Die Köchinnen von Fenley - Jennifer Ryan - E-Book
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Die Köchinnen von Fenley E-Book

Jennifer Ryan

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Beschreibung

Jennifer Ryan erzählt in ihrem berührenden Roman von einem Kochwettbewerb der BBC zu Kriegszeiten – und vier Frauen, denen der Wettstreit eine Chance auf ein besseres Leben verspricht. Zwei Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs leidet Großbritannien unter seinen Verlusten: Die Nazis haben Schlachten gewonnen, der Blitzkrieg hat Städte zerstört, und U-Boote haben die Versorgung mit Lebensmitteln unterbrochen. Um den Hausfrauen bei der Lebensmittelrationierung zu helfen, veranstaltet die BBC-Radiosendung "The Kitchen Front" einen Kochwettbewerb. Der Hauptpreis ist ein Job als erste weibliche Co-Moderatorin der Sendung. Für vier sehr unterschiedliche Frauen wäre der Gewinn des Wettbewerbs eine entscheidende Chance auf ein besseres Leben: Für die junge Witwe Audrey ist es die Chance, die Schulden ihres Mannes zu begleichen und ihren Kindern ein Dach über dem Kopf zu bieten. Für das Küchenmädchen Nell ist es die Chance, die Knechtschaft zu verlassen und die Freiheit zu finden. Für die Gutsherrin Lady Gwendoline ist es die Chance, dem zunehmend feindseligen Verhalten ihres Ehemanns zu entkommen. Und für die ausgebildete Köchin Zelda ist es die Chance, ihre männlichen Kollegen endlich herauszufordern. Doch viel wichtiger als Erfolg ist Solidarität, und bei aller Rivalität werden aus den Konkurrentinnen schlussendlich Freundinnen. Ein herzerwärmendes Buch über vier ganz besondere Frauen.

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Seitenzahl: 610

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Jennifer Ryan

Die Köchinnen von Fenley

Roman

Aus dem Englischen von Pauline Kurbasik

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Erste Runde

Wöchentliche Essensrationen in Kriegszeiten

Mrs Audrey Landon

Rezept: Audreys Homity-Pie

Lady Gwendoline Strickland

Rezept: Lord Woolton-Pie

Miss Nell Brown

Miss Zelda Dupont

Rezept: Gesalzener Curry-Kabeljau

Audrey

Zelda

Rezept: Zeldas Coquilles St. Jacques

Lady Gwendoline

Audrey

Rezept: Audreys Sweet Pickle Chutney

Lady Gwendoline

Nell

Rezept: Nells scharf angebratener Hase mit Holunderweinsauce

Zelda

Nell

Zelda

Audrey

Rezept: Audreys Pilzsuppe

Lady Gwendoline

Rezept: Lady Gwendolines Sardinenpastetchen

Zweite Runde

Nell

Lady Gwendoline

Audrey

Rezept: Audreys Obst-Scones

Nell

Lady Gwendoline

Nell

Zelda

Rezept: Zeldas Pie mit Frühstücksfleisch und Wild

Lady Gwendoline

Rezept: Schafskopfpastete

Audrey

Rezept: Gwendolines Biskuitkuchen ohne Ei

Nell

Rezept: Paolos Pollo Cacciatore

Lady Gwendoline

Rezept: Küchenchef James’ Pie mit Walfleisch und Pilzen

Audrey

Nell

Zelda

Dritte Runde

Lady Gwendoline

Audrey

Gwendoline

Nell

Rezept: Nells Sommer-Pudding

Zelda

Audrey

Rezept: Audreys Cornish Pasties

Gwendoline

Nell

Nell

Gwendoline

Nell

Rezept: Mrs Quince’ Kuchen für besondere Anlässe

Audrey

Zelda

Audrey

Rezept: Audreys eifreier Apfel-Honig-Kuchen

Gwendoline

Rezept: Zeldas Croquembouche

Nell

Audrey

Zelda

Nell

Audrey

Anmerkung der Autorin

Danksagung

Übersicht aller Rezepte

Inhaltsverzeichnis

Für meine Schwester Alison, voller Liebe und Dankbarkeit.

Inhaltsverzeichnis

Erste Runde

VORSPEISE

Wöchentliche Essensrationen in Kriegszeiten – für einen Erwachsenen

100 g Speck oder Schinken (etwa 4 Scheiben Speck)

Fleisch im Wert eines Schillings und zwei Pence (2 Pfund Hackfleisch oder 1 Pfund Steak oder Hüftsteak)

50 g Käse (ein 5 Zentimeter breites Stück)

100 g Margarine (8 Esslöffel)

50 g Butter (4 Esslöffel)

1,5 l Milch

220 g Zucker (1 Tasse)

50 g Marmelade (4 Esslöffel)

50 g lose Teeblätter (ergibt 15 bis 20 Tassen)

1 frisches Ei (plus 1 Paket Eipulver, ergibt 12 Eier im Monat)

80 g Süßwaren

Würstchen, Fisch, Gemüse, Mehl und Brot sind nicht rationiert, aber häufig schwer erhältlich. Konserven wie Sardinen, Sirup und Frühstücksfleisch sind Teil des neuen Punkteplans und können nur mit den zusätzlichen monatlichen 24 Punkten erworben werden.

 

Quelle: Zusammenstellung von Druckerzeugnissen des Ministeriums für Ernährung

Mrs Audrey Landon

Willow Lodge, Fenley, EnglandJuni 1942

Die goldene Frühlingssonne strahlte durch das große Küchenfenster, als eine wilde Bande Jungen ins Haus gestürmt kam, die Dünkirchen spielte und aufeinander schoss.

»Raus mit euch!« Audrey verscheuchte sie mit einem Küchenhandtuch.

Der Duft nach köchelndem Obst – Himbeeren, Erdbeeren und Johannisbeeren – erfüllte die große alte Küche und die schlanke vierzigjährige Frau fügte einen Hauch Zimt und eine Prise Muskatnuss hinzu. Sie trug einen Männerpullover, der in eine Männerhose gesteckt war, und sah abgekämpft und ungepflegt aus; an ihren alten Stiefeln klebte Erde aus dem Gemüsegarten.

Die Holzuhr an der Wand schlug zur halben Stunde und Audrey wischte sich mit der Hand über die Stirn. »Ist das denn die Möglichkeit? Schon halb neun?«

Sie rannte zur Anrichte, um das knisternde Transistorradio lauter zu stellen, das inmitten von Töpfen und einem Haufen frisch geernteter Möhren stand. Die meisten Menschen hatten den Apparat im Wohnzimmer stehen, Audrey hingegen hatte ihren in der Küche platziert, als sie wie eine Besessene mit dem Backen begonnen hatte, um sich ein paar Schillinge dazuzuverdienen. Das war kurz nach Kriegsbeginn vor zwei Jahren gewesen, als das Flugzeug ihres Mannes Matthew über Düsseldorf abgeschossen worden war.

Es wurde keine Spur von ihm gefunden. Häufig versuchte sie, das Bild seiner Leiche zu verdrängen – dieses geliebten Körpers, der ihr so vertraut gewesen war –, die in einem Baum hing oder bei einem Motorbrand verkohlt war, sein Blut vergossen über der siebtgrößten Stadt des Feindes.

Seit seinem Tod arbeitete sie fast rund um die Uhr.

Audrey hatte den Wunsch schon lange aufgegeben, ein normaler Mensch sein zu wollen. In jeder freien Minute backte sie, unternahm alles, um sich ein Zubrot zu verdienen, oft bis spät in die Nacht. Sie hatte drei hungrige Söhne, jede Woche flatterten Mahnungen ins Haus, das zu allem Überfluss eine alte, einsturzgefährdete Villa war – so etwas wie Normalität war schon vor Jahren durch die staubigen Fenster entwichen. Und bei all der Arbeit waren weder die Schweine und die Hühner mit eingerechnet noch ihr großer Garten, in dem sie nun reichlich Obst und Gemüse erntete – die wertvollen zusätzlichen Lebensmittel, aus denen sie ihre Pies und Kuchen machte.

Erschöpfung, Desillusionierung und dieses panische Gefühl, dass gerade alles außer Kontrolle geriet, hatten sich in ihrem Herzen eingenistet.

Der Kinder wegen tat sie alles, um ihre Angst im Zaum zu halten. Sie umarmte die trauernden Jungen, während sie ihr eigenes Leid in sich hineinfraß. Mitten in der Nacht brach es jedoch aus ihr hervor. Weinen in der Öffentlichkeit war verpönt – Mr Churchill hatte den Menschen eingebläut, kollektive Verzweiflung würde das Land in die Knie zwingen.

Für Großbritannien sah es nicht gut aus. Aller Propaganda zum Trotz konnten die BBC Radio News der Ernst der Lage nicht überspielen. Die Briten waren nicht auf den Krieg vorbereitet gewesen. Ihre Städte waren von der Luftwaffe zerstört worden, ihre Truppen kämpften erbittert in Nordafrika und die U-Boote der Nazis blockierten den Import von Waffen, Metallen und – am gravierendsten – Lebensmitteln.

Die Stimme des Moderators, Mr Ambrose Hart, erfüllte den Raum mit der hohen Decke. »Wir präsentieren Ihnen das Programm Kitchen Front, die Kochsendung, die den britischen Hausfrauen dabei hilft, an der Küchenfront – also am heimischen Herd – in diesen Kriegszeiten das Beste aus den Lebensmittelrationen zu machen.«

»Bin mal gespannt, welchen Unsinn Ambrose Hart heute verzapft«, sagte Audrey zu sich selbst und kostete von den köchelnden Beeren. Sie waren überreif. Sie hatte noch einen Teelöffel Zucker hinzugefügt, um etwas nachzuhelfen, denn die Säure der roten Johannisbeeren wurde durch die Süße der anderen Früchte nicht vollständig ausgeglichen. Die Regierung verteilte zusätzlichen Zucker zur »Marmeladenherstellung«, wenn man auf seine Marmeladenration verzichtete. Der Großteil des Zuckers wurde für die Pies verwendet, die Audrey backte und verkaufte – was den drei Jungen gar nicht gefiel. Häufig hatte die Familie wochenlang weder Zucker noch Marmelade.

Aber sie brauchte das Geld.

