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Die Fortsetzung des Überraschungserfolgs!
Abwarten und Eiscreme essen. So oder so ähnlich könnte man Göran Borgs Lebensmotto zusammenfassen. Der Mittfünfziger aus Malmö ist nach seinem Jahr in Indien wieder im schwedischen Alltag angekommen – und mitten in einer Identitätskrise. Einziger Lichtblick: die bevorstehende Hochzeit seines besten Freundes aus Delhi, Yogi. Doch die wird immer wieder verschoben – aufgrund »horoskopieller« Umstände. Trotzdem reist Göran spontan nach Delhi und findet schnell heraus: Die Hochzeit mit der schönen Lakshmi wurde aus ganz anderen Gründen verschoben …
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Seitenzahl: 558
Zum Buch
Abwarten und Eiscreme essen. So oder so ähnlich könnte man Göran Borgs Lebensmotto zusammenfassen. Der Mittfünfziger aus Malmö ist nach seinem Jahr in Indien wieder im schwedischen Alltag angekommen – und mitten in einer Identitätskrise. Einziger Lichtblick: die bevorstehende Hochzeit seines besten Freundes aus Delhi, Yogi. Doch die wird immer wieder verschoben – aufgrund »horoskopieller« Umstände. Trotzdem reist Göran spontan nach Delhi und findet schnell heraus: Die Hochzeit mit der schönen Lakshmi wurde aus ganz anderen Gründen verschoben. Sein Schwiegervater in spe hat sich verkalkuliert. Um die Mitgiftkasse zu füllen, steckte er sein letztes Geld in eine Teeplantage in Darjeeling. Die Freunde machen sich sofort auf ins nebelverhangene Hochland und landen auf einer heruntergekommenen Farm, auf der das letzte Blatt Tee schon vor geraumer Zeit geerntet worden ist. Doch um die Plantage wieder auf Gewinnkurs zu bringen, braucht es mehr als zwei verzweifelte Männer – unter anderem eine energische indische Verlobte, die den Freunden gehörig auf die Sprünge hilft …
Zum Autor
MIKAEL BERGSTRAND arbeitete als Journalist in Malmö, bevor es ihn 2007 nach Indien verschlug. Vier Jahre lang lebte er mit seiner Familie in Neu-Delhi, wo er als Korrespondent für skandinavische Zeitungen und als freier Autor arbeitete. 2011 kehrte er wieder zurück nach Malmö und veröffentlichte »Der Fünfzigjährige, der nach Indien fuhr und über den Sinn des Lebens stolperte«. Das Buch wurde in Schweden zu einem großen Erfolg, stand lange auf Platz 1 der Bestsellerliste und wurde in zehn Sprachen übersetzt.
Mikael Bergstrand
DER 50-JÄHRIGE, DER DEN HINTERN NICHT HOCHBEKAM,
BIS IHM EIN TIGER AUF DIE SPRÜNGE HALF
Roman
Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein
Die schwedische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel Dimma över Darjeeling bei Norstedts, Stockholm.
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2. Auflage
Copyright © Mikael Bergstrand 2013
Norstedts, Stockholm
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by btb Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Umschlagmotiv: © Minden Pictures/Masterfile
Umschlagmotiv: © Shutterstock/Carlos Amarillo
Schrift: © The Fell Types are digitally reproduced by Igino Marini.
www.iginomarini.com
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-18709-5V002
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In Gedenken an Yogendra »Yogi« Chauhan, für immer in meinem Herzen
KAPITEL 1
Stellen Sie sich vor, Sie wären ein kleiner Bergsee. Und Ihre Gedanken sind Wolken, die am Himmel vorüberziehen und sich in Ihnen spiegeln. Erlauben Sie ihnen, einfach weiterzuschweben, ohne dass sie bleibende Spuren hinterlassen.«
Ich mochte ihre Stimme wirklich. Sie war so ruhig und besänftigend mit ihrer leicht nasalen Intonation.
»Anschließend halten Sie inne und nehmen die Menschen in Ihrer Umgebung wahr, ohne Sie zu bewerten oder zu verurteilen.«
Hatte sie sich das antrainiert, oder sprach sie von Natur aus so?
»Lauschen Sie den Geräuschen, inhalieren Sie die Düfte.«
Die Geräusche und die Düfte, ja. Oh, wie ich mich nach den Geräuschen und Düften sehnte! Dem suggestiven Gesang und der Musik, den Räucherstäbchen und Essensdünsten. Es gab Momente, in denen ich sogar die ohrenbetäubenden Hupkonzerte vermisste und dieses ziemlich eigenwillige Odeur von Abwasser und faulen Eiern.
»Es geht um Präsenz, Göran. Wenn Sie in der Situation voll und ganz da sind, können die Gedanken und Grübeleien und verwirrenden Tagträume keinen Raum gewinnen. Wenn Sie diese Fähigkeit trainieren, werden Sie auch merken, wie sich Ihre Beziehungen zu anderen Menschen vertiefen. Dabei geht es überhaupt nicht darum, sich zu kontrollieren, sondern im Gegenteil … Göran?«
»Äh.«
»Hören Sie mir überhaupt zu?«
»Ja, äh …«
»Wo befinden Sie sich gerade?«
»Äh … hier.«
»Ja, aber in Gedanken?«
»Äh …«
Wenn man oft genug »äh« gesagt hat, wird daraus ein Wort mit Inhalt. In genau dieser Situation – als geistig abwesend bei einer Sitzung in Mindfulness mit meiner traurig lächelnden KVT-Therapeutin – begriff ich, dass »äh« eine ausgezeichnete Zusammenfassung meines momentanen Charakterzustands war: kühl und unvollkommen. Wie ein tiefgefrorenes Halbfertigprodukt.
»Sie sind wieder in Indien, oder?«
Sie sah mich mit ihren glänzenden Augen an, und ich dachte, dass wir vielleicht sogar eines Abends zusammen einen Happen Essen gehen könnten, wäre sie nicht meine Therapeutin. Wir waren beide über fünfzig und hatten eine Patina angesetzt, die keinesfalls unkleidsam war. Sie hatte sehr schönes braunes Haar mit grauen Strähnen und ein auf ansprechende Weise rundes, sanft gereiftes Gesicht. Ich hatte sehr schöne grüne Augen und eine edle Stirn, die meine zunehmenden Geheimratsecken kompensierte. Ihr wässriger Blick und ihre Tränensäcke, die sich wie kleine Mandarinenspalten unter den Augen wölbten, rührten vermutlich von irgendeiner Allergie her, sie war oft ein wenig verschnupft und kurzatmig, aber ich hatte trotzdem den Verdacht, dass dieser Zustand zu einem gewissen Maß auch ihre Seele widerspiegelte. Als Werbeträger für ihr Therapieangebot hatte sie vielleicht nicht das optimale Aussehen, mir aber flößte das Vertrauen ein. Von Perfektion habe ich mich schon immer bedroht gefühlt. Menschen mit kleineren Rissen in der Fassade vermitteln mir dagegen ein Gefühl von Geborgenheit. Vermutlich hatte auch das etwas mit Spiegelung zu tun. Was mein schlaffer Hals anderes widerspiegeln sollte als das unbarmherzige Zusammentreffen von alternder Haut und Schwerkraft, wusste ich jedoch auch nicht. Er sorgte jedenfalls dafür, dass ich aus einem bestimmten Winkel wie ein Truthahn aussah, und ich dankte meinem glücklichen Geschmack dafür, dass ich schon lange, bevor mein Hals allmählich die Spannkraft verlor, eine Vorliebe für schwarze Rollkragenpullover entwickelt hatte. Schließlich wäre es peinlich aufgefallen, wenn ich von einem Tag auf den anderen begonnen hätte, in diese Tarnkleidung zu schlüpfen.
