Die Dämonenakademie - Die Prophezeiung - Taran Matharu - E-Book

Die Dämonenakademie - Die Prophezeiung E-Book

Taran Matharu

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Es ist das größte und gefährlichste Abenteuer, das der junge Dämonenkrieger Fletcher bisher bestehen musste. Gemeinsam mit seinen Gefährten von der Akademie und seinem feuerspeienden Dämon Ignatius muss er sich seinem Erzfeind entgegen stellen: Khan, der mächtige weiße Ork, hat geschworen, ganz Hominum zu zerstören und all jene zu töten, die Fletcher liebt. Wenn es Fletcher nicht gelingt, Khan zu besiegen, ist die Welt der Menschen dem Untergang geweiht ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 546

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Nachdem sie die Pyramide der Orks zerstört haben, ist Fletcher und seinen Gefährten Othello, Sylva und Kress die Flucht vor ihren Feinden gelungen. In allerletzter Sekunde konnten sie sich durch ein magisches Portal in den Äther retten. Doch ihre Erleichterung ist nur von kurzer Dauer, denn sie sind im Orkteil des Äthers gelandet und dort warten bereits neue Abenteuer auf sie: Überall lauern Dämonen – größer, schneller und gefährlicher, als die Freunde in ihren schlimmsten Alpträumen jemals zu denken wagten –, und vor den Orks sind sie hier erst recht nicht in Sicherheit. Sie müssen so schnell wie möglich nach Hominum zurück, das ist allen klar, aber die Orks sind ihnen schon auf den Fersen. Allen voran Khan, der weiße Riesenork, der nur zwei Dinge im Sinn hat: Rache an Fletcher und die Zerstörung Hominums …

Für Fletcher und seine Freunde beginnt die aufregendste, gefährlichste und dämonigste Zeit ihres Lebens.

Der Autor

Taran Matharu wurde 1990 in London geboren und entdeckte schon früh seine Leidenschaft für Geschichten. Nach seinem BWL-Studium und einem Praktikum bei Random House UK schrieb er 2013 seinen ersten Roman Die Dämonenakademie – Der Erwählte, der auf der Leserplattform Wattpad innerhalb kürzester Zeit zum Publikumsliebling avancierte. Die Fortsetzung Die Dämonenakademie – Die Inquisition erreichte Platz 2 der New York Times-Bestsellerliste. Der Autor lebt und arbeitet in London.

Bereits bei Heyne fliegt erschienen:

Die Dämonenakademie – Der Erwählte

Die Dämonenakademie – Die Inquisition

Und exklusiv als E-Book:

Die Dämonenakademie – Wie alles begann

www.heyne-fliegt.de

TARAN MATHARU

DIE PROPHEZEIUNG

ROMAN

Aus dem Englischen übersetztvon Michael Pfingstl

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel The Battlemage bei Hodder Children’s Books
Copyright © 2017 by Taran Matharu Ltd Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Redaktion: Joern Rauser Karte: Malgorzata Gruska Illustrationen: David North Coverillustration by Małgorzata Gruszka Background images © Shutterstock 2015 Umschlaggestaltung: Das Illustrat GbR, München Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN 978-3-641-11422-0 V003
www.heyne-fliegt.de

Für meinen Vater, der mir dasHandwerkszeug zum Schreiben beibrachte.Und für meine Geschwister –für ihre lebenslange Freundschaft.

1

Ein Kaleidoskop aus violetten Tönen jagte an Fletcher vorbei, dann stürzte er ins Leere. Schwarzes Wasser strömte ihm in Mund und Nase.

Er spürte etwas Gummiartiges an seinem Knöchel und trat aus, kämpfte gegen die Kraft an, die ihn in die Dunkelheit ziehen wollte. Seine Lunge brannte, und er würgte an der eiskalten, brackigen Flüssigkeit.

Der Sauerstoff in seinem Gehirn wurde immer weniger, sein Bewusstsein schwand, als fließe es mitsamt der Körperwärme einfach aus ihm ab. Fletcher spürte seine Gliedmaßen nicht mehr, er schwebte wie schwerelos, Erinnerungen blitzten vor seinem inneren Auge auf: Sariel, von dem einstürzenden Tunnel in der Pyramide erdrückt. Jespers höhnisches Grinsen, als er mit dem Blasrohr in der Hand über Fletchers gelähmte Freunde hinwegstieg. Das sich drehende Portal. Seine Mutter.

Nichts.

Kräftige Finger packten sein Handgelenk und zogen ihn nach oben. Kühle Luft schlug ihm ins Gesicht, sodass er husten musste. Eine fleischige Faust klopfte ihm herzhaft auf den Rücken, bis er die Flüssigkeit erbrach, die er geschluckt hatte.

»So ist es gut, immer raus damit«, raunte Othello, während Fletcher das Wasser aus den Augen blinzelte und die neue Umgebung in sich aufnahm.

Er befand sich auf einer kleinen, zerklüfteten Insel. Sie hatte die Form einer umgedrehten Schüssel und war von dicken, grünen Algen bewachsen; am Ufer des dunklen Wasserlaufs zu beiden Seiten wuchs ein undurchdringliches Dickicht aus mangrovenähnlichen Bäumen. Der Himmel über ihm war von einem stumpfen Dunkelblau, wie bei einem Sonnenuntergang im Winter.

Kress, Sylva und seine Mutter waren ebenfalls hier. Zitternd und durchnässt pressten sie sich an Lysanders Flanken, während sich Tosk in den Schoß seiner Herrin kuschelte. Ignatius leckte die klatschnasse Athena mit der Zunge trocken, Solomon lag mit ausgebreiteten Armen auf dem Bauch und klammerte sich mit aller Kraft am Boden fest. Sein Atem ging rasselnd von der Anstrengung, die es ihn gekostet hatte, den gelähmten Lysander aus dem Fluss zu ziehen.

»Es bewegt sich«, sagte Sylva und deutete auf das Portal, das in wenigen Metern Entfernung über dem Fluss schwebte. »Deshalb sind wir mitten im Wasser wieder herausgekommen.«

Fletcher beobachtete, wie sich das schrumpfende Portal immer weiter entfernte, bis es mit einem leisen Plopp schließlich ganz verschwand.

»Nein«, widersprach Othello und nickte in Richtung der vorbeiziehenden Bäume am Ufer. »Nicht das Portal bewegt sich, sondern wir.«

Er hatte recht: Langsam, aber sicher trieben sie den dunklen Flusslauf hinab. Beinahe sah es so aus, als … schwimme die Insel.

Fletcher robbte an den Rand und blickte ins Wasser. Ein Bein mit Schwimmhäuten zwischen den Krallen zog unter ihm vorbei. Ein mächtiger, gepanzerter Kopf drehte sich in seine Richtung und blinzelte ihn mit goldgesprenkelten Augen an.

»Das ist keine Insel«, flüsterte er. »Wir sitzen auf einem Zaratan.«

Ganz langsam zog er sich zurück, sorgsam darauf bedacht, auf dem glitschigen Rückenschild nicht abzurutschen, denn genau das war die Insel: ein Rückenschild. Der Dämon, auf dem sie ritten, sah wie eine riesige Wasserschildkröte aus. Die Kreatur musste ziemlich jung sein, denn die Spezies konnte noch um ein Vielfaches größer werden als dieses Exemplar hier.

Fletcher schaute zu dem bewachsenen Ufer hinüber und überlegte, was sie nun tun sollten. Das Gestrüpp dort war zu dicht, um an Land zu gehen, also blieb ihnen fürs Erste wohl oder übel nichts anderes übrig als abzuwarten.

Als das Laub einen Augenblick lang in blaues Licht getaucht wurde, drehte er den Kopf und sah, dass der Golem nicht mehr da war. Othello hatte ihn mithilfe seines durchweichten Beschwörungsleders in sich aufgenommen.

»Sollte unser Transportmittel auf Tauchstation gehen, würde Solomon versinken wie ein Stein«, erklärte der Zwerg mit einem misstrauischen Blick auf das trübe Wasser.

»Gute Idee«, erwiderte Fletcher und dachte besorgt an Lysander. Noch immer war der Greif von Jespers Giftpfeilen gelähmt. Ohne den Zaratan wäre er höchstwahrscheinlich ertrunken.

Ignatius hatte sich um Athena gelegt und wärmte sie mit seiner inneren Hitze, während die Greifeule die Flügel wie eine Decke über ihn breitete. Fletcher beschloss, die beiden so zu belassen, denn je enger sie sich anfreundeten, desto besser war es für ihn. Hier im Äther war er mehr denn je darauf angewiesen, dass sie zusammenarbeiteten.

Eine ganze Weile saß die Gruppe schweigend da, das einzige Geräusch war das Stöhnen der Bäume im Wind. Bei einer jeden Brise erzitterte die glatte Wasseroberfläche, als wäre sie lebendig.

»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte Kress, den Blick auf den düsteren Himmel gerichtet.

»Warten«, antwortete Sylva und legte den Kopf auf Kress’ Schulter. »Bis wir irgendwo Land sehen und uns verstecken können. Hoffen wir nur, dass uns der Zaratan bald aus diesem Sumpf bringt.«

»Vor wem sollten wir uns hier verstecken?«, fragte Othello.

»Glaubst du, die Orks können sich nicht denken, wohin wir verschwunden sind?«, erwiderte Sylva. »Sobald sie das Blut auf dem Pentagramm sehen, wissen sie doch, dass wir durch das Portal in ihren Teil des Äthers geflohen sind. Wohin genau, das können sie anhand der Koordinaten zwar nicht genau ablesen, aber so ungefähr schon.«

»Vielleicht lassen sie uns ja in Ruhe«, murmelte Kress halb zu sich selbst.