Vor einigen Monaten hatte die Bank das Darlehen zurückgefordert und damit gedroht, das Haus zu beschlagnahmen. Die Summe konnte sie jedoch einfach nicht aufbringen, trotz ihrer Witwenrente. Sie konnte das Haus auch nicht verkaufen, es war ihr Zuhause – und das von Matthew. Und außerdem war es in einem viel zu schlechten Zustand, ein Teil des Dachs war eingestürzt.

Letztendlich hatte sie dort um Hilfe bitten müssen, wo es ihr am wenigsten behagte – und das zerfraß sie seitdem.

»Ein Brotomelett«, säuselte Ambrose Hart im Radio, »macht aus einem einzigen Ei ein Frühstück für eine vierköpfige Familie. Dafür weicht man zehn Minuten lang zwei Messkappen Brotkrumen in Milch aus Milchpulver ein, rührt sie in ein geschlagenes Ei – oder ebenso viel Eipulver – und brät es dann wie ein normales Omelett.«

»Brotomelett? Etwas Besseres fällt Ambrose nicht ein?«, sagte Audrey, als ihr ältester Sohn, ein schlaksiger Fünfzehnjähriger, hereinkam, der in ein Buch schaute.

Alexander war ihr Erstgeborener, das A vom ABC der Landons, wie man sie nannte. B war Ben, ein wilder Elfjähriger, und C war der achtjährige Christopher, der seit einem Bombeneinschlag ins Nachbarhaus vor einem Jahr panische Angst vor allem hatte. Die anderen Jungen hatten sich von dem Schock erholt, der kleine Christopher jedoch schlief immer noch jede Nacht bei ihr im Bett. Er wollte das auch so beibehalten, obwohl die nächtlichen Luftangriffe inzwischen abnahmen. Die nervenaufreibenden nächtlichen Wanderungen zu ihrem behelfsmäßigen Anderson-Bunker im Garten mit ein paar Brötchen aus Hafermehl als Verpflegung verblassten langsam zu Erinnerungen und Audrey hoffte, das würde auch so bleiben.

Sie wusste, dass sie Alexander zu viel zumutete – und dass es nur eine Frage der Zeit war, bis auch er einberufen würde. Sie würde ihn nicht aufhalten können. Er würde in die Fußstapfen seines Vaters treten und Mitglied der Air Force werden. Sie betete, dass ihr Sohn seinem Vater nicht auch ins Grab folgen würde.

Unbewusst prägte sie sich sein Gesicht ganz genau ein.

»Mein Schatz«, sagte sie, während sie sauber gescheuerte Möhren samt Grün klein schnitt. »Kannst du mir bitte die Rationsbücher bringen und mir sagen, was wir diese Woche noch bekommen?«

Alexander zog vier kleine schwarze Hefte aus einer Stofftasche. Weil in ihrem Haushalt alle älter als sechs waren, hatten sie alle die gleichen Rationsbücher für »Erwachsene«, die von der örtlichen Lebensmittelverteilungsstelle in der nahe gelegenen Stadt Middleton ausgegeben wurden. Die Jungs erhielten Extraportionen Milch, konzentrierten Orangensaft und eine Orange, wenn es welche gab; Erwachsenen war es verboten, Orangen zu essen. Weniger beliebt war der Lebertran, den ebenfalls alle Kinder bekamen, den sich Ben allerdings schlicht weigerte anzurühren. Audrey hatte gehört, dass einige Mütter damit Fisch brieten, wenn das Bratöl zur Neige ging.

Alexander blätterte durch jedes Heft, fand die richtige Woche und kontrollierte die Kästchen, die gestempelt oder ausgeschnitten waren. »Wir haben schon alles verbraucht, bis auf die Margarine und dieses fiese Trockeneipulver. Gott sei Dank haben wir die Hühner.«

Audrey ging zu ihm und schaute nach. »Oh Gott, ich brauche mehr Butter. Der Freiwilligendienst der Frauen braucht Homity-Pies für die mobile Großküche. Dafür kann ich keine Margarine nehmen. Dieses Zeug schmeckt schrecklich, weil sie da inzwischen Walöl reinmischen.«

»Das wird niemanden stören, Mum. Es ist doch bloß der FdF.« Er nahm die Margarine in die Hand. »Niemand erwartet Haute Cuisine von einem Imbisswagen. Jeder weiß, dass Homity-Pies nur aus in Teig eingebackenem Gemüse und Resten bestehen.«

»Sie müssen trotzdem genießbar sein.« Ihr kam eine Idee. »Wie viel Milch haben wir noch?«

Er blickte in die Vorratskammer. »Zwei halbe Liter, allerdings riecht die eine Milch ein wenig sauer.« Er streckte den Kopf aus der Kammer. »Wir brauchen unbedingt einen Kühlschrank. Der in Fenley Hall soll riesig sein.«

»Und woher sollen wir das Geld dafür nehmen? Wir haben ohnehin kaum genug, um über die Runden zu kommen. Hol jetzt bitte ein Marmeladenglas – da drüben auf der Kommode neben dem Radio stehen ein paar – und schütte die Sahne von der guten Milch dort hinein, dann dreh den Deckel gut zu und schüttele es.«

Alexander befolgte die Anweisungen und erst als er das Glas schüttelte, fragte er: »Wie lange muss ich das machen, Mum?«

»Ungefähr zwanzig Minuten. Beweg dich nicht von der Stelle. Bald schon solltest du ein Klümpchen Butter entdecken. Du siehst, wie es immer größer wird, bis es das ganze Fett der Milch aufgenommen hat. Dann kannst du die überschüssige Milch abgießen – aber nicht wegschütten, die ist für deine Brüder – und ich kann die Butter für mein Gebäck verwenden.«

»Das ist ja ein toller Trick!« Mit der freien Hand nahm er sich sein Buch, mit der anderen schüttelte er.

Audrey blickte nun aus dem Küchenfenster in den Garten. Am vorherigen Abend hatte sie die Beeren von den Sträuchern gepflückt, dabei hatte sie die Jungs wie immer eingespannt – anfangs mit gut gelauntem Zuspruch, dann mit Drohungen und kleinen Bestechungen. Gestern Abend zum Beispiel hatten sie eine Extrascheibe des grauen, krümeligen Brotes bekommen, das als »Staatsbrot« bezeichnet wurde. Alle waren sich einig: Es war ekelig, weil zu viel Weizenspelze und zu wenig Mehl enthalten war, doch zumindest wurde es nicht rationiert, sodass niemand großen Hunger leiden musste.

Die Sträucher hatten sie als Erstes im Garten gepflanzt. Matthew hatte sie im Frühling vor dem Krieg in die Erde gesetzt – er hatte die Beeren-Scones seiner Frau geliebt – und inzwischen trugen sie viele Früchte, weil Audrey sich gut um sie kümmerte. In einem kleinen Gewächshaus, das Alexander ihr zum vierzigsten Geburtstag gebaut hatte, reiften Aprikosen und Tomaten. Der Rasen war Beetreihen in unterschiedlichen Farben gewichen – großen, leuchtenden Salatköpfen, lilafarbenen Rote-Bete-Blättern, goldenen und grünen Zwiebeln. Zeitungsartikel riefen dazu auf, zugunsten von mehr Vielfalt seltene Gemüsesorten anzubauen, deswegen hatte sie Endivien, Schwarzwurzeln und sogar Topinambur gepflanzt, der praktischerweise auf dem kargen Boden im Vorgarten wuchs.

Die acht Hennen im langen Stall legten jeden Tag ein halbes Dutzend Eier und das Schwein würde die ganze Familie satt machen, wenn es ausgewachsen war. Es gehörte ihr nicht allein – es war Eigentum des Schweineclubs, den sie mit einigen Frauen aus dem Ort gegründet hatte. Sie hatten auch überlegt, in einigen der zerfallenen Nebengebäuden Kaninchen zu züchten, doch sie wusste, dass der kleine Christopher zu sehr an ihnen hängen würde. Der Abend, an dem der Pie mit Kaninchen auf dem Tisch stehen würde, wäre gewiss nicht sonderlich schön.

Audreys selbst angebaute Lebensmittel lieferten die Grundlage für die Pies und Kuchen, die sie im Ort verkaufte und womit sie sich ihr dringend benötigtes Zubrot verdiente. Die örtliche Lebensmittelverteilungsstelle half ihr auch mit einigen Zutaten aus, weil sie beweisen konnte, dass sie sie verkaufte. Doch es reichte nicht. Alles in allem lief ihr aufstrebendes Geschäft jedoch recht gut. Die Köchin von Fenley Hall nahm immer einige Pies, ebenso wie der Pub im Ort und ein Café in Middleton. Es war allerdings schade, dass das Wheatsheaf, das einzige Restaurant im Ort, geschlossen hatte. Ein treuer Besteller weniger.

Sie würde sich neue Kunden in Middleton suchen müssen – wenn sie die Zeit dazu fand.

Alexander legte sein Buch zur Seite und lief umher, schüttelte das Glas und machte sich über das Durcheinander aus Vasen und Nippes auf der Kommode lustig. Er nahm einen alten silbernen Bilderrahmen in die Hand. »Wie war es in Willow Lodge, als du als Mädchen hier gelebt hast, Mum?«

»Oh, einfach großartig! Ich habe stundenlang in der Küche gestanden und mit meiner Mutter Kuchen gebacken.«

Sie ging zu ihm und sie betrachteten gemeinsam das Foto: Für ihre vierzehn Jahre war Audrey bereits recht groß, sie grinste in die Kamera und blinzelte gegen die Sonne. Die Mutter war etwa Mitte vierzig und obwohl sie als edwardianische Lady einen langen Rock und eine hochgeschlossene Bluse trug, war die Ähnlichkeit zwischen Mutter und Tochter frappant. In beiden hübschen, herzförmigen Gesichtern leuchteten gütige Augen. Beide hatten dunkelblondes Haar und dasselbe breite Lachen. Neben ihnen wirkte der Vater strenger, als er im wahren Leben gewesen war. Und dann stand da noch Gwendoline, die zwei Jahre jünger war als Audrey und vor lauter Unzufriedenheit missmutig dreinblickte. Dunkles, glattes Haar umrahmte ihr langes Gesicht.