Zum allgemeinen Verfall ließ sich ergänzen, dass die überflüssigen Kilos, die ich während meines Jahres in Indien mehr als halbiert hatte, nun wieder auf meinen Hüften saßen und mich gewichtig daran erinnerten, dass Muskeln und Kondition eben Frischware waren. Mein Kumpel Erik versuchte, mich damit zu trösten, dass solche love handles doch sexy seien. Sieht man einmal von der Verlogenheit einer solchen Behauptung ab, hat sie einen weiteren Haken: love handles setzen voraus, dass es liebevolle Hände gibt, die sich daran festhalten können.
»Sind Sie in Indien?«, wiederholte Frau Vallberg Torstensson.
So hieß sie, meine Therapeutin. Karin Vallberg Torstensson. Ich brauchte drei Sitzungen, bis mir auffiel, dass ihre Initialen die Buchstabenkombination KVT bildeten. Kognitive Verhaltenst herapie. Sie schien also wirklich mit ihrem Beruf verheiratet zu sein. Erst in diesem Moment ging mir auf, dass ihr Doppelname stark darauf hindeutete, dass Karin auch im echten Leben verheiratet war. Mit anderen Worten spielte es überhaupt keine Rolle, ob sie meine Therapeutin war – wir hätten auch sonst nicht miteinander ausgehen können. Nach meinem Aufenthalt in Indien hatte ich die Nase voll von verheirateten Frauen.
»Jetzt versuchen Sie doch bitte einmal, sich zu konzentrieren. Sind Sie in Indien?«
Ich wand mich verlegen auf meinem Stuhl.
»Nicht genau jetzt, in dieser Sekunde. Aber ich muss zugeben, dass ich noch vor einem Weilchen dort war. Eigentlich hätte ich vorgestern wieder dorthin fliegen sollen. Jetzt weiß ich nicht, ob aus der Reise überhaupt etwas wird, und deshalb bin ich …«
»Traurig?«
»Vielleicht eher resigniert.«
»Was glauben Sie in Indien zu finden?«
Die Frage wurde von einem kaum vernehmbaren Hauchen, oder besser einem verstärkten Ausatmen, begleitet. Es konnte auch ihr Asthma sein, aber mir schien, als würde Katrin Vallberg Torstensson zum ersten Mal im Laufe unserer Bekanntschaft selbst ein bisschen resigniert klingen. Vielleicht war es aber auch nur ein therapeutischer Kniff. So oder so sprang ich darauf an.
»Sie sind noch nie da gewesen, also können Sie auch nicht wissen, was dieses Land mit einem Menschen machen kann!«
Ich wiederum klang wie ein Sektenmitglied, das man entführt, einer Gehirnwäsche unterzogen und in die Zivilisation zurückversetzt hatte.
Karin schnäuzte sich methodisch in ihr Taschentuch. Dies war nur einer von vielen Vorgängen im Therapieverlauf, der meiner Vorstellung davon widersprach, wie ein Therapieverlauf vonstattengehen sollte. Ich hatte eigentlich immer angenommen, dass es eher die Patienten waren, die sich in ihre Taschentücher schnäuzten.
Als wollte sie diesem Widerspruch zusätzlich Nachdruck verleihen, setzte sie wieder ihre leicht betrübte Miene auf.
»Nein, ich war noch nie in Indien. Und in diesem Moment sind Sie es auch nicht, auch wenn Sie in Gedanken immer wieder dorthin abgleiten. Sie sind hier, in Malmö. In Schweden. Wo Sie Ihr Leben leben. Wo Ihre Arbeit, Ihre Familie und Freunde sind. Es mag durchaus sein, dass Sie wieder nach Indien reisen werden, aber vielleicht wird es nicht mehr ganz dasselbe sein wie beim letzten Mal. Und wenn Sie Ihr Dasein mit Inhalt und Sinn füllen wollen, wäre es meiner Meinung nach klug, wenn Sie hier und jetzt damit anfingen. Sehen Sie sich nur einmal um, es gibt so vieles, das es wert wäre, geschätzt zu werden. Aber das setzt voraus, dass Sie innehalten und es betrachten. Dass Sie es nicht wegstoßen, sondern willkommen heißen. Dass Sie sich öffnen. Betrachten Sie sich im Spiegel, und sagen Sie laut zu sich selbst: Hey, ich bin Göran Borg, und ich lebe im Hier und Jetzt!«
Immer diese Spiegel, dachte ich. Karin Vallberg Torstensson hatte vermutlich recht, aber das machte die Sache trotzdem nicht leichter. Vor mehr als neun Monaten war ich nach meinem alles verändernden Jahr in Indien wieder nach Schweden zurückgekehrt. Zwar hatte ich damals eine ganze Menge Liebeskummer im Gepäck gehabt, denn die überaus hübsche, aber zugleich überaus verheiratete Schönheitssalonbesitzerin Preeti Malhotra war für mich auf ewig verloren gewesen. Trotzdem hatte mich der Indienaufenthalt mit einer seltsamen Kraft erfüllt und mit etwas, das ich damals als eine vollkommen neue Lebenseinsicht aufgefasst hatte. Die Freundschaft mit dem findigen Textilexporteur Yogendra Singh Thakur alias Yogi hatte mich fundamental verändert. Davon war ich unumstößlich überzeugt gewesen, als ich an jenem nasskalten Dezembertag nach Malmö zurückkehrte. Ich sah mich selbst und andere mit neuen Augen, die nicht mehr von jenem bitteren Selbstmitleid verblendet waren, welches mich so lange geprägt hatte. Ich hatte einen neuen, motivierenden Job in einer Werbeagentur und fühlte mich in Topform.
Und jetzt war ich doch wieder bei den alten, destruktiven Grübeleien angelangt. Wie hatte das passieren können?
»Es ist nicht ungewöhnlich, dass man in ein Loch fällt, wenn man nach einer großen Veränderung wieder im Alltag ankommt«, hatte Karin Vallberg Torstensson bei unserer ersten Sitzung gesagt, in der sie ein beträchtliches Maß an Zeit darauf verwendet hatte, mir die Antriebskräfte des Gehirns zu erklären. Sie hatte das Gehirn mit einem Lehmacker verglichen, der kreuz und quer von Traktorspuren zerpflügt war. Ein Teil davon war taufrisch und würde bald von Wind und Wetter verwischt werden. Andere hatten sich tief in den Schlamm gegraben und rutschige Wege gebildet. Mit den schweren Traktorreifen konnte man leicht in diese Spuren geraten und sich nur schwer wieder daraus befreien. Wenn sie in die richtige Richtung führten, war das ja kein Problem, dann konnte man einfach weiterfahren. Häufig endeten sie jedoch in Sackgassen oder erwiesen sich als Ringstraßen, die einen immer wieder an denselben, trostlosen Ausgangspunkt zurückführten. Im schlimmsten Fall, wenn der Regen auf einen herabpeitschte und den Acker in einen matschigen Brei verwandelte, konnten die Räder ganz steckenbleiben und sich so tief in den Dreck bohren, dass man nie wieder herauskam.
»Stellen Sie sich vor, diese Spuren wären Denkwege. Dann verstehen Sie bestimmt, was ich meine«, hatte sie gesagt.
»Aha!«, entfuhr es mir, weil ich tatsächlich ein Aha-Erlebnis hatte. Zum ersten Mal in meinem Leben verstand ich voll und ganz, was es eigentlich bedeutete, in eingefahrenen Bahnen zu denken. Vermutlich sagte das mehr über meine mangelnde Abstraktionsfähigkeit aus als über Karin Vallberg Torstenssons pädagogisches Geschick, aber damals trafen wir uns in einem Moment schönsten Einvernehmens und legten einen tollen gemeinsamen Start hin. Jetzt allerdings, nach sechs Treffen, hatte ich ehrlich gesagt eher das Gefühl, wir würden die meiste Zeit auf ausgetretenen Pfaden wandeln.
