Der Fuß des G. R. - Mira Pullini - E-Book

Der Fuß des G. R. E-Book

Mira Pullini

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Beschreibung

Eigentlich hat niemand mehr ernsthaft damit gerechnet, den in Fahndung befindlichen Rockerchef jemals wieder einzufangen, da melden die Rocker ihren abgängigen Chef selbst als vermisst. Hauptkommissar Reinhold Kolspra beschließt eigentlich, die Vermisstenmeldung nicht ernst zu nehmen - schließlich ist es nur zu verständlich, dass der wegen schwerer Körperverletzung gesuchte Mann sich abgesetzt hat. Doch dann erhält der Hauptkommissar ein an ihn persönlich gerichtetes Päckchen mit einem angeblichen Körperteil des Vermissten. Während sich die Polizisten noch fragen, ob es wirklich sein kann, dass der übermenschlich starke Rockerchef entführt wurde, wird der Fund eines toten Mannes in dessen Wohnung gemeldet. Der gesuchte Rockerchef ist es nicht, aber vielleicht jemand mit einer Verbindung zu ihm? Reinhold nimmt nun doch mit Hochdruck die Ermittlungen auf, ebenso das einsame Haustier des Toten: Eine weiße Ratte, die sein Leben und den Schreibtisch zusätzlich auf den Kopf stellt...

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Mira Pullini

Der Fuß des G. R.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Etwa zwanzig Stunden später…

1

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Das Ende

Impressum

Prolog

„Du bist wirklich sicher, dass der das ist?“, fragte der Mann auf der Beifahrerseite des kleinen Autos, sobald aus dem vor ihnen geparkten Wagen ein stämmiger Typ mit tätowierten Oberarmen ausgestiegen war. Der neben ihm auf der Fahrerseite sitzende Mann reagierte nicht auf die Frage, sondern beobachtete nur, wie der Typ zu einem Parkscheinautomaten dackelte.

„Ich meine…“, fuhr der Mann von der Beifahrerseite fort, während er ein Foto betrachtete, welches ebendiesen Typ zeigen sollte, „hier auf dem Bild… da sehen diese Tattoos irgendwie anders aus… Schau doch mal…“

Der Mann von der Beifahrerseite fing an, mit dem Bild vor der Nase des anderes Mannes herumzuwedeln.

„Hör auf! Das ist voll auffällig!“, schnauzte ihn der Fahrer aber nur an und schlug ihm das Bild aus der Hand, anstatt es sich anzusehen. „Das Ding ist fast zehn Jahre alt, da kann der sich hundertmal drüber tätowiert haben!“

„Tätowiert haben lassen heißt das. Niemand tätowiert sich selbst…“, meinte der Beifahrer und hob das Bild wieder auf.

„Du brauchst mich überhaupt nicht zu verbessern, Kleiner!“

„Ich bin nicht mehr klein!“

„Psst jetzt!“

Der tätowierte Typ war wieder an seinem Wagen angelangt und legte gerade den Parkschein hinter die Windschutzscheibe. Gebannt beobachteten die beiden Männer in dem kleinen Auto, wie er noch eine Tasche vom Rücksitz des Wagens nahm, dann die Tür zuschlug und in Richtung der Bankfiliale am Ende der Straße losspazierte.

Der Mann auf der Fahrerseite holte tief Luft, dann öffnete er die Wagentür einen Spaltbreit.

„Was jetzt?“, fragte der Beifahrer.

„Packst du dein Sevodings… Betäubungsmittel da und dann verstecken wir uns da hinter der Mauer, bis er wiederkommt.“

„Okay…“

Der Fahrer machte sich nun eilig daran, aus dem Auto zu kommen und zu dem leerstehenden Haus zu gelangen, welches glücklicherweise direkt neben den geparkten Autos stand. Der Beifahrer beeilte sich ebenfalls, trotzdem war der Fahrer schon hinter der Mauer verschwunden, die wohl als Grundstücksgrenze diente.

„Sollten wir nicht auch einen Parkschein holen?“, fragte er, sobald er wieder mit dem Fahrer zusammentraf.

„Quatsch! Wir haben doch das Auto im Blick. Wenn jetzt 'ne Politesse kommt, müssen wir die Aktion eh abbrechen!“

„Wenn du meinst… Ich dachte nur, wenn wir bald reich sind, könnten wir auch einen Parkschein bezahlen…“

„Das hat damit nix zu tun, Kleiner…“

„Hör auf, mich Kleiner zu nennen!“

„Dann hör du auf, dumme Fragen zu stellen!“

„Ich stelle keine dummen Fragen!“

Der Fahrer schnaubte und linste vorsichtig hinter der Mauer hervor.

„Siehst du was?“, fragte der Beifahrer. Der Fahrer antwortete nicht darauf.

„Bruno, hast du mich gehört?“, hakte der Beifahrer nach, worauf sich Bruno endlich umdrehte und ihn anfunkelte.

„Du bist ja wohl nicht zu überhören! Wenn du nicht sofort leiser bist, kannst du dein Sevodings gleich an dir selbst ausprobieren!“

„Vielleicht darf ich dich dran erinnern, dass du ohne mich gar nicht an das Sevofluran gekommen wärst?“

Bruno rollte genervt mit den Augen. „Du gehst mir echt auf’n Sack, Kleiner.“

„Du mir auch, wenn du nicht sofort netter zu mir bist, Großer!“

„Fang endlich an, dir dieses Nettsein abzugewöhnen! Mit Nettsein kommen wir bei dem Typ nicht weit!“, schimpfte Bruno, dann drehte er sich wieder um, um hinter der Mauer hervorzuspähen.

„Zum Glück habe ich ja dich. Bei dir besteht überhaupt keine Gefahr, dass du zu nett zu ihm sein könntest…“

„Achtung, er kommt!“, entfuhr es Bruno, der sich schlagartig wieder hinter die Mauer zurückzog.

„Echt jetzt?“

„Ja! Mach dein Sevodings fertig!“

„Sevofluran heißt das…“

„Kleiner!!!“

„Ist ja gut…“ Etwas hektisch fing der von Bruno so liebevoll „Kleiner“ genannte Mann an, ein Taschentuch aus einer Packung zu fummeln, um es mit einer Flüssigkeit aus einem Fläschchen zu tränken.

„Gib her!“, zischte Bruno.

„Pass auf, dass du es nicht selbst…“

„Psst! Mitkommen!“

Kleiner musste sehen, wie Bruno das feuchte Taschentuch an sich riss und hinter der Mauer hervorsprang. Auch wenn ihm noch nicht klar war, was genau er jetzt machen sollte, blieb ihm nichts Anderes übrig, als ihm zu folgen.

*

Eine halbe Stunde später fand sich Kleiner zusammen mit Bruno in einem muffig riechenden Kellerraum wieder, wo sie beobachteten, ob der stämmige Typ mit den tätowierten Oberarmen wieder zu sich kommen würde. Kleiner hoffte das inständig, da es ansonsten bedeuten würde, dass er sich in der Dosierung des Sevoflurans voll vertan hätte. Was eigentlich nicht sein konnte, schließlich hatte er alles genauso berechnet, wie es im Lehrbuch stand. Außer dieser Typ war wirklich nicht derjenige, den sie gesucht hatten und dessen Gewicht Bruno recherchiert hatte. Jetzt, wo Kleiner die Tattoos auf den Armen so genau betrachten konnte, wuchsen seine Zweifel. Die sahen wirklich ganz anders aus als die Tattoos auf dem Foto, auch wenn Bruno das nicht wahrhaben wollte. Viel zu harmlos. Nur Blumen, irgendwelche chinesischen Schriftzeichen und eine Taube. Das gefährlichste war da noch der Kopf eines Stubentigers, dessen Augen die beiden Männer direkt anstarrten. Was aber nur den Kleinen störte, Bruno nicht.

Kleiner war stark versucht, nochmal das Foto aus seiner Tasche zu holen und diese Tattoos zu vergleichen, als Bruno ihm eine große schwarze Mütze in die Hand drückte.