Audrey fühlte sich kurz schuldig. Sie selbst war die Lieblingstochter ihrer Mutter gewesen und Gwendoline hatte deswegen immer schon Eifersucht verspürt. Obwohl Audrey nichts dafürkonnte – sie hatte sogar versucht, die Vorzugsbehandlung ihrer Mutter auszugleichen, indem sie Gwendoline ihre Spielsachen gab, mit ihr spielte und sie gewinnen ließ –, wusste sie, dass Gwendoline sie dafür hasste und immer hassen würde.

»Das Haus hat damals bestimmt ganz anders ausgesehen!«, lachte Alexander und blickte sich im Chaos um.

»Es war natürlich in einem besseren Zustand als heute! Wir haben trotzdem großes Glück, dass wir immer noch hier wohnen können, trotz der ganzen Schulden.« Sie spürte einen Kloß im Hals. »Leider hat dein Vater mit seiner Kunst nie viel verdient.« Das Haus war ihr und Matthew komplett vererbt worden und sie, die glücklichen Künstler, hatten blauäugig eine Hypothek darauf aufgenommen, ohne allzu viele Gedanken an das dazugehörige Darlehen zu verschwenden.

Alexander betrachtete die verschiedenen eigenartigen Bilder an den Wänden. »Das liegt an den seltsamen Formen und Farben, die gefallen nicht jedem.«

»Für ihn war Malen einfach Kunst und kein Mittel zum Geldverdienen.« Sie seufzte unabsichtlich. Ihr war erst nach Matthews Tod klar geworden, wie schrecklich hoch die Schulden angewachsen waren.

»Müssen wir irgendwann ausziehen?« Alexander schüttelte das Glas nicht weiter.

»Nun, wir tun, was in unserer Macht steht.« Sie betete, dass ihr improvisiertes Geschäft sie so lange über Wasser halten würde, bis sie noch mehr verdienen konnte. Es war schon schlimm genug, ständig zu arbeiten – wie sollte sie nebenher noch durchs Land ziehen und eine neue Bleibe suchen?

»Können wir nicht noch mehr backen?« Er schüttelte das Glas wieder, dieses Mal energischer. »Du hast gutes Geld verdient …«

»Das ist es eben. Ich schaffe einfach nicht noch mehr.« Das vertraute Gefühl der Überforderung überkam sie. Sie bemerkte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen, unterdrückte sie aber ihrem ältesten Sohn zuliebe.

Ein zartes Klopfen ertönte an der Hintertür.

»Bist du das, Nell? Komm rein, komm rein.« Audrey verdrängte ihre Gedanken und öffnete einer mausähnlichen jungen Frau von neunzehn Jahren die Tür, an deren dürrem Körper eine Küchenmädchenuniform schlotterte. »Es tut mir leid, aber die Pies sind noch nicht ganz fertig. Kannst du zehn Minuten warten?«

Jeden Morgen kam Nell, um besondere Gemüsesorten und Kräuter abzuholen, wie Schwarzwurzeln, Endivien und Knoblauch, sowie die Pies, die Audrey für die Küche von Fenley Hall zubereitete.

»Ich k-kann aber nicht lange warten.« Nell war ein einziges Nervenbündel. Manchmal stotterte sie vor lauter Schüchternheit. Sie hatte mit nur vierzehn Jahren angefangen, in Fenley Hall zu arbeiten, und war direkt aus dem Waisenhaus dorthin gekommen, wo sie aufgewachsen war. »Mrs Quince ist ganz schrecklich aufgeregt, wegen Sir Stricklands Dinnerparty heute Abend. Er ist so anspruchsvoll.« Dann fügte sie hinzu: »Oh, pardon! Ich vergesse immer, dass Sie miteinander verwandt sind.«

»Ach, kein Grund zur Sorge!« Audrey verzog das Gesicht. »Nur weil diese aufgeblasene Kröte meine alberne Schwester geheiratet hat, heißt das nicht, dass ich viel mit ihnen zu tun habe. Sie lässt sich kaum noch dazu herab, mit mir zu sprechen, wo sie nun Lady Gwendoline ist.«

Nell grinste, ihre Gesichtszüge hellten sich kurz auf und sie sah nun selbstbewusster aus – ein seltener Anblick bei einer, die ihr ganzes Leben lang nur zurechtgewiesen worden war. »Lady Gwendoline wird morgen Abend eine ihrer Kochvorführungen im Gemeindesaal veranstalten, falls Sie zuschauen möchten. Sie macht einen Lord Woolton-Pie.«

Alexander lachte. »So weit ist es schon gekommen! Tante Gwendoline bringt Hausfrauen bei, wie man Kriegsessen kocht! Alle sind plötzlich Experten, selbst die Gutbetuchten. Ich erinnere mich noch an eine Zeit, als sie sich nicht mal nach einem Servierlöffel gebückt hätte.« Seine Augen funkelten spitzbübisch. »Wenn du mich fragst, macht sie das eher wegen der Aufmerksamkeit und der Anerkennung und weniger, um ihre Mitmenschen während des Kriegs zu unterstützen.«

Audrey lachte und rümpfte die Nase. Ihre renitenten Kinder hatten Tante Gwendoline selten gesehen. Und zu den seltenen Gelegenheiten, wenn sie sie mal getroffen hatten, hatte sie sich hochnäsig und missbilligend verhalten – so machte man sich in Willow Lodge schnell zum Gespött.

»Sie sieht aus wie ein Pferd«, sagte Alexander unverblümt, »mit diesem langen Gesicht und der großen Nase.«

Audrey unterbrach ihn brüsk. »In ihrer Jugend hatte sie zahlreiche Verehrer.«

»Sie war sich aber zu fein für sie, möchte ich wetten.«

Audrey schnalzte missbilligend mit der Zunge, stimmte ihm insgeheim aber zu. Ihre Schwester war nicht bloß affektiert, sondern auch hochmütig. Seitdem sie reich geheiratet hatte und ins prunkvolle Fenley Hall gezogen war, war sie die selbstgefälligste Frau im ganzen Landstrich. Ihr Ehemann, Sir Reginald Strickland, hatte genau im richtigen Augenblick ein Vermögen mit der Vermarktung von Dosenfleisch gemacht, als die Nachfrage nicht größer hätte sein können – die Dosen mit »Bully Beef« waren Teil jedes Mittag- und Abendessens der Soldaten. Sir Stricklands Geschäft hatte das große Glück gehabt, nicht nur den Ersten Weltkrieg zu erleben – in dem ihm die Ritterehre verliehen worden war –, sondern gleich zwei; der Zweite Weltkrieg begann passenderweise genau dann, als sein Vermögen womöglich geschmolzen wäre.

Des einen Freud war des anderen Leid.

Die Schwestern sprachen kaum miteinander. Die Zeit und ihre Ehen hatten einen Keil zwischen sie getrieben. Erst, als Audrey wusste, dass ihr nichts anderes übrig blieb, hatte sie ihre Schwester um ein hohes Darlehen gebeten, um die Hypothek und die Bankschulden zurückzuzahlen. Lady Gwendoline hatte geantwortet: »Natürlich helfen wir, aber halte dir stets vor Augen, dass du dich für ein solches Leben entschieden hast, Audrey. Niemand hat dich dazu gezwungen, einen Künstler zu heiraten und mit ihm eine Horde missratener Jungen zu bekommen, nicht wahr?«

Eine tiefe Falte zerfurchte Audreys Stirn, als sie an die horrenden wöchentlichen Rückzahlungen dachte, die die Stricklands nun von ihr forderten. Sie trieben sie langsam in den Ruin.

Alexanders Stimme riss sie aus diesen Gedanken. »Was kredenzt Sir Strickland denn heute Abend bei seiner Dinnerparty, Nell? Wie viele Gänge gibt es dieses Mal?«

»Es gibt fünf Gänge: Krabbensuppe, geräucherten Fasan als Vorspeise, dann Roulade vom Seebarsch, gefolgt von Rindermedaillons und schließlich die Beerenküchlein deiner Mutter mit gesüßter Vanillesahne.«

Alexander lachte höhnisch. »Wir verhungern fast wegen unserer mickrigen Rationen, werden gegen unseren Willen Vegetarier und Sir Strickland isst Fasan? Und nötigt dabei wahrscheinlich unsere Politiker, noch mehr Verträge mit ihm abzuschließen.«

Audrey klopfte Alexander freundschaftlich auf die Schulter. »Zumindest bezahlen sie gut für meine Backkünste. Ohne diese großen Dinnerpartys wären wir längst auf der Straße gelandet.«

Sie half Nell, die Kiste bis zur Tür zu tragen, und mit einem »Cheerio« kehrte die junge Frau nach Fenley Hall zurück.

Audrey sah die Seite des großen Gebäudes von der Hintertür aus; es stand keine halbe Meile entfernt. Sie konnte den Gedanken nicht abschütteln, dass es sich – trotz der Bewohner – um ein unübertroffen schönes Herrenhaus aus dem achtzehnten Jahrhundert handelte. Vier Stockwerke hoch, mit quadratischen Türmen, thronte der hellbraune Koloss auf dem Berg und herrschte über die umliegenden Gebiete.

Als Mädchen hatten sie – Audrey und Gwendoline – im Portal gestanden und sich ausgemalt, wie sie als berühmte Ladys in diesem großartigen Haus leben würden.

Für Audrey war es ein Märchen gewesen.

Für Gwendoline ein Plan.

Die Sendung Kitchen Front dröhnte weiter aus dem Transistorradio. »Wie Sie alle wissen, stellt Zucker uns wahrscheinlich vor die größte Herausforderung. Weil er importiert werden muss, ist Zucker mehr als andere Lebensmittel von den U-Boot-Blockaden betroffen. Wir müssen also Alternativen finden. Honig, Melasse und Sirup stehen auf dem Punkteplan – man bekommt 24 Punkte pro Monat, die man nach Belieben ausgeben kann. Süße Gemüsesorten können ebenfalls verwendet werden. Gegarte Möhren sind von Natur aus süß. Man kann Kindern beispielsweise Ziegenmilch schmackhaft machen, indem man sie mit pürierten Möhren mischt.«

»Pürierte Möhren?« Audrey verzog das Gesicht und kehrte zu ihren Beeren zurück. »Ich möchte wetten, Ambrose Hart hat noch nie Ziegenmilch probiert, ganz zu schweigen von Ziegenmilch mit Möhrenbrei.«

Alexander ging zu ihr. »Schon komisch, dass Ambrose nicht weit entfernt wohnt und sich trotzdem kaum blicken lassen hat, seitdem Dad in den Krieg gezogen ist. Man hätte meinen sollen, er würde uns ein wenig unter die Arme greifen, weil er doch mit Dad so gut befreundet war. Du könntest ihm einige vernünftige Kochtipps geben, Mum.«

»Er hat viel zu tun, Alexander«, sagte Audrey.