»Wir haben gerade ihr Allerheiligstes entweiht und die Hälfte der Gnome vernichtet, die sie in jahrelanger Arbeit gezüchtet haben«, entgegnete Sylva mit einem Kopfschütteln. »Da lassen sie uns sicher nicht so einfach davonkommen. In wenigen Stunden werden die Wyvernreiter von der Jagd auf die anderen Teams zurückkehren und sich dann an unsere Fersen heften. Zum Glück hat Fletcher einen Großteil der Ork-Dämonen in der Pyramide verschüttet. Bis sie ihre Reihen wieder sortiert haben, wird es hoffentlich eine Weile dauern.«

»Sie hat recht«, erklärte Fletcher. »Wir warten, bis wir an Land gehen können, dann verstecken wir uns im Wald. Hier sind wir allzu ausgesetzt.«

Er krabbelte an seinen alten Platz zurück und kuschelte sich an seine Mutter. Alice zu berühren, weckte ein eigenartiges Gefühl in ihm. Fletcher konnte kaum glauben, dass sie … echt war. War es denn wirklich sie, sie selbst, nach all der Zeit? Jahrelang hatte er die Gesichter von Frauen gemustert und sich gefragt, ob sie es gewesen sein mochte, die ihn so kaltherzig nackt im Schnee ausgesetzt hatte, um dann zu erfahren, dass ihn seine Mutter immer geliebt hatte und ihm die ganze Zeit nur vorenthalten worden war.

Als er seinen Kopf auf ihre Schulter legte, merkte Fletcher, dass Alice zitterte. Ihr Körper war so ausgezehrt, dass er der Kälte nichts entgegenzusetzen hatte, und die Lumpen, die sie am Leib trug, waren vollkommen durchnässt.

»Wo sind unsere Sachen, Kress?«

»Ähm … was das betrifft«, murmelte die Zwergin verlegen. »Wir sind im Wasser aus dem Portal gekommen, und ich brauchte meine Hände, um nicht unterzugehen. Ich habe nur noch den Sack mit den Blütenblättern, außerdem deinen Beutel und den von Jesper. Hier.«

Sie reichte Fletcher den tropfnassen Beutel. Der Gedanke, dass sie so viele von den kostbaren Blütenblättern verloren hatten, ließ ihn angst und bange werden. Die Blätter waren der einzige Schutz vor der giftigen Atmosphäre im Äther. Schließlich schob er die Sorgen für den Augenblick beiseite und öffnete seinen Beutel. Zum Glück hatte das dicke Leder das Wasser größtenteils abgehalten. Er wühlte sich bis ganz zum Boden durch, zog die Jacke hervor, die ihm Berdon zum Geburtstag geschenkt hatte, und legte sie seiner Mutter über die Schultern.

Als er ihr die Kapuze über den Kopf zog und sie die Wange gegen das weiche Kaninchenfell schmiegte, sah ihr Fletcher zum ersten Mal in die Augen. Das Sumpfwasser hatte ihr den größten Teil des Drecks vom Gesicht gewaschen. Fletcher staunte über die Ähnlichkeit mit ihrer Zwillingsschwester Josephine Forsys, trotzdem sah sie anders aus, vor allem in ihrer augenblicklichen Verfassung: Alice’ Augen wirkten stumpf und eingesunken, sie schauten einfach durch ihn hindurch.

Fletcher wischte ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Es schien so abgemagert, dass es beinahe wie ein Totenschädel aussah. Wie sehr sie während ihrer siebzehnjährigen Gefangenschaft gelitten haben musste, konnte er sich nicht einmal vorstellen.

»Alice«, sagte er sanft, »hörst du mich?« Fletcher versuchte, ihren Blick aufzufangen, doch Alice’ Augen blieben leer. »Mutter?«

»Mutter?«, wiederholte Othello leise. »Bist du wirklich sicher, dass dir nichts fehlt, Fletcher? Das ist die Dame Kavendisch.«

»Nein«, widersprach Fletcher, während er Alice half, die kraftlosen Arme in die Jackenärmel zu schieben. »Die Dame Kavendisch hat den Absturz nicht überlebt. Die Geisel, von der Manhard erzählt hat, das war diese Frau hier … fast während meines gesamten Lebens ist sie eine Gefangene der Orks gewesen. Sie hat Athena erkannt und nach ihrem Baby gerufen, außerdem habe ich ihr Gesicht in meiner Vision schon einmal gesehen. Die Orks haben sie entführt, als ich noch ein Neugeborenes war.«

Othellos Stirn legte sich in Falten, dann begriff er. Gerade wollte er etwas erwidern, da sprang sein Blick zu dem trüben Wasser hinter Fletcher. »Vorsicht!«, schrie er und warf sich auf ihn.

Fletcher wurde zu Boden gerissen und hörte das Klappen zuschnappender Kiefer unmittelbar über seinem Kopf. Ein Gestank wie von verwesendem Fisch rollte über ihn hinweg, dann war die Kreatur schon wieder lautlos im schlammigen Fluss verschwunden. Aus dem Augenwinkel sah er gerade noch den echsenähnlichen Kopf des Wesens und glaubte einen schrecklichen Moment lang, die Wyvern hätten sie eingeholt. Erst danach sah Fletcher die baumstammähnlichen Silhouetten, die ringsum knapp unter der Wasseroberfläche lauerten.

Eine Lektion aus dem Dämonologie-Unterricht fiel ihm wieder ein: Sobeks. Knapp mannsgroße, aufrecht gehende Geschöpfe mit Beschwörungsstufe neun, die ihre Beute mit Zähnen und Klauen zerrissen, falls sie sie nicht schon vorher mit einem Schwanzschlag getötet hatten.

Und nun waren sie von Dutzenden dieser Kreaturen umzingelt.

2

Fletcher zog seine Mutter hinter sich her und kroch zur Mitte, um dort mit den anderen an Lysanders Flanke in Deckung zu gehen. Aber selbst hier war das Wasser mit den lauernden Sobeks nur wenige Meter entfernt.

»Wo kommen die auf einmal her?«, keuchte Kress und zog ihren Sachs aus der Scheide.

»Sie müssen den Zaratan gewittert haben«, antwortete Sylva. »Sobeks fressen solche kleineren Exemplare wie unseres.«

Fletcher spürte, wie ein Zittern durch den Rückenpanzer ging. Der Zaratan hatte angehalten. Unmittelbar vor ihnen schlug einer der Sobeks aufgeregt mit dem Schwanz – die gefräßigen Räuber hatten ihre Beute eingekreist.

»Wahrscheinlich wird er gleich abtauchen«, warnte Othello und stemmte sich auf die Knie hoch. »Ist Lysander schon wieder bei Bewusstsein? Er wird uns noch ertrinken!«

Als die Sobeks zu kreisen begannen – mit ihren ledrigen, gefurchten Rücken knapp unter der Wasseroberfläche –, ging ein neuerliches Zittern durch den Rückenpanzer.

»Warum taucht er nicht?«, murmelte Fletcher und warf einen fragenden Blick zu den goldenen Augen des Zaratan hinüber. »Ich glaube … er beschützt uns«, flüsterte er schließlich. »Er weiß, dass wir im Wasser sterben würden.«

»Wenn wir nicht schnell etwas unternehmen, wird er gleich mit uns sterben«, knurrte Sylva und nahm ihren Bogen vom Rücken. Als sie einen Pfeil einlegen wollte, musste sie allerdings feststellen, dass der Köcher leer war. Sie hatte alle Pfeile im Sumpf verloren.

In diesem Augenblick ging der erste Sobek zum Angriff über. Der Zaratan wich aus und rollte zur Seite, Lysander rutschte in Richtung Wasser, da erkannten auch die anderen Sobeks ihre Chance. Zwei lösten sich aus dem Verband und jagten mit kräftigen Schwanzschlägen auf den gerade erst wieder aufgewachten Lysander zu.

»Nein!« Fletcher zog seinen Chepesch und warf sich schützend vor Lysander. Sylva folgte seinem Beispiel und hob ihre Falx, während die beiden Ungeheuer auf sie zueilten.

Gelb-grüne Augen blitzten auf, da sprang der Erste aus dem Wasser. Seine klauenbewehrten Hinterbeine hinterließen tiefe Furchen in dem Algenbewuchs auf dem Rücken des Zaratan, und dann riss er die lange Schnauze auf.

Fletcher starrte in den gelblichen Schlund voller gezackter Zähne und konnte seinen Chepesch gerade noch rechtzeitig hochreißen. Der Schlag des Sobek war so schnell und kraftvoll, dass Fletcher die fünf sichelförmigen Klauen nur mit knapper Not aufhalten konnte, bevor sie sich ihm ins Gesicht gruben. Als er sich verzweifelt mit beiden Händen dagegenstemmte, schlug der Dämon auch mit dem anderen Arm zu.

Sylva sprang gerade vor und wehrte den Angriff mit ihrer Falx ab, da kam auch der zweite Sobek aus dem Wasser. Der Elfin blieb nichts anderes übrig, als Fletcher seinem Schicksal zu überlassen und sich dem anderen Angreifer entgegenzustellen.

Die Kiefer des Sobek schlugen über Fletchers Klinge zusammen. Fletcher geriet auf dem glitschigen Rückenpanzer ins Taumeln, da wirbelte der Sobek plötzlich herum und holte Fletcher mit einem Schwanzschlag von den Beinen. Fletchers Kopf schlug krachend auf den Rückenpanzer des Zaratan, der Chepesch entglitt seinen Fingern, und dann sah er nur noch Sternchen.