„Aufziehen!“, befahl er. „Er kommt zu sich!“

„Meinst du?“, fragte Kleiner, da hatte Bruno sich schon so eine Mütze, in die er einige Löcher für Augen, Nase und Mund geschnitten hatte, aufgesetzt. Er sah damit wahrlich noch unsympathischer aus als zuvor, weshalb Kleiner lieber zu dem Typ auf der Matratze sah, welcher sich tatsächlich etwas regte.

„Ich sollte mal nach ihm sehen“, entschied Kleiner.

„Nix da! Die Mütze aufziehen!“, zischte Bruno.

Etwas widerwillig zog sich auch Kleiner diese Mütze über den Kopf. Sie kratzte schrecklich auf seinem Gesicht.

„‘n hautfreundlicheres Fabrikat hättest du nicht aussuchen können…“, entfuhr es ihm.

„Psst!“, machte Bruno nur dazu.

Kleiner schüttelte den Kopf, da gab der stämmige Typ ein Stöhnen von sich und fing an, sich mit der Hand über das Gesicht zu reiben.

„Was zum Geier…“, hörte man ihn leise sagen, dann nahm er die Hand von seinem Gesicht und erblickte erstmals die beiden Gestalten mit den Mützen über den Köpfen. Er blinzelte irritiert, sah aber keinesfalls ängstlich aus, wie Kleiner das eigentlich erwartet hätte.

„Ihr habt euch ja 'ne lustige Verkleidung ausgesucht“, gluckste er auch schon los. Kleiner wurde das Gefühl nicht los, dass er sie nicht so recht ernst nahm.

„Wusste gar nicht, dass schon Karneval ist…“ Der Typ schüttelte belustigt den Kopf, dann warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. „Schon halb vier… Oh, ich muss los…“ Der Typ richtete sich auf und machte Anstalten, ganz aufstehen zu wollen.

„Sitzen bleiben!“, zischte Bruno.

„Tut mir wirklich leid, dass ich euch zwei sympathische Kerlchen schon verlassen muss, aber ich habe gleich einen Arzttermin“, erwiderte der Typ unbeeindruckt darauf.

„Den können Sie sich sonst wohin schmieren! Sie bleiben hier!“

„Sicher nicht, mein Freund. Der Termin ist dringend!“

„Sitzen bleiben!“

„So junge Kerle wie ihr versteht da wohl noch nichts von. Ihr seid wahrscheinlich immer gesund“, meinte der Typ, dann hievte er sich hoch, gab einen Schrei von sich und sackte wieder zusammen. „Scheiße… Das ist, was ich meine…“

Kleiner konnte nicht anders, als sich allmählich Sorgen zu machen. „Was haben Sie denn?“, fragte er.

„Das ist dieser Scheißfuß!“, regte sich der Typ auf.

„Das tut ja jetzt nichts zur Sache“, meinte Bruno dazu.

„Jetzt schmerzt er wieder unvorstellbar…“

„Soll ich mal nachsehen?“, fragte Kleiner und ging zwei Schritte auf den Typ zu, bis er an dessen Matratze angelangt war.

„Kleiner!“, zischte Bruno, aber Kleiner beschloss, ihn nicht zu beachten. Stattdessen ließ er sich vor dem Typ nieder.

„Ich bin der Maxi Lackmeier“, erklärte er. „Soll ich mal Ihren Fuß anschauen?“

„Kleiner, du kannst dem doch nicht deinen Namen sagen! Wir sind hier nicht in einem von deinen Seminaren, sondern…“

„Aber wenn er vielleicht medizinische Hilfe braucht?“, gab Maxi zurück, dann wandte er sich wieder dem Typ auf der Matratze zu. „Also nochmal: Ich bin der Maxi Lackmeier, ich studiere Medizin im fünften Semester…“

„Ritter, Hubertus“, brummte der Typ, dann zog er eilig seinen linken Schuh und die Socke aus. „Und das ist der Scheißfuß…“

Maxi fragte sich noch, ob der Typ, den sie gesucht hatten, nicht eigentlich anders hieß, aber er hatte keine Zeit mehr, darüber nachzudenken, als der Typ ihm den Fuß zeigte. Er war übersäht von Blasen und Pusteln verschiedener Größe, dazu kamen noch eigenartige raue Stellen und Maxi fand, dieser Fuß sah viel schlimmer aus als alles, was er bisher in seinen Büchern gesehen hatte.

„Was haben Sie da gemacht?“, entfuhr es ihm.

„Diabetische Gangrän heißt das wohl…“, brummte der Typ.

„Sie sind Diabetiker?“, fragte Maxi entsetzt, der den Verdacht nicht loswurde, dass sich das hier zu einem medizinischen Notfall entwickeln könnte.

Der Typ nickte.

„Haben Sie denn Ihr Insulin dabei?“

„Ihr zwei Äffchen könnt froh sein, dass ich immer zwei Spritzen dabeihabe…“

Maxi versuchte, den Kommentar mit den Äffchen zu überhören. Stattdessen drehte er sich zu Bruno um, der stocksteif dastand und ihn anfunkelte, das konnte man sogar durch die Mütze erkennen.

„Der Mann braucht medizinische Hilfe“, erklärte Maxi. „Wir sollten ihn…“

„Nix da!“, rief Bruno aus und stürzte ebenfalls zu der Matratze. „Der Typ soll erstmal uns helfen!“

„Wobei?“, fragte der Typ irritiert.

„Die Telefonnummern von deinen Big-Crash-Freunden!“, forderte Bruno.

„Von meinen was?“

„Big-Crash-Freunden!“

Der Typ blinzelte irritiert.

„Jetzt tun Sie nicht so unschuldig! Wir wissen genau, dass Sie der Chef von dem Verein sind!“

Der Typ blinzelte immer noch.

„Wenn Ihnen nicht gut ist, müssen Sie mir das sagen“, meinte Maxi mit sanfter Stimme.

„Kleiner!!!“

„Schreien Sie mal nicht immer so!“, rief der Typ aus.

„Dann sagen Sie mir endlich die Telefonnummern!“

„Ich fürchte, da muss ich Sie enttäuschen…“

„Ich kann auch anders!“, schrie Bruno und ballte eine Hand zur Faust.

„Bruno, lass das!“, forderte Maxi.

„Jetzt hast du ihm meinen Namen auch noch gesagt, du Idiot!“

„Schwer zu sagen, wer hier der größere Idiot ist…“, meinte der Typ.

„Hören Sie auf, sich da einzumischen! Sagen Sie mir endlich die Telefonnummern!“

„Also nochmal zum Mitschreiben: Mein Name ist Hubertus Ritter, ich bin nicht bei Big Crash und kenne folglich auch keine Telefonnummern von irgendwelchen Mitgliedern.“

Nun war es an Bruno, irritiert zu blinzeln. „Wie ist Ihr Name?“

„Hubertus Ritter, das sagte ich ja…“

„Quatsch! Sie sind Georg Ritter!“

„Nein, du Clown!

„Aber Sie sehen doch so aus!“

„Er sieht nicht so aus“, mischte sich Maxi da leise ein und zog das Foto aus seiner Tasche, um es Bruno zu reichen, der es dieses Mal tatsächlich annahm. Er betrachtete es eine Weile, dann analysierte er die Tattoos dieses Hubertus Ritter, dann wieder das Bild, bevor er dasselbige umdrehte und diesem Hubertus Ritter vor die Nase hielt.

„Und das?“, zischte er.

„Das ist Georg.“

„Sie kennen den also?“

„Ja, er ist mein Bruder.“

„Ihr Bruder?!“

„Ja!“

Bruno ließ unvermittelt das Foto fallen und rieb sich über die Mütze. „Scheiße!“, entfuhr es ihm dabei. Dann wandte er sich um und trat gegen die gegenüberliegende Wand.

