöglich missbilligten und tatsächlich keine eigenen Gefesselten hatten.
So oder so war Jai überglücklich, dass er die umfriedete Stadt Latium schon wieder verlassen durfte. Und so bald seit dem letzten Mal – ein seltenes Vergnügen, das sein Herz schneller schlagen ließ.
Tatsächlich würde er zum ersten Mal, seitdem er ein Kind gewesen war, die Vororte der Stadt sehen, seit jener Zeit, als Balbir ihn und seine Brüder noch über die Stadtmauern hinaus hatte bringen dürfen. Sie hatte ihm auch die Namen beigebracht, die das Steppenvolk für die dort wachsenden Pflanzen gefunden hatte, sowie ihren Gebrauch.
Balbir. Bei dem Gedanken an ihr wettergegerbtes Gesicht und ihre sanften braunen Augen zog sich sein Herz ein wenig zusammen. Es war so viele Jahre her, seitdem er mehr als nur ein paar Worte mit ihr ausgetauscht hatte. Und sie – abgearbeitet bis auf die Knochen. Er sollte bald wieder einmal bei ihr vorbeischauen. Sich vergewissern, dass man sich gut um sie kümmerte.
Und wenn er erwachsen sein würde … dann würde er sie mit sich nach Hause nehmen. Das … das war es, worauf er wartete. Dann nämlich wäre sie endlich die Knochenarbeit los und würde ihm auf ihrer langen Reise nach Hause erzählen, wie er ein Mann der Steppe werden könnte. Sie würde ihm ihre Art zu leben beibringen, damit er unter ihnen nicht mehr ein Fremder sein müsste, so wie er es bei seiner Ankunft hier gewesen war.
Sie würden von dem leben, was ihnen das Land in Fülle zu bieten hatte, willkommen geheißen von seinem Stamm. Er würde eine Frau und eine Rolle innerhalb des Stamms finden. Vielleicht würde er sich dann endlich willkommen fühlen. Er würde dazugehören.
Jai seufzte und zwang sich aufzustehen.
Normalerweise trug er Leonids alte Gewänder, während er im staubigen Inneren von Leonids Ankleidezimmer herumwerkelte, aber zu diesem Anlass würden sie nicht passen. Das galt auch für die alltägliche Uniform der Küchenjungen, die er immer dann trug, wenn er Aufträge erledigte.
Irgendwo im Chaos seines Raums zog die zeremonielle Kleidung eines Palastdieners Flusen an. Er entdeckte sie unter seinem Feldbett, bürstete den Staub ab und zwängte sich mit einer Grimasse hinein. Sie war zu klein – zu kurz an den Beinen wie auch den Armen und eng um die Brust. Aber sie würde ausreichen müssen.
Ein gesprungener Spiegel ließ ihn seine reisemüde Erscheinung begutachten, während er seinen dichten dunklen Haarschopf hektisch in kaltes Wasser tauchte und sein Gesicht mit einem eingeseiften Lappen abschrubbte. Ein altes Rasiermesser, das er draußen an den Pflastersteinen geschärft hatte, erlaubte es ihm, den ersten Anflug von Barthaaren über seiner Oberlippe wegzuschaben. Er wünschte sich nur, er hätte auch etwas gegen die dunklen Ringe unter seinen ein wenig tief liegenden Augen tun können.
Zumindest war er dankbar für die hervorstechenden Wangenknochen, die ihm seine Mutter mitgegeben haben musste, und für das starke Kinn, das von seinem Vater stammte. Seine Haut, dunkler als die olivfarbene Haut der Sabiner, aber von einem helleren Ton als die braunen Schattierungen des Steppenvolks, stammte von beiden Eltern. Von seiner Mutter wusste er nur, dass sie schön gewesen war, aber davon abgesehen hatte er beinahe keine Ahnung von ihr. Selbst Balbir hatte sie nie getroffen, wenn sie sie auch von ferne gesehen hatte.
An diesem Tag war ihm seine Erscheinung wichtiger als sonst, nicht zuletzt, weil er sich in einem formellen Rahmen bewegen würde … aus den Räumlichkeiten des früheren Kaisers in der Öffentlichkeit aufzutauchen kam selten genug vor. Und obwohl er es hasste, das zuzugeben, war es auch deswegen, weil er in Ericas Gegenwart sein würde. Der auf einem Drachen reitenden Prinzessin der Nördlichen Tundra.
Wenn er auch kaum eine Vorstellung davon hatte, wie sie aussah, hatte ihn der Mut, den sie im Angesicht der Sabiner gezeigt hatte, bereits für sie eingenommen.