KAPITEL 2
Diese KVT-Therapie war nicht von Anfang an meine Idee gewesen. Meine einundzwanzigjährige Tochter Linda war eines Tages bei ihrem monatlichen Besuch in meiner Junggesellenbude der Meinung gewesen, ich solle endlich »mein Leben in die Hand nehmen«. Wie üblich hatten wir zusammengesessen und Ben & Jerry’s gegessen, unser gemeinsames Laster. Diesmal war es eine Sorte mit Schokoladenfischen, eine für mich neue Bekanntschaft in dieser niemals abebbenden Flut von ebenso süßen wie suchterzeugenden Kalorienbomben. Ich hatte gerade darüber gemeckert, dass ich nachts nicht ordentlich schlafen könne und anschließend eine Tirade über die mangelnde Solidarität in der heutigen Strebergesellschaft losgelassen, weil meine jüngeren Kollegen Jenny und Alexander in der Werbeagentur Östros & Vänner ständig Projekte an sich rissen, an denen ich eigentlich auch einmal beteiligt gewesen war. Beispielsweise eine Kampagne zur Mülltrennung, die ihnen eine Nominierung in der Rubrik »Beste Zeitungsannonce« beim Kommunikationspreis Guldägget eingebracht hatte. Es geschah ihnen nur recht, dass es bei der Nominierung geblieben war, sonst hätten diese Betrüger auch noch meine Lorbeeren eingeheimst!
»Verdammt noch mal, Papa! Solidarisch ist man mit den Schwachen, nicht mit schadenfrohen und neidzerfressenen Männern mittleren Alters. Ich dachte, Indien hätte dich verändert. Aber du bist ja noch genau derselbe alte Sauertopf, der auf alle schimpft, die noch nicht so verbittert sind wie du.«
Ich war Lindas Vorstöße schon gewohnt. Sie war wohl der einzige Mensch, der mir gegenüber brutal ehrlich sein konnte, ohne dass ich es ihm übel nahm. Ich lächelte ironisch und tat ihren Vorschlag, eine Therapie anzufangen, sofort ab. Aber sie ließ nicht locker.
»Komm schon, Papa. Wenigstens ein Versuch? Alle machen das heutzutage«, versicherte sie.
»Max auch?«, fragte ich erwartungsvoll.
Max war der neue Mann meiner Exfrau Mia. Oder was heißt neu. Inzwischen waren sie schon fast zehn Jahre zusammen, was zufällig genau der Zeitspanne entsprach, die vergangen war, seit Mia mich von heute auf morgen verlassen hatte. Und obwohl ich irgendwann über Mia hinweggekommen war, war ich noch lange nicht über Max hinweg. Meinen Rivalen mit der Teflonhaut, an dem nichts anderes haften blieb als Geld, Geld und noch mehr Geld. Schmutziges Geld. Dieser Unternehmensberater, der es sich gut bezahlen ließ, andere Leute arbeitslos zu machen. Dieser Handelsreisende des menschlichen Unglücks, der seinen Opfern gegenüber mitleidsvoll den Kopf schieflegen konnte, um schon in der nächsten Sekunde gegenüber dem Auftraggeber sein widerwärtiges Haifischlächeln aufblitzen zu lassen. Er war einer dieser Typen, dem in der Öffentlichkeit niemals versehentlich ein Furz entfleuchen würde, ein selbstzufriedener Lackaffe, der in seinem neuen Leasing-Audi von der Arbeit nach Hause raste.
Linda sah mich an, als wäre ich nicht ganz bei Trost.
»Max? Nein, Max doch nicht«, kicherte sie. »Aber Mama.«
»Mia geht zu einem Therapeuten?«
»Du klingst geradezu erfreut darüber.«
»Nein, nur erstaunt.«
»Da ist gar nichts dabei, Papa. In unserer Zeit besteht doch die halbe Bevölkerung aus menschlichen Wracks. Psychische Probleme zu haben, ist ganz normal. Und wenn man sie nicht hat, ist man erst recht krank im Kopf. Oder religiös oder irgendeine Art Supermensch. Entweder frisst man Pillen oder geht zur KVT-Therapie, das ist ganz normal.«
»Machst du auch eine Therapie?«
»Nein.«
»Und frisst auch keine Pillen?«
»Ich bin nicht normal und habe auch nicht vor, es zu werden.«
»Nimmt Max Medikamente?«
»Jetzt hör aber auf! Nein, Max doch nicht, er nimmt selbstverständlich keine Medikamente«, kicherte sie erneut, ehe sie mir auf ihrem iPhone die Anzeige einer privaten Praxis auf der Stora Nygatan zeigte, wo die KVT-Therapie verhältnismäßig günstig war.
Max war nicht krank im Kopf und meines Wissens auch nicht religiös. Also war er ein Supermensch, jedenfalls in Lindas Augen, und das schmerzte mich mehr, als ich zugeben wollte.
Ich zog die andere Alternative in Erwägung. Pillen fressen, das klang um einiges einfacher. Dann aber las ich auf der Informationsseite der schwedischen Gesundheitsbehörde etwas über die häufigsten Nebenwirkungen von Antidepressiva, woraufhin erst mein innerer Hypochonder geweckt wurde und dann der ebenfalls in mir schlummernde Gockel. »Erektionsstörungen.« Genauso gut hätte dort in Flammenschrift I-M-P-O-T-E-N-Z stehen können. Seit meinem Indienaufenthalt war ich sexuell nicht mehr aktiv gewesen, aber die Morgenlatte weckte mich nach wie vor jeden Tag, und auch wenn ich keinerlei zwischenmenschliche Verwendung dafür hatte, erinnerte mein Ständer mich doch daran, dass ich noch immer ein tauglicher Mann war.
Aus diesem Grund saß ich also an jenem Freitagnachmittag Anfang September bei Karin Vallberg Torstensson und versuchte, einen Sinn in diesem farblosen, öden und sexfreien Leben in Schweden zu finden.
»Ich kann Indien sozusagen nicht mehr aus meinem System löschen«, sagte ich zum ungefähr fünfunddreißigsten Mal im Laufe meiner bisherigen Behandlung, und jetzt seufzte sie unüberhörbar. Das war sicher völlig unprofessionell, aber ich konnte sie verstehen. Wenn ich KVT-Therapeut wäre, hätte ich mich auch nicht in Behandlung haben wollen.
»Normalerweise bin ich nicht so direkt, aber ich muss Sie trotzdem fragen«, sagte sie und zögerte kurz. »Warum sind Sie eigentlich überhaupt zu mir gekommen?«
»Wie meinen Sie das?«
»Haben Sie überhaupt ein Interesse daran weiterzukommen?«
»Sie meinen, mich aus der Traktorspur zu befreien?«
»Ganz genau.«
»Warum glauben Sie, dass es nicht so wäre?«
»Weil Sie es nicht einmal versuchen.«
»Aber ich möchte es wirklich.«
»Sicher?«
»Ja!«
Karin Vallberg Torstensson holte tief Luft und strich sich eine ihrer hübsch ergrauten Haarsträhnen hinters Ohr. In der Ferne ertönte ein Martinshorn. Ich sog den Duft ihres Parfüms ein, das eine schwache Zitrusnote hatte, und ließ meinen Blick in dem kleinem Raum umherschweifen, bis zu dem Schreibtisch, auf dem neben dem Computer auch ein geordneter Papierstapel und eine eingerahmte Fotografie von Frau Torstensson zusammen mit einem bebrillten Mann in meinem Alter zu finden waren. Sie lachten, umarmten einander und sahen in die Kamera. Dieser Mann war mit größter Wahrscheinlichkeit Herr Torstensson. Obwohl ich insgesamt mehr als sieben Stunden in diesem Zimmer verbracht hatte, bemerkte ich das Foto heute zum ersten Mal. Das bedeutete entweder, dass es erst seit Kurzem dort stand oder dass die Therapie erste Erfolge feierte. Denn so war es ja: Ich hatte innegehalten, den Duft inhaliert, den Geräuschen gelauscht, mich umgesehen, meine Umgebung wahrgenommen. Bedeutete das, dass ich auch präsent war?