»Warum fragst du nicht, ob du bei seiner Radiosendung mitarbeiten kannst?«

Sie lachte. »Frauen wollen die beim Radio nicht in solchen Positionen haben.«

»Aber Ambrose weiß rein gar nichts übers Kochen. Hat er nicht mal ein Reisemagazin moderiert? Eben noch Experte für die französische Riviera, nun für pürierte Möhren.«

Audrey blickte auf das Transistorradio. »Das ist der Lauf der Dinge. Männer, die noch nie einen Fuß in eine Küche gesetzt haben, erklären uns Frauen, wie wir zu kochen haben. Das Ministerium für Ernährung denkt, wir Frauen seien kopflose Arbeitsbienen, die eine Königin brauchen. Oder eher – in diesem Fall – einen König.«

»Du würdest die Sendung sehr viel besser moderieren als er oder jeder andere Moderator der BBC. Hör mal, was er von sich gibt! Er käut nur die Regierungspropaganda wieder. Als Nächstes wird er erzählen, dass die Lebensmittelrationierung wahnsinnig gesund für uns ist.«

»Kluge Hausfrauen wissen, dass dem Ministerium für Ernährung die Gesundheit der Bürger wichtig ist …«

Beide brache in Gelächter aus, während Ambrose Hart eloquent ein Thema erläuterte, von dem er nicht die geringste Ahnung hatte.

 

 

Audreys Homity-Pie
Für 4 Personen

 

Für den Teig

⅓ Tasse Margarine, Butter oder Schmalz

1 Tasse Mehl

Für die Füllung

4 große Kartoffeln

2 große Stangen Lauch, in Ringe geschnitten

Ein wenig Butter oder Margarine

2 Esslöffel gehackte frische Petersilie und Thymian oder 2 Teelöffel derselben getrockneten Kräuter

Sämtliche sonstige Gemüse- oder Fleischreste (gekocht)

1 Ei, verquirlt

½ Tasse geriebener Cheddar (mehr oder weniger, je nachdem, wie viel man noch aus den Rationen übrig hat)

1 Teelöffel Englischer Senf

Salz und Pfeffer

Den Ofen auf 200 Grad vorheizen. Für den Teig Fett mit dem Mehl vermischen, dann mit ein wenig Wasser binden. Ausrollen und in eine gefettete Pie-Form von 20 cm Durchmesser füllen. Für 10 Minuten in den Ofen stellen, dann wieder herausholen.

Ofen auf 220 Grad stellen. Kartoffeln schälen und schneiden. Garkochen, dann abgießen. In der Zwischenzeit den Lauch klein schneiden und in Butter oder Margarine anbraten, gehackte Petersilie und Thymian hinzufügen.

Die gekochten Kartoffeln und sämtliche Reste (Gemüse oder Fleisch) hinzufügen, das Ei, die Hälfte des geriebenen Käses, den Senf und Salz und Pfeffer zu dem angebratenen Lauch geben. Kurz auf der heißen Platte lassen und vermischen, dann die Masse in die Pie-Form füllen. Mit dem übrigen Käse bestreuen und noch eine Messerspitze Thymian und Pfeffer hinzufügen. 25 bis 30 Minuten backen, bis sich eine gebräunte Kruste gebildet hat.

Abkühlen lassen, dann in dicke Scheiben schneiden, die einem Verpflegungspaket hinzugefügt werden können. Die Eier halten die Füllung zusammen. Das Gericht eignet sich hervorragend als Mittagessen oder nahrhafte Zwischenmahlzeit.

Lady Gwendoline Strickland

(Eine Kochvorführung zu Kriegszeiten im Gemeindesaal von Fenley)

Als Gwendoline Strickland in dem holzgetäfelten Saal auf der Bühne stand, sah sie genauso aus, wie es sich gehörte: Ihr ordentlich frisiertes braunes Haar war im Nacken adrett zusammengesteckt und ihr Kleid sah bieder aus – weder zu extravagant noch zu jugendlich. Sie war eine achtunddreißig Jahre alte Lady im besten Wortsinn und sprach zu einfachen Hausfrauen. Alles an ihr strahlte Tüchtigkeit aus.

»Heute werde ich Ihnen zeigen, wie Sie mit Ihren wöchentlichen Rationen eine elegante Dinnerparty ausrichten können.«

Auf den ersten Blick glich Lady Gwendoline weder vom Aussehen noch vom Verhalten her ihrer älteren Schwester Audrey. Ihr Haar war dunkelbraun, ihr Mund schmal, gerade und kompromisslos. Doch unter der Mascara und dem Make-up hatten die Schwestern die gleichen großen, blauen Augen. Lady Gwendoline blickte sich ungeduldig im Raum um, als würde sie ihn inspizieren und als unzulänglich abtun.

Die Veranstaltung war zwar nicht bis auf den letzten Platz besetzt, jedoch gut besucht. Sowohl gut betuchte Hausmütterchen als auch Mütter aus der Arbeiterklasse saßen eng zusammen. Ihre Kleider wirkten langsam abgenutzt, weil die Kleiderrationierung inzwischen bereits seit zwei Jahren andauerte.

Das Ministerium für Ernährung erklärte den Damen, die die Kochvorführungen machten, die Bevölkerung nehme die Lebensmittelrationierung gut an. Nachdem das Rationsbücher-Prinzip anfangs für Verwirrung gesorgt hatte und die Frauen verärgert gewesen waren, dass sie ihre Kochgewohnheiten ändern mussten, hatten sie sich nun damit arrangiert und waren Experimenten gegenüber aufgeschlossen.

Ihr Hauptantrieb war dabei Angst. Die Nazis standen vor der Tür. Jeder Verzicht auf Lebensmittel wurde als wichtig erachtet. Gemüsebeete waren patriotisch. Gärtnergruppen pflügten Cricket-Plätze und Parks um. Poster wiesen Hausfrauen darauf hin, dass Lebensmittelverschwendung illegal sei und die Leben der Seeleute kostete, die die Nahrung über den Atlantik schifften – inzwischen das gefährlichste Gewässer der Welt.

Lebensmittel waren noch nie zuvor wichtiger gewesen.

Ambrose Hart saß in der ersten Reihe und lächelte. Damit alle anderen wussten, wen sie vor sich hatten, trug er sein Markenzeichen, eine gepunktete Fliege. Ab und zu sah er sich um, fing den Blick anderer Leute ein und nickte ihnen zu, als würde ein Prinz sein Volk grüßen. Sein langes Deckhaar hatte er mithilfe einer großzügigen Portion Haaröl über die kahle Stelle am Hinterkopf gelegt und die Augen schienen ihm vor Beflissenheit fast aus den Höhlen zu springen. Obwohl Ambrose Hart ein Bekannter ihres Ehemannes war, ertrug Lady Gwendoline ihn nur und das Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit.

Ebenfalls in der ersten Reihe saß Mr Alloway, ihr dröger und zugleich gewissenhafter Vorgesetzter beim Ministerium für Ernährung. Neben ihm hatten einige Damen Platz genommen, die wie Lady Gwendoline Kochvorführungen gaben und als Hauswirtschafterinnen tätig waren, wie man sie feierlich getauft hatte. Dass sie Kochvorführungen gaben und gewöhnliche Frauen in Lebensmittelkunde und Rationierung unterrichteten, war für die Damen der Oberklasse eine bequeme Möglichkeit, »etwas zu den Kriegsanstrengungen beizutragen«. Lady Gwendoline sehnte sich immer noch danach, in die höheren Kreise aufgenommen zu werden. Der Ritterstand ihres Ehemannes schindete in den aristokratischen Kreisen nur müden Eindruck. Also hatte sie sich unter die vornehmen Hauswirtschafterinnen gemischt, um ihren sozialen Status zu erhöhen – und tat außerdem noch so, als wäre das Ganze schon lange eine Herzensangelegenheit von ihr.

»Heute Abend steht Lord Woolton-Pie auf dem Speiseplan, benannt nach unserem Ernährungsminister. Er wurde von niemand Geringerem als dem Küchenchef des Savoy Hotels kreiert, um die Kriegsanstrengungen zu unterstützen. Lord Woolton liebt Möhren, aber sollten Möhren bei Ihnen zu Hause nicht gern gegessen werden, können sie durch jedes beliebige Gemüse ersetzt werden. Zwiebeln sind knapp, weil sie normalerweise aus Frankreich importiert werden – man kann aber auch problemlos Porree oder Schnittlauch nehmen. Denken Sie stets daran, dass man jeden Teil vom Gemüse verwenden kann, von den festen äußeren Kohlblättern bis hin zu Kartoffel- und Möhrenschalen. Alle essbaren Reste können an der Sammelstelle für Schweinefutter bei Ihrem Gemeindehaus abgegeben werden.«

Lady Gwendoline kochte nun das Gemüse. Heute waren es Möhren, Lauch, Blumenkohl und die unvermeidlichen Kartoffeln.

Dann löffelte sie Mehl in eine Rührschüssel. Pasteten waren ihre Spezialität. Ihre Mutter hatte ihr als Kind die Grundlagen des Kochens beigebracht, doch damals hatte es sie nicht interessiert, sie hatte es sogar als ihrer unwürdig erachtet. Ihre Mutter hätte sie ohnehin niemals für ebenso talentiert gehalten wie Audrey. Als sie an dem Kurs für Hauswirtschafterinnen teilnahm, war sie überrascht, wie mühelos sie sich immer noch an alles erinnerte.

Die Grundlage des Kochens ist Chemie, dachte sie. Es ging nur um präzises Abmessen und darum, sich an Rezepte zu halten. Und das hatte sie perfektioniert.