Der gelbe Schlund des Sobek sauste herab. Fletcher spürte bereits den heißen Atem des Ungeheuers, da wurde es plötzlich von einer Feuerkugel ins Wasser geschleudert. Nur der Geruch von verbranntem Fleisch blieb zurück.

Ignatius hatte ihn in letzter Sekunde gerettet.

Fletcher rappelte sich auf die Knie hoch, während Othello, Kress und Sylva mit verzweifelten Schlägen gemeinsam gegen den verbliebenen Sobek vorrückten. Als dieser sah, welches Schicksal seinen Artgenossen ereilt hatte, sprang er mit einem zornigen Brüllen ebenfalls in den Fluss zurück, und das Trio atmete erleichtert auf.

»Wir können es nicht mit ihnen allen aufnehmen«, keuchte Fletcher und hob seinen Chepesch auf, während Ignatius auf seine Schulter kletterte. Athena blieb bei Alice, damit sie in ihrer Verwirrung nicht die – vergleichsweise sichere – Mitte des Rückenpanzers verließ.

Der Sobek, den Ignatius versengt hatte, schien seine Verletzungen erstaunlich gut wegzustecken und verschwand flink im Ufergestrüpp. Unterdessen kamen seine Artgenossen immer näher. Anscheinend hatten sie mit mehr Widerstand gerechnet und wurden nun umso mutiger. Nicht mehr lange, dann würden sie alle gemeinsam angreifen.

»Feuer reicht offensichtlich nicht aus«, knurrte Othello.

»Dann nehmen wir eben Blitze«, sagte Kress. Tosk saß auf ihrer Schulter, während sein buschiger Schwanz knisternde Funken sprühte.

»Nein!«, rief Fletcher und hob die Hand. »Der Blitz würde sich im Wasser ausbreiten und auch den Zaratan treffen. Wir müssten untergehen.«

»Darum kümmern wir uns, wenn es so weit ist«, entgegnete Kress. »Es ist der einzige Zauber, der den Biestern etwas anhaben kann.«

»Spar dir das Mana lieber«, widersprach Sylva und deutete auf die kreisenden Sobeks. »Dein Blitz kann sie niemals alle gleichzeitig erledigen.«

Immer noch kämpfte Lysander stöhnend gegen das Gift in seinem Körper an. Mit einem Dämon der Stufe zehn an der Seite wäre das Kräfteverhältnis ein wenig ausgeglichener, aber Lysander hatte kaum genug Kraft, um sich zu bewegen.

Ein weiterer Sobek löste sich aus dem Verband und kam näher, um ihre Verteidigungslinien zu prüfen, da durchbrach ein großer Fuß mit Schwimmhäuten die Wasseroberfläche und versetzte ihm einen so heftigen Tritt, dass er in hohem Bogen durch die Luft flog. Von einem riesigen Wasserschwall begleitet, schlug er klatschend und halb bewusstlos zwischen seinen Artgenossen auf – der Zaratan setze sich nun ebenfalls zur Wehr.

»Denk nach«, murmelte Fletcher und ging in Gedanken alle Zauber durch, die er kannte. Gegen Dämonen nützten Schilde nichts – sie durchbrachen sie wie Reispapier. Es gab Zauber gegen Schmerzen, um Schlösser zu knacken oder zu verriegeln, und um Feuchtigkeit aus der Luft zu ziehen, um Geräusche zu verstärken oder zu unterdrücken, sogar welche, die einen warnten, wenn sich etwas in der Nähe bewegte. Aber in ihrer Situation waren sie alle nutzlos.

Und während Fletcher immer verzweifelter in das schwarze Wasser starrte, fiel ihm der Sumpf im Ork-Dschungel wieder ein. Dort hatte Malik Jespers Eiszauber ausprobiert und eine Pfütze schlagartig gefrieren lassen. Mit den Sobeks musste eigentlich das Gleiche geschehen …

Fletcher hob die Hand und rief sich das Symbol ins Gedächtnis, das Jesper ihnen gezeigt hatte. Die Glyphe war sehr kompliziert und ähnelte einer Schneeflocke. Dann begann er zu ätzen.

»Wartet …«, sagte Othello, als er sah, was Fletcher vorhatte. »Das könnte funktionieren.«

Die Glyphe flackerte leicht, aber das Jahr ununterbrochener Übung im Kerker von Pelz machte sich endlich bezahlt, sodass Fletcher den Manastrom mit Leichtigkeit so lange aufrechterhalten konnte, bis der Zauber stabil war.

Als würde sie das blaue Leuchten der Glyphe magisch anziehen, lösten sich drei Sobeks aus dem kreisenden Rudel und jagten in Keilformation auf den Zaratan zu.

Schweiß trat auf Fletchers Stirn. Immer schneller bewegte er seinen Zeigefinger, die Kuppe brannte schon vor Kälte, als er endlich die letzte Linie zog. Die Sobeks waren jetzt so nahe, dass er den hasserfüllten Ausdruck in ihren schlitzförmigen Pupillen erkennen konnte. Einer von Kress’ Armbrustbolzen sauste über Fletchers Schulter hinweg, aber er verfehlte das Ziel und klatschte wirkungslos ins Wasser.

»Fletcher, beeil dich!«, rief Sylva, als der Rückenpanzer des Zaratan erneut erzitterte.

Dann, als der erste Sobek zum Sprung ansetzte, schoss ein langer weißer Strich aus Fletchers Hand. Eiskristalle regneten herab. Fletcher spürte, wie sein Mana entsetzlich schnell zur Neige ging, trotzdem schleuderte er den Angreifern Zauber um Zauber entgegen, bis er mitten in einem Schneesturm stand. Erst als er bereits die Hälfte seines Manas verbraucht hatte, hörte er auf und sank keuchend vor Anstrengung auf die Knie.

Die Schneeflocken rieselten herab und gaben den Blick wieder frei: Der Sobek war in einem Eisblock gefangen, das Maul halb aufgerissen, die Klauen nach Fletchers Hals gestreckt. Nur der Schwanz und die Beine ragten schlaff daraus hervor. Seine beiden Artgenossen trieben steifgefroren im Fluss, eingeschlossen von einer knisternden und knackenden Eisscholle.

»Sieh mal einer an«, staunte Kress. »Das hat ja wunderbar geklappt.«

»Wie geht es dem Zaratan?«, fragte Fletcher, besorgt, der Schildkrötendämon könnte ebenfalls etwas abbekommen haben.

Als hätte er die Frage gehört, setzte sich der Zaratan mit einem Rucken wieder in Bewegung. Fletcher ließ die Eisglyphe in der Luft fixiert, da ergriff der erste der verbliebenen Sobeks beim Anblick seiner erfrorenen Artgenossen die Flucht. Die anderen folgten kurz darauf und flohen in Zweier- und Dreiergruppen vor dem näher kommenden Zaratan.

Bald waren sie wieder allein, das einzige Geräusch rührte von den Blättern der Bäume her, die in der kalten Brise raschelten. Sie hatten überlebt.

Fürs Erste.

3

Der Himmel wurde allmählich dunkler, doch der Zaratan schwamm immer weiter, nur ab und zu hielt er an, um etwas Flussgras zu fressen. Er bewegte sich wie mit neuer Kraft, und sie kamen gut voran, auch wenn sich die Landschaft ringsum kaum veränderte. Jede Minute, die verging, war wie ein Segen, denn der Abstand zwischen ihnen und den Orkschamanen mit ihren Wyvern, die die Verfolgung inzwischen mit Sicherheit aufgenommen hatten, wurde immer größer.

Während sie darauf warteten, dass sie das Ende des Sumpfs erreichten, stellte sich ihnen ein neuer Feind entgegen: Die feuchte Luft saugte ihnen die Wärme aus dem Körper, und schon bald kauerten sie sich alle zitternd an Lysanders flauschige Flanken. Fletcher legte Ignatius auf Alices Schultern, Athena setzte er auf ihren Schoß. Die Greifeule gurrte zufrieden, während Alice ihr geistesabwesend das Fell kraulte. Der Anflug eines Lächelns umspielte ihre Lippen, doch nach einer Weile senkte sich eine bleierne Lethargie über die Gruppe.

Fletcher hatte kaum noch Kraft, sich zu bewegen, und fragte sich, ob das die Nachwirkungen von Jespers Pfeilen sein mochten oder die giftige Luft im Äther.

Bei Einbruch der Nacht riefen sie ein kleines Wyrrlicht herbei und aßen den Rest ihres Proviants – Pökelfleisch aus Briss’ Küche und fleckige Bananen, die sie im Dschungel gesammelt hatten. Es war ein einfaches Mahl, aber Alice schlang das Gepökelte so gierig hinunter, als hätte sie seit Jahren kein Fleisch mehr bekommen. Schließlich gab Fletcher ihr auch noch seine eigene Portion. Als Alice sich stöhnend zurücklehnte und sich den prall gefüllten Bauch hielt, wusste er nicht, ob er lachen oder weinen sollte, und kurz darauf schlief sie mit dem Kopf auf Fletchers Schulter ein.

In seiner Erinnerung war Alice Rale eine sanftmütige und schöne Frau gewesen, voller Liebe zu ihrem einzigen Kind. Doch jetzt hatte er diese verlorene Seele am Hals, die sich nicht einmal an ihren eigenen Namen erinnern konnte, geschweige denn an ihren Sohn. Trotzdem wurde ihm unendlich weich ums Herz, während er ihr die Essensreste aus den Mundwinkeln wischte. Wie konnte er ihr auch grollen – nach allem, was sie durchgemacht hatte? Sie war seine Mutter, und er liebte sie.