Wie er auch schon, würde nun sie im Namen des Friedens aus ihrem Heimatland an den Hof der Sabiner gezerrt werden. Es traf zu, dass ihr Schicksal wahrscheinlich um einiges angenehmer als das Seine war. Aber irgendwie konnte er sich nicht vorstellen, dass sie an den kleinlichen Gerüchten und Intrigen des Palastlebens viel Gefallen finden würde. Sie schien ihm ein Mädchen voller Tatendrang zu sein, das geradezu auf dem Wind dahinglitt.
Er wünschte nur, er hätte von sich dasselbe sagen können. Obwohl er darüber fantasierte, eines Tages eine Seelenverbindung mit einem Greifen einzugehen, vielleicht sogar der Greifengarde beizutreten, war er für ein solches Abenteuer gar nicht gemacht – und höchstwahrscheinlich war er nicht einmal dazu fähig, eine Seelenverbindung mit mehr als einem Floh einzugehen.
Er würde dabei bleiben müssen, über ihre Heldentaten in Leonids Tagebüchern zu lesen, und zwar im stillen Frieden seiner Kammer.
»Junge, wenn du nicht in den nächsten zehn Sekunden hier draußen bist, dann wird meine Reitgerte einen neuen Zweck finden.«
Leonids Stimme riss ihn vom Spiegel weg, und er tauchte auf, um den früheren Kaiser allein in seinem Rollstuhl dabei vorzufinden, wie er an der Ausgehuniform herumfummelte, die Jai ihm am Vorabend herausgesucht hatte.
»Ich bezweifle, dass Ihr heute viel zum Reiten kommen werdet, Majestät«, gab Jai zurück. »Sagtet Ihr nicht, dass Euer … Sitz … damit nicht mehr klarkommt?«
Leonid warf Jai einen finsteren Blick zu, der ihm deutlich machte, dass der Hintern des Ex-Kaisers an diesem Morgen keineswegs ein akzeptables Thema war.
Es dauerte nur ein paar Minuten, bis Jai Leonids Rollstuhl den langen Korridor entlang schob, der an den Haupthof des kaiserlichen Palastes grenzte. Der Korridor wurde kaum von jemand anderem als Jai und gelegentlich von Leonid benutzt. Der Mann war im Alter ein Einsiedler geworden, der die Bequemlichkeit seines Gemachs nur selten verließ.
Heute war das allerdings etwas anders. Es stimmte, der Palast wirkte in der Erwartung des Fests geschäftiger als zuvor, aber das war nicht alles, was sich verändert hatte. Nein … es lag auch an den Legionären, die an jedem Türdurchgang stationiert waren, und an den anderen, die im Innenhof darunter auf und ab marschierten. Die Palastsoldaten trugen ihre Paradeuniformen, ganz mit Umhängen, Troddeln und Helmen mit Rosshaar, aber die Klingen, die sie bei sich hatten, waren so tödlich wie immer. Was aber noch merkwürdiger schien: Viele von ihnen waren mit bedrohlich aussehenden Armbrüsten bewaffnet, die nicht oft zur Bewaffnung der Legion gehörten.
»Eine Machtdemonstration«, brummte Leonid, der zu den aufgereihten Soldaten hinübernickte. »Für den Fall, dass diese Hochzeit nur ein Vorwand war, um ihr Heer in unsere Hauptstadt zu schaffen.«
Wenn man bedachte, dass das danskische Heer so kampierte, dass eine Legion zwischen ihm und dem Palast lag, erschien diese Zurschaustellung unnötig. Aber Jai vermutete, dass wenn die Dansken an jenem Morgen ihre Stärke hatten zeigen wollen, Constantin nun die Absicht hatte, sich gleich mehrfach zu revanchieren.
Als sie sich dem Eingang zum Palast näherten, kamen zwei Bedienstete vorbei, die eine große Amphore aus Zinn trugen. Keiner der beiden warf ihm auch nur einen Blick zu. Eine von ihnen erkannte er – Ava. Ein junges Mädchen mit großen Augen, die ihn in einer Nacht nach dem letzten Erntefest gegen die Palastmauer gedrückt und ihm zwischen die Beine gefasst hatte. Sie hatte ihn mit einem Lachen von der Halle fort und zu einer im Schatten liegenden Ecke geführt, wo er seinen ersten Kuss bekommen hatte. Er erinnerte sich noch an ihren Atem in seinem Ohr, an den Geschmack von Wein auf ihren Lippen und auch an ihr zufriedenes Seufzen. Aber dann hatte eine Stimme aus der Küche nach ihr gerufen, und schnell war sie mit einem Grinsen über die Schulter zurückgeflitzt.
Jai versuchte, Ava in die Augen zu sehen. Es war nun schon Monate her. Er suchte nach einer Möglichkeit, mit ihr zu sprechen, ihr etwas mitzuteilen und sie dazu zu bringen, ihn anzusehen. Stattdessen wandte sie ihren Blick ab, und den Kopf senkte sie in Ehrerbietung vor dem alten Mann.