»Ich ersetze ein wenig Mehl und Fett durch gekochte und gestampfte Kartoffeln, um weniger von diesen wertvollen Zutaten zu verbrauchen. Der Kartoffelbrei verleiht dem Gericht einen vollmundigen Geschmack, aber man muss das Gemisch schnell backen, sonst färbt es sich gräulich. Manche sagen, dass der Teig dadurch hart wird, aber das stimmt nur, wenn man ihn nicht direkt isst.«

Als sie den Teig rührte, erinnerte sie sich daran, ihr Publikum anzulächeln und die Stille mit aufmunternden Worten zu füllen.

»Ob wir den Krieg gewinnen oder nicht, hängt nicht nur von den jungen Männern ab, die an der Front kämpfen. Die Heimatfront spielt auch eine wichtige Rolle. Wir müssen uns überlegen, wie wir trotz der ganzen Kürzungen und Rationierungen stark bleiben können für unsere Soldaten. Wir müssen Hitler zeigen, dass die Briten nie klein beigeben werden.«

Sie bedeckte das Gemüse ordentlich mit Teig, dann stellte sie den Pie schwungvoll in den tragbaren Elektroherd. »So einfach ist das!«

Lady Gwendoline war Perfektionistin. Jeder ihrer Pies war makellos. Und jeder Bereich ihres Lebens war perfekt durchgeplant. Tatsächlich verstand sie nicht so recht, warum einigen Menschen das Leben so schwerfiel – wie beispielsweise ihrer Schwester Audrey, die immer Angst hatte, anderen Menschen zu nahe zu treten, und immer nett sein wollte. Grundgütiger! Audrey verstand nicht, dass die Welt so nicht funktionierte. Man musste zielstrebig sein und fokussiert.

Nur sie hatte bekommen, was beide begehrt hatten, den Hauptgewinn: einen wohlhabenden Ehemann. Und sie hatte ihn davon überzeugen können, dass nur Fenley Hall gut genug für sie wäre. Ihre Mutter würde sich im Grabe umdrehen.

Ihr schwindelerregender Reichtum durch den Import von Lebensmitteln ermöglichte ihnen ein vorzügliches, wenn auch nicht sonderlich fröhliches Leben. Gwendolines Ehe war das Ergebnis ihres verbissenen Ehrgeizes. Als sie und ihr Mann sich kennenlernten, hatte sie ihr Streben nach Erfolg verbunden. Sie waren beide absolute Perfektionisten, wobei seine Ansprüche teilweise noch höher waren als ihre. Seine Firma sorgte bei ihm häufig für schlechte Laune und machte ihn herrisch. Das war gut nachzuvollziehen: Ein guter Geschäftsmann musste schließlich rücksichtslos sein.

Gwendoline blickte sich im Publikum nach Audrey um. Sie sah sie nicht und war kurz verärgert. Ihre einzige Schwester hatte sich nicht zu ihrer Kochvorführung aufraffen können. Audrey war für ihre Mutter immer schon die bessere, die einzige gute Köchin gewesen. Gwendoline hingegen wurde immer als selbstsüchtige Intrigantin bezeichnet, sie schien gar nicht richtig zur Familie zu gehören. Als Gwendoline einmal mit Audreys Kuchen erwischt worden war, hatte die Mutter sich ihre Erklärung nicht angehört, dabei hatte sie ihrer Schwester lediglich beim Zuckerguss helfen wollen.

Mama konnte es nicht ertragen, dass ich ihr Lieblingskind in den Schatten stelle, dachte sie empört.

Mit diesem Gedanken schlüpfte sie in den Ofenhandschuh, öffnete den tragbaren Herd und zog einen perfekt aufgegangenen Pie heraus, dessen Kruste golden schimmerte.

Der aromatische Duft geschmorten Gemüses breitete sich in der Halle aus, während sie den Pie aufschnitt und ein Stück auf einen Teller legte: gewürfeltes Gemüse in einer schmackhaften Soße, umhüllt von knusprigem, leichtem Teig.

»Nun, Ladys und Gentlemen«, verkündete Lady Gwendoline und machte eine bedeutungsschwangere Pause, »hier sehen Sie unseren Lord Woolton-Pie.« Sie präsentierte dem Publikum ihr Ergebnis und fügte hinzu: »An Rationiertem benötigt man für das Gericht nur ein wenig Speisefett. Das selbst angebaute Gemüse macht diesen Pie zu einem wunderbar kostengünstigen Lieblingsgericht in Kriegszeiten.«

Es erklang Applaus. Hausfrauen reckten ihre Hälse, um besser sehen zu können, und die Männer atmeten tief den warmen, anheimelnden Duft ein.

»Gibt es Fragen?«, sagte sie wohlwollend.

»Wie macht man den Teig, wenn man weder Butter noch Schmalz hat? Ich habe am Ende der Woche von beidem nichts mehr übrig.« Die Frage kam von einer der Frauen aus der Unterschicht und Lady Gwendoline lächelte wohlwollend, als andere Frauen im Publikum zustimmten: An Butter zu kommen, war wirklich schwierig.

»Es gibt dafür kein Patentrezept, tut mir leid. Man sollte beides sehr sparsam verwenden, nur einen Bruchteil dessen, was man normalerweise nehmen würde. Behalten Sie im Kopf, dass Ihr Metzger Ihnen vielleicht ein wenig mehr Schweineschmalz, Lammtalg oder Talg von Rindfleischstücken geben kann. Besonders Schmalz macht den Teig sehr schmackhaft. Auch Knochenmark ist fettig und nicht rationiert.«

Plötzlich ertönte eine feste Frauenstimme vom Ende der zweiten Sitzreihe her. »Verraten Sie mir bitte, was Ihnen das Recht gibt, übers Kochen zu referieren?«

Lady Gwendoline entdeckte eine attraktive Frau um die dreißig. Ihre langen Locken waren blond gefärbt, was sich irgendwie mit dem Kastanienbraun ihres Huts biss, den Lady Gwendoline schon damals im Schlussverkauf bei Selfridges schrecklich gefunden hatte. Die Frau war schlank, markant und hübsch zurechtgemacht. Sie wirkte gerissen und stur, wie jemand, der mit der eigenen Meinung nicht hinter dem Berg hielt.

Lady Gwendoline ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und setzte ein herablassendes Lächeln auf.

»Das Ministerium für Ernährung hat mich entsandt.« Mehr Befugnis war kaum möglich. »Dieses Ministerium wurde gegründet, um sicherzustellen, dass wir alle ausreichend Lebensmittel bekommen. Andernfalls hätte der Mangel die Preise hochgetrieben und die Armen wären mit leeren Armen, ähm, Händen ausgegangen.« Sie hielt inne und freute sich über ihr Wortspiel.

Ein gedämpftes höfliches Lachen verklang direkt wieder.

»Das Ministerium für Ernährung denkt, wir seien seine Untertanen«, rief die blonde Frau. Ihren Akzent konnte man nur schwer einordnen. Sie sprach mit einer seltsamen Mischung aus Upperclass-Englisch mit französischem Einschlag und einer Spur Cockney, die sie vermutlich versucht hatte, loszuwerden.

Lady Gwendoline lächelte herrisch und erklärte, als würde sie aus einer Regierungsbroschüre vorlesen: »Das Ministerium für Ernährung strebt Gerechtigkeit für alle Bürger an. Es beschäftigt Ernährungswissenschaftler, um sicherzugehen, dass jeder Mensch das bekommt, was er benötigt, von der schwangeren Frau bis zum Arbeiter, von Proteinen bis zu Vitaminen. Landwirtschaftsexperten haben herausgefunden, dass man Land am produktivsten nutzt, indem man Milchkühe anstatt Schlachtrind darauf weiden lässt, und dass Getreideanbau viel ergiebiger ist als Fleisch von einigen wenigen Kühen, Schafen oder Schweinen. Durch die Rationierung werden die Preise niedrig gehalten und man stellt sicher, dass jeder das bekommt, was er braucht.«

Die blonde Frau versuchte, noch etwas zu entgegnen, doch Lady Gwendoline redete über sie hinweg, dankte allen laut für ihre Zeit und Aufmerksamkeit und beendete die Vorführung. Zwei junge Helferinnen kamen von den Seiten angelaufen, um die Kochmaterialien wegzuräumen, während etliche Menschen aus dem Publikum zur Bühne kamen, um mit ihr zu sprechen und sich Broschüren mit Informationen über Lebensmittel mitzunehmen.

»Prima Vorstellung!«, sagte eine stämmige Frau und schlug Lady Gwendoline beherzt auf den Rücken. »Ich würd’ diesen Pie gern mal probieren.«

Weitere Glückwünsche wurden ausgesprochen, als sie Teller mit dem Pie ins begeisterte Publikum reichte. Doch erst nachdem die meisten Frauen wieder gegangen waren, entdeckte sie, dass Ambrose Hart auf sie zukam.

»Ambrose!«, rief sie, als würde sie sich freuen, ihn zu sehen. Durch ihren Mann lernte sie häufig Menschen von der BBC kennen. Das war die Sorte Leute, die sie gern um sich scharte: Man wusste nie, wann sie einem nützlich sein konnten. »Wie wundervoll, dass Sie gekommen sind und sich mein Scherflein zum Kriegsgeschehen angeschaut haben.«

»Eine ganz wunderbare Vorführung.« Er wirkte abgelenkt. »Sie sind sehr gut über die Rationierungen informiert, nicht wahr?«

Sie spreizte sich: »Ich bin Expertin in diesem Bereich, Ambrose. Das wissen Sie.«

Er sollte es inzwischen wirklich wissen. Sie hatte ihm seit Kriegsbeginn mehrfach diskrete Hinweise gegeben, dass sie gerne bei der Sendung Kitchen Front hinter den Kulissen mitarbeiten würde.