»Okay. Wollen wir einen letzten Versuch unternehmen, Indien aus Ihrem System zu löschen?«
»Äääh …«
»WOLLEN WIR EINEN LETZTEN VERSUCH UNTERNEHMEN, INDIEN AUS IHREM SYSTEM ZU LÖSCHEN?«
Ich nickte.
»Dieser Yogi, von dem Sie immer sprechen. Warum würde er Ihr Problem denn Ihrer Meinung nach lösen können?«
»Weil er es beim letzten Mal auch getan hat.«
»Und er wird also heiraten, und Sie sind als Ehrengast zu seiner Hochzeit in Südindien eingeladen, die aus irgendeinem Grund verschoben wurde.«
»Wegen der Sterne«, erwiderte ich.
»Der Sterne?«
»Ja, die Hochzeit war zunächst für den 8. September geplant, aber weil man die Horoskope von Yogi und seiner künftigen Frau falsch berechnet hat, müssen sie erst geändert werden, bevor man ein neues Hochzeitsdatum festlegen kann. In Indien ist es wichtig, dass die Trauungszeremonie genau an dem Tag stattfindet, an dem die Sterne die richtige Himmelsposition haben.«
»Aha. Haben Sie denn Informationen darüber, wann das ungefähr der Fall sein wird?«
»Das wird sich wohl noch mindestens ein paar Monate hinziehen. Und dann werde ich mir wahrscheinlich nicht freinehmen können.«
»Und deshalb sind Sie niedergeschlagen?«
»Ja.«
»Haben Sie schon einmal daran gedacht, dass Yogi durch seine Hochzeit ziemlich beschäftigt sein wird? Und vielleicht nicht alle Zeit der Welt für Sie haben wird, wenn Sie in Indien sind?«
»Er ist nicht wie andere Menschen. Er ist wie Hanuman, nur als Mensch.«
»Hanuman?«
»Der Affengott, der Gott der Freundschaft und Loyalität.«
Karin Vallberg Torstensson wirkte ratlos. Rein therapeutisch gesehen waren wir wohl Lichtjahre von jener KVT-Therapie entfernt, für die sie Expertin war. Aber gleichzeitig war sie eine kluge Frau und sah offenbar ein, dass ich diese Rettungsleine zu diesem Zeitpunkt brauchte.
»Ich verstehe. Wollen wir nicht Folgendes sagen, Göran – dass wir ganz einfach den Lauf der Sterne am Firmament abwarten und das Hochzeitsdatum, zu dem sie uns führen. Es ist durchaus möglich, dass Sie sich dann auf Ihre Reise begeben werden. Aber bis dahin können Sie mit Ihrer Liste arbeiten. Hier und jetzt. Haben Sie sie dabei?«
Ich nickte erneut, zog das zusammengefaltete A4-Blatt aus der Innentasche meines braunen Cordsamt-Jacketts und öffnete es. Es war eine erbärmliche Liste. Vielleicht nicht in erster Linie wegen dem, was darauf stand, sondern eher wegen dem, was fehlte. Ich hatte die Aufgabe bekommen, zehn für mich wichtige Punkte und Ziele im Leben aufzuschreiben und sie danach zu ordnen, wie schwierig sie zu erreichen waren. Mir waren allerdings nur fünf eingefallen:
Liebe – eine Frau kennenzulernen, die man liebt und von der man geliebt wird. Oder wenigstens mit einer Frau auszugehen. Oder zumindest den Versuch zu unternehmen, mit einer Frau auszugehen.Arbeit – die Lust und die Konzentration wiederzufinden, die ich anfangs hatte.Familie – meine Kinder und meine Mutter regelmäßiger zu sehen.Freunde – mehr Zeit mit anderen Menschen zu verbringen und mich nicht weiter zu isolieren. Den Leuten in die Augen zu schauen, wenn ich mit ihnen rede. Sport – mich mehr zu bewegen, damit ich abends müde bin und ordentlich schlafen kann.Karin Vallberg Torstensson hatte mir erklärt, dass meine Liste nicht wie ein Wunschzettel aussehen sollte, sondern eher wie ein Handlungsplan, der meinen Arbeitseinsatz erforderte. Und dass mir die Anstrengungen, die ich unternommen hätte, Freude und Nutzen bringen sollten, auch wenn ich meine Ziele nicht erreichte. Dass ich mit dem Augenblick wachsen und ihn bewahren sollte. Ungefähr so, wie es Tommy Svenssons geflügeltes Wort von der Fußball-WM 1994 ausdrückte: dass allein der Weg die Mühe wert gewesen sei. Ich weiß natürlich, dass er Karin Boye zitiert hat, aber seit jenem Tagbringe ich diesen bekannten Ausspruch unweigerlich mit ihm in Verbindung.
»Und, wie ist es Ihrer Meinung nach bisher gelaufen?«, fragte sie.
»Tja.«
»Sie wollten ja unten anfangen, mit dem Sport.«
»Ja, das habe ich in Angriff genommen. Ich lebe jetzt etwas gesünder.«
Es war eine Wahrheit mit vielen Abstufungen. Tatsächlich hatte ich einen ernsthaften Versuch unternommen, Sport zu treiben, allerdings hatte dieser, wenn ich ehrlich sein soll, in einer Katastrophe geendet. Mein Kumpel Erik Pettersson hatte mich zu einer Spinningstunde im Fitnessstudio am Parkmöllan mitgenommen. Es war anstrengend gewesen, und das war noch untertrieben. Zu den Klängen von Britney Spears und den frisch-fröhlichen Zurufen des Spinninglehrers strampelte ich auf mein zweites Nahtoderlebnis zu, nicht unähnlich jenem, das ich schon einmal auf einem Laufband in Neu-Delhi durchlitten hatte. Diesmal überschritt ich nicht meine Grenze, hörte keine Stimmen, hatte keine Halluzinationen und fing auch nicht an zu schwimmen, doch als ich alles überstanden hatte, war ich so zittrig, und meine Beine schmerzten so sehr, dass ich keine Lust mehr hatte, auf einen Abstecher in meiner Stammkneipe Bullen vorbeizuschauen und mit meinen Freunden aus dem Herrenclub noch ein Bier zu trinken (womit ich dann schnell auch noch den vierten Punkt auf meiner Liste hätte abhaken können). Zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, das war schon immer ganz nach meinem Geschmack gewesen.
Stattdessen musste ich ein Taxi nach Hause nehmen und blieb dort der Länge nach ausgestreckt auf dem Bett liegen, bis ich mit einem unbändigen Hunger aufwachte, der mich dazu trieb, sieben Toastscheiben mit Dosenananasringen und Cheddar zu belegen, im Ofen zu überbacken, sie zu verschlingen und mit zwei Bieren hinunterzuspülen. Anschließend war mein Magen so unruhig, dass ich die ganze Nacht kein Auge zutun konnte. Es war ein geradezu unschlagbares Beispiel für Kontraproduktivität: Zuerst hatte ich Energie verbraucht, daraufhin aber die fünffache Menge an Kalorien mit einem Schlag wieder aufgenommen, was letztlich meinen nächtlichen Schlaf verhinderte, der das eigentliche Ziel meines Projekts gewesen war.
