Der Frauenchor von Chilbury - Jennifer Ryan - E-Book
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Der Frauenchor von Chilbury E-Book

Jennifer Ryan

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Beschreibung

»Der Frauenchor von Chilbury« erzählt von den Kämpfen, Affären, Enttäuschungen und Erfolgen eines Chors während des Zweiten Weltkriegs. Als England in den frühen Tagen des zweiten Weltkriegs in das Kriegsgeschehen eingreift und die Männer in der Ferne kämpfen, schmieden die Frauen des Dorfes Chilbury einen ungewöhnlichen Plan. Sie widersetzten sich der Entscheidung des Vikars den Chor aufzulösen. Stattdessen singen sie weiter und lassen sich als Frauenchor von Chilbury wieder auferstehen. Tauchen Sie ein in die Schicksale fünf außergewöhnlicher Chormitglieder:Eine ängstliche Witwe ist am Boden zerstört als ihr Sohn in den Kampf zieht; die ältere Tochter des Brigadegenerals fühlt sich hingezogen zu einem mysteriösen Künstler; ihre jüngere Schwester ist unmöglich verliebt, eine Jüdin, geflohen aus der Tschechoslowakei, hütet ein Familiengeheimnis; und eine Hebamme schmiedet Pläne, um ihrer zwielichtigen Vergangenheit zu entkommen. Jennifer Ryans Debütroman ist eine zauberhafte Geschichte voller Intrigen, Romantik und den wichtigen Fragen des Lebens. Sie beleuchtet spannend die wahre Stärke der Frauen an der Heimatfront.

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Seitenzahl: 577

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Jennifer Ryan

Der Frauenchor von Chilbury

Roman

Aus dem Englischen von Andrea O’Brien

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Jennifer Ryan

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Bekanntmachung an der Anschlagtafel des Gemeindesaals von Chilbury

Mrs Tillings Journal

Miss Edwina Paltrys Brief an ihre Schwester Clara

Tagebuch der Kitty Winthrop

Venetias Brief an Angela Quail

Miss Edwina Paltrys Brief an ihre Schwester Clara

Bekanntmachung an der Anschlagtafel des Gemeindesaals von Chilbury

Mrs Tillings Journal

Tagebuch der Kitty Winthrop

Miss Edwina Paltrys Brief an ihre Schwester Clara

Silvies Tagebuch

Tagebuch der Kitty Winthrop

Mrs Tillings Journal

Flight Lieutenant Henry Brampton-Boyds Brief an Venetia Winthrop

Venetia Winthrops Brief an Angela Quail

Tagebuch der Kitty Winthrop

Miss Edwina Paltrys Brief an ihre Schwester Clara

Brief von Venetia Winthrop an Angela Quail

Brief von Miss Edwina Paltry an ihre Schwester Clara

Mrs Tillings Journal

Brief von Venetia Winthrop an Angela Quail

Mrs Tillings Journal

Tagebuch der Kitty Winthrop

Brief von Colonel Mallard an seine Schwester, Mrs Maud Green

Tagebuch der Kitty Winthrop

Telegramm von General Winchester an Colonel Mallard

Mrs Tillings Journal

Brief von Flight Lieutenant Henry Brampton-Boyd an Venetia Winthrop

Tagebuch der Kitty Winthrop

Notiz von Miss Edwina Paltry an Brigadier Winthrop

Bekanntmachung an der Anschlagtafel des Gemeindesaals von Chilbury

Mrs Tillings Journal

Silvies Tagebuch

Brief von Miss Edwina Paltry an ihre Schwester Clara

Brief von Venetia Winthrop an Angela Quail

Mrs Tillings Journal

Tagebuch der Kitty Winthrop

Brief von Lieutenant Carrington an Mrs Tilling

Brief von Venetia Winthrop an Angela Quail

Mrs Tillings Journal

Tagebuch der Kitty Winthrop

Brief von Venetia Winthrop an Angela Quail

Mrs Tillings Journal

Brief von Miss Edwina Paltry an ihre Schwester Clara

Tagebuch der Kitty Winthrop

Silvies Tagebuch

Schlagzeile in der Kent Times

Brief von Venetia Winthrop an Angela Quail

Mrs Tillings Journal

Tagebuch der Kitty Winthrop

Mrs Tillings Journal

Brief von Miss Edwina Paltry an ihre Schwester Clara

Brief von Venetia Winthrop an Angela Quail

Mrs Tillings Journal

Tagebuch der Kitty Winthrop

Brief von Venetia Winthrop an Angela Quail

Brief von Miss Edwina Paltry an ihre Schwester Clara

Tagebuch der Kitty Winthrop

Brief von Venetia Winthrop an Angela Quail

Mrs Tillings Journal

Tagebuch der Kitty Winthrop

Brief von Elsie Cocker an Flight Lieutenant Henry Brampton-Boyd

Brief von Miss Edwina Paltry an ihre Schwester Clara

Brief von Flight Lieutenant Henry Brampton-Boyd an Elsie Cocker

Brief von Venetia Winthrop an Angela Quail

Mrs Tillings Journal

Tagebuch der Kitty Winthrop

Schlagzeile in der Kent Times vom Sonntag, 18. August 1940

Mrs Tillings Journal

Brief von Miss Edwina Paltry an ihre Schwester Clara

Bekanntmachung an der Anschlagtafel des Gemeindesaals von Chilbury

Brief von Venetia Winthrop an Angela Quail

Brief von Colonel Mallard an seine Schwester Mrs Maud Green

Mrs Tillings Journal

Tagebuch der Kitty Winthrop

Brief von Venetia Winthrop an Angela Quail

Silvies Tagebuch

Mrs Tillings Journal

Tagebuch der Kitty Winthrop

Dank

Förderhinweis

Leseprobe »Die Köchinnen von Fenley«

Inhaltsverzeichnis

Meiner Großmutter, Mrs Eileen Buckley, und den Frauen von der Home Front

Inhaltsverzeichnis

Bekanntmachung an der Anschlagtafel des Gemeindesaals von Chilbury

Sonntag, 24. März 1940

Da unsere männlichen Stimmen im Krieg sind, wird der Kirchenchor nach der Trauerfeier für Commander Edmund Winthrop nächsten Dienstag aufgelöst.

 

gez. Der Vikar

Inhaltsverzeichnis

Mrs Tillings Journal

Dienstag, 26. März 1940

Die erste Trauerfeier in diesem Krieg, und unser Chor hat nichts als schiefe Töne hervorgebracht. Das Holy, Holy, Holy klang so melodiös wie ein Haufen tschilpender Spatzen, aber nicht wegen des Kriegs oder der Tatsache, dass man diesen Halunken Edmund Winthrop in seinem U-Boot abgeschossen hat, sondern weil wir mit dem Chor von Chilbury an jenem Tag unseren letzten Auftritt hatten. Unseren Schwanengesang.

»Eine bodenlose Unverschämtheit, uns einfach aufzulösen«, giftete Mrs B. später, nachdem wir uns auf dem nebeligen Friedhof versammelt hatten. »Als wären wir eine Bedrohung für die Sicherheit des Landes.«

»Alle Männer sind weg«, flüsterte ich, weil unsere Stimmen unangenehm laut über den Friedhof hallten. »Ohne Männer gibt’s keinen Chor, hat der Vikar gesagt.«

»Nur weil die Männer im Krieg sind, kann man uns doch nicht einfach abschaffen, vor allem gerade jetzt, wo wir den Chor so dringend brauchen. Was kommt als Nächstes dran? Seine geliebten Glöckner? Die Sonntagsmesse? Weihnachten? Wohl kaum!« Erbost verschränkte sie die Arme. »Zuerst jagen sie unsere Männer in die Schlacht, dann zwingen sie uns Frauen zur Arbeit, und jetzt nehmen sie uns auch noch den Chor weg. Wenn das so weitergeht, finden die Deutschen hier nur noch einen Haufen verbitterter Weiber, die sich sang- und klanglos ergeben.«

»Aber es herrscht nun mal Krieg«, sagte ich, damit sie endlich Ruhe gäbe. »Wir Frauen müssen anpacken, für die Sache Opfer bringen. Es macht mir nichts aus, im Krankenhaus auszuhelfen, obwohl ich mit der Gemeindesprechstunde schon genug zu tun habe.«

»Seit Urzeiten gibt es in Chilbury diesen Chor, der gehört einfach dazu. Miteinander zu singen hat was Erbauliches.« Sie warf sich in die Brust und streckte den beleibten Oberkörper vor wie ein Feldmarschall.

Die Trauergesellschaft machte sich auf den Weg nach Chilbury Manor, um dort das obligatorische Glas Sherry und Gurkensandwiches einzunehmen. »Edmund Winthrop«, seufzte ich, »kaum zwanzig Jahre alt und in der Nordsee in die Luft gejagt.«

»Er war ein fieser Schurke, das wissen Sie ganz genau«, blaffte Mrs B. »Denken Sie nur daran, wie er Ihren David im Dorfteich ertränken wollte.«

»Das ist doch schon vier Jahre her«, flüsterte ich. »Mit einem Vater, der ständig auf ihn eindrischt, konnte ja nichts aus ihm werden. Doch jetzt, wo Edmund tot ist, empfindet Brigadier Winthrop sicher große Reue.«

Oder sicher nicht, dachte ich gleich danach, als ich sah, wie Winthrops Adern auf Nacken und Stirn vor Zorn hervortraten und er immer wieder mit der Reitpeitsche auf seine Militärstiefel einhieb.