Etwa zwanzig Stunden später…

Georg Ritter war gedanklich bereits bei seinem Telefonat mit seinem Big-Crash-Kumpel Eddy Großnussner, welches an diesem Nachmittag anstand, während er auf ein großes Mehrfamilienhaus zusteuerte. Da er seit seinem Verschwinden aus der Untersuchungshaft im Landsberger Polizeipräsidium keinen persönlichen Kontakt mehr mit seinen Rockerfreunden pflegen konnte, befürchtete er doch, dass diese von irgendwelchen Polizeibeamten verfolgt wurden, telefonierte er stattdessen jeden Tag mit einem von ihnen. Wer an welchem Tag dran war, das hatten sie bereits kurz nach der Flucht festgelegt, und Georg Ritter hielt sich stoisch daran. So konnten die anderen Rocker sicher sein, dass es ihm gut ging und er weder von der Polizei noch irgendwelchen Mighty Trouble-Rockern heimgesucht worden war, welche es sicher ebenfalls auf ihn abgesehen hatten, seitdem er ein Mitglied dieses Rockerclubs verprügelt hatte. Was aus Ritters Sicht vollkommen gerechtfertigt gewesen war, hatte ihn dieses besagte Mighty Trouble-Mitglied, an dessen Namen er gar nicht denken wollte, doch aufs Übelste provoziert. Noch viel übler, als Georg Ritter es selbst gekonnt hätte, und das wollte was heißen.

Mittlerweile war Ritter an dem Mehrfamilienhaus angelangt. Er hatte sich dort unter falschem Namen eine Wohnung gemietet, da seine ehemalige Wohnung rund um die Uhr von zwei Polizeiwagen bewacht wurde. An irgendwelche persönlichen Gegenstände zu gelangen, war nur unter größtem Aufwand möglich: Ritter musste sich als Frau verkleiden – kaum etwas widerstrebte ihm mehr – um sich dann im Halbdunkeln, optimalerweise, wenn die Polizisten sich lösen mussten, durch den Hintereingang hineinzuschleichen. Das Hinausschleichen war dann ebenso aufwändig, meist dauerte es mindestens eine Stunde, bis die Polizisten sich wieder lösten oder eingeschlafen waren. Folglich verzichtete Ritter in den meisten Fällen darauf, sich irgendetwas aus seiner Wohnung zu holen, und kaufte stattdessen das Meiste neu. Das war auch der Grund, weshalb er seine neue Wohnung an diesem Tag so lange verlassen hatte, hatte sich doch eine lange Liste an Haushaltsgegenständen gebildet, die er benötigte. Wäre er zuhause gewesen, hätte er sicherlich bereits Bruno und Maxi kennengelernt, die es nach wie vor auf ihn abgesehen und seinen Bruder Hubertus in ihrer Gewalt hatten. So wunderte er sich aber nur darüber, dass er seinen Bruder am vorherigen Nachmittag nicht telefonisch erreicht hatte, denn da wäre er mit dem Telefonieren dran gewesen, auch wenn er nicht zu Big Crash gehörte.

Gedankenverloren linste Ritter durch den Schlitz seines Briefkastens. Einen kleinen Zettel, auf dem in unleserlicher Schrift „Pitt George“ stand, hatte er darauf geklebt. „Pitt George“, so nannte er sich in diesem Mehrfamilienhaus im Landsberger Norden, in der Hoffnung, dass Kohlrabi da nie draufkommen würde. Kohlrabi, das war seine Bezeichnung für Reinhold Kolspra, den Hauptkommissar der Landsberger Kripo und somit sein Erzfeind – neben Mighty Trouble, versteht sich. Gut, eigentlich hatte er sich die Bezeichnung Kohlrabi nicht selbst ausgedacht, sondern sie einem Buch entnommen, welches über diesen Kommissar geschrieben worden war. Aber das sollte Ritter egal sein. Die Hauptsache war, dass er diesen Kommissar mindestens so unsympathisch fand wie einen Kohlrabi und sich auch gerne einredete, dass er sicherlich auch nur die geistigen Fähigkeiten eines Kohlrabis besaß. Zwar kannte sich Ritter mit Pflanzen so gut wie gar nicht aus, er konnte froh sein, dass er überhaupt wusste, wie so ein Kohlrabi aussah, aber er schätzte ihre geistigen Fähigkeiten als sehr gering ein. Und somit auch die dieses Kommissars.

Was ihn allerdings stutzig machte, war, dass da irgendetwas in seinem Briefkasten zu sein schien. Und das, obwohl er seine Adresse doch nur seinen Big Crash-Freunden, seinem Bruder und seiner Mutter mitgeteilt hatte. Und die hatten ihm doch wohl keine Briefe zu schreiben, er telefonierte doch mit ihnen. Kopfschüttelnd schloss er den Briefkasten auf und fischte einen gefalteten Zettel heraus. Ankündigung zur Altkleidersammlung, dachte er, trotzdem faltete er den Zettel auseinander.

Wir haben Ihren Bruder, stand dort in einer Art Schreibschrift geschrieben, die hundertmal schöner war als Ritters eigene. Es geht ihm sehr schlecht. Wenn Sie ihm helfen wollen, kommen Sie heute um drei ins Industriegebiet zur Bushaltestelle vor der Firma Schraumu. Wir erwarten Sie.

Etwa eine Minute lang starrte Georg Ritter auf diese eigenartige Nachricht. Dann stürzte er Hals über Kopf durch die Tür ins Haus.

1

Es war ein sonniger Mittwochnachmittag im September, viel sonniger und wärmer als Reinhold Kolspra sich das für einen Septembertag hätte vorstellen können. Möglicherweise sogar ein bisschen zu warm, aber darüber wollte der Kommissar jetzt nicht nachdenken. Vielmehr fieberte er seinem Feierabend entgegen, welchen er in spätestens einer Stunde einläuten wollte, um mit seiner Verlobten Arabella und seinem besten Freund Sven Hansen ein Café auszuprobieren, das erst vor Kurzem in der Landsberger Innenstadt neu eröffnet hatte. Erik Pretzel, der Leiter der KTU und erwiesenermaßen ein Kenner auf dem Gebiet der Backkunst, hatte nur so von den Kuchen aus diesem neuen Café geschwärmt, sodass Reinhold klar war, dass er sich das auf keinen Fall entgehen lassen durfte.

Gerade jetzt hatte er auch das Glück, dass er keine dringenden Fälle zu bearbeiten hatte, die leicht zu Überstunden führen konnten. Es gab da zwar in letzter Zeit eine Serie von Wohnungs- und Autoeinbrüchen, an der Reinhold und sein Team herumermittelten. Aber da es sich bei den Einbruchsopfern in allen Fällen um tendenziell wohlhabende Persönlichkeiten handelte und die gestohlenen Summen im Vergleich zum Gesamtvermögen dieser Persönlichkeiten eher unbedeutend waren, erachtete Reinhold es nicht als nötig, übermäßig viel Aufwand zur Ergreifung dieses Diebs zu betreiben. Es hätte ihm natürlich Sorge bereiten können, dass in letzter Zeit fast ausschließlich Häuser und Autos aus Igling und somit Reinholds mehr oder weniger direkter Nachbarschaft betroffen waren, aber da Reinhold weder sich selbst noch seinen Bruder und dessen Frau, bei denen er ein Zimmer bewohnte, als übermäßig wohlhabend ansah, betrachtete er sich und seine Nächsten nicht als besonders gefährdet. Also kein Grund, irgendwelche Überstunden einzulegen und sich den Kuchen entgehen zu lassen.

So saß Reinhold zwar an seinem Computer und gab vor, verschiedene Internetverkaufsportale nach wertvollen gestohlenen Gegenständen zu durchsuchen, in Wahrheit dachte er aber über den Prospekt dieses neuen Cafés und die darin abgebildeten Kuchen und Torten nach und darüber, welche Geschmacksrichtung er am dringendsten probieren musste. Irgendwelche von diesen gestohlenen Gegenständen hatte er noch nicht entdeckt, aber der Dieb wäre nach Reinholds Ansicht auch extrem doof, diese Objekte bereits kurze Zeit nach einem Einbruch ins Internet zu stellen. Wahrscheinlich wartete er mindestens ein halbes Jahr.