»Aber es ist ja gut, dass Sie damit angefangen haben. Spinning, sagen Sie. Das ist ein sehr anstrengender Sport. Hatten Sie das Gefühl, dass Sie danach besser schlafen konnten?«
»Ja«, antwortete ich, und es war wohl auch typisch für mich, dass ich meine Therapeutin anlog. »Ich will damit weitermachen und das richtige Maß für mich finden. Mich allmählich steigern.«
»Das ist hervorragend. Sport wirkt sich sehr positiv auf das Wohlbefinden aus. Dann können Sie sich vielleicht auch langsam an den nächsten Vorsatz heranwagen, Ihre Freundschaften zu pflegen?«
»Auf jeden Fall. Ich habe ein paar alte Freunde, mit denen ich mich hin und wieder treffe, unser sogenannter Herrenclub. Das fällt mir wirklich schwer. Schon beim Gedanken daran, sie zu sehen, werde ich fast panisch. Aber ich bin fest entschlossen. Wenn ich es noch weiter hinausschiebe, wird es ja nicht einfacher.«
»So muss das klingen. Die Konfrontation suchen! Das ist der einzige Weg, die Angst loszuwerden. Dann ist das Ihre Aufgabe bis zu unserer nächsten Sitzung. Mit Ihren Freunden ein Bier trinken zu gehen.«
Die überwältigende Mehrheit der Männer in meinem Alter hätte über so eine Hausaufgabe gejubelt, aber mich bedrückte der Gedanke, um ehrlich zu sein. Ich hatte meine Freunde schon so lange nicht mehr gesehen und fürchtete nichts mehr, als vor ihnen das Gesicht zu verlieren. Meine Verletzbarkeit zu zeigen.
»Registrieren Sie, wie sich das anfühlt«, fuhr Karin fort. »Wann es Ihnen unangenehm wird und wie lange es dauert, bis dieses Gefühl wieder abflaut. Denn das wird nur der Fall sein, wenn Sie die Situation durchstehen, anstatt zu fliehen. Seien Sie präsent! Nehmen Sie alles um sich herum so neutral wie möglich wahr. Stufen Sie Ihr Unbehagen in unterschiedlichen Situationen auf einer Skala von 1 bis 100 ein.«
Karin Vallberg Torstensson hatte einen warmen Händedruck und einen wogenden Busen, an dem ich mich gern einmal ausgeweint hätte, vor einem knisternden Kaminfeuer, an einem kühlen Herbstabend, der sich in meiner Fantasie schnell zu einer feurigen Liebesnacht auf einem flauschigen Fell entwickelte. Ich war mir durchaus bewusst, dass ich mit dieser Unterleibsreflexion keineswegs feministische Pluspunkte einheimsen konnte, aber es ist nun einmal so, dass nicht wenige alte Knacker mit ihrem immer noch tauglichen Unterleib Altherrengedanken haben. Das ist sozusagen im Preis inbegriffen.
KAPITEL 3
Eigentlich hat es mir immer gefallen, wie der September in den Herbst übergeht und dieser heuchlerische Sommer, der den Erwartungen doch nie gerecht wird, endlich einer ehrlicheren Jahreszeit weichen muss. Aber diesmal empfand ich nur Wehmut. Als mich die Leere im Frühjahr langsam, aber sicher umhüllte wie ein tückischer Nebel und von Schlaflosigkeit und existentiellen Grübeleien begleitet wurde, blieben mir immer noch die Reise nach Indien und Yogis Hochzeit als psychologischer Rettungsanker in einer nicht allzu fernen Zukunft. Als mein indischer Freund dann vor zwei Monaten anrief und mir auf seine typische, verschnörkelte Weise mitteilte, dass die Vermählung aufgrund »horoskopieller Umstände«, wie er es ausdrückte, verschoben werde und auch ich meinen Urlaub daher um einige Monate nach hinten verlegen müsse, war mir, als würde ich in ein tiefes, schwarzes Loch fallen.
»Aber mein lieber Mr Gora. Nun beweise doch noch ein wenig Geduld! Uns fehlen nur noch klitzekleine Justierungen im Angesicht der sternenbeschienenen Kraft göttlicher Weisheit. Außerdem ist es doch auch viel angenehmer für dich und deine Schweißdrüsen, wenn du im Winter nach Tamil Nadu kommst! Dann wird die strenge Sonne, die die unbarmherzige Schwüle des Monsuns verbreitet, in bester Gesellschaft der westlichen Winde sein, und vielleicht werden dann sogar ein paar erlösende, kühle Winterwassertropfen vom Himmel herabregnen.«
Ich erklärte Yogi, dass ich mir im November nur sehr schwer freinehmen könne, weil vor dem Jahresabschluss immer sehr viel Arbeit anstand. Mein Urlaub war für September eingeplant, deshalb hatte ich auch im Sommer durchgearbeitet.
»Aber du musst zur Hochzeit kommen! Das ganze Dorf erwartet dich!«
»Das ganze Dorf? Ich dachte, ich komme zu dir in die Stadt?«
»Wir heiraten in der Stadt, aber meine hochverehrte Zukünftige und ihr überaus ehrwürdigster Vater wohnen in einem Dorf. Du kommst doch wohl? Sag bitte, dass du kommst, Mr Gora!«
Sein verzweifeltes Flehen brachte mich dazu, irgendetwas zu murmeln, dass sich sicher eine Lösung finden lasse, was Yogi mit seinem unbeirrbaren Optimismus natürlich als unwiderrufliches Ja interpretierte.
»Wunderbar, Mr Gora! Wir freuen uns alle ungeheuer auf deine Ankunft. Lakshmi natürlich, aber auch Amma!«
Darauf, Lakshmi Krishnamurti, die künftige Braut, kennenzulernen, hatte ich mich wirklich gefreut, während sich meine Vorfreude bezüglich Amma, Yogis cholerischer, rheumatischer und trotz der indischen Gluthitze ständig fröstelnder Mutter, der unverwechselbaren Mrs Thakur, sehr in Grenzen hielt. Aber das sagte ich meinem Freund natürlich nicht.
»Grüß deine Frau Mama sehr herzlich. Ich muss jetzt leider Schluss machen, es klingelt auf der anderen Leitung«, log ich. Anschließend hatte ich den ganzen Nachmittag über einen Kloß im Hals und starrte das leere Worddokument auf meinem Bildschirm an, ohne einen vernünftigen Satz zustande zu bringen. Ich sollte einen Text für eine Informationsbroschüre über Prostatavorsorge schreiben. Er dürfe gern ein wenig humorvoll sein, um dem Thema die Dramatik zu nehmen, hatte der Auftraggeber, das Gesundheitsamt der Region Schonen, gesagt. Ich weiß, viele können sich darüber amüsieren, aber ich persönlich habe noch nie verstanden, was komisch daran sein soll, wenn ein Arzt seinen behandschuhten Finger in den Hintern eines schreckerfüllten Mannes mittleren Alters steckt. Diesen Auftrag hatte ich von Anfang an als äußerst unangenehm, ja sogar furchteinflößend empfunden. Und nach dem Telefonat mit Yogi erschien er mir schier unmöglich zu bewältigen.
Dass eine innere Leere so wehtun konnte, war eine neue und schmerzliche Erfahrung für mich. Früher hatte ich mein Gefühl der Unlust und der Benachteiligung immer an äußeren Gegebenheiten festgemacht: an Mias Verrat, meinem langweiligen Job, dem schlechten Gehalt, der abwesenden Mutter, den intriganten Kollegen und dummen Chefs, dem schmerzenden Rücken. Einen Teil dieser Umstände gab es in meinem Leben noch immer, aber mehr als alles andere quälte mich diese eisige Leere. Wie oft hatte ich verächtlich über all diese Suchenden und religiösen Philosophen geschnaubt, die den Sinn des Lebens finden wollten? Wenn es nun einmal keinen Sinn gab, wie sollte man ihn dann vermissen? War der Zug für mich abgefahren? Hatte ich die Chance auf ein Leben mit einer tieferen Bedeutung vertan und war deshalb bis in alle Ewigkeit in den trostlosen Limbus der Grübler verdammt?