»Er schäumt vor Wut, weil sein Erbe in Gefahr ist«, bemerkte Mrs B. schnippisch. »Die Winthrops brauchen nämlich einen männlichen Nachfolger, sonst verliert die Familie ihr Anwesen. Seine Töchter sind ihm herzlich egal.« Wir spähten hinüber zur jungen Kitty und ihrer wunderschönen Schwester Venetia. »Status ist alles. Wenigstens kriegt Mrs Winthrop schon ihr nächstes Kind. Hoffentlich wird’s diesmal ein Junge.«

Die gramgebeugte Mrs Winthrop sah aus wie ein gerupfter Spatz. Ich könnte die Nächste sein, dachte ich, als mein David, ganz erwachsen in seiner neuen Armeeuniform, auf mich zutrat. Durch die Ausbildung sind seine Schultern zwar breiter geworden, doch sein Lächeln und seinen Sanftmut hat er nicht abgelegt. Ich habe zwar gewusst, dass er sich mit achtzehn zum Kriegsdienst melden würde, aber warum ist das alles so schnell gegangen? Schon nächsten Monat wollen sie ihn nach Frankreich schicken. Wenn ihm da was passiert, wie soll ich das überleben? Er ist alles, was mir nach Harolds Tod geblieben ist. Früher haben Edmund und David oft miteinander gespielt, Soldaten oder Piraten, immer ging es um irgendeine Schlacht, die Edmund stets gewann. Ich kann nur hoffen und beten, dass David diesmal nicht verliert.

Der Krieg schleicht auf leisen Sohlen herbei, denn im Moment ist Hitler noch damit beschäftigt, sich seine Nachbarstaaten einzuverleiben. Kommen werden die Deutschen allerdings sicher, schon bald wird uns der Tod umzingeln. Es wird so sein wie beim letzten Krieg, der eine ganze Generation Männer auslöschte, auch meinen Vater. Ich kann mich noch genau an den Moment erinnern, als das Telegramm kam. Wir hatten uns gerade zum Mittagessen am Tisch versammelt, die Sonne strahlte ins Esszimmer und aus dem Grammophon schallte Vivaldi. Da klopfte es an der Haustür, meine Mutter verließ den Tisch, und wenig später hörten wir einen dumpfen Aufprall, weil sie einfach umgekippt war. Die Sonne aber strahlte weiter, als wäre nichts geschehen.

Schon bald wird unser Leben wieder aus den Fugen geraten: Tote, Hunger und Not. Jetzt soll auch noch unser schöner Chor verschwinden. Am liebsten würde ich dem Vikar einen Protestbrief schreiben. Selbstverständlich tue ich das nicht. Ich bin lieb und nett, halte schön still. Schon meine Mutter wusste, dass nur brave Frauen weiterkommen. Doch es gibt Zeiten, da ist mir alles so zuwider, dass ich am liebsten losschreien würde.

Deswegen schreibe ich jetzt Tagebuch, denn auf diese Weise kann ich solche Gedanken formulieren, ohne sie auszusprechen. Im Rundfunk hieß es, ein Tagebuch kann denjenigen helfen, die geliebte Menschen vermissen, deshalb habe ich mir gleich gestern eins zugelegt. Das ist sicher bald voll, vor allem, wenn David in den Krieg zieht. Dann bin ich allein und kann mit niemandem über die vielen Gedanken reden, die mir so durch den Kopf gehen. Außerdem wollte ich immer Schriftstellerin werden, und jetzt kann ich so tun, als hätte sich dieser Traum erfüllt.

Nachdem ich mich bei David untergehakt hatte und den andern zum Herrenhaus der Winthrops gefolgt war, warf ich einen Blick zurück auf die verfallene alte Kirche. »Der Chor wird mir fehlen.«

Diese Bemerkung rief Mrs B. erneut auf den Plan. »Ja, und? Haben Sie den Vikar etwa gebeten, seine Entscheidung zu revidieren?«

»Aber Mrs B.«, sagte David grinsend, »das Quertreiben überlassen wir gern Ihnen. Das beherrschen Sie doch am besten.«

Ich lächelte hinter vorgehaltener Hand und erwartete einen Wutausbruch, doch da stob der Vikar höchstpersönlich an uns vorbei, um den im Stechschritt aufs Herrenhaus zumarschierenden Brigadier einzuholen.

Mrs B. ergriff die günstige Gelegenheit, umklammerte grimmig ihren Schirm und stapfte, ihren erprobten Schlachtruf ausstoßend, hinterdrein: »Auf ein Wort, Vikar!«

Der Vikar fuhr überrascht herum, doch als er die herannahende Person erkannte, nahm er erst recht die Beine in die Hand.

Inhaltsverzeichnis

Miss Edwina Paltrys Brief an ihre Schwester Clara

3 Church Row

Chilbury

Kent

Donnerstag, 28. März 1940

Halt dich fest, Clara, bald sind wir reich! Man hat mir das skrupelloseste Geschäft vorgeschlagen, das du dir vorstellen kannst! Wusste ich’s doch, dass bei diesem vermaledeiten Krieg was für uns abfallen würde – wer hätte gedacht, dass der Hebammenberuf so einträglich sein würde. Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass ausgerechnet der hochnäsige Brigadier Winthrop, der hochwohlgeborene Tyrann, der meint, er wäre der König unseres untadeligen Dörfchens, mir mit einem so zwielichtigen Arrangement kommt. Ich weiß, du wirst sagen, es ist unmoralisch, sogar für meine Verhältnisse, aber ich will hier nicht länger festsitzen und als Hebamme die zweite Posaune spielen. Ich muss zurück in mein altes Haus, wo ich in Freiheit leben kann, wie’s mir passt.

Verstehst du, was das heißt, Clara? Bald kann ich, wie versprochen, meine Schulden zurückzahlen, und dann siehst du endlich ein, wie schlau ich bin. Ich kann die Fehler meiner Vergangenheit wiedergutmachen. Wir können alles hinter uns lassen und nie mehr über die Sache mit Bill reden (obwohl ich dich vor ihm gerettet habe). Dann kaufe ich unser Elternhaus in Birnham Wood zurück, wo die Felder bis zum Meer reichen, und wir können in Sicherheit und Zufriedenheit leben wie vor Mums Tod. Mit Geburten, Säuglingen und weiblichen Unterleibern bin ich fertig, will mich nicht mehr von Leuten rumschubsen lassen, die hinterm Rücken über mich lachen. Endlich kann ich die werden, die ich sein will, und niemand schaut mir ständig über die Schulter.

Aber ich erzähle dir am besten alles haarklein von Anfang an, ich weiß ja, dass du immer alles genau wissen musst. Ich war auf der Beerdigung von Edmund Winthrop, dem widerwärtigen Sohn vom Brigadier, den sie letzte Woche in einem U-Boot in die Luft gejagt haben. Er war erst zwanzig – vom ekligen Reptil zu Fischfutter, so schnell kann’s gehen.

Am Morgen der Beerdigung klatschte uns der Regen nass und kalt ins Gesicht wie frisch gefangener Kabeljau. Bei dem heftigen Wind und grimmigen Wolken kam man sich vor wie auf hoher See. Über uns kreiste ein riesiger Habicht auf Beuteflug. Wie passend, murmelte jemand, als wir unter unseren Regenschirmen über den verwahrlosten Friedhof in die düstere, modrige Kirche hasteten.

Die war schon gesteckt voll mit tuschelnden Klatschbasen, die nur aus Neugier gekommen waren. Vorn saßen die Winthrops und ihre Aristokratenfreunde, herausgeputzt und aufgeblasen wie eine Schar schwarzer Schwäne. Wie üblich gab es auch einige Flecken Kaki und Graublau, Uniformierte, die sich für was Besonderes halten, obwohl sie eigentlich nur dämlich sind. Uniformiert? Eher uninformiert, sag ich immer.

Wir, die übrigen Einheimischen (dieser Tage sind’s überwiegend Frauen in Wollmänteln), mussten uns hinter sie quetschen und den dünnen Stimmen des sogenannten Chors lauschen, ein paar Persönchen, die ein reichlich schiefes Holy, Holy, Holy herunterleierten. Die betuchten Damen unseres Dorfes sind wegen der Auflösung des Chors ganz aus dem Häuschen, doch nach diesem Konzert würde ich lieber den Katzen beim Jammern zuhören.

Während des ganzen traurigen Gottesdienstes schniefte die Mutter des toten Soldaten unentwegt in ihr Taschentuch, und ihr Körper bebte unter ihrem schwarzen Kostüm. Sie ist wieder schwanger, obwohl sie schon Ende dreißig ist. Man munkelt, ihr fieser Vater hätte sie mit gerade mal sechzehn Jahren gezwungen, den Brigadier zu heiraten, der sie seither fest unter der Knute hat.

Sie war die Einzige, die dem Kerl eine Träne nachweinte. Wir anderen hatten den brutalen, arroganten Fiesling Edmund noch gut in Erinnerung – wie der Vater, so der Sohn. Bestimmt waren auch ein paar darunter, die sein frühes Ableben als gerechte Strafe betrachteten.

Die beiden Schwestern, achtzehn und dreizehn, saßen zwar pflichtschuldig neben der trauernden Mutter, bemühten sich jedoch nicht mal, betrübt auszusehen. Die Ältere, Venetia, mit ihrem goldenen Haar und koketten Getue, fand es viel interessanter, unserem gut aussehenden jungen Künstler schöne Augen zu machen. Die kleine Kitty, hoch aufgeschossen wie ein Rehkitz, blinzelte verschreckt vor sich hin, im bläulichen Schein der mächtigen Bleiglasfenster über dem Altar sah sie mit ihrem spitzen Gesichtchen aus wie eine Elfe. Das ausländische Mädchen, das man nach Chilbury evakuiert hat, stand mit versteinerter Miene neben ihr, als hätte sie den Tod längst erlebt, und noch viel Schlimmeres dazu.