Beim letzten Tageslicht – wenn man in dieser fremdartigen Welt überhaupt davon sprechen konnte –, überprüften sie, was von ihrer Ausrüstung noch übrig war, und fanden sogar noch etwas trockene Ersatzkleidung, die sie eilig anlegten. Lysanders massiger Körper diente als Sichtschutz, während sich die Jungen auf der einen Seite umzogen, die Mädchen auf der anderen.

Zu Fletchers Überraschung waren alle Waffen noch da, nur das Schießpulver stellte sich als größtenteils nass und unbrauchbar heraus. Von Sylvas Pfeilen war zwar kein einziger mehr übrig, aber Fletcher gab ihr ein paar von seinen ab, und Kress hatte noch sieben Armbrustbolzen. Allerdings waren ihre Dämonen hier im Äther die viel wichtigeren Waffen, und Fletcher verspürte entsetzliches Mitleid mit Sylva, die sowohl ihren Dämon als auch alles Mana verloren hatte.

Während alle ihre Waffen einsteckten und sich auf die Nacht vorbereiteten, wanderten Fletchers Gedanken zu den Blütenblättern. In dem Sack, den Kress hatte retten können, befanden sich etwa noch einhundert Stück. Aber in der Dunkelheit war das schwer zu sagen. Fletcher spürte, wie die Wirkung allmählich schwand, und zählte mit angehaltenem Atem noch einmal nach. Die eigenartige Trägheit in seinen Gliedern wurde von Minute zu Minute stärker. Schon bald war selbst das Atmen so anstrengend geworden, als erklimme er gerade den Westturm der Dämonenakademie. Es war erschreckend.

Mit einem Mal kam ihm die Menge im Sack viel zu gering vor, und als er sah, wie seine Freunde einer nach dem anderen wegdösten, wurde Fletcher bewusst, dass er auf keinen Fall einschlafen durfte. Wenn die Wirkung im Lauf der Nacht ganz aussetzte, würde er womöglich nie wieder aufwachen.

»Ich brauche noch eins von diesen Blättern«, röchelte er.

Kress hörte ihn und riss die Augen auf. »Ich wollte es nur nicht als Erste sagen«, stöhnte sie und schnappte sich ebenfalls ein Blatt.

Sylva und Othello folgten sogleich, sogar Alice ließ sich von Fletcher eines in den Mund legen und schluckte brav, während er sanft ihren Hals massierte.

»Wie viel Zeit mag inzwischen vergangen sein, fünf Stunden?«, fragte Fletcher in die Runde und spürte, wie seine Kräfte sogleich zurückkehrten.

»Ungefähr«, bestätigte Othello. »Das bedeutet, dass wir fast fünf Blätter pro Tag brauchen, jeder von uns. Auch wenn die Tag- und Nachtdauer im Äther ein wenig von der unseren abweicht.«

»Tatsächlich? Ich hätte im Unterricht besser aufpassen sollen«, murrte Kress.

»Du kannst nichts dafür, das haben wir erst im zweiten Jahr gelernt«, sprach Othello weiter. »Im Winter dauern die Tage hier etwa zehn Stunden, im Sommer vierzig, nur das Jahr und die Jahreszeiten sind gleich. Deshalb können wir die Dämonen-Wanderungen durch unseren Teil des Äthers vorhersagen. Im Augenblick haben wir Winter, und das bedeutet … dass wir uns alle noch eine Mütze voll Schlaf gönnen sollten. In ungefähr fünf Stunden wird es wieder hell.«

Fletcher hörte aufmerksam zu. Er hatte ein ganzes Jahr an der Akademie verpasst und einiges aus dem Ätherunterricht bereits wieder vergessen.

»Du denkst zu kurzsichtig«, bellte Sylva. Ihre Stimme klang in der Dunkelheit so scharf, dass Fletcher zusammenzuckte. »Wenn wir alle fünf Stunden fünf Blütenblätter brauchen, wie lange bleibt uns dann noch, bis wir langsam, aber sicher vergiftet werden? In diesem Sack können kaum mehr als hundert Stück davon sein, das reicht noch für hundert Stunden, also zehn Tag- und Nachtzyklen im Äther.«

Fletcher rechnete hastig nach. Das entsprach etwas mehr als vier Tagen in Hominum. Vier Tage noch, bis ihnen ihre Körper nicht mehr gehorchten und sie unweigerlich … starben.

»Irgendwo hier in der Gegend müssen diese Pflanzen doch wachsen«, sagte er, um sich und den anderen Mut zu machen.

Sylva deutete auf die Bäume an dem seichten Ufer. »Siehst du hier welche? Im Orkteil des Äthers gibt es sie bestimmt, sonst hätten die Orks kaum so viele davon, aber doch nicht hier. Wahrscheinlich liegen die Sümpfe ganz am Rand ihres Territoriums, was auch der einzige Grund dafür sein dürfte, warum sie uns nicht schon längst gefunden haben.«

»Was spielt das schon für eine Rolle?«, warf Kress ein.

»Wie meinst du das? Natürlich spielt es eine Rolle!«, gab Sylva gereizt zurück.

Fletcher runzelte die Stirn. So etwas wie Fluchen sah Sylva ganz und gar nicht ähnlich.

»Ganz ruhig, Leute«, sagte Othello nervös.

»Nein«, knurrte Sylva und schüttelte Othellos Hand ab, als er versuchte, sie zu beruhigen. »Ich will es wissen. Ich möchte wissen, warum sie glaubt, dass das Einzige, das uns davor bewahren kann, mit Schaum vor dem Mund in wilde Zuckungen zu verfallen, keine Rolle spielt!«

»Es spielt keine Rolle, weil wir sowieso alle hier sterben werden!«, rief Kress. Dann brach sie zu Fletchers größtem Erstaunen in Tränen aus. »Hundert Stunden, zweihundert Stunden, wen kümmert’s?«, schluchzte Kress und vergrub das Gesicht in den Händen. »Wir kommen nie wieder nach Hause.«

Sylvas zornige Erwiderung erstarb ihr auf den Lippen.

»He«, flüsterte sie. »Es tut mir leid. Jetzt, da Sariel tot ist und uns auch noch die Blütenblätter ausgehen … habe ich wohl überreagiert. Das war ungerecht von mir.« Sie schloss Kress in die Arme und legte den Kopf auf ihre Schulter.

Trotz der angespannten Situation warf Fletcher Othello ein Lächeln zu. Nach all dem Misstrauen und den Verdächtigungen zwischen Kress und Sylva schienen sie ihre Differenzen endlich beizulegen und einander so zu sehen, wie sie wirklich waren. Er gönnte ihnen zwar den Augenblick, und dennoch wusste er, dass etwas passieren musste. Sie brauchten einen Plan, eine Hoffnung, an der sie sich festhalten konnten.

»Wir werden nicht in hundert Stunden sterben«, sagte er schließlich mit einem Räuspern.

Sylva machte sich von Kress los, Tränen schimmerten auf ihren Wangen. »Wie meinst du das?«

»Wir müssen nur diese Pflanzen finden, das ist alles. Sie kommen sowohl in unserem als auch im Orkteil des Äthers vor. So selten sind sie also gar nicht. Ich wette, in Jespers Tagebuch steht alles, was wir wissen müssen. Wie sie aussehen, wo sie wachsen und so weiter.«

»Gut«, flüsterte Kress. »Dann machen wir uns also auf die Suche. Aber … wie kommen wir wieder nach Hause?«

»Wir können kein Portal öffnen, das uns dorthin bringt, nicht einmal in einen anderen Teil des Äthers. Das haben andere schon vor uns versucht, aber es ist zwecklos«, antwortete Othello. »Dazu bräuchten wir Symbole, die wir nicht kennen.«

»Na, großartig!«, rief Sylva.

»Aber wir könnten das Portal benutzen, durch das wir hergekommen sind«, erwiderte der Zwerg.

»Und was soll das nützen?«, murmelte Kress. »Sollen wir den Zaratan bitten, uns zurück zu den Orks zu bringen? Wir übertölpeln die Wyvern und Schamanen, springen durch das Portal zurück zur Pyramide und irren dann mit dem halben Orkreich auf den Fersen durch den Dschungel, bis wir die Grenze zu Hominum erreichen? Ohne mich.«

»Du hast recht«, sagte Fletcher und hob besänftigend die Hände. »Das kommt nicht infrage. Wir werden den Orkteil des Äthers so weit hinter uns lassen wie irgend möglich.«

»Und dann?«, fragte Othello und sah dabei genauso ratlos aus wie Kress. Nur Sylva lächelte, als verstehe sie, worauf Fletcher hinauswollte.

Er atmete einmal tief durch. »Wir durchqueren diesen Sumpf und schlagen uns zu Hominums Teil des Äthers durch.«

4

Allmählich wurde Fletcher wach. Er hörte ein leises Knirschen und spürte, wie er zur Seite rollte. Ein weiteres Knirschen folgte, diesmal kippte er auf die andere Seite und rollte gegen Lysanders Bauch.

»He …«, murmelte er und öffnete die verquollenen Augen.

Als Erstes sah er die Bäume ringsum. Richtige Bäume mit langen, herabhängenden Ästen, die ihn an Weiden erinnerten. Dann kam Kress in sein Blickfeld. Mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht zupfte sie ihn am Ärmel.

»Schilki läuft«, erklärte die Zwergin. »Wir sind bald raus aus dem Sumpf.«

Fletcher setzte sich auf und zuckte sogleich zusammen – sein Rücken tat weh von dem harten Panzer, außerdem war die Nacht weit kürzer gewesen, als er sich gewünscht hätte. Sein Blick wanderte weiter zu Alice. Sie saß an Schilkis hinterem Ende, kaute ein Blütenblatt und starrte mit leerem Blick die Bäume an. An ihrer Oberlippe hing noch ein gelbes Krümelchen.