Über so etwas sinnierte ich in meinen einsamen Stunden, die immer häufiger wurden. Karin Vallberg Torstensson hatte wirklich recht. Auch wenn es mich Überwindung kostete, meine Isolation zu durchbrechen: Ich musste den Kontakt zu meinen Freunden suchen.
Als zusätzlichen Anstoß bekam ich am darauffolgenden Sonntag einen Anruf. Es war Bror Landin, das eindeutig mürrischste Mitglied unserer Herrenrunde, der vorschlug, am Montag ein gemeinsames Mittagessen einzunehmen.
»Wir haben uns ja schon lange nicht mehr gesehen. Wir könnten ins Restaurant Sture gehen. Deren Kalbsfrikadellen sind beinahe genießbar«, sagte er.
Was bedeutete, dass die Kalbsfrikadellen im Sture hervorragend waren, so viel hatte ich nach mehreren Jahren Erfahrung im Entschlüsseln der brorlandinischen Sprache begriffen. Er war nie zufrieden, was ihn in Anbetracht meines Zustands zu einem passenden Sprungbrett in die soziale Gemeinschaft machte. Bei der KVT-Behandlung fängt man schließlich immer mit dem niedrigsten Schwierigkeitsgrad an, um sich auf der Liste der Herausforderungen nach oben zu arbeiten.
Für psychologisch anspruchsvolle Konfrontationen war ich noch nicht bereit, und die würden mir mit dem guten Bror garantiert erspart bleiben. Und trotzdem provozierte mich sein negatives Auftreten nicht, weil es bei ihm ja der Normalzustand war. Ich hatte noch nie erlebt, dass er sich ausnahmslos positiv über jemanden oder etwas äußerte. Mindestens einen Einwand hatte er immer, und das schenkte mir eine gewisse Geborgenheit. Im Vergleich zu ihm kam ich mir fast lebensbejahend vor.
Neben seiner unerschütterlichen kritischen Einstellung, aus der er in seiner Eigenschaft als freiberuflicher Film- und Theaterkritiker großen Nutzen zog, hatte er sich auch auf das Erzählen von Witzen spezialisiert. Das mochte wie eine widersprüchliche Kombination klingen, aber Bror Landins Humor war so hundsgemein, dass er in Wirklichkeit perfekt zu seiner freudlosen Erscheinung passte.
»Wie siehst du überhaupt aus?«
Mit diesen Worten begrüßte er mich. Das Restaurant auf der Östergatan mit der Holzvertäfelung, der sanften Beleuchtung und dem ordentlich gekleideten Personal war gut besucht, Stimmengewirr mischte sich mit Geschirrgeklapper. Als Teil meines KVT-Trainings war ich von meinem Büro aus dort hingeradelt und deshalb offenbar ein wenig zerzaust.
»Jetzt stürmt es nicht nur, sondern hat zu allem Überfluss auch noch zu regnen angefangen«, sagte ich entschuldigend und wischte mir mit der nassen Hand über das nasse Gesicht. Von meiner Nasenspitze tropfte mit Regenwasser verdünnter Schnodder.
»Ja, du hättest wohl besser ein Taxi genommen«, sagte Landin mit verzogenem Gesicht und reichte mir eine Serviette. »Aber eigentlich meinte ich eher deine Frisur. Seit wann trägst du wieder einen Pferdeschwanz?«
Der Pferdeschwanz, mein persönlicher Schnuffeltuchersatz von der späten Jugend bis in die frühen Vierziger, war wieder da. Und das nach fast einem Jahrzehnt, in dem ich die kulturszenentauglichere Haar-hinters-Ohr-Frisur getragen hatte, zu der mich Mia damals überredet hatte. Dass ich jetzt wieder einen kleinen Zopf im Nacken trug, hätte man also als Statement auffassen können. Als würde ich zu meiner inneren Stimme und eigentlichen Persönlichkeit zurückfinden oder irgendetwas in der Art. Leider war meine Erklärung bedeutend profaner: Ich hatte ganz einfach nicht die Energie gehabt, mich zu meiner Friseurin Cissi zu bequemen, damit diese meine gespaltenen Spitzen pflegte, und fand außerdem, dass sie im zusammengebundenen Zustand einen besseren Eindruck machten als im freien Fall. Cissi hatte für mich lange die Rolle einer Psychologin übernommen, obwohl ihr Heilmittel vor allem aus mehr oder weniger fundiertem Tratsch bestand. Nachdem ich nun eine richtige Therapeutin hatte, an die ich mich anlehnen konnte, hatte Cissi ihre wichtigste Funktion verloren.
»Ach, das ist nur vorübergehend. Ich werde sie bald abschneiden lassen«, sagte ich zu Bror, ehe ich mich in die Leinenserviette schnäuzte und ihm gegenüber Platz nahm.
»Bist du jetzt etwa ein Konservativer?«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Du siehst ein bisschen aus wie unser Finanzminister Anders Borg. Wenn ich es mir recht überlege, ähnelst du aber noch viel mehr Gösta Ekman in seinem neuen Film«, sagte er.
»Ich war schon lange nicht mehr im Kino, den Film habe ich nicht gesehen.«
»Sei froh! Er spielt darin einen lächerlichen alternden Mann mit Pferdeschwanz und beginnender Glatze.«
»Na vielen Dank«, erwiderte ich.
»Du nimmst mir das doch nicht übel, oder?«, fuhr Landin fort. »Ich meine, wir reden hier ja nur von ein paar Haarsträhnen über einem Schädel. Aber das Thema Pferdeschwanz und Glatze ist schon interessant. Vor nicht allzu langer Zeit habe ich einen deutschen Artikel darüber gelesen. Da wurde auf eine Studie verwiesen, die bei Männern einen geradezu unheimlichen Zusammenhang zwischen Pferdeschwänzen und Glatze nachweisen konnte. Das ist die moderne Variante der Robin-Hood-Frise.«
Diesen Witz kannte ich schon, weil er zu seinem festen Repertoire der abgegriffenen Kalauer gehörte.
»Du weißt schon, man nimmt die langen Strähnen und kämmt sie über die Glatze. Von den Reichen nehmen und es den Armen geben.«
Bror lachte nie selbst über seine miserablen Scherze, was bedeutete, dass man ebenfalls mit neutraler Miene darauf reagieren durfte, ohne dass es unangenehm wurde. Ihm war es lediglich wichtig, den Zyniker zu spielen, und er arbeitete so hart daran, dieses Image aufrechtzuerhalten, dass er mitunter wie eine Parodie seiner selbst wirkte.
»Aber ich habe doch gar keine Glatze. Nur einen hohen Haaransatz«, sagte ich.
»So kann man es auch ausdrücken.«
Bror war ein magerer, fast schon anorektisch anmutender Mann mit dem markantesten Adamsapfel von ganz Malmö. Wenn er redete und schluckte, hüpfte dieser auf und ab wie ein außerirdischer Schmarotzer, der alle Nährstoffe aus ihm gesaugt hatte und jetzt so groß war, dass er hinauswollte. Einmal hatte ich eine Bemerkung darüber fallen lassen – in einem Versuch, ihm all die Spitzen zurückzugeben, die er mir gegenüber all die Jahre hindurch gebracht hatte. Das resultierte allerdings nur in einem extrem langen und ermüdenden Vortrag über Sigourney Weavers vollkommen überschätzte schauspielerische Leistung in der vollkommen übertriebenen Alien-Tetralogie des vollkommen überbewerteten Regisseurs Ridley Scott. Diesen Fehler wollte ich also keinesfalls wiederholen.
Es mag der Eindruck entstehen, dass ich Bror Landin nicht ausstehen kann und ihn durch und durch überheblich und unsympathisch finde. Aber so war es ganz und gar nicht. Ich wusste, dass er Vorsitzender in einer Amnesty-Ortsgruppe war, regelmäßig für einen Verein zum Schutz obdachloser Frauen spendete, von seinen Enkeln innig geliebt wurde und ihnen viel Zeit widmete. Die Gemeinheiten und Sticheleien waren reine Reflexe. Ich bin mir fast sicher, dass er mich mochte. Jedenfalls war er derjenige meiner Freunde, der sich am häufigsten meldete, und wenn wir zu Mittag aßen, lud er mich stets ein.