Auf jeden Fall würde Reinhold sich so lange Zeit geben, sich mit diesem Dieb zu befassen, sagte er sich, bevor die Staatsanwältin auf die Idee kommen würde, ihm irgendwelche anderen Fälle, am besten aus anderen Kommissariaten, zuzuschieben. Oder ihn nochmals diese zwei Typen befragen zu lassen, die im Sommer einen Mann und dessen Freundin ermordet hatten und die nicht so recht gestehen wollten. Zwar waren die beiden mittlerweile in die JVA verbracht worden, wo sich ein Psychologe an ihnen abarbeitete, trotzdem konnte man bei der Staatsanwältin nie sicher sein, was ihr noch zu den beiden einfiel. Besonders, da es sich bei einem der beiden Männer um ein Mitglied des Rockerclubs Big Crash handelte, von dem sich die Staatsanwältin erhoffte, er könnte Angaben zum Verbleib Georg Ritters machen, der eigentlich auch in die U-Haft gehörte, aber durch ein „Missverständnis“ entlassen worden war. Wobei man sagen musste, dass Reinhold diesem Mann keine Träne nachweinte, hatte er ihn doch bereits drei Jahre lang regelmäßig verhört, ohne dass er zum ihm vorgeworfenen Sachverhalt irgendetwas geäußert hatte. Stattdessen hatte er Reinhold und die anderen anwesenden Polizisten bei jedem Verhör beschimpft oder unpassende Spitznamen verteilt, an die Reinhold sich nur äußerst ungern erinnerte. Einmal hatte der Mann ihn sogar fast erwürgt und es hatte drei Mann gebraucht, um Georg Ritter von Reinholds Hals zu lösen.

Daher war es nur zu verständlich, dass Reinhold nicht den geringsten Drang verspürte, diesen Mann wieder in die U-Haft zu bringen. Schließlich ging es ihm selbst mit jedem Tag besser, wo er diesen Georg Ritter nicht mehr sehen musste. Bestimmt hatte er sich schon lange ins Ausland abgesetzt, vielleicht nach Italien oder Spanien…

Reinhold schloss die Augen, um seinen Bildschirm nicht mehr ansehen zu müssen und sich stattdessen schon mal im Geiste den Geschmack der Torten aus dem Prospekt vorzustellen. Er war gerade dabei, sich voll und ganz auf einen Schokoladenbiskuit mit Heidelbeersahne einzustellen, als er ein schabendes Geräusch an seiner Tür hörte. Sofort öffnete er die Augen wieder und sah sich Oberkommissar Sven Hansen gegenüber, der sich hereingeschlichen hatte.

„Träumst du?“, fragte er sofort, was Reinhold sagte, dass er ihn mit geschlossenen Augen gesehen haben musste.

„Quatsch!“, widersprach Reinhold. „Ich habe nur meine Augen ausgeruht. Soll man regelmäßig machen, wenn man nur auf so einen Bildschirm starrt.“

„Natürlich. Hast du denn schon was gefunden?“

„Einen Zinnteller mit Landsberger Wasserfall-Motiv für fünfzehn Euro“, erklärte Reinhold so stolz, als wäre das tatsächlich einer der gestohlenen Gegenstände. Sven runzelte verwundert die Stirn und kam um den Schreibtisch herum, um auf Reinholds Bildschirm sehen zu können.

„Das ist aber nichts von dem Diebesgut“, stellte er fest.

„Habe ich das behauptet?“

„Du hast es schon etwas arrogant gesagt.“

„Habe ich?“

„Oh ja“, meinte Sven, dann zwickte er ohne Vorwarnung in Reinholds Schulter.

„Ey, was soll das?“, rief Reinhold und schlug nach Svens Hand aus, ohne zu treffen. Sven sprang zur Seite, bis er außer Reinholds Reichweite war, nur, um ihn dann breit angrinsen zu können.

„Also wirklich, Herr Hansen!“, fing Reinhold dann zu schimpfen an, wobei er die Stimme so stark anhob, dass er sich wie die Staatsanwältin Frau Hof persönlich anhörte. „Sie sind ein Oberkommissar, verhalten Sie sich auch mal so!“

„Ja, aber Sie sind ein Hauptkommissar!“, entgegnete Sven und versuchte ebenfalls wie Frau Hof zu klingen. „Verhalten Sie sich erstmal…“

„Wir sind hier bei der Polizei. Hier geht es ernst und diszipliniert zu. Wenn Ihnen das nicht gefällt, können Sie ja irgendwo anders arbeiten, aber nicht hier“, verkündete Reinhold.

„Du kannst sie schon richtig gut imitieren“, meinte Sven anerkennend dazu.

„Gell? Habe ich lange geübt.“ Etwas verlegen scrollte Reinhold auf seinem Bildschirm herum. „Und wie ist es bei dir? Hast du was gefunden?“

„Nada.“

„Mhm.“ Etwas anderes hatte Reinhold auch nicht erwartet. Also scrollte er weiter auf dem Bildschirm und sah sich verschiedene Zinnteller an.

„Der wird Spaß haben, der neue Kollege“, meinte Sven und stellte sich genau hinter Reinhold, um gut auf den Bildschirm sehen zu können. „Wenn wir immer nur Anzeigenportale anschauen…“

„Es gibt Schlimmeres…“

„Wann kommt er jetzt überhaupt? Der neue Kollege?“

Reinhold zuckte mit den Schultern. „Vor zwei Wochen hieß es, er käme letzte Woche. Letzte Woche hieß es dann, er käme diese Woche und diese Woche… na ja, heißt es wohl, er kommt nächste Woche…“

Sven schnaubte belustigt. „Und er ist IT-Experte?“

„Letzte Woche war er auf jeden Fall IT-Experte. Aber das kann diese Woche bestimmt schon ganz anders sein…“

„Und sein Name? Bleibt der wenigstens gleich?“

Reinhold zuckte wieder mit den Schultern, dann kramte er einen Zettel unter mehreren Notizblöcken hervor. „Ich habe bisher nur seine Initialen erhalten.“ Er reichte Sven den Zettel.

„M. v. T. gen. G.“, las dieser irritiert vor. „Gen. Was soll das heißen?“

„Keine Ahnung. Vielleicht 'n Code.“

„Da-Vinci-Code?“, fragte Sven ungläubig.

„Computer-Code, sein Name im Darknet, keine Ahnung.“

„Eigenartig“, konstatierte Sven, dann reichte er Reinhold den Zettel über die Schulter zurück.

„Mhm“, machte Reinhold nur dazu und ließ den Zettel an seinem ursprünglichen Platz verschwinden.

„Aber wenn der neue Kollege heute offensichtlich nicht mehr kommt und wir nichts Besseres zu tun haben, als diese Verkaufsportale zu durchsuchen…“, fing Sven zu überlegen an, was Reinhold wieder hellhörig werden ließ.

„Du meinst, wir könnten den Feierabend schon früher einläuten?“, fragte er und legte seinen Kopf in den Nacken, um den nach wie vor hinter ihm stehenden Sven ansehen zu können, bis er an dessen Bauch stieß.

„Warum nicht?“, fragte Sven zurück.

„Weil Arabellas Schicht erst um vier zu Ende ist…“

„Wir könnten schon mal ein paar Stücke vorkosten…“, überlegte Sven weiter, wobei er Reinhold eine Hand auf die Schulter legte, „…und wenn sie kommt, können wir ihr sagen, was am besten schmeckt…“

„Du willst nicht etwa mehr als ein Stück essen?“

„Du nicht?“

Reinhold schnaubte belustigt und drückte seinen Kopf absichtlich etwas tiefer in Svens Bauch. „Dein Bauch ist jetzt schon voll weich…“

„Quatsch! Ich kann den anspannen…“

Reinhold merkte, wie Sven sich anstrengte, um den Bauch fester zu bekommen. Er selbst konnte dabei ein Kichern nicht unterdrücken.

„Na warte, wenn ich erst deinen Bauch kontrolliert habe!“, rief Sven aus und beugte sich nach vorne, um mit den Händen an Reinholds Bauch gelangen und darauf herum drücken zu können.

„Ist ja gut, ich habe nichts gesagt!“, versuchte sich Reinhold zu wehren, den Svens Gedrücke zunehmend zu kitzeln anfing.

„Doch, du hast was gesagt!“

„Stell dir mal vor, wenn jetzt jemand reinkäme und uns hier beim Schmusen erwischen würde…“

„Ich nenne das nicht Schmusen, sondern Auge um Auge!“, meinte Sven und kitzelte weiter an Reinholds Bauch.