»Genau darüber wollte ich mit Ihnen sprechen.« Er blickte sich um, ob niemand mithörte. »Wissen Sie, die Burschen, die bei der BBC etwas zu sagen haben, sind der Meinung, dass Kitchen Front eine weibliche Stimme benötigt, eine Art Co-Moderatorin, jemand, der die Frauen zu Hause mit Rezepten und Ratschlägen versorgt, die Zuhörerinnen so richtig mit einbezieht. Sie denken, dass …«

»Ich wäre hocherfreut, Ambrose«, unterbrach Lady Gwendoline ihn. »Ich hatte genau dasselbe im Kopf …«

»Nun, die Macher der Sendung haben aber an etwas anderes gedacht.«

»Was denn?«

»Sie wollen, dass ich einen öffentlichen Wettbewerb ausrufe, um die richtige Frau zu finden.« Er zuckte mit den Schultern; die darin verborgene Andeutung der BBC, dass sein persönlicher Moderationsstil als unzulänglich empfunden wurde, schmeckte ihm gar nicht. »Sie wissen, wie sehr diese Ministerien Wettbewerbe lieben. Sie heben die Moral und geben den Zeitungen Anlass für positive Artikel – anstatt der immer gleichen Berichte über all die Schlachten, die wir verlieren.«

»Was für ein Wettbewerb soll das denn sein?« Lady Gwendoline mochte Kräftemessen, vor allem solche, die sie mit Sicherheit gewinnen würde.

»Ein Kochwettbewerb an der Heimatfront. Sie wollen, dass verschiedene Frauen teilnehmen, die beruflich mit Kochen zu tun haben: die Köchin eines Herrenhauses, die Küchenchefin eines Restaurants, eine Vorführköchin – so etwas eben. Hätten Sie Lust mitzumachen?«

Lady Gwendoline versuchte, nicht allzu erpicht auszusehen. Das war ihre Gelegenheit, als Radiomoderatorin groß rauszukommen. Wer wusste schon, wohin ihre berufliche Reise nach der Sendung Kitchen Front gehen würde? Das würde allen zeigen, wer in der Familie tatsächlich Talent hatte – allen voran Audrey. »Wen werden Sie sonst noch fragen?«

»Darüber wollte ich mit Ihnen sprechen. Wissen Sie, wir möchten Ihre Chefköchin von Fenley Hall einladen. Es ist nicht gerade üblich, dass die Gutsherrin und ihre Bedienstete am selben Wettbewerb teilnehmen, aber unter diesen Umständen …«

Nur einen Augenblick der Abwägung später nickte Lady Gwendoline. »Ich bin sicher, dass Mrs Quince sehr gerne mit von der Partie wäre.« Eine Konkurrentin, die unter ihren Fittichen stand, würde ihr in die Hände spielen – vor allem eine so erfahrene Kraft wie Mrs Quince. Die vergnügte alte Köchin war die gute altmodische loyale Bedienstete in Person.

Das kann sicher noch nützlich werden!

Ambrose leierte weiter. »Die Menschen werden langsam wütend, weil es nicht genug Fleisch und zu viele Kartoffeln gibt. Die Hausfrauen müssen einfallsreicher werden.«

»Und genau das ist meine Stärke. Wie werden Sie die Teilnehmerinnen denn bewerten?«

Er winkte ab und lief mit einem leicht misstrauischen Gesichtsausdruck zur Tür. »Nächsten Dienstag um acht Uhr abends findet bei mir zu Hause ein Treffen statt. Bis dahin habe ich die Details ausgearbeitet.«

So von ihm stehen gelassen, dachte Lady Gwendoline über die Angelegenheit nach. Sie hatte es genau vor Augen: Ihre Stimme in der Radiosendung, die sie ins Zentrum der höheren Kreise katapultierte. Sir Strickland wäre angetan, nicht wahr? Ihre Teilnahme würde ihm schließlich reichlich Werbung und Kontakte bescheren. Und auch bei ihr würden die Leute erkennen, dass mehr in ihr steckte als bloß die verwöhnte Frau eines reichen Mannes. Sie wusste, was die Leute redeten: sie hätte ihn nur des Geldes wegen geheiratet. Mit ihrer Mitarbeit an der Sendung würde sie beweisen, dass sie den richtigen Kriegsgeist verkörperte und außerdem eine gute und gewandte Köchin war, die ihr Wissen breitwillig mit dem ganzen Land teilte.

Doch was noch viel wichtiger war: Sie würde berühmt werden.

»Was für ein ausgezeichneter Plan«, murmelte sie leise und rieb sich siegessicher die Hände.

Sir Stricklands Chauffeur war geschickt worden, um sie zurück nach Fenley Hall zu fahren, und während sie in den schwarzen Bentley stieg, ertönte eine Frauenstimme hinter ihr: »Vergeuden wir da gerade etwa Benzin für unnötige Fahrten, Lady Gwendoline?«

Sie erkannte die blonde Frau aus dem Publikum und entschied sich, die Bemerkung zu ignorieren. Die Propagandaslogans der Regierung über Kraftstoffrationierung bezogen sich schließlich auf andere Leute.

Der Chauffeur schloss ihre Tür und fuhr den kurzen Weg nach Hause. Als sie in die pompöse Auffahrt einbogen, verspürte sie das vertraute Gefühl von Stolz, das allerdings im Laufe der Jahre durch das nagende Verlangen nach noch größeren Triumphen gedämpft worden war.

Der Chauffeur hielt ihr die Autotür auf, während Brackett, der alte Butler, ihr die massive Haustüre aus Eichenholz öffnete. Ihre hochhackigen Schuhe klackerten auf dem Marmorboden, während sie zügig durch die Emporenhalle zu ihrem persönlichen Empfangszimmer mit Blick auf die Gärten hinter dem Haus schritt. Weil es spät war, hatte sie Mrs Quince angewiesen, dass sie dort ihr Abendessen einnehmen würde. Sie war erleichtert, in ihr behagliches Zuhause zurückzukehren. Ihr Bereich war in einem hellen Elfenbeinton gestrichen und die Sofas waren weicher als die in den offiziellen Salons. Die silberfarbenen Samtvorhänge waren luxuriös und warm und kontrastierten mit der steifen Förmlichkeit der übrigen Räumlichkeiten von Fenley Hall.

Doch es war nicht bloß die Einrichtung, die sie als steif und förmlich empfand.

Sie konnte nicht noch eins dieser kühlen Abendessen mit ihrem Ehemann ertragen. Er teilte ihr gern vom anderen Ende des langen Tischs spärliche Informationen zu zukünftigen geschäftlichen Essen und Veranstaltungen mit, die sie gefälligst zu besuchen hatte – und was sie dort tun und sagen durfte und was nicht, während die Männer dasaßen und über den Krieg diskutierten.

»Alle Eheleute brauchen mal Zeit für sich«, sagte sie sich, als sie sich in ihren grün geblümten Lieblingssessel fallen ließ. In der Zeit alleine konnte sie sich auf ihre Pläne konzentrieren, ihre Veranstaltungen für das Ministerium für Ernährung organisieren oder sich um ihren nächsten Schachzug in der Dorfpolitik kümmern. Der Einfluss ihres Ehemannes als größter Arbeitgeber des Dorfes hatte ihr den Posten als Fenleyer Quartiersmeisterin zugeschachert – so konnte sie sich in jedem Haus und jeder Wohnung in Fenley Zutritt verschaffen, um Anspruch auf geeignete Gästezimmer für Evakuierte und Kriegsarbeiter zu erheben. Quartiersmeisterinnen hatten in diesen Tagen erhebliche Macht, die Gwendoline geschickt nutzen wollte. Alles in allem mangelte es ihr nicht an Beschäftigung.

Ein Gefühl der Einsamkeit blendete sie einfach aus, obwohl es manchmal in ihrem Inneren zog wie eine nicht richtig verheilte Narbe.

Sir Strickland war zehn Jahre älter als sie und bereits äußerst arriviert gewesen, als sie ihn kennenlernte. Darin begründete sich ein Teil seiner Anziehungskraft. Seinen einfachen Hintergrund verschwieg er eigentlich, aber sie wusste dennoch, dass er anfangs aus einer Schubkarre Pies im armen Londoner East End verkauft und sich erst langsam an die Fleischkonserven herangetastet hatte.

Die meisten Fabriken, die sein Corned Beef herstellten, standen in Uruguay. Millionen Dosen wurden über den heimtückischen Atlantik geschifft, um die Truppen in Europa zu ernähren. Er gab aber auch die selbst produzierten Pies nicht auf – die Fenley Pie Factory war eine seiner kleineren Fabriken, wo 250 Arbeiter kosten- und rationseffiziente Pies fertigten. Lady Gwendoline hatte nie nachgefragt, wie die Fleischprodukte derart günstig hergestellt werden konnten. Schließlich musste man Geld verdienen und nicht verstehen, wie man es verdiente.

In letzter Zeit kratzten neue Konservenfabriken an Sir Stricklands Monopol. Zwar war Lady Gwendoline nicht in geschäftliche Details eingeweiht, doch sie war sich der sinkenden Verkaufszahlen sehr wohl bewusst. Die Eilfertigkeit, den Ministern gefällig zu sein, die verschwenderischen Dinnerpartys, um unentschlossene Vertragspartner zu überzeugen, die zunehmend angespannte Stimmung ihres Ehemannes – all das war ihr nicht verborgen geblieben.

Sie wusste, dass Sir Strickland auch in die heimische Lebensmittelproduktion involviert war – mit der autarken Farm auf dem Fenley-Anwesen, die praktischerweise reichlich Lebensmittel für Fenley Hall abwarf und für die man keine Rationsbücher brauchte. Sie wusste, dass die Regeln der Lebensmittelrationierung dort wahrscheinlich missachtet wurden, aber machte das nicht ohnehin jeder, wo er nur konnte? Immerhin war Sir Strickland der Posten als Regionalverantwortlicher des Landwirtschaftsministeriums verliehen worden, was ihn für die Überprüfung und Sanktionierung der Rationierungsregeln verantwortlich machte. Die Beaufsichtigung der eigenen Farm war einfach ein Vorteil dieser Arbeit, schlussfolgerte Gwendoline.

Ein Kichern entfuhr ihr, als sie an ihre Schwester dachte, die sich wegen ihrer Liebe zu einem armen Künstler krumm arbeitete, während sie, die jüngere Schwester und das schwarze Schaf der Familie, durch ihre Ehe nun im Luxus schwelgte. Es war traurig, dass Matthew gestorben war, natürlich – obwohl sie diesen Mann nie gemocht hatte. Warum um alles in der Welt war er hungerleidender Künstler geworden, wenn er auch in der Wirtschaft oder Industrie hätte arbeiten können, bei seinem familiären Hintergrund und seiner Ausbildung? Das alles war Audreys freie Entscheidung gewesen. Dennoch hatte es Augenblicke gegeben, in denen sie Gwendoline fast leidgetan hatte.