Fletcher kroch zu ihr und wischte es vorsichtig weg. Dann zog er die Jacke enger um sie, sorgsam darauf bedacht, Ignatius nicht zu wecken, der immer noch auf ihren Schultern schlief. Athena hingegen war hellwach, hatte sich aber nicht von Alice’ Schoß wegbewegt. Als Fletcher den tiefen Kummer der Greifeule spürte, wusste er, dass sie Alice genauso liebte, wie sein Vater es getan hatte. Er streichelte Athena zärtlich über den Kopf, dann ließ er die drei wieder miteinander allein.

»Schilki?«, fragte er an Kress gewandt.

»Unser Zaratan, wir haben ihm einen Namen gegeben«, antwortete Sylva und reichte ihm eines der Blütenblätter. »Iss jetzt. Das letzte Mal liegt schon fünf Stunden zurück, zumindest laut Kress’ Taschenuhr.«

Fletcher kaute auf dem säuerlichen Ding herum und beobachtete, wie Sylva die restlichen Blätter zählte.

»Woher wisst ihr, dass es ein Er ist?«, erkundigte sich Othello. Er hatte die Augen immer noch geschlossen und alle viere von sich gestreckt.

»Ich habe nachgesehen«, erklärte Kress und wurde rot.

Fletcher musste lachen, dann krabbelte er ans vordere Ende des Rückenschilds.

Schilki drehte den Kopf und blickte ihn mit seinen goldenen Augen nachdenklich an. Der Zaratan war ein wunderschön anzuschauendes Geschöpf mit einem glänzend gelben Schnabel und einem langen, beweglichen Hals. Sein Tempo wirkte gemütlich, war aber alles andere als langsam, denn mit jedem Schritt seiner krallenbewehrten Beine legte er eine beachtliche Distanz zurück. Einen Moment lang überlegte Fletcher, ob sie versuchen sollten, Schilki zu bändigen, doch Zaratane hatten eine Beschwörungsstufe von fünfzehn – das war zu viel für Sylva.

»Neunzig Blätter noch«, unterbrach die Elfin seine Gedanken. »Genau, wie ich geschätzt habe. Uns bleiben noch neunzig Stunden.«

Fletcher ließ den Blick über die Landschaft schweifen. Er suchte nach irgendetwas Gelbem, sah aber nur braunes Gestrüpp. Kein einziger anderer Dämon, geschweige denn ein Blütenblatt, soweit das Auge reichte.

»Wir sollten bei Schilki bleiben«, überlegte er laut und musterte den Untergrund, der zwar noch sumpfig war, allmählich aber trockener wurde. Hier und da wuchs sogar struppiges Gras. Ein Stück weiter entfernt wurden die Bäume bereits höher und tauchten den Boden mit ihrem Blätterdach in immer tiefere Schatten.

»Ich bin der gleichen Meinung. Er ist schneller zu Fuß als wir«, erwiderte Sylva. »Außerdem kann er sich gut wehren. Seine Krallen und der Schnabel sehen ziemlich scharf aus.«

»Und wir können uns fortbewegen, während wir schlafen«, stimmte Kress zu und tätschelte Schilkis Rückenpanzer. »Es muss nur immer einer Wache halten.«

Als Fletcher den Zaratan am Hals kraulte, stieß der sanfte Riese ein zufriedenes Brummen aus. Er würde ihnen in den kommenden Tagen ein starker Verbündeter sein, dachte Fletcher gerade, als ein Kreischen die Luft zerriss, das von einem Aufschrei aus Sylvas Kehle gefolgt wurde.

Fletcher wirbelte herum und sah, dass Lysander endlich wieder auf den Beinen war – mit aufgestelltem Nackenfell rückte er Tosk zu Leibe, so wie ein Löwe, der eine Gazelle erlegen will. Etwas in seinem Blick hatte sich verändert, seine Pupillen waren geweitet und zeigten keine Spur mehr von der Klugheit, die früher darin gestanden hatte.

»Lysander, was soll das?!«, rief Fletcher. Der Greif hatte nichts mehr gefressen, seit ihn Jespers Giftpfeile erwischt hatten, aber im Augenblick schien er mehr als nur Hunger zu haben.

»Als sich das Portal geschlossen hat, wurde das Band zu Hauptfrau Lovett unterbrochen«, stammelte Sylva entsetzt. »Jetzt verwildert er.«

Lysander machte einen weiteren Schritt auf den verängstigten Raiju zu, der prompt das blaue Fell aufstellte. Blitze zuckten aus seinem hoch erhobenen Eichhörnchenschwanz.

Im Gegenzug riss der Greif den Schnabel auf und stieß ein markerschütterndes Brüllen aus, das immer höher wurde und schließlich in einem Kreischen endete.

»Er bringt ihn um!«, schrie Othello, halb verdeckt von dem vorrückenden Greif. »Wir müssen etwas unternehmen!«

Fletchers Gedanken rasten. Das Beschwörungsleder für Lysander steckte in einer Seitentasche seines Rucksacks, doch der befand sich zurzeit genau unter Lysanders Bauch.

»Ich werde nicht zulassen, dass er Tosk etwas tut«, knurrte Kress, legte einen Bolzen in ihre Armbrust und zielte auf Lysanders Kopf.

»Fletcher, was sollen wir tun?«, brüllte Sylva.

Sylva. Vor zwei Jahren hatte sie bereits Beschwörungsstufe sieben gehabt. Lysander war ein Dämon der Stufe zehn – ohne Sariel konnte sie ihn vielleicht bändigen.

»Halt dich bereit«, sagte er zu Sylva und ging leicht in die Knie.

»Wie meinst du das?«, zischte die Elfin, aber für Erklärungen blieb jetzt keine Zeit.

»Athena, jetzt!« Fletcher sprang los, rutschte unter Lysanders Bauch und griff mit einer Hand nach der Seitentasche seines Rucksacks.

Lysander stürzte sich mit einem langen Schritt auf Tosk, da stieß Athena herab, packte Kress’ Raiju am Nacken und trug ihn davon.

Fletcher warf der immer noch verwirrten Sylva das Beschwörungsleder zu. »Lies vor!«

»Wie bitte?«, stammelte Sylva erst, doch dann verstand sie Fletchers Plan. »Lo ro di mai si lo.«

Lysander fuhr kreischend herum. Seine Klauen kratzten über Schilkis Rückenpanzer, der hungrige Blick seiner wilden Augen war nun ganz auf Fletcher fixiert. Fletcher musste sich mit aller Macht zusammenreißen, nicht die Flucht zu ergreifen.

Ignatius, der von Sylvas Schrei aus dem Schlaf gerissen worden war, umkreiste Lysander lauernd, doch Fletcher befahl ihm, sich herauszuhalten. Sie brauchten nur ein kleines bisschen mehr Zeit. Wenn Ignatius jetzt eingriff, würde es zu einem Kampf kommen, der vielleicht gar nicht nötig war.

Schilkis Panzer wackelte, als könnte der Zaratan die Auseinandersetzung spüren, die sich da auf seinem Rücken abspielte, und das plötzliche Schaukeln ließ Lysander innehalten. Als er die Beine spreizte, um nicht umzufallen, bildeten sich schon die ersten weißen Lichtfäden zwischen ihm und Sylva. Es wurden schnell mehr, aber … das war nicht schnell genug.

»Beeil dich«, flüsterte Fletcher, als könnte er die Bändigung mit schierer Gedankenkraft beschleunigen.

Lysander machte taumelnd einen Schritt auf Fletcher zu und riss den spitzen Schnabel auf – dahinter leuchtete der rosafarbene Schlund. Unterdessen wurde das Band zwischen Sylva und dem Greif mit jedem Wort, das sie sprach, dichter.

Fletcher hielt sich mucksmäuschenstill. Jede Bewegung konnte Lysander zum sofortigen Angriff veranlassen.

Noch ein Schritt.

Der heiße Atem des Dämons schlug ihm ins Gesicht, und Fletcher schloss die Augen. Der kalte, harte Schnabel streifte seine Wange, dann spürte Fletcher Lysanders weiches Gefieder, als sich der Greif an ihn kuschelte und freudig den Kopf an seiner Brust verbarg. Sylva war verstummt, und Lysander war wieder der Alte!

Fletcher schlang ihm erleichtert die Arme um den Hals, da verschwand Lysander plötzlich unter seinen Fingern. Er öffnete die Augen und sah gerade noch den Lichtblitz, mit dem ihn Sylva in sich aufnahm.

Als der Blitz verblasst war, zitterte sie vor Euphorie, die jeden Beschwörer überkam, wenn er einen neuen Dämon zum ersten Mal in sich barg. Schließlich legte sie sich hin, ein sanftes Lächeln umspielte ihre Lippen.

Fletcher ließ sich neben ihr auf die Knie sinken, da sprang ihm Ignatius mit einem fröhlichen Zirpen auf die Schulter und stieß Fletcher glatt nach hinten um. Es war eigenartig, aber irgendwie schien der Salamander schwerer geworden zu sein. Er zwickte Fletcher tadelnd ins Ohr, weil er ihm solche Angst gemacht hatte, und dann wickelte er sich glücklich um seinen Hals.

»Schön«, brummte Kress. »Könnte mir vielleicht jemand erklären, was das gerade war?«

Fletcher sah, wie die Zwergin mit stampfenden Schritten auf ihn zukam. Neugierig spähte Tosk mit seinen kleinen schwarzen Augen aus ihrer Jacke hervor, unter deren Kragen er sich versteckt hatte.