„Franz zum Beispiel…“, versuchte Reinhold es weiter, was endlich Wirkung zeigte. Sven nahm schlagartig die Hände von seinem Bauch. Dass dieser Kollege Franz ihn so eng mit Reinhold sah, war nun wirklich nichts, was er gebrauchen konnte.

„Der scheint sich schließlich noch nicht gebessert zu haben“, fuhr Reinhold fort. „Oder hast du schon mal gesehen, dass der ein Wort mit unserm Finkle gewechselt hätte?“

Sven schüttelte den Kopf.

„Da siehst du’s“, sagte Reinhold mit Nachdruck. Sven seufzte und zog sich einen weiteren Stuhl heran, um sich neben ihn setzen zu können.

„Und wie war das jetzt mit dem Feierabend?“

„Machen wir um fünf vor vier. Dann gehen wir runter zur Zentrale und holen Arabella ab. Und ich würde sagen, maximal zwei Stücke Kuchen pro Person, sonst sind wir unsere gute Figur bald los.“

„Wenn wir uns absprechen, könnten wir auf diese Weise also sechs Sorten durchprobieren“, überlegte sich Sven.

„Falls Arabella auch zwei schafft…“

„Wir bieten ihr einfach unsere Hilfe an…“

Reinhold wollte etwas erwidern, da klopfte es an seine Bürotür.

„Da siehst du’s“, zischte er Sven zu und wedelte wild mit der Hand, bis er etwas von ihm weggerückt war. „Herein!“, rief er dann.

*

Es dauerte nur einen kurzen Moment, bis die Tür geöffnet war und sie sich einem uniformierten Kollegen von der Schupo namens Feebe gegenübersahen.

„Herr Kolspra, Herr Hansen“, sagte er aufgeregt, „hier sind einige Herren, die müssen ganz dringend mit Ihnen reden.“

Reinhold runzelte die Stirn. Schon wieder irgendwelche Einbrüche? Und noch dazu mehrere auf einmal?

„Sie haben doch Zeit, oder?“, fragte Feebe weiter.

Reinhold hörte Sven scharf die Luft einsaugen. Eigentlich wollten sie ja in einer halben Stunde in Richtung Kuchen aufbrechen.

„Natürlich“, sagte er aber und lächelte in Feebes Richtung.

Feebe nickte erleichtert und winkte in Richtung Gang. Kurz darauf erschien ein Trupp mit dunklen Lederjacken bekleideter Männer an der Tür, die Reinhold sofort erkannte. Das Lächeln verging ihm sofort, sein Puls schoss in die Höhe. Sven schnappte nach Luft.

„Brauchen Sie mich?“, fragte Feebe. Reinhold vermutete stark, dass er sich gerne davonstehlen wollte, hatte er ihnen doch tatsächlich die Big Crash Rocker vorbeigebracht.

„Ja“, sagte Reinhold.

Feebe sah etwas enttäuscht aus, dann winkte er die Rocker herein. Reinhold erkannte Korbinian Lattlinger, Jörg Feemann und Eddy Großnussner, mit denen er bereits während seines letzten Falls näheren Kontakt gehabt hatte. Dazu noch einen Josef Schafsenner und einen Heiner Kohlschreiber, der nach Georg Ritter der unsympathischste von allen war und, stets mit einer schwarzen Augenklappe bekleidet, dessen Rolle einnahm, seitdem die Polizei Georg Ritter verhaftet hatte. Und einige weitere, deren Namen Reinhold nicht alle behalten hatte.

Reinhold zählte elf Rocker, dann schloss Feebe die Tür und drückte sich ebenfalls in den Raum, in dem die Rocker nun dicht gedrängt standen. Er bemühte sich noch, zu Reinhold und Sven zu gelangen, da baute sich Kohlschreiber bereits vor den Kommissaren auf und funkelte sie mit dem einen Auge an.

„Wir müssen reden“, verkündete er mit tiefer Stimme. Reinhold schluckte.

„Da wissen wir gar nichts vom“, gab er zurück und beobachtete aus dem Augenwinkel, wie Feebe sich an der Wand neben dem Schreibtisch positionierte, die Hand bereits an seiner Pistole.

„Kommen Sie uns nicht blöd!“, zischte Kohlschreiber und stützte seine Hände auf dem Schreibtisch auf, um Reinhold näher zu sein.

„Halten Sie Abstand zu meinen Kollegen!“, rief Feebe, was Kohlschreiber aber nicht zu interessieren schien. Stattdessen wanderte sein Auge bedrohlich zwischen Reinhold und Sven hin und her.

„Okay…“, machte Reinhold, wusste aber noch nicht genau, was er weiter sagen sollte.

„Heiner, vielleicht sollten wir das machen?“, sagte da Lattlinger und drängte sich mit Feemann nach vorne zum Schreibtisch. „Wir kennen uns schließlich ein bisschen näher…“

So hätte Reinhold das zwar nicht ausgedrückt, trotzdem war es ihm hundertmal lieber, sich Feemann und Lattlinger gegenüberzusehen, die noch zu einer vergleichsweise harmloseren Sorte von Rockern gehörten, als diesem Heiner Kohlschreiber, der sich brummelnd etwas weiter nach hinten verzog.

„Herr Feemann, Herr Lattlinger“, bemühte sich Reinhold möglichst freundlich zu sagen, „wie können wir Ihnen helfen?“

„Georg ist weg“, erklärte Lattlinger sofort. Reinhold wechselte einen verwunderten Blick mit Sven.

„Georg Ritter“, ergänzte Feemann.

Reinhold schnaubte belustigt. Auch wenn er noch nicht genau wusste, was das hier werden würde, irgendwie schien es relativ harmlos zu sein. „Danke für die Information, aber das wissen wir schon“, antwortete er wieder selbstbewusster.

„Nein, nicht so!“, widersprach Lattlinger. „Er ist wirklich weg! Verschwunden!“

Allmählich konnte Reinhold ein Grinsen nicht mehr unterdrücken. Natürlich war Georg Ritter verschwunden, er wollte schließlich nicht wieder gefasst werden.

„Was meinst du, Sven: Was genau wollen die uns sagen?“, wandte er sich an seinen Kollegen.

Sven hatte noch nicht geantwortet, da setzte sich Lattlinger kurzerhand in den Besucherstuhl auf der gegenüberliegenden Seite des Schreibtischs. „Hören Sie“, fuhr er fort, „wir würden doch nicht zu Ihnen kommen, wenn wir uns nicht ernsthaft Sorgen machen würden.“

Reinhold war immer noch amüsiert von dem Anblick, der sich ihm bot. Selten hatte er so viele besorgt aussehende Rocker auf einem Haufen gesehen.

„Sie machen sich Sorgen um Georg Ritter?“, fragte er nach, um interessiert zu erscheinen.

„Ja! Jeden Tag telefoniert einer von uns mit ihm, treffen können wir uns ja nicht, weil sonst Sie… na ja, auf jeden Fall hat er gestern nicht bei Herrn Großnussner angerufen…“

Großnussner nickte. „Und als ich bei ihm anrufen wollte, ist er nicht an sein Handy gegangen!“, ergänzte er.

„Und heute das Gleiche bei mir“, fuhr Lattlinger fort. „Da stimmt irgendwas nicht.“

Reinhold nickte und tat verständnisvoll, obwohl es ihm in Wahrheit nur Recht sein konnte, wenn Georg Ritter sich irgendwohin abgesetzt hatte und noch nicht einmal seine Rockerkollegen davon wussten, da dies bedeutete, dass er leider keine Informationen aus den Rockern herausquetschen konnte, und wenn er sich noch so anstrengte.

„Haben Sie mal darüber nachgedacht, dass er sich auch einfach ein neues Versteck gesucht haben könnte? In einem Funkloch, im Ausland…?“

„Das hätte er uns mitgeteilt!“, widersprach Lattlinger.

„Natürlich.“

„Sie sind doch bei der Kripo, Sie müssen doch etwas tun können!“

„Bitte, Herr Kolspra!“, ergänzten weitere Rocker. „Bitte!“

„Wir tun dafür alles, was Sie wollen“, meinte Feemann.

So etwas aus dem Mund eines Rockers zu hören, hatte Reinhold nun wirklich nicht erwartet, obwohl er sich sicher war, dass man dem nicht zu viel Glauben schenken sollte.