Der Brigadier beobachtete das Spektakel grimmig wie ein machthungriger Geier, mit seinen polierten Medaillen und der aufgeblasenen Gutsherrenart blickte er arrogant auf die Versammlung herab. In regelmäßigen Abständen hieb er mit der Silberspitze seiner Pferdepeitsche auf seine Stiefel ein. Dieser Mann ist zwar für sein aufbrausendes Temperament berüchtigt, doch an diesem Tag war er besonders ungenießbar. Denn er hatte nicht nur seinen einzigen Sohn verloren, sondern mit ihm auch die Aussicht auf das Familienerbe. Chilbury Manor geht an einen männlichen Erben, und Edmunds Tod bringt die Familie in ernste Schwierigkeiten. Würde er das Familienerbe verlieren, bräuchte er für den Spott nicht zu sorgen. Aber mit Leuten wie dem kenne ich mich aus. Der wird das nicht einfach so hinnehmen.

Nach dem ermüdenden Trauergottesdienst schnappten wir uns die Gasmaskendosen und trabten trübsinnig durch den wie Messer auf uns niedergehenden Eisregen hinauf zum Chilbury Manor, einem hässlichen Protzgemäuer aus Georgs Zeiten, das ein Ahne der Winthrops brutal in die Landschaft getrieben hat.

Keuchend kletterte ich die Stufen zum Eingangsportal hinauf, getragen von der Hoffnung auf ein leckeres Gläschen Sherry und ein großes weiches Sofa, doch das Haus war bereits voll mit feuchtdunstigen Trauergästen und nassen Regenschirmen. Auf dem Marmorboden im Eingang hallten die Absätze der Damen und deren angeregtes Geplapper umso lauter, es herrschte ein Lärm wie am Bahnhof von King’s Cross. Die Winthrops gehören zu einer alteingesessenen, reichen Familie, und die Dorfbewohner sind wie die Geier, die sich gern dort versammeln, wo es was zu holen gibt.

Und ich? Ich liege der Familie schon auf der Tasche, deshalb muss ich die Dinge hier im Auge behalten. Es ist nämlich so, dass der Brigadier mich für mein Schweigen über seine Angelegenheiten bezahlt, und dazu gehört auch die ungeplante Schwangerschaft letztes Jahr, genauso wie der Umstand, dass sein abscheulicher Sohn das ganze Dorf durchseucht hat, und zwar schneller, als du »Tripper« sagen kannst. Dieser Krieg eröffnet mir neue Möglichkeiten. Jede halbwegs geschickte Hebamme würde sofort erkennen, welches Potenzial in dieser Sache steckt, besonders wenn Leute wie diese schweineigeligen Adeligen meinen, sie stünden über den Dingen. Das schreit ja förmlich nach Erpressung, zwanzig hier, vierzig da. Kleinvieh macht auch Heu.

Beim Eintreten fiel mein Blick auf ein hübsches, gertenschlankes Dienstmädchen mit elegantem Schwanenhals, aber einer Miene wie Sauermilch. Mit ihrem Tablett voller Sherrygläser hatte sie sich auf der Treppe vor dem Andrang in Sicherheit gebracht. Letztes Jahr kam sie mit Gonorrhö zu mir, hatte sich bei Commander Edmund angesteckt, genau wie fast das halbe verflixte Dorf. Sie erzählte mir, er hätte ihr die Ehe versprochen, Geld, Freiheit, Liebe. Stattdessen verschwand er in der Navy, kaum dass der Krieg ausgebrochen war. Sie tat mir leid, deshalb habe ich ihr von seinen anderen Frauen erzählt – ihren Vorgängerinnen, der Gärtnersgattin, der Tochter des Vikars –, alle mit denselben Symptomen. Ich habe sie behandelt, allesamt, und Edmund auch, diesen ekligen Widerling. Elsie, so heißt das Dienstmädchen. Ihr war wohl ein bisschen unbehaglich, weil ich ihr die Geheimnisse der anderen verraten hatte und sie sich sicher Sorgen machte, dass die Frauen auch von ihren erfahren würden. Aber ich machte ihr klar, dass wir Freundinnen seien, sie und ich.

Mit verschwörerischem Grinsen genehmigte ich mir ein Glas Sherry von ihrem Tablett. Solche Leute können sehr nützlich sein.

Dann reihte ich mich hinter der trübsinnigen Mrs Tilling ein – Krankenschwester, Chormitglied und bemitleidenswerte Weltverbesserin –, um der Familie mein Beileid auszusprechen. »Wir werden ihn als Helden in Erinnerung behalten«, sagte sie mit tiefer Inbrunst. Sie ist so versessen darauf, Gutes zu tun, dass ich sie mit ihrem langen Gesicht am liebsten in ein Bierfass tunken würde, damit sie mal die Sau rauslässt.

»Das hätte nie passieren dürfen«, erboste sich Mrs B., die auch im Chor singt, wobei sie sich mit standesgemäßem Geltungsdrang in die Brust warf – die Unausstehliche direkt neben der Unerträglichen. Mit vollem Namen heißt sie Mrs Brampton-Boyd, und es regt sie fürchterlich auf, dass jeder sie nur »Mrs B.« nennt.

Als ich endlich drankam, wurde Mrs Tillings Gesicht noch länger, und sie schnalzte hörbar. Die hat mich noch nie gemocht. Ich bin ihr wohl ins krankenschwesterliche Gehege gekommen. Möglicherweise hat sie auch von meinen unorthodoxen Methoden erfahren. Oder von den Profiten, die ich daraus schlagen konnte.

»Es ist so schrecklich tragisch«, stieß ich bemüht hervor. »So jung hat man ihn von uns genommen.« Dann rang ich mir ein verkniffenes Lächeln ab, trat zur Seite und verzog mich wieder ins Abseits. Die Dorfleute beäugten mich neugierig. Sie fragen sich bestimmt, was ich dort vorn zu suchen hatte.

Gerade überlegte ich, ob ich ein bisschen in den anderen Zimmern schnüffeln gehen sollte, da geleitete mich der gebeugte Wicht von einem Butler in den Salon. Ich spekulierte bereits auf ein paar Happen vom adeligen Leichenschmaus, doch der Mann ließ mich einfach allein im großen, stillen Zimmer stehen.

Irgendwo haute jemand in die Tasten, die klirrenden Töne der Mondscheinsonate hallten schrill an der verzierten Decke wider. Ich befingerte derweil den Goldbrokatüberzug des Sofas. Die Statue eines nackten Griechen, die ich anschließend vom Regal zog, lag mir schwer in der Hand wie eine tödliche Waffe. Glanz und Gloria, von den bodenlangen blauen Seidenvorhängen und der protzigen, unglaublich hässlichen Ahnengalerie bis zu den Porzellanfiguren – antik, aber immer noch ungerecht.

Unwillkürlich fragte ich mich, ob ich es mit so viel Geld nicht besser hinbekommen, das Haus ein bisschen freundlicher gestalten könnte. Es roch so tot wie die Männer auf den Gemälden, so muffig wie die Augen in den Geweihen, die von den getäfelten Wänden herunterblickten, nach Staub und Asche. Da dachte ich an den letzten Krieg, den Ersten Weltkrieg. Damals waren selbst die Reichen dem Tod nicht entronnen, nicht für alles Geld der Welt. Krieg ist der große Gleichmacher. Erstaunlich, wie schnell alle wieder zur Tagesordnung zurückgekehrt sind – die da oben haben das Sagen, und wir krebsen hier unten herum.

Ich zog eine Packung Zigaretten hervor, zündete mir eine an, sah dem Rauch zu, wie er kräuselnd in die Vorhänge zog, und machte es mir bequem.

Hinter mir ertönte eine ruppige Stimme. »Wir müssen reden.« Eine Hand packte mich am Ellbogen, und eh ich wusste, wie mir geschah, hatte man mich zur Hintertür hinausgezerrt. Als ich mich umdrehte, erkannte ich den Brigadier. Die lilafarbenen Adern in seinen Schläfen pochten bedrohlich – war wohl gestern Abend ein bisschen zu viel Scotch gewesen. Er bugsierte mich unsanft in sein nach Mann miefendes Arbeitszimmer voller Ledersessel, Papier und Akten. Sein Pesthauch schlug mir ins Gesicht, Zigarrenrauch mit einem Hauch toter Hund.

Er sperrte die Tür hinter sich zu. Da wurde mir schlagartig klar: Hier ging’s um Geld.

»Herzliches Beileid«, sagte ich, wobei ich den Blick durchs Zimmer schweifen ließ, um meine Angst zu verbergen. Der Brigadier ist ein hohes Tier mit einer überheblichen Art, ein aufdringlicher, ungehobelter Kerl, aber er hat viel Macht und keinerlei Skrupel. Er ist einer vom alten Schlag, der immer noch meint, die Oberschicht kann sich alles erlauben, wenn sie nur laut genug poltert. Einer von denen, die glauben, sie könnten uns herumkommandieren, und sich benehmen, als würde ihnen das Land gehören.

»Hab Sie schon erwartet«, nuschelte er ungeduldig, die Zunge schwer vom Alkohol. »Deswegen sollte Proggett Sie auch in den hinteren Salon bringen. Sie müssen was für mich erledigen. Hurtig, die Zeit drängt.« Er ließ sich hinter seinem mächtigen Schreibtisch nieder, ganz der Geschäftsmann, während ich wie eine kleine Dienstbotin davor auf seine Anweisungen warten musste. Am liebsten hätte ich mich einfach hingesetzt, doch eine solche Aufmüpfigkeit hätte mich wahrscheinlich ein paar Kröten gekostet, also knallte ich ihm stattdessen meine schwarze Hebammentasche vor die Füße und wartete.

Er nahm mich ernst ins Visier. »Bevor ich Ihnen mehr verrate, müssen Sie mir versichern, dass Sie die Angelegenheit streng vertraulich behandeln«, sagte er staatsmännisch, als würden wir einen Nichtangriffspakt schließen, obwohl doch sonnenklar war, dass es hier ums Gegenteil ging.