Othello rieb sich seufzend den Nacken. »Ich hätte es kommen sehen sollen. Wir haben es im zweiten Jahr an der Akademie gelernt: Dämonen sind nur zahm, solange das Band zu ihrem Beschwörer besteht. Wird es durchtrennt, verwildern sie, bis ein neuer Herr sie bändigt. Erst dann erinnern sie sich wieder, wer und was sie einmal gewesen sind. Wir können von Glück reden, dass Lysander so lange gelähmt war. Normalerweise tritt die Rückverwandlung nämlich schon viel früher ein.«

»Stimmt«, bestätigte Fletcher. Seine Gedanken wanderten zurück zu der Nacht, in der ihn Athena vor den Toren von Pelz ausgesetzt hatte, kurz bevor der Ruf des Äthers sie unweigerlich zurückholte.

»Das nächste Mal warnst du uns besser vorher«, murrte Kress.

Fletcher stand auf und versuchte, Ignatius abzuschütteln, aber der Salamander ließ nicht locker. Schließlich ging er seufzend zu Alice, die immer noch im Schneidersitz dasaß und in die Ferne starrte, als wäre nichts geschehen. Sie hatte sich die ganze Zeit über nicht bewegt, nicht einmal, als Lysander das markerschütternde Brüllen ausstieß. Einzig und allein die Tatsache, dass sie ab und zu Athenas Kopf streichelte, machte Fletcher Hoffnung, dass sie sich eines Tages vielleicht doch erholen würde.

Er hatte schon seinen leiblichen Vater verloren. Auf keinen Fall wollte er auch noch Alice verlieren, jetzt, da er sie endlich wiederhatte. Irgendeine Möglichkeit musste es doch geben …

Fletcher blickte in die triste Landschaft hinaus und suchte nach etwas, das ihm Anlass zur Hoffnung gab, sah aber nur feuchte Erde und blasses Gestrüpp. Nichts Essbares, schon gar keine gelben Blumen.

»Mach dir keine Sorgen, Ali … Mutter.« Das Wort laut auszusprechen fühlte sich eigenartig an. »Wir werden dich nach Hause bringen. Ich verspreche es.«

5

Das Licht im Äther veränderte sich schnell. Innerhalb einer Stunde wandelte es sich von einem goldenen Schimmern zu einem klaren Grau. Die Landschaft ringsum sah immer noch ebenso trostlos aus wie zuvor. Das einzige Lebewesen außer ihnen war ein versprengtes Kappa, ein dürres, menschenähnliches Geschöpf mit grüner Haut, das – als es den Zaratan näher kommen sah – sogleich in einen dunklen Teich abtauchte. Fletcher konnte gerade noch einen Blick auf die eigentümliche Vertiefung auf der Oberseite des Kopfes erhaschen, in der die Kappas Wasser mit sich führten, wann immer sie an Land unterwegs waren.

In gewisser Weise war er sogar froh, dass sich so wenig andere Dämonen hier aufhielten. So konnten sie wenigstens gefahrlos ihr Geschäft verrichten. Kress hatte angefangen, sich um seine Mutter zu kümmern, und begleitete sie in regelmäßigen Abständen in die Büsche – aber erst nachdem Tosk überprüft hatte, ob auch wirklich alles sicher war. Kress hatte Fletcher erzählt, dass sie bereits ihre Großmutter gepflegt hatte, als sie zu alt wurde, um selbst für sich zu sorgen. Fletcher war ihr unendlich dankbar dafür, denn er wusste: Er war noch nicht bereit, diese Aufgabe zu übernehmen.

Nach ein paar Stunden wurde er schon wieder müde, als hätte sein Körper Schwierigkeiten, sich an den ungewöhnlichen Tag-Nacht-Rhythmus im Äther zu gewöhnen. Wahrscheinlich hatten sie hier inzwischen mehr verbracht als irgendein Mensch, Zwerg oder Elf zuvor.

Den anderen schien es genauso zu ergehen: Aneinandergelehnt dösten Kress und Othello an der höchsten Stelle von Schilkis Panzer. Sylva saß mit dem Rücken zu Fletcher am Halsansatz des Zaratan. Den Kopf hielt sie nach unten geneigt, als betrachte sie etwas auf ihrem Schoß.

Fletcher wurde neugierig und setzte sich zu ihr.

»Was liest du da?«, fragte er und deutete auf das Buch auf Sylvas Schoß. Mit den Zeichnungen von kleinen Insektendämonen am Rand der Seiten sah es James Bakers Tagebuch zum Verwechseln ähnlich.

»Das ist Jespers Tagebuch. Dieser elende Verräter«, fauchte Sylva.

Fletcher spürte die Wut in ihr auflodern wie Feuer in einem Schmiedeofen. »Tut mir leid. Ich wollte dich nicht stören«, sagte er und machte schon Anstalten aufzustehen.

Sylva hielt ihn am Handgelenk fest. »Nein«, sagte sie leise, »mir tut es leid. Verzeih mir, dass ich dir die Schuld an Sariels Tod gegeben habe. Hättest du nicht gehandelt, wären wir jetzt alle tot.«

Sie hob den Kopf und blickte ihm fest in die Augen.

Fletcher sah, dass sie es ernst meinte, und noch etwas anderes konnte er erkennen, aber seine Gedanken sprangen zurück zu dem Augenblick, als er Sariel zusammen mit den angreifenden Ork-Dämonen in dem Tunnel begrub. Er hatte gar keine andere Wahl gehabt … oder doch?

»Es gibt nichts zu verzeihen«, sagte er schließlich schuldbewusst. »Ich weiß nicht, wie ich reagieren würde, würde ich Ignatius verlieren.«

Er hielt inne und überlegte, wie er das Gespräch auf ein fröhliches Thema lenken konnte, aber ihm wollte einfach nichts einfallen.

»Ich fürchte, ich habe das Unvermeidliche nur hinausgezögert«, sprach er schließlich weiter. »Wir haben keine Ahnung, wo die Blumen mit diesen gelben Blüten wachsen, und sind kein bisschen schlauer als gestern.«

Er hatte erwartet, Sylva damit nur noch niedergeschlagener zu machen, doch zu seiner Überraschung grinste sie.

»Da täuschst du dich«, sagte die Elfin und blätterte ein paar Seiten zurück. »Hier.«

Sylva deutete auf die Zeichnung einer Blume mit dünnem Stängel und großen, überlappenden Blütenblättern. Darunter stand ein kurzer Absatz, geschrieben in Jespers erstaunlich sauberer Handschrift.

Experiment 786: Die 3-Schwestern-Blumen

Heute hat Hauptmann Jacobys Suche endlich Früchte getragen, oder besser gesagt: Blüten. Es handelt sich um drei Blumenarten, die beinahe gleich aussehen und sich nur in der Färbung ihrer Blütenblätter unterscheiden: rot, blau und gelb.

Laut Jacobys Bericht wachsen die roten (Genus: Medusa) im rötlichen Sand der Ödlande. Vielleicht dient ihre Farbe der Tarnung.

Die blauen (Genus: Stheno) treten in der Nähe von Salzwasser auf, was eine Schande ist, denn bis auf die wenigen salzigen Sümpfe haben wir in unserem Teil des Äthers nur das weit abgelegene Meer. Jacoby muss das Portal mit einem Speicherstein offen gehalten haben, während er auf seinem Chamrosh unterwegs war, um die Blumen zu beschaffen. Beeindruckend.

Die gelben Blumen (Genus: Euryale) wachsen offenbar ausschließlich auf erkalteter Lava. Die, die Jacoby mitbrachte, hat er im Krater eines Vulkans gefunden. Gut, dass es in der Nachbarschaft unseres Teils des Äthers so viele davon gibt.

Als wir die Pflanzen aufschnitten, fanden wir leider nichts Brauchbares, aber Hauptfrau Lovett hat sich bereit erklärt, sie zu essen, um sie auf eine mögliche medizinische Wirkung hin zu überprüfen. Das Risiko, dass sie sich dabei vergiftet, ist zwar weit größer als der wahrscheinliche Nutzen, aber ich sage, wir lassen es darauf ankommen. Wozu ist Lovett sonst schon zu gebrauchen?

Als er den letzten Satz las, ballte Fletcher die Fäuste. Wie hatte er sich nur so von Jesper hinters Licht führen lassen können? Er hatte solches Mitleid mit dem kränklichen Diener gehabt, sogar Teile von sich selbst in ihm entdeckt. Doch er hatte sich getäuscht. Jesper war genauso grausam gewesen wie die Forsys.

»Verstehst du?«, fragte Sylva und riss ihn aus seinen Gedanken. »Die Pflanze, nach der wir suchen, wächst in der Nähe von Lava!«

Fletcher machte sich weit weniger Hoffnung als sie.

»Siehst du hier vielleicht irgendwelche Vulkane?«, fragte er und deutete auf die flache Landschaft ringsum. »Ich weiß zwar, dass es in der Nähe unseres Teils des Äthers einige gibt, aber ich fürchte, inzwischen sind wir meilenweit davon entfernt. Vielleicht sind wir sogar in die entgegengesetzte Richtung unterwegs.«

»Dann schick Athena aus und sieh nach«, entgegnete Sylva verärgert. »Wir brauchen einen Plan, Fletcher. Schau dich um: Glaubst du, hier herumsitzen und abwarten ist in unserer Situation das Richtige? Ich weiß, du hast gerade erst deine totgeglaubte Mutter gefunden. Aber du bist immer noch unser Anführer, also führe uns.«

Fletcher wusste, sie hatte recht, aber die Vorstellung, Athena als Späherin vorauszuschicken, machte ihm Angst. Angst vor dem, was er entdecken könnte. Angst auch vor noch mehr ödem Horizont ohne Vulkane. Oder vor einem endlosen grünen Dschungel. Er wollte es lieber gar nicht wissen. Wenigstens noch nicht.