„Nun gut. Wann haben Sie das letzte Mal von Herrn Ritter gehört?“, fragte er.

2

Am nächsten Morgen betrat Reinhold bereits um halb acht das Präsidium, was zum einen daran lag, dass er kein Frühstück benötigt hatte, schließlich war sein Verdauungstrakt nach wie vor mit den zweieinhalb Stücken Kuchen beschäftigt, die er am vorherigen Abend verspeist hatte. Zum anderen hatte ihn um halb sechs ein aufgeregter Kollege aus der Notrufzentrale angerufen, dass in der vergangenen Nacht in einer Wohnung und einem geparkten Auto in Landsberg eingebrochen worden war. Zwar hatte Reinhold bereits seine Kollegen Giovanni Farfalloni und Melanie Rössler dorthin geschickt, trotzdem erhoffte er sich, einen guten Eindruck bei der Staatsanwältin erwecken zu können, wenn er vorgab, sich schon am frühen Morgen mit diesen Einbrüchen zu befassen. Und vielleicht würde er auch eine halbe Stunde früher Feierabend machen und dann die restlichen zwei Kuchensorten probieren, die er am Vorabend nicht geschafft hatte…

Ja, trotz eines leichten Völlegefühls im Bauch dachte Reinhold nach wie vor viel lieber über dieses neue Café nach, das seine Erwartungen noch übertroffen hatte, als über diese Einbrüche oder das Gespräch mit den Rockern am vorherigen Nachmittag, das er zum Glück auf eine halbe Stunde hatte begrenzen können, indem er den Männern mehrfach beteuert hatte, dass er sich um die Angelegenheit kümmern würde. Obwohl er natürlich nach wie vor davon ausging, dass Georg Ritter sich vollkommen freiwillig abgesetzt hatte. Folglich würde Reinhold allenfalls bei den Kollegen nachfragen, die Ritters Wohnung bewachten, ob sie irgendetwas gesehen hatten. Und vielleicht noch diese Zweitwohnung besichtigen, die sich Georg Ritter angeblich unter falschem Namen hier in Landsberg gemietet hatte. Aber nur wenn er Zeit dafür fand…

Mit den Gedanken ganz bei einer Himbeer-Haselnuss-Schnitte, die er leider noch nicht hatte probieren können, steuerte Reinhold auf die zum Kripotrakt führende Treppe zu.

„Herr Kolspra, Sie sind schon da!“, drang da eine Stimme zu ihm. Langsam drehte er sich um, da sah er Finkle auf ihn zurennen, genauer gesagt Kriminalhauptkommissar Moritz Finkle, der allerdings nicht in seiner Funktion als Hauptkommissar im Präsidium weilte, sondern als Häftling. Auch wenn sich das abstrus anhörte und selbst Reinhold es an manchen Tagen kaum glauben konnte, war Finkle nachweislich in mehrere Tötungsdelikte verwickelt gewesen und hatte eine Strafe von fünfeinhalb Jahren abzusitzen. Und das im Landsberger Polizeipräsidium, obwohl dort normalerweise höchstens eine Untersuchungshaft verbracht wurde. Aber da Finkle in der JVA als schwuler Polizist nicht gern gesehen und regelmäßig bedroht worden war und sich zudem sehr reumütig zeigte, konnte für ihn eine Ausnahme organisiert werden.

„Und Sie haben schon Ausgang?“, fragte Reinhold verwundert zurück, sobald Finkle bei ihm angelangt war.

„Die Uniformierten mussten schon fast alle ausrücken, wegen der Einbrüche…“, erklärte Finkle rasch und betrachtete Reinhold interessiert, da er von ihm wohl ebenfalls eine Erklärung erwartete.

„Auch Feebe?“, fragte Reinhold aber weiter. Normalerweise war Feebe für die Betreuung der Gefangenen und somit auch Finkle zuständig.

„Der bekommt heute seine blaue Uniform angepasst. Das Probetragen, verstehen Sie?“

Reinhold blinzelte nur verwirrt. Zugegebenermaßen war sein Gehirn noch ganz auf Kuchen- und Tortenkunde gepolt.

„Feebe hat sich doch bereit erklärt, die neuen Uniformen Probe zu tragen, bevor sie an die breite Masse gehen… Genauso wie der schwarzhaarige gelockte…“

„Mernle.“

„Ja. Haben die beiden gestern überall rumerzählt, dass sie als erste die neue Mode testen werden…“

„Mhm“, machte Reinhold nur. Scheinbar hatte Finkle den gestrigen Tag in der Einsatzzentrale verbracht…

„Und Sie haben gestern die neuen Kuchen probiert?“

„Ja…“ Eigentlich wollte Reinhold allmählich in sein Büro kommen, da er doch fleißig erscheinen musste.

„Waren sie gut? Wie viele haben Sie geschafft?“

Reinhold überlegte noch, ob er Finkle die Wahrheit sagen sollte.

„Mindestens zwei, würde ich sagen…“, meinte Finkle da auch schon mit Blick auf seinen Bauch, der tatsächlich etwas kugeliger als normal aussehen musste, obwohl Reinhold doch nach eigener Auffassung eine sehr schlanke Figur hatte. Aber wahrscheinlich fiel da ein Kugelbauch nur noch mehr auf.

„Finkle, glauben Sie bloß nicht, dass ich Sie dahin mitnehmen werde“, tadelte Reinhold ihn, hatte Finkle doch schon so einen flehenden Blick aufgesetzt, der Reinhold sagte, dass da noch irgendetwas kommen würde.

„Sie können mir ja was mitbringen. Wie wäre es mit jeden Tag eine andere Sorte?“

„Finkle, ich muss jetzt wirklich in mein Büro kommen.“

„Da darf ich doch mit, oder?“

Reinhold wollte gerade antworten, dass er schrecklich viel zu tun hätte, schließlich benötigte er niemanden, der ihn dabei beobachtete, wie er beiläufig irgendwelche Anzeigenportale durchschaute und stattdessen über irgendwelche anderen Dinge sinnierte, die nichts mit seiner Arbeit zu tun hatten.

„Herr Kolspra!“, rief es da aber schon wieder. Reinhold sah Magnus König, einen überaus stattlichen Kollegen von der Schupo, quer durch die Eingangshalle auf ihn zustürmen.

„So schnell wird das nichts mit dem Büro, glauben Sie mir“, meinte Finkle augenzwinkernd.

Reinhold seufzte, da war König schon bei ihm angelangt.

„Die in der Notrufzentrale haben einen Mann dran, der hat einen Kerl beobachtet, wie er eine Autoscheibe eingeschlagen und eine Tasche entwendet hat!“, sprudelte König los. „Der Mann ist dabei, den Typ mit seinem Auto zu verfolgen, er gibt den Kollegen seine Position durch… Irgendjemand muss dahinfahren…“

„Bin ich ganz deiner Meinung“, sagte Reinhold und sah aus den Augenwinkeln, wie Sven das Präsidium betrat.

„Das Ding ist, dass die Kollegen schon alle bei den anderen Einbrüchen sind… und irgendjemand muss auch hier in der Zentrale bleiben…“

Reinhold war sich noch nicht ganz sicher, was König ihm sagen wollte. „Alle bei den Einbrüchen…?“

„Und zwei Verkehrsunfällen… Deswegen… Vielleicht können Sie…?“

Reinhold runzelte die Stirn. Eigentlich war ihm so gar nicht danach, jetzt irgendeinen Verdächtigen zu verfolgen, auch wenn es eventuell dieser Einbrecher war. Nicht mit dem vollen Bauch…

„Ist was passiert?“, fragte da Sven, was Magnus König veranlasste, alles nochmal zu erzählen.

„Franz und Annette sind noch nicht da?“, fragte Sven daraufhin. König schüttelte den Kopf. Reinhold hatte noch nicht nachgesehen.

„Also bleiben nur wir beide?“

König beantwortete die Frage, indem er Reinhold einen Autoschlüssel in die Hand drückte.

„Ich muss wieder in die Zentrale, ihr werdet dann angefunkt!“

Reinhold musste tatenlos zusehen, wie König wieder davonrannte. Er wechselte einen besorgten Blick mit Sven, der wohl ebenfalls noch an seinem Kuchen verdaute.