»Selbstverständlich, das tue ich doch immer«, log ich und sah ihn pikiert an, weil er es wagte, an meiner Integrität zu zweifeln. Mit seinem überheblichen Feldwebelgetue schüchterte er mich nicht ein. »Ich verstehe mein Handwerk, Brigadier. Falls es überhaupt darum geht. Egal, was es ist, ich erledige es und schweige wie ein Grab.«

»Es gibt was zu tun«, sagte er brüsk. »Wie man hört, gehen Ihre Dienste über das gewöhnliche Maß hinaus?«

»Das kommt auf den Dienst an«, erwiderte ich. »Und auf den Lohn.«

Mit blitzenden Augen richtete er sich auf. Ich sprach eine Sprache, die ihm gefiel – Geld war mir wichtiger als das, was ich dafür tun sollte.

»Sie könnten eine Menge daran verdienen.«

»Und woran hatten Sie genau gedacht?«

Inzwischen war mir klar geworden, dass es sich um ein dickes Ding handeln musste, mit dem ich mir so richtig die Taschen vollmachen könnte. Ich war sicher, es würde wieder um eine Affäre gehen, diesmal vielleicht mit einer Dame aus besseren Kreisen oder einer aus dem Dorf. Dementsprechend reagierte ich auf seine Enthüllung – schockiert ist gar kein Ausdruck.

»Unser Kind muss ein Junge sein.«

Zuerst schwieg ich und überlegte, was er damit sagen wollte. Er beobachtete mich ganz genau, wohl um abzuschätzen, ob ich genug Mumm und Geldgier besaß.

»Im Frühjahr werden hier im Dorf mehrere Kinder auf die Welt kommen, nicht nur unseres«, fuhr er fort, als würde er mir im Schützengraben komplizierte Manöver erklären. »Aber unseres muss ein Junge sein. Wenn es eine Möglichkeit gibt, das zu garantieren …«

Der Groschen war gefallen. Eine Ungeheuerlichkeit! Ich sollte sein Kind mit einem neugeborenen Jungen aus dem Dorf vertauschen, falls seine Frau ein Mädchen bekam. Ich gab mir alle Mühe, nicht zu grinsen. Den Mann werde ich ausnehmen wie eine Weihnachtspute! In dem Moment hieß es ruhig Blut bewahren und möglichst hoch pokern.

»Damit gehe ich ein großes Risiko ein und setze meinen professionellen Ruf aufs Spiel«, erwiderte ich knapp.

Er beugte sich vor und ließ kurz die Maske fallen, die Augen quollen ihm aus den Höhlen, blutunterlaufen und kugelrund. »Aber es geht?«

»Unter Umständen«, antwortete ich ausweichend. Ich werde das Kind schon schaukeln. Schließlich habe ich eine teuflisch wirksame Kräutermischung, die Säuglinge sehr rasch aus dem Mutterleib treibt, und das Dorf ist klein, die Wege kurz.

»Wer das Problem für mich beseitigt, wird natürlich großzügig entlohnt«, erklärte er ruhig, während er an seinem Schnurrbart zwirbelte, als gelte es, ein komplexes Verteidigungsproblem zu lösen.

»Wie großzügig?«

Ein Rascheln an der Tür ließ ihn zurückweichen. »Das besprechen wir später, an einem anderen Ort.« Er erhob sich und trat ans Fenster. Von der Terrassentür aus hat man einen weiten Blick auf die unregelmäßige Hügellandschaft, die bis ans graue Spülwasser des Ärmelkanals reicht.

»Am übernächsten Donnerstag um zehn in der Hütte im Peasepotter Wood«, murmelte er gedämpft.

»Abgemacht«, flüsterte ich.

»Das war’s«, brummte er und wandte sich ab. Doch dann schoss sein Kopf noch einmal herum, und er taxierte mich mit finsterem Blick. »Und kein Sterbenswörtchen.«

Ich konnte gar nicht schnell genug verschwinden. In Windeseile hatte ich den Schlüssel umgedreht und flog zur Tür hinaus. Beschwingten Schrittes marschierte ich in die volle Eingangshalle, bahnte mir einen Weg durch die schwarz gekleidete Trauergesellschaft, vorbei an Uniformierten und neugierigen Nachbarn, und stolzierte ohne ein Wort des Abschieds aus dem Haus. Immer noch fuhren Trauergäste über die prächtige Auffahrtsallee zum Haus hinauf, weswegen ich mich mit den Freudensprüngen noch etwas zurückhielt und auf dem schnellsten Weg ins Dorf lief.

Kaum zurück in meinem düsteren kleinen Heim, stieß ich erst mal einen wohlverdienten Jubelschrei aus, warf die Arme in die Luft und lachte lauthals. Das lief ja wie am Fädchen.

Das mit Bill tut mir leid, und auch, dass wir das Geld genommen haben, als wir abgehauen sind. Woher sollte ich denn wissen, dass er sich alles unter den Nagel reißen und so schnell wie möglich verschwinden würde? Ich mache alles wieder gut, wart nur ab.

Wir können wieder glücklich werden, nur wir beide, wie damals, als wir noch jung waren. Komisch, wie gut es einem ging, merkt man erst, wenn man alles verloren hat. Wie nach Mums Tod, als Dad im Gefängnis landete und wir zu Onkel Cyril mussten, diesem widerlichen Kerl, der uns wie Sklaven auf seinem Dachboden einsperrte. Aber genug. Die Vergangenheit lassen wir einfach hinter uns, Clara.

Jetzt wendet sich das Blatt. Zwei Frauen im Dorf kommen ungefähr zur selben Zeit nieder wie Mrs Winthrop. Die alte Tranfunzel Mrs Dawkins von der Farm bekommt ihr Viertes, das sollte also kein Problem sein. Nicht ganz so leicht wäre es bei der ach-so-braven Hattie Lovell, unserer Dorfschullehrerin. Ihr Mann ist zwar auf hoher See, doch sie ist ganz dicke mit dieser nervtötenden Krankenschwester Mrs Tilling, die einen Hebammenlehrgang absolviert hat und jetzt meint, sie könnte ihre Nase in meine Geburtsangelegenheiten stecken. Jedes Mal, wenn ich Hattie besuchen will, ist sie schon da, macht sich wichtig, als wäre sie die Stationsschwester, und behauptet, sie würde Hattie bei der Geburt assistieren. Die Frau hat ja keine Ahnung. In diesem Dorf ist nur Platz für eine von uns.

Ich schreibe dir gleich nach meinem nächsten Treffen mit dem Brigadier. Wer hätte gedacht, dass sich dieser feine Pinkel so weit herablassen würde? Ich werde ihn auspressen wie eine Apfelsine. Oder sagt man Zitrone? Egal. Diesmal lasse ich dich nicht hängen, Clara. Dein Geld kriegst du zurück, ich schwör’s dir.

 

Edwina

Inhaltsverzeichnis

Tagebuch der Kitty Winthrop

Samstag, 30. März 1940

In diesen schwierigen Zeiten ist Tagebuch schreiben gut fürs Durchhaltevermögen, das behaupten sie jedenfalls im Rundfunk. Deshalb habe ich beschlossen, meine Gedanken und Träume in mein altes Schulheft zu schreiben. Niemand darf es lesen, außer vielleicht, wenn ich alt oder tot bin, und dann sollte es ein gedrucktes Buch werden, finde ich.

Wichtige Dinge über mich

Ich bin dreizehn Jahre alt, und wenn ich groß bin, will ich Sängerin werden, dann kann ich tolle Kleider tragen und das Publikum in London und Paris begeistern, vielleicht sogar in New York. Ich glaube, ich kann gut mit dem Erfolg umgehen, man wird mich bestimmt für meine souveräne Haltung schätzen.

Ich wohne in einem muffigen Dorf voller alter Häuser, in denen es immer feucht ist und nach Mottenkugeln riecht. Es gibt eine Wiese mit einem Ententeich, einen Kolonialwarenladen, einen Gemeindesaal und eine mittelalterliche Kirche mit überwuchertem Friedhof. In der Kirche hat sich sonst immer der Chor getroffen, bis der Vikar beschloss, dass wir ohne Männer nicht weitermachen können.

Seitdem liege ich dem Vikar in den Ohren, aber dieser Mann hört einfach nicht zu. Also habe ich erst mal einen Schulchor gegründet. Früher war ich auf dem Internat, doch dann haben sie alle Schüler nach Wales evakuiert. Weil Mama mich nicht gehen lassen wollte, muss mich unser neuer Butler Proggett jetzt jeden Morgen fünf Meilen zur Schule in Litchfield fahren. Es ist nicht schlecht da, nur leider will keiner bei meinem Chor mitmachen.

Ich habe eine garstige Schwester namens Venetia, die ist achtzehn. Bis vor Kurzem hatte ich auch einen Bruder, doch der wurde in der Nordsee von einer Bombe getroffen. Wir wohnen im größten Haus des Dorfes, Chilbury Manor, das zwar furchtbar herrschaftlich, aber im Winter eiskalt ist. Es ist nicht so imposant wie Brampton Hall, wo Henry Brampton-Boyd lebte, bis er zur Royal Air Force ging, um in seiner Spitfire die Deutschen abzuschießen. Wenn ich alt genug bin, heiraten wir und kriegen vier Kinder. Dann führen wir ein Luxusleben mit drei Katzen und einem großen Hund namens Mozart. Allerdings gehört uns Brampton Hall erst, wenn der alte Mr Brampton-Boyd das Zeitliche gesegnet hat, und weil der lieber in Indien ist, weiß keiner, wann das sein wird. Venetia macht sich lustig darüber und meint, dass er dort nur ausharrt, damit er seine Frau, die herrische Mrs B., nicht sehen muss. An seiner Stelle würde ich es genauso machen.