Trotz alledem konnte ich Landin bei Weitem nicht als spirituell bereichernde Gesellschaft bezeichnen. Wenn das Essen vorüber war und er, ohne eine Miene zu verziehen, seinen letzten Kritiker-Erguss vorgelesen hatte, in dem er kein gutes Haar an einer Provinz-Revue in Gislövs läge gelassen hatte, kam ich mir in mehrerlei Hinsicht übersättigt vor. Aber ich hatte eine sehr gute Kalbsfrikadelle gegessen, meinen sozialen Test ohne Panik überstanden und fühlte mich insgesamt ein klitzekleines bisschen besser.
»Kommst du morgen ins Bullen?«, fragte er, als wir auf die Straße traten und von einer wärmenden Septembersonne begrüßt wurden, die die Regenwolken in die Flucht geschlagen hatte.
»Ich weiß nicht.«
»Ich auch nicht. Ich habe gehört, dass Rogge Gudmundsson irgendeinen neuen Kerl mitbringen will, und halte das für groben Unfug. Das zerstört doch das ganze Konzept unseres Herrenclubs als exklusive und traditionsreiche Einrichtung, wenn plötzlich jeder Dahergelaufene aufgenommen wird.«
Ich hätte nie gedacht, dass Bror Landin unseren Herrenclub als eine exklusive und traditionsreiche Einrichtung betrachtete. Aber vielleicht war auch das wieder nur einer seiner schlechten Scherze.
KAPITEL 4
Als der Dienstagabend kam, machte ich dennoch Nägel mit Köpfen und begab mich auf den Weg ins Bullen auf der Storgatan, das zu Fuß höchstens drei Minuten von meiner Wohnung am Davidshallstorg entfernt lag. Mit Ausnahme der selbstgewählten Isolation in der letzten Zeit war ich dort seit Jahren ein so häufiger Gast, dass ich zweifellos schon zum Inventar zählte. Meistens war ich nur hierhergekommen, um mir einen angenehmen Schwips anzutrinken und ein paar Stunden totzuschlagen. Doch auch einige der wichtigsten Ereignisse und Entscheidungen meines Lebens hatten ihren Anfang im Bullen genommen, wie als Erik mich überredete, ihn nach Indien zu begleiten. Jedenfalls fühlte ich mich dort heimisch.
Was gab es also Besseres, als mein soziales Training im Einklang mit dem KVT-Prinzip der schrittweisen Konfrontation in einer so vertrauten Umgebung fortzusetzen?
Allerdings ging ich nicht nur ins Bullen,um meine Genesung voranzutreiben, sondern mindestens genauso sehr, um Karin Vallberg Torstenssons Erwartungen zu erfüllen. Ich wollte sie ganz einfach nicht enttäuschen. Bestimmt brauchte sie wie alle strebsamen Berufsmenschen hin und wieder ein wenig Bestätigung; kleine, flackernde Zeichen dafür, dass die Behandlung, durch die sie mich begleitete, auch zielführend war und nicht in ihren matschigen Traktorspuren feststeckte. Das war ich ihr nach meinem schwachen Einstand als Patient wohl schuldig.
Im Bullen hatte sich nichts verändert, was ich auch nicht erwartet hatte. Das gleiche vertraute Stimmengewirr und die gleichen erwartungsvoll flirtenden Blicke am Tresen wie in den 1970er Jahren, als ich dort hinzugehen begann. Zum Teil waren es sogar dieselben Menschen, die diese Blicke wechselten. Sie waren lediglich ein paar Jahrzehnte älter geworden und hatten sich von prallen Tulpenknospen in verblühte Hyazinthen verwandelt.
Das traf besonders auf Peter Tamm zu, einen lokalen Musiker und Autor, der sich im Sturmschritt dem Rentenalter näherte, aber nach einigen Rationen seines täglichen Bourbon erlag er stets dem Irrglauben, noch immer zu Malmös bedeutsamsten und vor allem auch attraktivsten männlichen Kulturgrößen zu gehören. Da spielte es auch keine Rolle, dass fast ein halbes Jahrhundert vergangen war, seit er im Jahr 1967 mit Jimi Hendrix nach dessen Gig im Club Bongo in der Friisgatan Jack Daniel’s getrunken und dass er seit fast zwanzig Jahren keinen Verlag mehr für seine Bücher gefunden hatte.
Der Sexappeal, den er als junger und verwegener Rockstar zweifelsohne besessen hatte, reichte inzwischen höchstens noch dazu aus, eine betagte Rotweintrinkerin zu beeindrucken. Was Peter Tamm jedoch nicht daran hinderte, sein Glück auch bei den jüngeren Damen zu versuchen, die sich hin und wieder ins Bullen verirrten.
Just an diesem Dienstagabend waren es gleich mehrere, eine Gruppe kichernder Mädchen auf Junggesellinnenabschied. Die werdende Braut, standesgemäß mit Plastikdiadem bekleidet, trug das ebenso typische Schild »1 Kuss 10 Kronen« um den Hals.
»Du bist so süß, dass ich dich auch für einen Fünfer küssen würde«, hörte ich Peter Tamm lallen, während er seine weiße, nach wie vor volle Mähne schüttelte und ein nikotingelbes Lächeln in seinem geröteten Gesicht aufblitzen ließ. Selbst als Balzgehabe war dieser Gestus mehr als lächerlich.
Als die jungen Frauen dann auch in höhnisches Gelächter ausbrachen und die werdende Braut übertrieben die Lippen schürzte, wich er zurück und hob die Hände zu einer abwehrenden Geste.
»Erst das Geld.«
Mit nur einem Hauch Selbstironie wäre das tatsächlich witzig gewesen. Aber da ich ahnte, dass Peter Tamm tatsächlich glaubte, die werdende Braut, oder besser noch eine ihrer hoffentlich unverheirateten Freundinnen, bezirzen zu können, spürte ich, wie sich meine Wangen allmählich röteten. Auch das zählte zu meinen sozialen Handicaps – dass ich mich so schnell für andere schämte. Als wären die eigenen Peinlichkeiten nicht schon schlimm genug.
Ich nickte ihm kurz zu, doch er beachtete mich gar nicht. Ich dachte an Karin Vallberg Torstenssons Anweisung, mein Unbehagen auf einer Skala von 1 bis 100 einzustufen, und als der Großteil des übrigen Herrenclubs einige Minuten später gesammelt zur Tür hereinkam, war ich bei sagenhaften 95 angekommen. Erik Pettersson, der geheime Anführer unserer Runde, musste meine Lage erahnt haben, denn er zwinkerte mir kurz zu, legte seinen Arm um meine Schulter und führte mich mit den anderen im Schlepptau zu unserem Stammtisch. Ich setzte mich in die hinterste Ecke und versuchte, mich ganz klein zu machen. Mit dem spindeldürren Bror Landin zu meiner einen Seite und dem feisten Kolumnisten Richard Zetterström zur anderen stellte sich schließlich ein gewisses Gleichgewicht ein. Mein Puls sank, und ich schätzte mein Unbehagen auf zu bewältigende 50 ein.
In diesem leichten Anflug von sozialer Phobie war es Glück im Unglück, einen so extrovertierten Charakter wie Erik dabeizuhaben. Wie immer zog er nämlich die meiste Aufmerksamkeit auf sich, weshalb ich mich zurücklehnen konnte und nur hier und da etwas einwarf. Erik redete ununterbrochen von seinem letzten Einsatz als Reiseleiter auf einem Kreuzfahrtschiff in der Karibik und dem reichlichen Trinkgeld, das sein spezieller Service für eine etwas betagte, aber nach wie vor attraktive amerikanische Witwe ihm eingebracht hatte.