So drehte er den Kopf und schaute hinüber zu seiner Mutter, die Athena immer noch sanft streichelte. Alice sah beinahe glücklich aus. Warum nicht einfach hierbleiben und alles Weitere dem Schicksal überlassen? Er hatte es satt, ständig Entscheidungen zu treffen. Im Augenblick waren sie hier wenigstens sicher.

Sylva nahm tröstend seine Hand, als spürte sie seine Zweifel. Ihre Finger fühlten sich weich und angenehm kühl an.

»Du hast uns sicher bis hierher gebracht«, flüsterte sie. »Lysander ist zu groß. Athena ist die Einzige, die diese Aufgabe übernehmen kann.«

Als er die Hoffnung in Sylvas Augen sah, schämte sich Fletcher. Für seine Zaghaftigkeit, für seine Zweifel.

»Ich möchte es nicht riskieren«, erwiderte er und hasste sich dabei für jedes Wort. »Sie könnte gesehen werden. Wir sollten warten, bis wir etwas weiter weg sind. Wir haben immer noch genug Zeit, und ich mag nichts überstürzen.«

Sylva ließ seine Hand los und steckte das Buch in ihre Jacke. »Nichts zu tun, ist auch eine Entscheidung. Vielleicht sogar die gefährlichste von allen.« Sie stand auf und schwankte leicht im Rhythmus von Schilkis bedächtigen Schritten. »Denk drüber nach«, sagte sie noch, dann ließ sie ihn allein.

Zu Fletchers Überraschung setzte sich Sylva zu seiner Mutter. Sie zog einen elfenbeinfarbenen Gegenstand aus ihrer Flechtfrisur, sodass ihr die losen Zöpfe über die Schultern fielen wie ein weißgolden schimmernder Bach. Der Gegenstand war ein aus Hirschgeweih geschnitzter Kamm, wie Fletcher nun erkennen konnte. Damit fuhr Sylva vorsichtig durch Alices zerzaustes Haar. Als er das Lächeln sah, das sogleich auf die Lippen seiner Mutter trat, tat Fletchers Herz einen Freudensprung. Sie schloss sogar die Augen und legte den Kopf in den Nacken, als genieße sie das Kämmen.

Sylva schien es nicht zu merken, so konzentriert war sie auf ihre Arbeit. Irgendwann waren alle Knoten und aller Schmutz herausgekämmt, Alice’ eben noch gelb verkrustetes Haar glänzte in einem hellen Blond, das an den Wurzeln allmählich in Weiß überging. Schließlich steckte sie den Kamm zurück und machte sich mit geschickten Fingern daran, Alice eine Frisur zu flechten.

»Fertig«, verkündete sie und rückte den dicken Zopf zurecht, der bis über Alice’ Schulterblätter hing.

Sofort hellte sich Fletchers Miene auf. Verschwunden war die verwilderte alte Frau, an ihrer Stelle saß nun eine zarte und elegante Schönheit.

»Danke«, sagte er und eilte zu den beiden. »Ihre Haare konnten es gut gebrauchen, und dieser Zopf … er ist wunderschön.«

»Meine Mutter hat mir das beigebracht«, sagte Sylva mit einem schüchternen Achselzucken.

Fletcher lächelte. »Ich wünschte, ich hätte sie nach dem Ratstreffen kennengelernt.«

Sylva senkte den Blick. »Sie ist gestorben, als ich noch sehr jung war.«

Fletcher hätte sich am liebsten geohrfeigt. Warum hatte er Sylva nie nach ihrer Mutter gefragt? Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass er weit weniger über Sylva wusste als über seine anderen Freunde. Seit sie sich kannten, hatte sie nie über ihr Zuhause gesprochen. Auch ihre Familie hatte sie kaum erwähnt, und wenn, dann hatte sie immer nur von ihrem Vater erzählt.

»Das tut mir leid«, erwiderte er schließlich. »Ich hätte es wissen müssen.«

»Nein … ich spreche nie über sie«, sagte Sylva mit schmerzverzerrter Stimme.

Fletcher erwiderte nichts. Er wollte sie nicht drängen. Als sich das Schweigen in die Länge zog, ergriff Sylva schließlich wieder das Wort.

»Vielleicht sollte ich mehr über sie sprechen«, flüsterte sie. »Du hättest sie gemocht. Sie war mutig und loyal, aber allzu vertrauensselig. Sie wurde vergiftet und … wir konnten sie nicht retten.« Sylva drehte das Gesicht weg und wischte sich eine Träne aus dem Auge.

»Das ist furchtbar«, murmelte Fletcher. Allmählich fügte sich das Bild zusammen: Warum es Sylva so schwerfiel, anderen zu vertrauen, sie in ihr Herz zu lassen. Und ihre ständigen Verdächtigungen. Alles rührte von da her.

»Wer würde so etwas tun?«, fragte er leise.

Sylvas Gesicht verhärtete sich wieder. »Meine Schwester hat es getan. Sie wollte Häuptling werden und wäre die Nächste in der Rangfolge gewesen. Als wir Schierling in ihrem Zimmer fanden, wussten wir, dass sie es gewesen war, aber wir konnten es nicht beweisen, also wurde sie verbannt. Ich habe sie seit acht Jahren nicht mehr gesehen.«

Entsetzt schüttelte Fletcher den Kopf. Er hatte geglaubt, Elfen wären zu gut, um so etwas zu tun.

»Aber … warum bist du dann nicht Häuptling?«, erkundigte er sich, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

»Ich war zu jung und bin es immer noch. Mein Vater trat ihre Nachfolge an. Bei uns geht die Häuptlingswürde immer von der Mutter auf die älteste Tochter über. Wenn es keine Töchter gibt, dann auf den ältesten Sohn.«

Das erklärte, warum die meisten ihrer Anführer – im krassen Gegensatz zu Hominum – Frauen waren.

»Genug davon«, erklärte Sylva und kam auf die Knie. »Es freut mich, dass du nun Gelegenheit hast, deine Mutter kennenzulernen. Sie ist ein Schatz.«

Sylva beugte sich nach vorn und hauchte Alice einen Kuss auf den Scheitel, da geschah etwas Erstaunliches: Alice hob die Hand und legte sie auf Sylvas Wange.

Fletchers Puls beschleunigte sich. »Mutter? Kannst du mich hören?«

Er beugte sich näher heran und sah ihr tief in die Augen. Einen winzigen Moment lang konnte er ihren Blick festhalten, dann ließ Alice die Hand wieder sinken und starrte weiter in die immer dichter werdende Vegetation hinaus.

Dennoch keimte Hoffnung in Fletcher auf. Vielleicht konnte seine Mutter tatsächlich gerettet werden. Was sie brauchte, war Normalität, Zuwendung und Trost. All das gab es in dieser bedrückenden Einöde nicht. Sylva hatte recht: Er musste handeln.

»Athena«, sagte Fletcher und nahm die Greifeule von Alice’ Schoß. Athena ließ ein ungehaltenes Quieken hören, dann breitete sie zögernd die Flügel aus und sah ihn erwartungsvoll an.

»Wie wär’s mit einem kleinen Erkundungsflug?«

6

Grüne Blätter wirbelten, während Athena auf der Suche nach einem geeigneten Aussichtspunkt durch die Baumkronen jagte. Sie wollte nicht gleich in den offenen Himmel hinausfliegen, zumindest noch nicht, da sah sie einen kiefernähnlichen Baum mit knorriger Rinde und langen, spitzen Nadeln, der die anderen ein ganzes Stück überragte. Sie landete mit ausgestreckten Krallen auf dem Stamm, dann kletterte sie vorsichtig und gut verborgen an der Rinde weiter nach oben.

Etwa hundert Meter entfernt blickten Fletcher und die anderen gebannt in Belenas großen, flachen Hellsehkristall. Kress hatte ihn »ausgeliehen«, als Belena gerade nicht hinsah, wie sie ungeniert zugegeben hatte.

»Ich sehe gar nichts«, murmelte Othello und beugte sich näher heran. »Nur Nadeln.«

Fletcher schickte Athena mit einem Gedankenbefehl ein Stückchen näher an den Rand ihres Asts. Seltsamerweise schien sie keinerlei Angst zu haben, ganz im Gegenteil: Sie fühlte sich dort oben in den Baumwipfeln ganz in ihrem Element. Greifeulen waren von Natur aus einzelgängerische Wandervögel, die nie lange am gleichen Ort blieben, was wohl der Grund war, weshalb die unbekannte Umgebung Athena nichts ausmachte.

Mit den Krallen schob sie einen Zweig beiseite, streckte den Kopf durch die Lücke und sah sich mit ihrem äußerst beweglichen Hals in alle Richtungen um.

»Schaut euch das an!«, keuchte Kress.

Im Osten erhoben sich vor dem blässlich gelben Spätnachmittagshimmel kilometerhohe, rostrote Berge. Wie in einem Halbkreis umschlossen die schroffen Gipfel Fletchers Gruppe; sie waren so hoch, dass die Bärenzahnberge im Vergleich dazu wie Gartenhügel wirkten. Im Westen glitzerte ein Meer, das seichte Ufer schimmerte smaragdgrün, und jenseits davon gähnten tiefe Gräben in einem unergründlichen Dunkelblau.

Am Himmel bewegte sich so gut wie nichts – nur ein paar kleine dunkle Punkte, die zu weit entfernt waren, um zu erkennen, worum es sich dabei handelte, und direkt über Athena versperrte eine Wolke die Sicht nach oben. Das einzig erkennbare Lebewesen war ein niedrig fliegender Ropen in einem halben Kilometer Entfernung. Fletcher sah die ledrigen Flügel, den pelikanähnlichen Schnabel und den langen Knochensporn am Hinterkopf.