Über den Krieg

Dieser Krieg geht schon viel zu lange – schon mehr als sechs Monate. Das Leben ist unerträglich. Alle haben schrecklich viel zu tun, es gibt kein Essen, keine neuen Kleider, keine Dienstboten, kein Licht nach Sonnenuntergang und keine Männer mehr im Dorf. Immer müssen wir unsere Gasmasken mitschleppen und jedes Mal, wenn die Sirenen losgehen, in die Schutzräume rennen (obwohl das bisher nicht oft war). Abends müssen wir die Fenster mit dickem schwarzen Stoff verhängen, damit der Feind uns nicht sehen kann. Jedes Mal, wenn es im Radio rauscht und knistert, weil sie wieder irgendwelche Nachrichten senden, muss ich still sein und darf kein Klavier spielen.

Daddy ist ein Brigadegeneral, der seltsamerweise nie kämpfen muss und nur manchmal wegen »Kriegsangelegenheiten«, wie er es nennt, nach London fährt. Ich glaube, er versucht, an den Treffen im Kriegsministerium teilzunehmen. Wahrscheinlich haben sie immer neue Ausreden, ihn nicht reinzulassen. In letzter Zeit war er besonders böse, hatte die Pferdepeitsche immer zur Hand, damit wir nicht vergessen, wer der Herr im Haus ist. Venetia und ich halten uns meist fern. Mama hat fürchterliche Angst vor ihm und ist außerdem hochschwanger, deshalb passt außer der alten Nanny Godwin keiner auf uns auf, die ist allerdings viel zu alt und konnte sich sowieso noch nie durchsetzen.

In manchen Zeitungen steht, dass der Krieg bald vorbei sein wird, weil nicht gekämpft wird und die Deutschen sich mit Osteuropa zufriedengeben. Daddy behauptet, alles Unsinn, der Krieg hätte gerade erst angefangen.

»Zeitungen werden von Narren geschrieben.« Gern nimmt er dann die betreffende Zeitung in die Hand und klatscht sie auf den Schreibtisch. »Hitler lässt sich Zeit mit Polen. Merkt euch das: Vor Ende des Jahres wird Frankreich fallen, und dann sind wir dran.«

»Aber es ist alles so ruhig und normal«, habe ich daraufhin gesagt. »Mein Lehrer nennt es einen Schwindelkrieg, weil nichts passiert. Die Hälfte der aus London evakuierten Kinder ist schon wieder zurück. Er meint, bis Weihnachten sind unsere Truppen wieder zu Hause.«

»Dein Lehrer ist ein Idiot, der nicht über den Tellerrand hinausschauen kann«, brüllte Daddy. »Sieh dir Polen an, die Tschechoslowakei, Finnland. Zähl mal die Schiffe und U-Boote, die sie schon versenkt haben, und denk an unseren Edmund.«

Da mussten wir den Mund halten, weil Mama schon wieder zu weinen anfing.

Mein toter Bruder Edmund

Als Nächstes muss ich dir von Edmund erzählen, meinem Bruder, der in seinem U-Boot von einer Bombe getroffen wurde. Eigentlich sollten wir trauern. Es klingt zwar schäbig, aber er fehlt mir überhaupt nicht. Er war ein widerlicher Stinkstiefel, ich konnte ihn überhaupt nicht ausstehen. Nie habe ich ihm verziehen, dass er mich in den Brunnen gesperrt hat. Das eiskalte Wasser stand mir bis zum Hals, bis Nanny Godwin mich schließlich fand. Oder dass er mich als Zielscheibe fürs Bogenschießen missbraucht hat. Dafür wollte er mir das Autofahren beibringen, was tatsächlich ganz nett gewesen wäre.

Mama steht völlig neben sich, außerdem will sie unbedingt, dass ihr neues Kind ein Junge wird, und Daddy auch. Er meint, Mädchen sind zu nichts nutze. Venetia ist eine Ausnahme, weil sie blond ist. Aber ich bin dermaßen nutzlos, dass Daddy sich nur an mich erinnert, wenn er mal wieder einen Sündenbock braucht. Manchmal bitte ich Mama, etwas zu unternehmen, damit er nicht mehr so gemein ist, aber das kann sie nicht. Stattdessen rät sie mir, einen lieben, netten Mann zu heiraten. Ob sie sehr unglücklich ist?

Jeden Abend weist Mama unser Mädchen an, auch für Edmund zu decken, als würde er gleich hereinkommen, sich auf den Stuhl fallen lassen, auf typisch arrogante Art die Beine ausstrecken und einen gemeinen Witz reißen, meist über mich oder Venetia. Dann prustete er immer los und strich sich übers Haar, als wäre es ganz wunderbar, Edmund Winthrop zu sein. Manchmal kann ich kaum glauben, dass er einfach weg ist. Letzte Woche war seine Beerdigung, jedoch ohne Leichnam. Das war seltsam. Wo ist er jetzt?

Diese Woche musste ich immer an den Tod denken, weil David Tilling nach Frankreich geht und vielleicht nie wiederkommt, denn er stellt sich immer so ungeschickt an. Gestern habe ich gehört, wie Mrs B. sagte, er sei so einer, den die Kugel schneller fände als andere Burschen, und ich fürchte, dass sie damit richtigliegen könnte.

Unglaublich, wie fast alle, mit denen ich aufgewachsen bin, aus dem Dorf verschwinden. Edmund ist tot, David auf dem Weg in den Krieg, Henry in seiner Spitfire über Deutschland, Victor Lovell auf einem Schiff irgendwo im Ozean, Angela Quail in London, nur Hattie und die garstige Venetia sind noch hier. David wird mir am meisten fehlen. Er hat immer auf mich gewartet, wenn die anderen vorausgingen, wie ein Bruder, nur netter. In ein paar Wochen kommt er nach der Einweisung noch mal kurz nach Hause, bevor er nach Frankreich einrückt, und alle sind zu einer Überraschungsfeier bei den Tillings eingeladen, um ihn zu verabschieden. Ich weiß, dass wir den Mut nicht sinken lassen dürfen, auch wenn jemand in den Tod geht, aber wie soll ich vergessen, dass ich ihn wahrscheinlich nie wiedersehen werde?

Dinge, die man sich merken sollte, bevor die Menschen in den Krieg ziehen

Die Form ihres Körpers – so sieht die Lücke aus, die Menschen reißen, wenn sie uns verlassen

Die Art, wie sie sich bewegen, wie sie gehen, wie schnell sie sich umwenden

Alle Gerüche und der persönliche Duft, der langsam vergeht

Ihre Farbe, die alles überstrahlt, sogar ihren Tod

Menschen und ihre Farben

Ich stelle mir Menschen gern als Farben vor, eine Art Aura oder Lichthof, der sie umgibt und ihr Äußeres in den verschiedenen Tönen ihres Inneren leuchten lässt.

Ich – violett, so intensiv und dunkel wie der Himmel bei einem nächtlichen Gewitter

Mama – ein blasses Rosa wie ein Mäusejunges

Daddy – schwarz wie Ruß (Edmund war auch schwarz, aber eher wie ein sternenklarer Himmel)

Mrs Tilling – hellgrün, wie ein zartes Pflänzchen im Schnee

Mrs B. – dunkelblau (korrekt und traditionellen Werten verbunden)

Henry ist tiefblau wie seine Augen. Ein Azurton, der mich an den wunderbaren Julitag in den Ferien vor einem Jahr erinnert, als er das erste Mal vom Heiraten sprach. Endlos blauer Himmel, neben unserem Picknickplatz plätscherte der Bach träge dahin wie der späte Nachmittag. Henry und Edmund, Venetia und ich stromerten durch die Gegend, und Mama hatte keine Ahnung, wo wir waren. Natürlich kam sein Antrag aus heiterem Himmel, Henry hatte nicht mal einen Ring, und es wurde nie offiziell. Aber tief im Herzen wird er sich daran erinnern.

Das weiß ich genau.

Meine garstige Schwester Venetia

Im krassen Gegensatz zu uns anderen genießt Venetia den Krieg in vollen Zügen, nicht nur, weil sie jetzt Narrenfreiheit hat, sondern wegen der Veränderungen. Sie wird noch mehr bewundert, und nach Edmunds Tod steht sie an der Spitze der Familie. Venetia ist eklig grüngelb wie das Meer im Sturm, sie saugt allem, was gut ist, die Lebenskraft aus, reißt junge Männer in ihre unergründlichen Tiefen und spuckt sie besinnungslos an fernen Ufern wieder aus.

Es ist sehr amüsant, dass es ihr einfach nicht gelingen will, unseren gut aussehenden Neuzugang Mr Alastair Slater in ihren Bann zu ziehen. Er ist Künstler und wie alle Schriftsteller und Künstler vor den zu erwartenden Bombenangriffen von London aufs Land geflohen, um seine Haut zu retten. Daddy behauptet, sie würden davonlaufen, um sich vor ihren Pflichten zu drücken. Mr Slater sieht aus wie Cary Grant, gepflegt und kultiviert, so ganz anders als die Jungen hier. Seine Farbe ist dunkelgrau, genau wie seine eleganten Anzüge und distanzierte Hochnäsigkeit. Offenbar hat er keinerlei Interesse an Venetia, obwohl sie Tag und Nacht um ihn herumscharwenzelt. Ich habe gehört, wie sie Hattie erzählte, sie hätte mit Angela Quail gewettet, dass er ihr aus der Hand frisst, bevor der Sommer vorbei ist, doch wie’s aussieht, muss sie sich wohl mehr anstrengen.