„Wir beide sollen jetzt alleine den Einbrecher festnehmen?“, sprach Sven es da auch schon aus. Reinhold schluckte nur.

„Sie könnten ja mich mitnehmen?“, meldete sich Finkle zu Wort.

„Kommt überhaupt nicht in Frage!“, regte sich Reinhold auf. „Sie dürfen das Präsidium nicht verlassen, das wissen Sie!“

*

Etwa zehn Minuten später befanden sich Reinhold und Sven bereits mit dem Einsatzwagen am Rand des Industriegebiets, in das sich der Einbrecher wohl geflüchtet haben sollte. Sven fuhr den Wagen, während Reinhold das Funkgerät an sein Ohr hielt und gleichzeitig nach diesem Mann Ausschau hielt, der den Einbrecher verfolgt hatte.

„Der Mann ist in einer Lagerhalle verschwunden“, knisterte Magnus Königs‘ Stimme aus dem Funkgerät. „Der Zeuge hat sein Auto davor geparkt…“

„Hier sind jede Menge Lagerhallen“, gab Reinhold wenig erfreut zurück.

„Ja, Moment…“

Reinhold seufzte und hörte, wie König mit irgendeinem Kollegen sprach, den man aber nicht verstehen konnte.

„Schraumu heißt die Firma, vor der er geparkt hat“, meldete sich König zurück. „Und der Typ ist in eine Lagerhalle gegenüber gerannt, zeigt der euch dann bestimmt…“

„Mhm…“, machte Reinhold nur.

„Firma Schraumu ist da vorne!“, rief Finkle erfreut, der auf dem Rücksitz saß und den Kopf zum Fenster rausstreckte. Reinhold hatte ihn widerwillig doch mitgenommen, da tatsächlich keine anderen Kollegen verfügbar gewesen waren. Erlaubt war das sicher nicht und so konnte Reinhold, wenn er gerade einmal nicht in das Funkgerät lauschte, nur beten, dass Frau Hof nichts davon erfahren würde.

Als das Polizeiauto auf den Parkplatz der besagten Firma einbog, kam ihm bereits ein winkender junger Mann entgegengerannt, der wohl dieser Zeuge sein musste. Reinhold sprang nach draußen, noch bevor Sven den Wagen angehalten hatte.

„Der ist da reingerannt!“, erzählte der Mann aufgeregt und wedelte in Richtung einer Lagerhalle, die sich an ein leerstehendes Firmengebäude gegenüber anschloss.

„Und er ist nicht wieder herausgekommen?“

„Habe ich nichts gesehen…“

„Okay. Sie bleiben hier bei unserem Wagen. Sollte der Typ auftauchen, rufen Sie wieder die Kollegen an. Versuchen Sie auf keinen Fall, ihn selbst zu überwältigen, haben Sie verstanden?“

„Natürlich…“

„Sehr gut. Wir sind jetzt da“, sprach Reinhold in das Funkgerät, dann drehte er sich um und begab sich zielstrebig mit Sven und Finkle zu der Lagerhalle.

„Dass sowas nicht abgeschlossen ist“, murmelte Sven.

„Wenn es eh leer steht…“

„Trotzdem…“

Reinhold brachte Sven mit einer Handbewegung zum Schweigen, dann flüsterte er in das Funkgerät, dass sie gleich in diese Halle gehen würden, bevor er es sich an den Gürtel steckte und stattdessen seine Waffe zur Hand nahm. Sven tat es ihm gleich, dann waren sie an der Tür zu dieser Halle angelangt, die nur angelehnt zu sein schien.

„Finkle, Sie bleiben hier draußen“, zischte Reinhold, „und stellen ihm ein Bein, wenn er rauskommt. Aber keine Verfolgungen oder Prügeleien, ja?“

„Ich habe kein Interesse an Prügeleien“, entgegnete Finkle. „Aber was ist, wenn es mehrere Ausgänge gibt?“

„Das ist dann scheiße für uns“, meinte Reinhold unverblümt. „Dann hätten wir mehr Kollegen gebraucht.“

Mit diesen Worten riss Reinhold die Tür auf und zeigte, gemeinsam mit Sven, mit seiner Waffe nach drinnen. Im ersten Moment sahen sie nicht viel, hatte diese Halle doch nur wenige Fenster zu bieten, doch dann ertönte ein Rascheln von der linken Seite. Sofort wandten sich die Männer dorthin, wo tatsächlich ein Mann aus einer dunklen Ecke sprang und an der Wand entlang losrannte.

„Polizei! Stehen bleiben!“, schrie Sven. Reinhold sprintete dagegen sofort los, da der Mann nicht den Eindruck erweckte, als wolle er Svens Worten gehorchen. Stattdessen steuerte er zielstrebig auf etwas zu, was tatsächlich eine weitere Tür zu sein schien.

Scheiße, dachte Reinhold. Irgendwie war ihm nicht so, als würde er den Mann einholen, bevor er aus der Tür war, meldete sich doch schon nach wenigen Schritten der noch nicht ausreichend verdaute Kuchen zu Wort.

„Wir wollen nur mit Ihnen reden!“, rief Sven, als der Mann die Tür aufriss. Aber natürlich interessierte er sich nicht für Svens Worte und stürzte aus der Tür.

Reinhold musste zugeben, dass er Svens Worten an Stelle dieses Mannes auch nicht geglaubt hätte, während er seine Schritte trotz Seitenstechen beschleunigte und den Türgriff noch zu fassen bekam, bevor die Tür wieder zufiel.

„Kruzifix!“, regte sich Sven irgendwo hinter ihm auf, dann stürzte auch Reinhold aus der Tür.

Reinhold fand sich an einer Straße auf der Rückseite – oder vielleicht doch der Vorderseite? – der Halle wieder. Suchend blickte er sie in beide Richtungen entlang, da erblickte er einen Mann etwas entfernt auf der gegenüberliegenden Seite entlangrennen, der verdächtig nach Finkle aussah. Ein paar Meter vor ihm stürzte sich ein anderer Mann gerade zwischen zwei Bäume auf eine bepflanzte Fläche.

Reinhold sprintete ebenfalls wieder los, überquerte die Straße, bemerkte schon wieder dieses Seitenstechen, sodass er keine Gelegenheit hatte, darüber nachzudenken, wieso Finkle ebenfalls hinter diesem Typen herrannte. Beide, der Typ und Finkle, waren mittlerweile zwischen den Büschen verschwunden, sodass Reinhold nichts Anderes übrigblieb, als sich ebenfalls dort hindurchzuschlagen. Mindestens eine Handvoll Laub rieselte auf ihn hinab und blieb in seinem Haar hängen, aber Reinhold konnte nicht weiter darauf achten. Etwa zehn Meter von ihm entfernt hatte Finkle den Mann am Arm gepackt und war kurz davor, ihn in einen Polizeigriff zu nehmen, da drehte sich der Mann im letzten Moment um und schien Finkle ebenfalls eine mitzugeben.

„Polizei! Sofort aufhören!“, schrie Reinhold, während er wieder losrannte. Finkle taumelte, aber ohne den Mann loszulassen, sodass sie beide zu Boden gingen und dort zu ringen anfingen.

„Aus jetzt!“ Reinhold hatte die beiden mittlerweile erreicht und bekam den unbekannten Mann zu fassen, als er gerade auf Finkle saß. Aus dem Augenwinkel sah er, wie etwas Blut aus Finkles unförmiger Nase floss.

„Der hat mich angegriffen!“, kreischte der Mann, als Reinhold ihn unsanft von Finkle herunterzog und ihn auf den Boden warf. „Was soll das?“

„Sie beruhigen sich jetzt erstmal!“, schimpfte Reinhold und fing an, den Mann auf den Boden zu drücken. Sven sank nach Luft schnappend neben ihm nieder und half ihm, den Mann zu fixieren, der weiterhin lautstark verkündete, dass Finkle ihn angegriffen hätte.

Sobald Reinhold sicher war, dass der Mann ausreichend sicher fixiert war, riskierte er einen Blick zu Finkle, der sich aufgerichtet hatte und sich mit einer Hand das Blut unter der Nase wegzuwischen versuchte, mit dem Ergebnis, dass sofort neues nachfloss.