Die Reiseuhr auf dem Kaminsims schlug neunmal. Die Zeit schritt ausnahmsweise einmal schnell voran. Dank der Arbeit hatte sie sich heute fleißig und nützlich gefühlt. An anderen Abenden konnte die Zeit sehr lang werden.

Sie klingelte mit der kleinen Glocke nach ihrem Essen. Lästigerweise hatte das Dienstmädchen eine Stelle in einer Munitionsfabrik angetreten und nun mussten sie bei Tisch mit der unfähigen Küchenmagd vorliebnehmen. Es sah nicht so aus, als würde sie schnell einen Ersatz für das Dienstmädchen finden, da inzwischen alle jungen Frauen Kriegsarbeit verrichten mussten.

Einige Minuten später tauchte das nervöse Küchenmädchen auf und brachte ihr mit gesenktem Blick eilig ein Tablett mit dem Abendessen. Als sie die silberne Speiseglocke vom Teller hob, sah Lady Gwendoline, dass es Scholle à la Véronique war, ihr Leibgericht.

Als das Mädchen den Teller auf den Tisch stellte, fiel ein Messer zu Boden.

Lady Gwendoline zuckte zusammen. »Gib es mir einfach.«

Das Mädchen hob das Messer auf und huschte wortlos von dannen. Lady Gwendoline setzte sich an den kleinen Esstisch.

»Scholle à la Véronique«, murmelte sie, während sie sanft den zarten, weißen Fisch zerteilte. »Wenn das kein Gewinnergericht für den Wettbewerb ist!« Schade nur, dass die meisten gewöhnlichen Haushalte nur schwer an Sahne kamen.

»Ich bereite das beste Gericht der ganzen Grafschaft zu und nehme einige Anpassungen an die Kriegszeit vor – nur zur Sicherheit«, murmelte sie.

 

 

Das Ministerium für Ernährung empfiehlt: Lord Woolton-Pie
Für 4 Personen

 

Für die Füllung

4 Pfund gewürfeltes Gemüse (wie beispielsweise Möhren, Rüben, Blumenkohl, Kartoffeln)

1 Zwiebel oder Lauch, gehackt

1 Teelöffel Gemüseextrakt oder 150 ml Brühe

1 Esslöffel Haferflocken

Petersilie, gehackt

Salz und Pfeffer

Für die Kartoffelkruste

1 Tasse Vollkornmehl

2 Teelöffel Backpulver

1 Prise Salz

2 Esslöffel Butter oder Speisefett

½ Tasse gestampfte gekochte Kartoffeln

Milch zum Bestreichen

Erst die Füllung zubereiten. Gemüse, Zwiebeln oder Lauch, Gemüseextrakt, Haferflocken, Petersilie und Salz und Pfeffer in einen Topf geben und gerade so mit Wasser bedecken. Zum Kochen bringen und garen, bis das Gemüse weich ist. Ab und zu umrühren, damit es nicht anbackt.

Ofen auf 180 Grad vorheizen. Für den Teig Mehl, Backpulver und Salz vermischen, dann Butter oder Fett einarbeiten. Den Kartoffelbrei einarbeiten und alles zu einer ausrollbaren Kugel formen. Das Gemüse in eine tiefe Pie-Form geben und mit dem Teig bedecken. Die Oberfläche mit ein wenig Milch bestreichen. Dann 25 bis 30 Minuten backen, bis die Kruste goldbraun ist.

Miss Nell Brown

Die Küche von Fenley Hall

Die Küche in Fenley Hall war ein imposanter, weitläufiger Raum mit einer gewölbten Steindecke. Sie lag halb im Souterrain und eine Reihe von großen Bogenfenstern ließen Licht in den warmen, höhlenartigen Ort fallen. Hier, in diesem beeindruckenden Gewölbe eines herrschaftlichen Hauses höchsten Ranges, waren früher wie am Fließband Mahlzeiten zubereitet worden. Wenn Nell umherwieselte, fühlte sie sich mit den Dienstmädchen aus der Vergangenheit verbunden – wenngleich es selbst vor zwanzig Jahren noch viel mehr Beschäftigte gegeben hatte, mit einer Hierarchie aus Küchen- und Spülhilfen, die alle einer Küchenchefin unterstanden.

Nun war nur noch Nell übrig, um der Köchin, der alten Mrs Quince, zu helfen, und verrichtete dabei die Arbeit von drei Dienstmägden. Sie fühlte sich wie ein junges Kaninchen, das durch ein Tunnellabyrinth rannte – die Hauptküche, die Vorratskammer, die Spülküche, den Weinkeller, den Eiskeller, die Speisekammer – das strenge Ticken der Standuhr trieb sie stets an: Lauf, lauf, lauf!

»Warum bleibt die ganze Arbeit immer an mir hängen?«, schimpfte Nell, als sie aus der Speisekammer zurück in die Küche hetzte. Die lebhafte Stubenmagd war schon drei lange Monate weg. »Seitdem sie weg ist, fühlt sich alles so leer an – und ich muss dieses riesige Anwesen auch noch putzen!«

»Oh, Nell, niemand hat mehr vollständiges Küchenpersonal.« Mrs Quince stand am Küchentisch. Ihr altes Kochbuch war aufgeschlagen, während sie die Mahlzeiten für die Woche plante. »Ich erinnere mich noch daran, als es hier vor Dienstmädchen geradezu wimmelte. Wir waren wie eine große Familie – nicht immer glücklich, aber dennoch eine Familie.« Ihr Lächeln verblasste. Nell wusste, dass sie an die Bediensteten dachte, die entlassen worden waren, als der distinguierte Graf gezwungen war, Fenley Hall zur Tilgung seiner Schulden an Sir Strickland zu verkaufen. Nun, wo ein neuer Krieg ausgebrochen war, waren alle übrig gebliebenen Bediensteten entweder Soldaten geworden oder in der Kriegsarbeit tätig, wo man mehr verdiente.

Das Aroma von Rosmarin und Thymian mischte sich in den Duft nach gebratenen Pilzen und erwärmte den Gewölberaum, während Nell zu ihrer Brühe zurückkehrte und einen Schuss Wein hinzufügte. Draußen tobte zwar ein Krieg, doch Sir Stricklands Weinkeller waren trotzdem immer gut gefüllt.

»In der Fenley Pie Factory verdient man doppelt so viel«, sinnierte Nell. »Und man muss nicht jeden Morgen um fünf aufstehen.«

»Aber es ist alles andere als schön, dort zu arbeiten. Diese Fabrik gehört Sir Strickland und ich wäre mir nicht so sicher, dass er sich an die Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften hält.«

Gedankenverloren rührte das Dienstmädchen in der Brühe. »Wenn ich nächstes Jahr zwanzig bin, muss ich mir sowieso Kriegsarbeit suchen, wegen der Frauenwehrpflicht – es sei denn, ich bin bis dahin ve-verheiratet.« Der Gedanke an eine Heirat flatterte ihr durch den Kopf wie eine Motte um eine heiße Glühbirne.

»Wenn du mich fragst, ist Krieg für Frauen viel zu gefährlich«, sagte Mrs Quince fürsorglich. Sie hatte Angst, ihre liebe Freundin und einzige Hilfskraft zu verlieren.

»Sie schicken uns nicht an die Front.« Nell lachte sanft. »Selbst wenn man zum Militär kommt, repariert man nur Lkw, macht Papierkram oder fährt Offiziere herum. Die anderen Alternativen sind Munitionsfabriken oder Bauernhöfe. Ich habe immer schon vom Landleben geträumt. Auf der Howards Farm arbeiten einige Dienstmädchen. Ich sehe sie manchmal in ihren braunen Uniformen im Dorf, sie lachen immer und haben sich untergehakt. Ich weiß, dass man auf dem Bauernhof hart arbeiten muss, aber es wäre schön, draußen in der Natur zu sein.«

»Bleib du besser beim Kochen, Nell«, sagte Mrs Quince. »Du hast großes Talent, das solltest du nicht verschwenden.« Als Nell in Fenley Hall angekommen war, hatte die alte Köchin ihre Fähigkeiten erkannt, sie ausgewählt und als Assistentin ausgebildet. »Du hast ein gutes Gespür für Aromen und eine wunderbare Auffassungsgabe. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der Rezepte so sorgfältig umsetzt und Techniken so gut versteht.« Sie blickte das Mädchen zärtlich an. »Als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, hast du mich an meine kleine Schwester erinnert – ich habe sie so vermisst, als ich von zu Hause weggegangen bin! So ein anständiges und lernbegieriges Mädchen. Ich habe dir immer versprochen, Nell, dass ich dir helfe und dich mit Rat und Tat auf deinem Weg begleite. Und jetzt schau, was aus dir geworden ist! Selbst eine hochqualifizierte Köchin.«

Das Mädchen lächelte die alte Köchin an. »Ich … ich würde es niemals allein schaffen, ohne Sie ginge es einfach nicht.«

»Du wirst schon sehen. Du musst einfach mehr Selbstvertrauen haben.« Mrs Quince kehrte zu ihrem Buch zurück und folgte mit ihrem drallen Finger einem handgeschriebenen Rezept. »Bist du so lieb und schaust mal, wie viele Eier wir noch haben?«

Nell wischte sich die Hände an der Schürze ab und sauste zur Vorratskammer, die in einer kühlen Ecke des Gebäudes lag. »Wir haben noch sechs, von der Fenley Farm.« Sie streckte den Kopf wieder raus. »Irgendwie ein wenig ungerecht, dass wir das Beste von diesem Landwirtschaftsbetrieb erhalten.«

»Ich habe den Eindruck, dass Sir Strickland die Regeln dort ein wenig zu seinen Gunsten auslegt.« Mrs Quince seufzte. »Aber wir sollten uns glücklich schätzen, dass wir alles bekommen, was wir brauchen. Würdest du mir mal die Rationsbücher bringen?«

Es gab insgesamt fünf Rationsbücher. Zwei für die obere, für Sir Strickland und Lady Gwendoline, und inzwischen nur noch drei für die untere Etage: für Mrs Quince, Nell und Brackett, den alten Butler.