Angela Quail ist das liederlichste und abscheulichste Mädchen, das ich kenne – kaum zu glauben, dass sie die Tochter des Vikars ist. Ihre Farbe ist scharlachrot wie ihre Lippen, ihre aufreizenden Kleider und ihre Durchtriebenheit. Sie hat mit Venetia in der neuen Kriegskommandozentrale in Litchfield Park gearbeitet, ein prächtiges altes Herrenhaus am Rande von Litchfield mit georgianischen Säulen und einem weitläufigen Garten. Die Regierung hat es vor ein paar Monaten für Kriegszwecke beschlagnahmt, und jetzt muss Lady Worthing bei ihrer Schwester in Cheswick Castle wohnen, die Arme. Die Zentrale ist mittlerweile ungeheuer wichtig geworden und liegt nur fünf Meilen von Chilbury entfernt, deshalb sind wir besonders auf der Hut vor feindlichen Angriffen. Venetia arbeitet in der Verwaltung, hält sich aber für ganz wichtig, obwohl sie nur Protokolle abtippt und Telefongespräche aus London durchstellt.

Letzten Monat wurde Angela ins echte Kriegsministerium nach London versetzt, wo sie bestimmt mit jedem herumtändelt, den sie in die Finger kriegt. Angela beherrscht das Kokettieren so meisterhaft wie keine andere auf dieser Seite des Ärmelkanals, so viel steht fest. Venetia ist ganz traurig, weil ihre beste Freundin Angela in London ist, denn jetzt hat sie niemanden mehr, vor dem sie mit ihren Eroberungen prahlen kann. Ich hatte ja gehofft, dass Venetia ohne Angelas schlechten Einfluss ein bisschen netter zu mir wäre, aber sie ist noch gemeiner geworden.

Silvie, unsere tschechische Evakuierte

Liebes Tagebuch, jetzt muss ich dir von Silvie erzählen, einer zehnjährigen Jüdin aus Tschechien, die wir vorübergehend bei uns aufgenommen haben. Die Deutschen sind in der Tschechoslowakei einmarschiert. Ihre Familie sollte ihr folgen, aber sie sitzt fest. Mein Lieblingsonkel Nicky, Mamas jüngster Bruder, hat die Evakuierung von Kindern organisiert, und so wurde Silvie vor Ausbruch des Krieges letzten Sommer bei uns einquartiert.

»Wir konnten die Evakuierung nicht fortsetzen, weil die Grenzen geschlossen sind, was schrecklich ist für die zurückgebliebenen Kinder«, hat er uns erklärt. »Die deutschen Soldaten haben halb Osteuropa im Griff. Die Leute sind verzweifelt. Das sind brutale Menschen, die jeden verhaften, der ihre Regeln missachtet.«

Daddy fand das mit Silvie überhaupt nicht gut. Aber ein paar Monate später brach der Krieg aus, und auf einmal kamen Hunderte verdreckte Londoner hier an und verlangten eine Unterkunft. Plötzlich war er hocherfreut, dass schon die stille, saubere Silvie bei uns war und wir keinen Platz mehr für andere hatten. Der Vikar und Mrs Quail nahmen eine schreckliche Frau mit vier heulenden Kindern voller Läuse und Flöhe, die keinerlei Tischmanieren besaßen, bei sich auf. Die Frau hat sich ständig mit Mrs Quail gezankt und ist schließlich einfach wieder nach London zurückgekehrt, weil es anscheinend gar keinen Krieg geben wird. Nicht mal bedankt hat sie sich.

Ich weiß noch nicht, welche Farbe Silvie hat. Sie ist sehr still und lächelt kaum. Ständig versuchen wir, sie ein wenig aufzuheitern und ihr Englisch beizubringen. Sie hat ein Geheimnis, das sie niemandem anvertraut, hat sie mir erzählt.

»Aber mir kannst’s doch sagen. Ich verrat’s keinem«, versicherte ich ihr. Sie weigerte sich jedoch strikt, ihre schmalen Lippen blieben fest zusammengepresst.

Nicht mal einen Koffer hatte sie dabei, weil der auf der Flucht verloren ging. An der Grenze zu Holland gab es Schwierigkeiten, da mussten sie sich furchtbar beeilen. Silvie war in einer Gruppe von ungefähr hundert Kindern, manche nicht älter als fünf oder sechs – und die hätten die ganze Zeit nach ihren Müttern gerufen und geweint, drei Tage lang. Es war besonders schlimm, dass sie ihr Gepäck zurücklassen mussten, ihr Lieblingsspielzeug, Fotos von zu Hause und Erinnerungen an die Heimat. Bei der Ankunft schenkten wir Silvie eine Puppe, aber sie hat sie einfach mit dem Gesicht zum Kleiderschrank auf einen Stuhl gesetzt, als würde dahinter eine bessere Welt auf sie warten.

Prim, die neue Musiklehrerin

Jetzt habe ich’s fast vergessen. Es gibt großartige Neuigkeiten! Eine Musiklehrerin ist nach Chilbury gezogen. Sie kommt aus London und unterrichtet Musik an der Universität von Litchfield. Ihr Name ist Miss Primrose Trent, doch wir sollen sie Prim nennen, hat sie gesagt, ein witziger Name, der überhaupt nicht zu ihr passt, denn Prim bedeutet eigentlich »adrett« – und das ist sie ganz und gar nicht. Mit ihrem borstigen grauen Haar und ihrem weiten schwarzen Umhang sieht sie eher aus wie ein Hutzelweib. Ihre Farbe ist dunkelgrün, wie ein Wald im sommerlichen Nachtschatten.

Mrs Tilling hat uns gestern in ihrem Laden miteinander bekannt gemacht, und da habe ich mir ein Herz gefasst und ihr erzählt, dass ich eine berühmte Sängerin werden möchte.

»Übung, meine Liebe!«, rief sie mit ihrer mächtigen Stimme, die die Dosen in den Regalen erzittern ließ. »Stehe mutig zu deiner Überzeugung.« Dann machte sie eine ausladende Armbewegung wie eine Schauspielerin auf der Bühne. »Wenn du Zeit hast, kann ich dir Unterricht geben.«

Was für eine wunderbare Fügung!

»Ich werde Mama gleich fragen. Sie müssen wissen, dass es vor Kurzem eine schlechte Nachricht gegeben hat. Der Vikar hat beschlossen, den Gemeindechor aufzulösen, und deshalb kommen wir nicht mehr zum Singen.«

»Das kann ich ja gar nicht gutheißen. Einen Chor aufzulösen, besonders in Zeiten wie diesen!«

Ich hoffe inständig, sie überredet den Vikar, unseren Chor wieder aufleben zu lassen, obwohl ich nicht weiß, wie sie das bewerkstelligen will. Ohne Männer haben wir keine Aussicht auf Erfolg. In der Zwischenzeit kann ich mich allerdings auf Gesangsstunden freuen, denn Mama war einverstanden. Das wird mich ins Rampenlicht rücken, wenn mich das Blitzen in Prims Augen nicht täuscht.

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Venetias Brief an Angela Quail

Chilbury Manor

Chilbury

Kent

Mittwoch, 3. April 1940

Liebe Angela,

die Wette gilt noch! Es ist erstaunlich, wie sehr sich Mr Slater meinen Avancen verweigert. Ich habe schon alles versucht, sogar an seine Tür habe ich geklopft und ihn gefragt, ob er etwas Farbe übrig hat, weil ich mich gerade an einem »schrecklich schwierigen Landschaftsbild versuche«, aber er hat mir einfach ein paar Farben in die Hand gedrückt und mich höflich vor die Tür gesetzt. Den ganzen Tag habe ich mich für diese Begegnung herausgeputzt, mein grünes Seidenkleid angezogen, die Haare aufgedreht. Höchst verblüffend, meine Liebe, höchst verblüffend.

Freu dich bloß nicht zu früh, ich werde ihn noch bekommen. Er ist wirklich hinreißend, Angie. Ein romantischer Maler. Ich habe solche Leute ja immer für magere Bohemiens gehalten, aber er ist viel athletischer und hat das Gesicht eines kultivierten Fechters. »En garde« und so. Unter diesen steifen Anzügen treten seine muskulösen Arme und Oberschenkel besonders deutlich hervor. Wie sehr ich mich danach sehne, sie zu streicheln. Angie, es ist viel mehr als das. Irgendwas an ihm sagt mir, dass wir füreinander geschaffen sind. Dieser Blick! Als würde er direkt durch mich hindurchsehen und dahinter mein wahres Ich erkennen.

Ich vermisse dich hier, obwohl sich die Lage etwas entspannt hat. Nach Edmunds Tod kehrt nun etwas Ruhe ein, nur Mama ist noch immer weinerlich und Daddy zornig. Ich vermisse ihn auf meine Art, und unsere kleinen Scherze. Komisch, kaum ist jemand gestorben, schon vergisst man seine schlechten Seiten. Wahrscheinlich weil er keine Bedrohung mehr darstellt.

Ich habe meine Freundschaft zu Hattie wiederaufgenommen, obwohl sie seit der Schwangerschaft langweilig geworden ist wie gekochter Kohl. Gestern war ich bei ihr zum Tee. Das Kinderzimmer ist jetzt giftgrün, weil sie keine andere Farbe hatte. Ihr Reihenhaus in der Church Row ist so winzig, ich weiß nicht, wie sie das aushält.

»Aber ich wohne direkt neben Miss Paltry, der Hebamme!«, rief sie mit unerfindlicher Begeisterung im hübschen Gesicht, und das seit der Schwangerschaft noch krausere Haar stand ihr wirr vom Kopf ab. »Weißt du nicht, wie praktisch das ist? Obwohl Mrs Tilling bei der Geburt meine Hauptvertraute sein wird. Seit meine Eltern nicht mehr da sind, ist sie meine Familie.«

»Und Mr Slater wohnt auf der anderen Seite. Das ist sehr viel aufregender«, erklärte ich lachend. Kann man sich vor Langeweile den Lippenstift ruinieren? Diese Frage beschäftigte mich in dem Moment schwer, denn ich wollte meinem Angebeteten schließlich in makellosem Zustand unter die Augen treten.

»Wie geht es mit der Wette voran?«, fragte sie.