Jai schluckte seine Enttäuschung herunter, während sie die Vorderstufen des Palasts erreichten, und schob den Rollstuhl die lange schräge Rampe hinab, die dort extra für Leonid verlegt worden war.
Jai nahm den Platz in sich auf, wo ein halbes Dutzend Kutschen warteten, die von Pferden gezogen worden waren. Inmitten von ihnen konnte er sowohl Dansken als auch Sabiner erkennen, wobei die beiden Gruppen einander demonstrativ aus dem Weg gingen.
Es war merkwürdig, die farbenfrohen Gewänder der sabinischen Diener und Adligen neben denen der Dansken zu sehen. Selbst der geringste Küchenjunge schien im Vergleich zu dem gedämpften Grau, Weiß und Hellbraun der Dansken besser gekleidet. Sie trugen ausschließlich grob gesponnenen Flachsstoff, Felle und Leder, wenn auch ihr Schmuck, soweit vorhanden, deutlich gezeigt wurde.
Es waren aber nicht die zierlichen Filigranarbeiten und geschliffenen Juwelen, die die Finger der Sabiner schmückten. Stattdessen glänzten einfachere Broschen mit eingravierten Runen und gewundene Ringe aus Gold und Silber auf Dekolletés und Hälsen. Selbst Ivar, der hoch über dem Rest aufragte, sah eher wie ein wilder und magischer Eremit aus, den man aus dem Wald ausgegraben hatte, und nicht wie der König eines unbezwingbaren Landes.
Beim Anblick von Leonids Ankunft eilten Diener vorwärts, hoben seinen Rollstuhl in die Luft, als wöge er gar nichts, und setzten ihn in die vorderste Kutsche, wo Jai vermutete, dass Constantin und Titus bereits auf ihn warteten.
Irgendwie verloren stand Jai da. Erst als eine Trompete erklang und die wartenden Rivalen in ihre Kutschen stiegen, wurde ihm klar, dass er drauf und dran war, zurückgelassen zu werden.
Die Kutscher ließen bereits ihre Peitschen knallen, und Jai blieb nichts anderes übrig, als auf das Trittbrett des letzten danskischen Gefährts zu springen, ehe sie schon die Hauptstraße entlang ratterten, die die Stadt in zwei Bereiche teilte.
Jai atmete tief ein und genoss den offenen Himmel über sich und das geschäftige Treiben einer lebendigen Stadt. Er lehnte sich über die vorbeirauschenden Pflastersteine hinaus und reckte sein Gesicht nach oben, um die Brise einzufangen. Die Sonne war hell und klar, und es schien, als würden seine Pflichten gegenüber Leonid an diesem Tag von Constantins Bediensteten übernommen werden. Jai grinste sogar, als hinter den Scheiben ergraute danskische Gesichter auf ihren seltsamen Passagier hinausstarrten.
Jai winkte und kletterte auf den Kutschbock, um sich neben den grauhaarigen Kutscher zu setzen. So süß hatte die frische Luft noch nie gerochen.
Jai brachte einen großen Teil der Fahrt damit zu, den Mut zu sammeln, sich dem Kutscher vorzustellen, der problemlos hinzunehmen schien, dass Jai sich ihm angeschlossen hatte. Aber es machte den Eindruck, dass der Wagenzug kaum außerhalb der Stadttore und eine Straße entlanggerollt war, als die Kutschen schon wieder zu einem Halt kamen. Sie waren keine Meile weit gefahren.
Tatsächlich lag ihr Reiseziel so nahe, dass man bereits einen Bereich für Erfrischungen aufgebaut hatte, zusammen mit einem kalten Festmahl auf langen, rustikalen Tischen.
Bei diesem Anblick knurrte Jai der Magen, denn er hatte den ganzen Morgen über nichts gegessen, und die Sonne stand nun hoch am Himmel. Aber der Gedanke an Essen war vergessen, als er sah, wie seine Brüder von ihren Kutschen sprangen und brüllend über irgendeinen von Titus’ Witzen lachten.
Der junge zukünftige Kaiser war in volles militärisches Ornat gekleidet, obwohl er niemals an irgendeiner Schlacht teilgenommen hatte. Dem Vernehmen nach war er ein ausgezeichneter Schwertkämpfer, ausgebildet von den Besten der Besten, und er hatte sogar an Fechtturnieren in Latiums Colosseum teilgenommen. Aber auch Jai wusste, dass die verzierte Brustplatte, die Titus trug, mit definierten Muskeln versehen war, die darunter nicht vorhanden waren.
Jais Brüder hatten seit Jahren keine Uniformen für Bedienstete getragen, und beide hatten sich nun für feine Jagdhosen aus grün gefärbtem, gestepptem Maulwurfsfell entschieden. Ihre Blicke schienen an ihm vorbeizuwandern, selbst als Jai winkte.
»Arjun!«, rief Jai. »Samar!«