»Die Stricklands müssten sich stärker um eine neue Dienstmagd bemühen. Ich glaube, sie haben vergessen, dass sie mich als Aushilfe angefragt haben. Es ist einfach zu viel Arbeit für einen Menschen.« Nell hatte es anfangs nichts ausgemacht, die Arbeit der Dienstmagd zu übernehmen. Allerdings sollte es nur eine Übergangslösung sein.

Mrs Quince gluckste. »Solange die Arbeit erledigt wird, ist es ihnen gleich.«

»Sie wissen nicht einmal, dass es mich gibt, oder?« Nell ging zurück zu ihrer Brühe. »Nicht, dass ich mich für etwas Besonderes halte, aber sie könnten zumindest anerkennen, dass ich das alles zusätzlich zu meiner eigentlichen Arbeit erledige.«

»Warum erinnerst du sie nicht selbst daran? Gehst nach oben und redest mit Ihrer Ladyschaft?«

Hastig begann Nell, etwas Knoblauch und Sellerie zu schneiden und in einen anderen Topf zu werfen. Sie fügte ein wenig Butter hinzu, um sie anzubraten und dann zur Brühe zu geben. »Sie würden mir niemals zuhören«, murmelte sie. Sie wusste selbst, dass sie den Mund nicht mehr aufbekommen würde, sobald sie oben war. Sie würde bloß stottern oder gar nichts mehr herausbringen.

Nell verabscheute die Stricklands, besonders seit Beginn des Blitzkriegs. Weil das Dorf Fenley nur fünfzehn Meilen südlich von London lag, befand es sich auf der Route der nächtlichen Angriffe der deutschen Luftwaffe. Lady Gwendoline hatte sich ein strenges Programm überlegt, das man jeden Abend abarbeiten musste, wenn die Bomber flogen. Wenn der Fliegeralarm ertönte, musste Nell die Stricklands mit Taschenlampen in den Keller führen. Die Betten mussten frisch gemacht sein. Mrs Quince und Nell hatten sie eine kleine Ecke mit einigen Decken zugewiesen, die sie auf dem kalten Steinboden ausbreiten konnten, und Brackett, der ältliche Butler, hatte eine mit einem Vorhang abgetrennte Nische. Nell musste wach bleiben und immer wieder nach oben gehen und horchen, ob die Sirene Entwarnung gab.

Beim letzten Luftangriff hatte Nell wach auf dem unbequemen Boden gesessen und sich vorgestellt, sie würde in einem der weichen Betten der Stricklands liegen, die zu Kriegsbeginn in den Keller getragen worden waren. Anscheinend war es für sie »zu unzivilisiert, wie ein Hund« auf dem Boden zu schlafen.

Aber für uns Dienstleute ist es schon in Ordnung!

Während sie wütend das Gemüse in der Pfanne umherschob, verbreitete sich der scharfe Geruch nach anbrennendem Knoblauch in der Luft.

»Das ist alles sinnlos.« Sie war nervös und fühlte sich plötzlich erschöpft. »Für sie sind wir nicht mehr wert als Tiere.«

Mrs Quince schritt zügig zu ihr und wedelte mit den Händen in der Luft. »Nell! Du lässt es anbrennen!« Sie nahm ihr den Löffel aus der Hand und schob sie sanft zu Seite. »Setz dich. Bist du heute früh mit dem falschen Fuß aufgestanden?«

Nell ließ sich auf den Platz am Fenster fallen und blickte auf das saftig grüne Tal. Dahinter, im Morgennebel, lag London. »Das Leben muss doch mehr zu bieten haben.« Sie seufzte. »Jeder spricht über die neuen Möglichkeiten für uns Frauen im Krieg. Niemand fragt mehr danach, woher man kommt oder ob man außerehelich geboren wurde, so wie ich. Frauen bekommen richtige Stellen, können frei leben, sich mit jungen Männern treffen, heiraten …« Sie sprach nun ruhiger und hörte sich umso verzweifelter an.

Mrs Quince blickte zu ihr. »Liebes, du darfst nicht alles glauben, was du hörst. Ich bin mir sicher, dass so was nicht überall gut endet. Du bist auf alle Fälle viel zu schüchtern, um dich auf Stellen zu bewerben. Am besten bleibst du beim Kochen. Du weißt ja, ich sage immer: Nichts hilft besser gegen das heulende Elend, als ordentlich zu arbeiten. Du bist eine erstklassige Köchin und in ein oder zwei Jahren werden dir die Adeligen des ganzen Landes zu Füßen liegen.«

Nell lachte kurz auf. »Ja, weil sie mich einstellen wollen. Aber nicht heiraten.«

Was sollte sie schon dazu sagen? Mrs Quince war selbst nie verheiratet gewesen, sie wurde nur als »Mrs« angesprochen, weil das bei älteren Dienstboten so Sitte war, obwohl die meisten alleinstehend und nur mit ihrer Arbeit verheiratet waren, ob sie wollten oder nicht. Nell fragte sich manchmal, ob Mrs Quince sich jemals nach der Umarmung eines anderen Menschen gesehnt hatte oder nach einem eigenen Zuhause. Einer kleinen Hand in ihrer.

Mrs Quince kostete die Brühe. »Probier mal, Nell.« Sie winkte sie zu sich. »Mein liebes Kind, deine Traurigkeit hat sich auf deine Kochkünste niedergeschlagen. Dieser ganze Ärger in dir drin kann doch nicht gesund sein. Du musst versuchen, zufrieden zu sein, du darfst diese Gedanken nicht zulassen.«

Blut schoss ihr ins Gesicht. »Es … tut mir leid«, stammelte sie mit Tränen in den Augen. »Ich … ich mache sie noch einmal.«

Mrs Quince lächelte und schüttelte den Kopf. »Das brauchst du nicht, Liebes. Wir fügen noch ein paar Zutaten hinzu, dann schmeckt sie wieder. Aber was machen wir mit dir? Wie bekommen wir dich wieder ins Gleichgewicht? Ich werde nicht für immer hier sein, das weißt du. Wir müssen dich aber ausbilden, sodass du auf eigenen Füßen stehen kannst.«

Nell blickte sie beunruhigt an. Sie wollte, dass sich etwas veränderte, aber nicht auf diese Weise – nicht ohne Mrs Quince. Ihre quälende Angst vor der Außenwelt und die Art und Weise, wie sie über ihre eigenen Worte stolperte, wenn sie Angst hatte … Wie könnte sie das bloß hinter sich lassen?

Mit einer tiefen Falte zwischen den Augen blickte sie erneut wehmütig aus dem Fenster. Morgen würde genauso sein wie heute: Essen kochen, putzen, buckeln.

Sie schluckte schwer.

Das Leben muss doch mehr zu bieten haben.

Miss Zelda Dupont

Die Küche in der Fenley Pie Factory

Die Le Cordon Bleu-Kochschule lehrt eine raffinierte Form der französischen Küche, Doris. Nicht, wie man alle Reste zu einem Gericht zusammenwirft.« Zelda Dupont verzog angeekelt die Mundwinkel, als sie ihrer jungen Assistentin den übergroßen Holzlöffel reichte.

»Aber das haben wir immer so gemacht, Miss Dupont.« Das Mädchen nahm den Löffel und rührte wie wild in der Suppe herum. »Ich habe keinen blassen Schimmer von diesem Cordong-Blöh-Zeugs. Die Frauen in der Fabrik wollen von diesem ausländischen Gedöns nichts wissen. Sie wollen ihre Pies und Stews, die sie schon immer gegessen haben.«

Zelda Dupont, Küchenchefin der Betriebskantine der Fenley Pie Factory, zog dramatisch eine nachgezogene Augenbraue hoch. Sie beobachtete die Assistentin aus ihren zusammengekniffenen grünen Augen, die von getuschten Wimpern und grünem Lidschatten umrandet waren. Ihre dicken blonden Locken – vom besten Friseur in Middleton blondiert – lagen ihr von dem vorgeschriebenen Kopftuch platt gedrückt am Kopf. Ihre vollen Lippen, die nur einen Hauch zu grell geschminkt waren für eine Zweiunddreißigjährige, hatte sie tadelnd zusammengezogen.

Wie sie es hasste, hier zu sein.

Sie gehörte nicht aufs Land zu all diesen Einfaltspinseln. Immerhin war sie stellvertretende Küchenchefin des renommierten Londoner Dartington Hotels gewesen. Diese Position hatte sie sich nach einem jahrelangen Aufruhr gegen die Bevorzugung von männlichen Küchenchefs durch die Hoteliers hart erkämpft. Ihre Anstellung hatte allerdings ein abruptes Ende gefunden, als vierhundert Pfund Nazi-Kordit in die Lobby des Dartington einschlugen und das Hotel in einen Schuttplatz verwandelten. Küchenchefs zählten als Facharbeiter und mussten deswegen keine Kriegsarbeit verrichten, doch ohne Arbeit war sie dennoch gezwungen, zur örtlichen Wehrdienststelle zu gehen. Die dort Zuständige hatte Zelda dazu gedrängt, die Stelle bei der Pie-Fabrik der Army anzunehmen, und sie hatte widerwillig zugestimmt.

Doch nun saß sie in einer in Tarnfarben gestrichenen Fabrik fest und kochte für Arbeiterinnen, die ausschließlich Würstchen essen wollten – Würstchen, die vorwiegend aus Brot bestanden und beim Braten spritzten oder sogar explodierten, weshalb man sie »Knaller« getauft hatte. Sie führten außerdem zu Flatulenzen, was dem Begriff »Knaller« noch eine weitere Bedeutung verlieh. Als wäre das nicht schon schlimm genug, bestand die Regierung darauf, dass in den Kantinen noch andere billige Proteine angeboten wurden, beispielsweise gesalzener Kabeljau, der an Bord der großen Fischereischiffe präpariert wurde, um ihn haltbar zu machen. Zelda fand das einfach nur widerlich. Der Fisch war zäh und selbst wenn man ihn gründlich einweichte, wurde jeglicher Geschmack vom Salz überdeckt. Heute versuchte sie, ihn mit einer Currysoße zu übertünchen – einem weiteren Lieblingsgericht des Ministeriums für Ernährung.