»Nicht besonders. Dieser Mann ist mir ein Rätsel.«

»Meine Rede. Ich frage mich ernsthaft, was er so treibt. Er verlässt das Haus mit wenig mehr als einem Pinsel und durchstreift stundenlang die Gegend, entweder in seinem Automobil oder zu Fuß.«

Hattie spielt sich immer als die Vernünftige auf. Sie hält sich für erwachsener, obwohl sie nur zwei Jahre älter ist. Und jetzt, wo sie ein Kind bekommt, ist sie geradezu unerträglich.

»Vielleicht ist er in Wahrheit ein Filmstar!«, scherzte ich. »Das Aussehen dafür hat er ja.«

Sie lachte nicht. »Vielleicht solltest du einem anderen nachstellen.«

Da stand sie, in ihrem sackartigen Schwangerschaftskleid in der einsamen Stille ihres engen Häuschens, aber auf ihre einfältige Art platzte sie vor Glück. Dennoch muss ich gestehen, dass ich einen winzigen Augenblick neidisch war. Doch keine Angst, das war schnell wieder vorbei. Wer will schon Victor Lovell? Oder ein Kind kriegen, obwohl der Krieg für uns Frauen so viel Aufregendes bereithält? Ohne ihn hätten wir doch nie als Sekretärinnen im Kriegsministerium arbeiten können, und dich hätte man nie allein nach London gelassen, wo du jetzt Feste feiern und deine Freiheit genießen kannst. Constance Worthing soll für den Krieg ja sogar Flugzeuge an die Einsatzorte bringen.

Wahrscheinlich war Hattie tatsächlich immer die Vernünftigere von uns beiden, doch im Moment finde ich sie entsetzlich selbstzufrieden. Ich musste daran denken, wie wir früher im Hexenring gestanden hatten, drei kleine Mädchen, die aus Leibeskräften brüllten: »Wir sind stark wie die Schlangen, grimmig wie die Wölfe und frei wie die Sterne!«

»Ich bin immer noch dieselbe wie früher«, sagte sie plötzlich, als könnte sie Gedanken lesen – komisch, wie sie das immer macht –, und sie hatte recht.

Auf dem Heimweg dachte ich darüber nach, dass Hattie ein Kind bekommen würde. Ich bin nicht sicher, ob ich gern Mutter wäre, vielleicht ist es ja gar nicht so schlimm.

Silvie kam in mein Zimmer, auf ihren zarten Füßchen trippelte sie zur Frisierkommode. Sie suchte nach Schätzen, wollte wissen, woher meine Habseligkeiten stammten. Manchmal erfinde ich Geschichten, einmal erzählte ich ihr, meine Kette stamme aus der Tiefsee oder mein Lippenstift habe vorher einer Prinzessin gehört.

»Magst du Mr Slater?«

»Woher weißt du das?«

»Kitty«, erwiderte sie knapp. »Ich hoffe, er ist nett. Wie du.«

Ich schloss sie lachend in die Arme. Kitty wird dafür büßen, dass sie meine Geheimnisse verrät. Ich muss wirklich besser aufpassen.

Schreib mir bald zurück, Angie, denn mir fehlen deine kleinen Missetaten. Ich wünschte, sie hätten mich mit dir nach London versetzt, obwohl, jetzt, wo ich einen Mr Slater in Aussicht habe, ist es nicht mehr so eilig.

 

Alles Liebe,

Venetia

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Miss Edwina Paltrys Brief an ihre Schwester Clara

3 Church Row

Chilbury

Kent

Donnerstag, 4. April 1940

Liebe Clara,

der Handel ist perfekt. Wir werden unglaublich reich sein, Schwester. Ich habe mich wie ausgemacht am verlassenen Steinhäuschen im Wald mit dem Brigadier getroffen.

Er stand schon da und zog bei meiner Ankunft ungehalten die silberne Taschenuhr aus der Jacke. »Sie kommen zu spät.«

»Tatsächlich?«, erwiderte ich lächelnd. »Wie bedauerlich.«

Meine offensichtliche Ironie quittierte er mit einem Schnauben. »Und? Schaffen Sie das?«

»Die Kinder zu vertauschen, meinen Sie?« Ich verkniff mir ein Grinsen, obwohl ich es höchst amüsant fand, dass er genau das von mir verlangte. »Von einer Geburt zur anderen flitzen und beiden Frauen weismachen, sie hätten das jeweils andere Kind auf die Welt gebracht?«

»Ja, verdammt«, brüllte er, »oder soll ich mir eine andere suchen, Weib?«

»Ich bezweifle, dass Sie jemanden finden, der so vertrauenswürdig ist wie ich. Obwohl Mrs Tilling ja einen Hebammenlehrgang absolviert hat. Vielleicht möchten Sie sie fragen?«, fügte ich süffisant hinzu.

»Machen Sie sich nicht lächerlich«, herrschte er mich an. »Antworten Sie mir. Machen Sie es?«

»Kommt drauf an, wie viel dabei rausspringt.«

Er schnaubte wie ein gereizter Stier. »Ich gebe Ihnen fünftausend.«

Mir verschlug es glatt den Atem. Schwindelerregende fünftausend Pfund! Das ist zehnmal mehr, als ich in einem Jahr verdiene! Aber damit wollte ich mich nicht zufriedengeben. Der alte Gauner kann erheblich mehr rausrücken. Ich habe seinen Prunk gesehen, die Kristalllüster, die ganzen verdammten Kronjuwelen.

»Danach müsste ich meinen Beruf aufgeben und das Dorf verlassen«, erklärte ich und setzte meine trübsinnigste Miene auf. »Ich bräuchte schon zwanzigtausend, um überhaupt darüber nachzudenken.«

Er schäumte vor Wut. »Achttausend. Für ein Frauenzimmer wie Sie sollte das völlig reichen.«

»Ein Frauenzimmer wie ich?« Ich hielt seinen Blick. »Eine wie ich kann für ganz schön viel Wirbel sorgen.«

»Drohen Sie mir etwa?«, fauchte er. »Ich werde alles abstreiten. Was meinen Sie, wem die Leute glauben?«

»Darauf würde ich nicht zählen, Brigadier«, antwortete ich. »Die Zeiten, wo ihr feinen Pinkel das Sagen hattet, sind lange vorbei.«

»Ich kann dafür sorgen, dass Sie am Galgen baumeln, verlassen Sie sich drauf.«

»Zehn, und ich mach’s«, erklärte ich entschlossen. »Vorausgesetzt, ich krieg das Geld, auch wenn die Sache schiefgeht.«

»Sie tun genau, was ich Ihnen sage, Miss Paltry, oder Sie kriegen hier kein Bein mehr an Deck. Haben wir uns verstanden?« Er trat nah an mich heran. »Geld gibt’s erst, wenn ich den Jungen habe.«

»Sie können mir das Geld vorher geben, denn wenn kein Junge geboren wird, kann ich sowieso nichts machen. Aber wenn es einen gibt«, ich lächelte verschwörerisch, »dann sorge ich dafür, dass er Ihnen gehört.«

Der Brigadier ballte die Hände zu Fäusten. Damit hatte er wohl nicht gerechnet. Seit meiner Ankunft hier im Dorf vor fünf Jahren habe ich stets penibel darauf geachtet, dass meine Weste weiß bleibt, besonders nach meinem Missgriff in diesem Dorf in Somerset. (Du weißt sicherlich noch, wie sie mir die Hölle heißgemacht haben, nur weil ich meinen Patienten mit Genitalwarzen die falsche Tinktur verabreicht hatte und sie da unten plötzlich violett leuchteten. Was dabei rauskam, weißt du sicher noch: drei zerstörte Ehen, ein Faustkampf, eine verschwundene junge Frau und mindestens zwei zornige junge Männer, die mir seither auf den Fersen sind.) Nein, Clara, in Chilbury habe ich alles geschickt eingefädelt, meine Vergangenheit verschwiegen und mich an die Regeln gehalten.

Jetzt ist es Zeit für die Ernte.

»Nun gut, Sie kriegen zehntausend. Die Hälfte vorher, den Rest danach«, donnerte er. »Und wenn Mrs Winthrop einen Jungen bekommt, gibt’s die Hälfte.« Missmutig nahm er mich ins Visier. »Wie soll ich einem Weib vertrauen, das zu so was fähig ist?«

»Wir Frauen sind zu vielem fähig, Brigadier, das ist Ihnen bisher nur nicht aufgefallen.« Ich lächelte schwach. »Die erste Hälfte brauche ich spätestens in zwei Wochen, und zwar in bar.«

Bei meinen Worten tobte er durchs Unterholz, und mir wurde klar, wie wichtig dieser Handel für ihn war. Ach, ich hätte ihn um fünfzigtausend erleichtern sollen. Er hätte es akzeptiert. So ziemlich alles hätte er akzeptiert.

»Sie kriegen Ihr Geld«, grummelte er schließlich. »Kommen Sie in zwei Wochen um zehn hierher, dann habe ich es.« Wieder trat er auf mich zu, die Augen zu Schlitzen verengt wie Ebenezer Scrooge. »Und halten Sie ja den Mund, sonst ist’s vorbei. Und auch kein Wort zu meiner Frau. Sie soll nichts davon wissen. Haben Sie mich verstanden?«

»Aber wie, Brigadier.« Ich senkte die Stimme. »Laut und deutlich.«

Mit diesen Worten schritt ich davon und ließ ihn vor Wut auf und ab marschierend und leise fluchend zurück.

Durchs Farngestrüpp tänzelnd atmete ich die frische klare Waldluft, bis ich schließlich wieder auf dem Waldweg landete. Es wird funktionieren, Clara. Als Vorsichtsmaßnahme werde ich mich mit der Nervensäge Mrs Tilling anfreunden, damit ich auf dem Laufenden bleibe. Hier geht’s um große Summen, und da kommt es auf jede Kleinigkeit an. Wenn es so weit ist, schreibe ich dir Genaueres, wie du es dir in deinem letzten Brief erbeten hast. Bevor der Frühling zu Ende ist, wirst du reich sein, das schwöre ich dir.