»Hast du dich der Prostitution hingegeben?«, fragte Bror, woraufhin Erik ihn mit einem aufgesetzt strengen Blick bedachte und rief: »Warum musst du immer so vulgär sein? Hast du noch nie etwas von Gefallen und Gegengefallen gehört? Win-win?«
Wir anderen lachten einmütig, wie immer, wenn er eines seiner Win-win-Beispiele brachte. Gäbe es im Bullen einen Altherrenwitzanzeiger, hätte er in diesem Moment garantiert voll ausgeschlagen. Mein Unbehagen auf der KVT-Skala sank dagegen auf 30, und ich war Erik insgeheim dankbar.
Dabei war mein Verhältnis zu ihm nicht immer unkompliziert gewesen. In unserer Jugend hatten wir gemeinsam in der ehrgeizigen, aber nicht ganz treffsicheren Rockband Twins gespielt – er als charismatischer Sänger und Gitarrist und ich als schlagkräftiger, aber anonymer Drummer im Hintergrund. Damals hatte er mir Mia ausgespannt. Zwar waren wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht verheiratet gewesen, aber dennoch. Als sie später wieder zu mir zurückkehrte, hatte Erik längst mit ihr Schluss gemacht.
Erik war der ewige Junggeselle, ein unverbesserlicher Frauenheld mit Talenten, die ich nicht durchschaute. Alles, was Peter Tamm inzwischen vermissen ließ, hatte Erik nicht nur bis ins Alter bewahrt, sondern sogar noch veredelt. Schon optisch war er ein unwiderstehlicher Fang mit seinem sehnigen, muskulösen Körper, seinem markanten Gesicht und seiner Haarpracht, deren helle Farbe und Fülle über die Jahre erhalten geblieben waren. Hinzu kamen seine beneidenswert unbekümmerte Lebenseinstellung, sein beinahe jugendlicher Lebenswandel als flirtender Reiseleiter und Aushilfsmusiklehrer sowie seine Fähigkeit, eine Frau mit seinen tiefblauen Augen derart festzunageln, dass sie wirklich glaubte, sie wäre so unwiderstehlich, wie dieser Blick ihr glauben machen wollte.
Erik war ein begnadeter Eroberer. Gleichzeitig war er auch eine Killermaschine, denn nahezu sämtliche seiner bisherigen Beziehungen hatten damit geendet, dass er sich irgendwann langweilte und der Frau das Herz brach. Nur während unseres gemeinsamen Indienaufenthalts war Erik ein einziges Mal selbst sitzengelassen worden. Damals hatte ihn eine hübsche, sonnengebräunte und pseudospirituelle schwedische Yoga- und Meditationstouristin Mitte dreißig für einen rundlichen Guru verlassen. Eine aufsehenerregende Niederlage, die Eriks Selbstvertrauen vorübergehend ernstlich geschwächt hatte, doch als er sich nach einigen Monaten von der ungewohnten Erfahrung des Verlassenwerdens erholt und eingesehen hatte, dass ihn eigentlich nur das deprimiert hatte und nicht die eingebildete Verliebtheit in Josefin, war er wieder in seiner alten Spur, die ihn, um in der Symbolsprache meiner geschätzten Therapeutin zu bleiben, geradewegs zum Ziel führte.
KAPITEL 5
Der Abend im Bullen ging weiter wie üblich, im Mittelpunkt standen Erik und ein stetiger, aber doch kontrollierter Rotweinkonsum. Es war ganz nett, viel mehr aber auch nicht, bis Rogge Gudmundsson, ehemaliger Kommunist, heute Börsenmakler, endlich auftauchte, gut eine halbe Stunde verspätet und in Begleitung eines groß gewachsenen Mannes mit einem gepflegten, grau gesprenkelten Bart.
»Tut mir leid, aber bei der Arbeit war wieder so viel zu tun. Das ist Sven Grip, von dem ich euch schon erzählt habe«, sagte Rogge und stellte den Neuankömmling vor.
Alle begrüßten ihn, sogar Bror, wenn auch etwas widerwillig. Sven Grip hatte einen festen Händedruck und einen offenen, neugierigen Blick. Etwas an seiner Erscheinung sprach mich sofort an. In der ersten halben Stunde war er höflich und zurückhaltend, wurde im Laufe des Abends jedoch gesprächiger, ohne sich dabei unangenehm hervorzutun. Dass er mitunter ein wenig polternd wirkte, stand ihm eher gut zu Gesicht und nahm nie überhand. Mühelos wechselte er zwischen anspruchsvollen und leichten Themen und hörte dem, was andere zu sagen hatten, interessiert zu. Sven Grip machte ganz einfach den Eindruck, ein natürlicher, sympathischer Mann ohne übertriebene Eigenarten zu sein.
Wenn er mich fragte, ob ich dem Aroma des Trappistenbiers Chimay, das er sich soeben bestellt hatte, auch so viel abgewinnen könne, klang er dabei keineswegs wie ein Biersnob, der mit seinen Kenntnissen prahlen wollte.
»Ich weiß nicht, um ehrlich zu sein, habe ich es noch nie probiert«, antwortete ich.
»Dann wird es höchste Zeit«, sagte er freundlich und reichte mir sein Glas.
Ich nahm einen Schluck und wurde von einem mächtigen Gefühl überwältigt. Wenn man Geschmackserlebnisse mit religiösen Offenbarungen vergleichen konnte, war dies ein heiliger Moment. Ich glaube, es gibt bestimmte Geschmacksrichtungen, die eigens für die Gaumen bestimmter Menschen geschaffen sind, und dass etwas ganz Spezielles entsteht, wenn sich diese beiden irgendwann begegnen. Es ist so, als wollte man ausrufen: »Wo bist du mein ganzes Leben lang gewesen?!«
Der süßliche und zugleich zartbittere Geschmack des Chimay passte perfekt zu mir. Und Sven Grip zum Donnerwetter noch mal auch! Die Chemie zwischen uns schien bis ins kleinste Molekül zu stimmen. Wir liebten die Fernsehserie Modern Family mit dergleichen Inbrunst, mit der wir Two and a HalfMen verabscheuten. Wir führten beide einen aussichtslosen Kampf gegen unsere überflüssigen Pfunde und hatten eine ungesunde Vorliebe für Hamburger mit allen Extrabeilagen. Sven Grip war genau wie ich der Meinung, dass die dänischen Jazzsängerinnen ihren schwedischen Kolleginnen überlegen waren. Und genauso wenig wie ich konnte er begreifen, warum die Gleichstellungsdebatte immer so furchtbar vorhersehbar geführt wurde, warum der Mann mittleren Alters offenbar zum Abschuss freigegeben war und warum männliche Schriftsteller auf Autorenfotos fast ausnahmslos einen Schal tragen mussten.
Wir tranken unser Chimay und diskutierten alles Mögliche, ohne uns dabei groß von unserer Umgebung ablenken zu lassen. Er war Zahnarzt mit eigener Praxis, so hatte er auch Rogge kennengelernt, der als Patient zu ihm gekommen war. Als der Abend unweigerlich auf sein Ende zuging und die meisten anderen vom Tisch aufstanden, um das Lokal zu verlassen oder zur Bar zu wechseln, blieben Sven Grip und ich sitzen. Inzwischen war unser Gespräch auf den Malmö FF gekommen, und natürlich war er genau wie ich ein großer Fan. Wir schwärmten von den alten Glanzzeiten in den Siebziger- und Achtzigerjahren. Von Bosse Larsson und Krister Kristensson, Ingemar Erlandsson und Puskas Ljungberg. Und von Roy Andersson natürlich, dem Mittelfeldspieler mit Oberschenkeln wie Betonpfeilern.
ENDE DER LESEPROBE