Sylva deutete auf die hohen Gipfel. »Wir sitzen in der Falle«, stellte sie fest. »Der ganze Horizont ist von diesem unpassierbaren Gebirge verdeckt. Keine Ahnung, wie es dahinter weitergehen mag, und links von uns ist das Meer. Wir werden wohl doch umkehren müssen und unser Glück im Orkteil des Äthers versuchen.«

»Sieht ganz so aus«, knurrte Othello.

Fletcher schüttelte den Kopf, Enttäuschung breitete sich in ihm aus. Seit ihrer Ankunft im Äther waren fünfzehn Stunden vergangen, und der Weg zurück führte durch einen mit Sobeks verseuchten, trostlosen Sumpf. Ganz zu schweigen davon, dass sie auf Schilkis Hilfe angewiesen waren, wenn sie den Sumpf ein zweites Mal durchqueren wollten.

»Der Zaratan«, überlegte Fletcher laut, »er ist die ganze Zeit stur geradeaus gelaufen.«

»Und was willst du damit sagen?«, fragte Sylva. Sie zupfte ein Algengeflecht von Schilkis Rücken und warf es wütend zwischen die Bäume.

»Seit wir ihm begegnet sind, hält Schilki auf dieses Gebirge zu«, antwortete Fletcher. Er stand auf und sah nach vorn.

Als hätte der Zaratan seinen Namen erkannt, drehte er das mächtige Haupt in Fletchers Richtung und blinzelte einmal langsam.

»Und?«, fragte Sylva weiter, aber das Leuchten in ihren Augen wirkte, als dämmerte ihr bereits, woran Fletcher dachte.

»Er hat ein klares Ziel im Kopf, aber zum Klettern ist sein Körper nicht gebaut, also muss es einen Weg durch dieses Gebirge geben. Was wissen wir über Zaratane, Leute? Wie steht es zum Beispiel um ihren Orientierungssinn?«

Fletcher hätte nicht gedacht, dass sein Dämonologie-Unterricht einmal so wichtig werden könnte, zumindest nicht der über kaum verbreitete Arten wie Zaratane.

»Sie können eine beachtliche Größe erreichen, ungefähr drei- bis viermal so groß wie unser Schilki«, erklärte Kress. »Aber ich glaube, das gilt nur für die ganz alten Exemplare. Schilki ist wahrscheinlich noch ein Jungspund.«

Nachdenklich kratzte sich Othello am Bart. »Wie viele andere Dämonen, gehen sie jedes Jahr einmal auf Wanderschaft«, führte er weiter aus. »Sie kommen zur Paarung zusammen und legen ihre Eier ab. Wo, das wissen wir nicht.«

»Und wann?«, hakte Fletcher nach. »Wann wandern sie?«

»Im Winter.« Ein verhaltenes Lächeln trat auf Othellos Gesicht. »Das heißt … jetzt!«

»Exakt! Und das bedeutet, dass Schilki genau weiß, wohin er unterwegs ist, es sei denn er macht die Reise zum ersten Mal.«

Fletcher grinste, ein tonnenschweres Gewicht fiel von seinen Schultern. »Wenn wir lange genug bei ihm bleiben, wird er uns durch dieses Gebirge bringen.«

Kress schlug herzhaft auf Schilkis Rücken. »Du rolliger, kleiner Kater! Bist auf der Suche nach einem hübschen Kätzchen, wie?«

Unwillkürlich musste Fletcher lachen. Das Lachen fühlte sich gut an, und auch die anderen stimmten mit ein, bis alle sich die Bäuche hielten und kaum noch Luft bekamen; selbst Ignatius hüpfte mit einem freudigen Bellen umher. Als dann auch noch Athena von ihrem Erkundungsflug zurückkehrte und sich auf Alice’ Schoß niederließ, waren sie alle einen kostbaren Augenblick lang glücklich.

Doch schon bald begann das Tageslicht zu schwinden, und das Glücksgefühl mit ihm. Ihre Mägen knurrten, ihre Feldflaschen waren fast leer. Und obwohl dieser Landstrich am Tag vollkommen tot gewirkt hatte, drangen nun unheimliche Geräusche an ihre Ohren. Es schien, als schlichen irgendwelche Geschöpfe ringsum durch die Bäume, die nun, da sie den Sumpf endlich verlassen hatten, so dicht aneinander standen, dass Schilki an manchen Stellen fast nicht mehr durchkam.

Tosk hielt Wache, und trotzdem schreckte Fletcher bei jedem Knacken oder Rascheln hoch und spähte in die Dunkelheit. Was er dann sah, waren nur noch dunklere Schatten. Tosk schien das alles nicht zu kümmern, selbst als Fletcher ein leises Knurren in nur wenigen Schritten Entfernung hörte.

Einen Moment später sah er ein bläuliches Schimmern zwischen den Bäumen. Das kalte Licht passte allzu gut zu der Furcht, die sich in ihm breitmachte.

»Wacht auf, Leute«, flüsterte er und rüttelte die anderen wach.

»Denkst du vielleicht, ich hätte geschlafen?«, fragte Othello. Der Zwerg richtete sich auf und rieb sich den Rücken. »Vollkommen unmöglich auf diesem unebenen Panzer und bei dem ständigen Lärm …«

»Still!«, zischte Fletcher und hielt Othello den Mund zu.

Sylva kam lautlos in die Hocke und legte eine Hand auf den Griff der Falx in ihrer Rückenscheide.

»Wyrrlichter, da drüben«, flüsterte Fletcher. Sie wurden von Sekunde zu Sekunde heller. Schließlich sah er winzig kleine Dämonen, die vor der künstlichen Leuchterscheinung flohen.

Fletcher hörte das Ächzen von Holz und Metall, als Kress ihre Armbrust spannte und einen Bolzen einlegte. Sein Herz schlug immer schneller.

»Schamanen?«, fragte Sylva leise.

Einer der blauen Lichtpunkte war nun deutlich in der Dunkelheit zu erkennen. Es wurden immer mehr. Sie waren sehr klein, kleiner noch als ein Wyrrlicht, dafür aber heller, und es waren viele: Hunderte davon schwebten in einer lang gezogenen Linie direkt auf sie zu. Dabei hielten sie eine feste Formation ein, so wie Treiber auf einer Truthahnjagd.

Dann sahen sie es: dunkle Silhouetten, wie Schlafwandler trotteten sie langsam hinter den Lichtern her.

»Sie durchkämmen den Wald nach uns«, keuchte Kress und krabbelte ein Stück nach hinten, raus aus dem bläulichen Schimmer. »Wir sollten uns in den Bäumen in Sicherheit bringen!«

Othello hob die Hand. »Warte«, brummte er. »Sieh … dort!«

Bei den dunklen Silhouetten handelte es sich um Dämonen. Im ersten Moment glaubte Fletcher seinen Verdacht bestätigt, dass Orkschamanen in der Nähe sein mussten, denn die Dämonen gehörten zu den unterschiedlichsten Arten, die normalerweise nie gemeinsam auftraten: Ein struppiger Canid stolperte über eine Baumwurzel, die Augen starr auf das Licht vor sich gerichtet. Gleich dahinter sah Fletcher drei Lavellane, rattenähnliche Nager mit Giftzähnen, ein Stück weiter vorn krabbelte ein Dutzend Kerfe in verschiedenen Größen und Farben über den Waldboden. Sogar ein Baku war dabei, eine seltene Spezies mit dem Rüssel und den Stoßzähnen eines Elefanten und dem Körper eines Tigers. Und alle schlurften sie wie Zombies hinter den unheimlichen Leuchterscheinungen her.

»Das sind Irrlichter«, murmelte Othello. »Keine Gefahr für uns.«

»Wie meinst du das?«, fragte Fletcher und zog sich ebenfalls ein Stück vor dem immer näher kommenden blauen Schimmer zurück.

»Sie sind eine Art Glühwürmchen, nur ohne Flügel und Gliedmaßen. Außerdem erzeugen sie das Leuchten nicht selbst, sondern lassen sich von Wyrrlichtern tragen.«

Noch während Othello sprach, sah Fletcher die kleinen schwarzen Punkte unter den Wyrrlichtern.

»Was haben sie vor?«, flüsterte Sylva und verscheuchte eines davon mit der Hand.

»Ihre Opfer in den Tod locken«, raunte Othello.

Der struppige Canid hatte sie inzwischen erreicht. Er prallte gegen eins von Schilkis baumdicken Beinen, offenbar ohne es zu spüren, denn er ging einfach weiter unter dem Bauch des Zaratan hindurch.

»Mit den Wyrrlichtern hypnotisieren sie ihre Beute und führen sie in einen Sumpf, in Treibsand oder irgendwo anders hin, wo sie dann verenden. Danach fressen sie die Kadaver an und legen ihre Eier hinein. Wahrscheinlich sind sie auch der Grund dafür, dass es in dieser Gegend fast kein Leben gibt. Es muss hier regelrecht wimmeln von diesen Biestern. Zum Glück funktioniert ihr Trick aber nur bei kleineren und vor allem ungebändigten Dämonen.«

Fletcher erschauerte und zog seine Jacke enger um sich. Das Leuchten sah hübsch aus, doch sein tatsächlicher Zweck ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.

Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass Othello als Einziger von ihnen zwei volle Jahre an der Akademie absolviert hatte. Sein Wissen war für die kommenden Tage von unschätzbarem Wert. Er hoffte nur, dass sie nicht noch größeren wilden Dämonen begegneten.