 

Edwina

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Bekanntmachung an der Anschlagtafel des Gemeindesaals von Chilbury

Montag, 15. April 1940

Die Proben für den neuen Frauenchor von Chilbury finden am Mittwochabend um Punkt 19 Uhr in der Kirche statt.

 

Miss Primrose Trent, Professorin für Musik an der Universität von Litchfield

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Mrs Tillings Journal

Mittwoch, 17. April 1940

Prims Bekanntmachung der Gründung eines neuen »Frauenchors« hat in unserer kleinen Gemeinde für großen Wirbel gesorgt. Als wir Frauen uns gestern Abend beim Freiwilligenkorps versammelten, dessen sperrigen Namen Women’s Voluntary Service wir immer mit WVS abkürzen, hat Mrs B. mir erzählt, sie sei umgehend zum Vikar gegangen, weil sie wissen wollte, was hier gespielt werde.

»Haben Sie dieser Person – dieser Neuen – etwa die Leitung des Chors übertragen und ihn damit bis zur Unkenntlichkeit entstellt?«, habe sie gefragt. Und dieser Vikar, der sich als Mann Gottes bezeichnet, habe geantwortet: »Nun, sie war schrecklich eigensinnig, und ich konnte ihr diese Bitte einfach nicht abschlagen«. Sie, Mrs B., sei empört gewesen.

»Herrje«, sagte ich, aber insgeheim fand ich das alles recht aufregend. Wenigstens würden wir nun wieder singen. »Ich weiß, es ist etwas ungewöhnlich, doch wir können ja einfach mal hingehen und abwarten, was Prim dazu sagt. Wir tun ja nichts Schlimmes.«

»Nichts Schlimmes?«, herrschte sie mich an. »Ist es etwa nicht schlimm, dass diese Person den guten Ruf unseres Dorfes ruiniert? Gar nicht auszudenken, wie Lady Worthing darauf reagieren wird. Wo sie doch so erpicht ist auf alte Traditionen.«

Einige Damen vom WVS gesellten sich zu uns, die Freiwilligen Näherinnen taten beim Flicken der Truppenpyjamas ihren Unmut kund, während die Damen von der Kantine sich fragten, ob das wohl gut gehen würde. Also, liebes Tagebuch, kannst du dir sicher vorstellen, wie neugierig ich war, als ich an jenem verregneten Chorabend in die Kirche huschte.

Ich war eine der Ersten. Alles wirkte wie verzaubert, die Altarkerzen warfen Schatten an die Wände des Kirchenschiffs. Nach und nach trudelten auch die anderen Damen ein. Mrs Gibbs, die Ladenbesitzerin, Mrs B., Mrs Quail, unsere Organistin, und sogar Hattie, die hochschwanger ist, aber meinte, sie wolle das auf keinen Fall verpassen. Miss Paltry gab sich ebenfalls die Ehre – offenbar hat sie neue Vorsätze gefasst, denn sie hat mich am Ende sogar gefragt, ob sie bei unserem Freiwilligendienst mitmachen dürfe. »Jedes Jahr eine gute Tat!«, meinte sie mit wichtiger Miene. Ich unterdrückte ein Grinsen. Es ist schon drollig, wie die gute Frau ständig ihre Sprichwörter durcheinanderbringt. Kitty und Mrs Winthrop kamen voller Elan in die Kirche gerannt, die Kriegsevakuierte Silvie im Schlepptau, die zur Abwechslung mal lächelte. Kurz danach stolzierte auch Venetia herein, makellos herausgeputzt, falls sie Mr Slater begegnen sollte. Sie ist in letzter Zeit noch garstiger geworden. Möglicherweise wird es jetzt besser, da Angela Quail nicht mehr hier wohnt.

Obwohl es so stark regnete, standen wir um sieben bereits dicht gedrängt, im klammen Chorraum herrschte angeregtes Geplapper und freudige Erregung, sogar die Heilige Jungfrau schien gespannt auf uns herabzublicken. Angestiftet von Mrs B. hatten sich allerdings auch schon ein paar entschlossene Bedenkenträgerinnen vor der Bank für die Altstimmen versammelt, wo sie herumgluckten wie ein verdrossener Hühnerhaufen.

Auf einmal sprangen die massiven Flügeltüren auf, und Prim rauschte majestätisch mit wehendem schwarzen Talar über den Gang nach vorn, wobei ihre Schritte so laut an der Holzbalkendecke widerhallten, dass sogar die Fledermäuse im Glockenturm erschraken. Mit einer schwungvollen Bewegung entledigte sie sich des Umhangs, schüttelte die Regentropfen ab. Ihr Haar sah an diesem Abend besonders kraus aus. Nachdem sie mit höchst feierlicher Miene die Notenblätter auf einem Stuhl deponiert hatte, schritt sie theatralisch zur Kanzel hinauf.

»Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten, meine Damen?«, rief sie. Ihre Stimme hallte bis unters Gewölbe. »Voller Stolz darf ich heute die Gründung des Frauenchors von Chilbury verkünden.«

Ungefähr die Hälfte der Versammlung applaudierte, und mir wurde ganz warm ums Herz. Es geschah tatsächlich!

Doch uns gegenüber stand Mrs B. mit ihren Unterstützerinnen, die Hände entschlossen in die Hüfte gestemmt bewachte sie standhaft ihr Revier.

Prim fuhr unbeirrt fort, ihre grauen Augen funkelten. »Ich weiß, wie sehr uns das Ende des Chors betrübt hat, und deshalb«, sie wedelte triumphierend mit dem Taktstock, »habe ich dem Vikar vorgeschlagen, unseren lieb gewonnenen Gemeindechor zum Frauenchor zu machen.«

»Und wie genau ist das vor sich gegangen?«, fragte Mrs B. in typisch herablassendem Ton.

»Ich habe ihm erklärt, dass wir jetzt, in Kriegszeiten, einen Chor umso dringlicher brauchen. Wir müssen in Gemeinschaft singen und wunderbare Musik machen dürfen, um diese jammervolle Zeit zu überstehen.« Sie hielt inne und wandte sich der großen Kerze neben ihr zu, die ihre Augen nachdenklich funkeln ließ. »Einige unter uns erinnern sich noch an den vergangenen Krieg, der maßloses Leid und Tod mit sich brachte. Es ist Zeit, dass wir Frauen uns in der Gemeinschaft nach besten Kräften unterstützen und aufmuntern. Nur weil die Männer weg sind, heißt das nicht, dass wir es nicht allein schaffen.«

»Machen Sie sich doch nicht lächerlich!« Mrs B., in ihrem traditionellen Jagdkostüm aus Tweed, schwang sich mit geschwellter Brust auf die Kanzel. Diese Pose war Nachbarn und Freunden bestens als ihre Kampfhaltung bekannt. »Woher sollen wir wohl die Bässe und Tenöre nehmen?«

»Wir werden Arrangements für weibliche Stimmen auswählen, oder ich werde die Stücke entsprechend adaptieren. Männer brauchen wir nicht! Wir sind auch ohne sie ein vollständiger Chor!«

»Außerdem«, bemerkte Mrs Quail an der Orgel amüsiert, »war der alte Mr Dawkins unser einziger Bass, und der hat die letzten zwei Jahre nur noch schief gesungen.«

Die jüngeren Mitglieder kicherten verhalten, aber Mrs B. ließ sich nicht beirren. Beifall heischend wandte sie sich an ihre Mitstreiterinnen.

»Was wird Gott davon halten?«, meldete sich eine Näherin zu Wort. »Er hat bestimmt nicht gewollt, dass Frauen allein singen. Denken Sie nur ans Halleluja im Messias, wie soll das ohne Männer gehen?«

»Es gibt doch auch genug Männerchöre«, bemerkte Prim amüsiert. »Denken Sie an die großen Chöre in Cambridge, von der St. Paul’s Cathedral ganz zu schweigen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gott etwas gegen Gesang hat.«

»Aber es ist wider die Natur«, versetzte Mrs B.

Am liebsten hätte ich mich geräuspert und sie zurechtgewiesen, und eh ich mich versah, waren die Worte schon heraus. »Vielleicht hat man uns Frauen so lange weisgemacht, wir könnten allein nichts schaffen, dass wir es mittlerweile selbst glauben. Außerdem ist die natürliche Ordnung vorübergehend außer Kraft gesetzt, weil die Männer weg sind.« Ich überlegte kurz. »Mrs Gibbs liefert ihre Milch mittlerweile selbst aus, und Mrs Quail fährt nun den Bus, wie viele von uns, die neue Aufgaben übernehmen. Der Krieg hat alles durcheinandergebracht. Warum sollten wir nicht auch den Chor verändern?«

Ein paar Damen applaudierten, und vereinzelt ertönten zustimmende Rufe. Ich konnte kaum glauben, dass ich tatsächlich aufgestanden und meine Stimme erhoben hatte, und das auch noch gegen Mrs B., die mich höchst pikiert musterte.

»Ach tatsächlich, Mrs Tilling?«, fragte Mrs B. schnippisch. »Ich weiß gar nicht, welcher Teil Ihrer Ansprache mich mehr entsetzt, die Vorstellung, dass wir unsere moralischen Ansprüche angesichts des Krieges herunterschrauben sollen, oder der Umstand, dass Sie, meine Liebe, hier öffentlich Partei ergreifen.« Dann wandte sie sich an die Gruppe, die sich um den Altar herum im Chorgestühl versammelt hatte. »Wir werden diese Angelegenheit ein für alle Mal beenden. Wer sich dieser absurden Idee anschließen will, hebe bitte jetzt die Hand.«