„Was… ist… hier… passiert?“, schnaufte Sven, der Reinholds Blick gefolgt war.

„Finkle hat den Herrn hier vor mir geschnappt, aber… er hat ihm eins auf die Nase gegeben…“, erklärte Reinhold, dann holte er ein Paar Handschellen hervor, um sie dem Mann anzulegen.

„Die Nase sah schon vorher so komisch aus!“, wehrte sich der Mann.

„Was Ihnen kein Recht gibt, ihm da drauf zu schlagen!“, gab Reinhold zurück, dann richtete er den Mann zusammen mit Sven wieder auf. Finkle rappelte sich ebenfalls hoch, wobei ihm Blut auf sein Hemd tropfte.

„Polizeigewalt nenne ich das“, verkündete der Mann.

„Nennen Sie das, wie Sie wollen“, meinte Reinhold nur.

„Hat jemand von euch Taschentücher?“, fragte Finkle flehend, auf dessen Hemd immer mehr rote Punkte auftauchten. Sven nickte und fing an, in seiner Hosentasche zu kramen, bis er eine Packung Taschentücher zu fassen bekam, die er Finkle reichte.

„Und ich dachte, Sie hätten kein Interesse an Prügeleien“, meinte Reinhold zu Finkle, während sie den mutmaßlichen Einbrecher zum Polizeiauto zurückschleppten.

„Hatte ich auch nicht“, schniefte Finkle durch eine ganze Packung Taschentücher. „Aber Sie beide schienen mir nicht so schnell heute…“

Der Kuchen, dachte Reinhold verbissen. Sein Seitenstechen spürte er immer noch. Dann kamen zum Glück das Auto und der Zeuge in Sicht.

„Ist er das?“, rief Reinhold dem Zeugen zu, der ihnen daraufhin entgegengelaufen kam.

„Hmm…“, machte der Zeuge. „Ich habe ihn nur von hinten gesehen…“

Reinhold stöhnte innerlich. Was sollte denn das jetzt heißen?

„Dann drehen wir ihn um“, meinte Sven. Reinhold nickte nur.

„Was soll der Scheiß?“, beschwerte sich der Mann dabei.

„Und?“, fragte Reinhold den Zeugen, der nachdenklich auf den Rücken des Mannes starrte.

„Der hatte was Anderes an…“

„Bitte?“

„Was Dunkleres…“

„Könnte er sich ausgezogen haben“, schniefte Finkle. „In der Halle.“

„Ich gehe nachsehen“, sagte Sven und verschwand, sodass Reinhold den Mann alleine festhalten musste. Finkle war nach wie vor mit seiner Nase beschäftigt.

„Wenn Sie sich vorstellen, dass er etwas Dunkles anhätte, eine Jacke zum Beispiel, sähe er dann so aus?“, fragte Reinhold nochmals.

„Ich weiß nicht… ich bin mir nicht sicher…“

„Ich dachte, Sie hätten ihn verfolgt? Da müssen Sie ihn doch gesehen haben!“

„Die Haare kamen mir eher dunkelbraun vor…“

Reinhold blickte kurz auf den Hinterkopf des Mannes. Die Haare erinnerten irgendwie an Stroh, sowohl was die Farbe als auch die Struktur betraf.

„Vielleicht wegen der Lichtverhältnisse“, überlegte Finkle. „Die Haare scheinen mir ein bisschen changierend…“

„Was?“, fragte der Zeuge. Reinhold musste zugeben, dass er das letzte Wort durch die vielen Taschentücher auch nicht verstanden hatte.

Finkle schniefte nur etwas, da kam Sven wieder angerannt.

„Ich hab‘… auf die Schnelle… keine Jacke… gefunden…“, keuchte er. „Aber da sind… auch so… Kisten…“

„Sollten wir wohl nochmal einen Durchsuchungstrupp hinschicken“, meinte Reinhold.

„Ich hatte keine Jacke, Mann“, beschwerte sich der Festgenommene schon wieder.

„Wir nehmen Sie jetzt erstmal mit“, erklärte Reinhold. „Sie fahren uns hinterher“, fügte er an den Zeugen gewandt hinzu. „Und während der Fahrt überlegen Sie nochmal genau, wie der Mann ausgesehen hat, den Sie verfolgt haben!“

3

Giovanni Farfalloni, ein kleiner, aus Italien stammender Kripobeamter, der genauso aussah, wie Reinhold sich schon immer einen Italiener vorgestellt hatte, stand rauchend vor dem Eingang des Präsidiums, als Reinhold und Sven den mutmaßlichen Einbrecher über den Parkplatz zum Präsidium schleppten. Finkle, an dessen Nase sich eine Blutkruste gebildet hatte, kam ihnen mit dem Zeugen, welcher sich als Henri Sünninger vorgestellt hatte, hinterhergeschlurft.

Als Giovanni die Kollegen erblickte, trat er sofort die Zigarette aus und kam ihnen einige Schritte entgegen.

„Was habt denn ihr schon so früh am Morgen eingefangen?“, begrüßte er sie.

„Martin Reisner, laut seinem Ausweis“, erklärte Sven mit Blick auf den Mann, der nach wie vor ein beleidigtes Gesicht zog.

„Und was verschafft uns die Ehre?“

„Eventuell ist er der Einbrecher…“

„Der Einbrecher?“

„Ich weiß nicht, was Sie alle von mir wollen“, mischte sich Martin Reisner ein.

Reinhold beschloss, ihn nicht weiter zu beachten. „Das dort ist Herr Sünninger, der hat diesen Herrn möglicherweise beobachtet“, erklärte er Giovanni. „Vielleicht nimmst du seine Aussage auf?“

„Und was ist mit Herrn Finkle passiert?“, fragte Giovanni zurück.

„Nichts.“

„Alles bestens“, verkündete Finkle, womit sich Giovanni vorerst zufriedengab und den Zeugen zu sich winkte. Reinhold und Sven setzten ihren Weg zum Präsidium fort.

*

Sie hatten gerade zwei Schritte durch die Tür gemacht, da kam ihnen bereits Frau Hof persönlich entgegengestöckelt. Direkt neben der Anmeldung stand Magnus König und winkte ihnen zu, was Reinhold aber nicht sah, da er an nichts Anderes denken konnte, als wie er das mit Finkle erklären sollte.

„Herr Kolspra, Herr Hansen! Haben Sie ihn?“, rief Frau Hof. Irgendjemand musste ihr wohl schon von der Aktion erzählt haben.

„Wenn er es ist“, brachte Reinhold mühsam hervor. Finkle stand noch hinter ihm, Frau Hof schien ihn noch nicht gesehen zu haben.

„Ach was! Natürlich ist er es! Der hat den Landkreis jetzt lange genug in Atem gehalten! Sehen Sie zu, dass Sie ihm ein Geständnis herauskitzeln! Und was er mit der Beute gemacht hat!“

Reinhold schluckte. Falls das doch nicht der richtige Mann war, nützte das dem Landkreis doch nichts, auch nicht, wenn man ihn zu einem Geständnis bringen würde.

„Sehr gute Arbeit! Und das nur zu zweit, wie ich gehört habe…“, fuhr Frau Hof erfreut fort, dann brach sie abrupt ab, als Finkle neben Reinhold trat.

„Herr Finkle, da sind Sie ja! Polizeimeister Feebe vermisst Sie schon… Sagen Sie mal, was ist da mit Ihrer Nase passiert?“

„Auf dem Parkplatz… hingefallen“, erklärte Finkle.

„Quatsch! Angegriffen hat der mich!“, widersprach Reisner.

„Er hat Sie auf dem Parkplatz angegriffen?“, fragte Frau Hof interessiert.

„Nein, nicht auf dem Parkplatz! Dort, wo…“

„Ich glaube, der Herr redet wirres Zeug“, fiel ihm Finkle ins Wort. „Sie sollten einen Drogentest anfordern.“

„Sie reden wirres Zeug!“, rief Reisner. Frau Hof blickte interessiert zwischen ihm und Finkle hin und her.

„Herr Kolspra, was halten Sie von einem Drogentest?“, fragte sie dann.

„Ja“, sagte Reinhold, der nur schnellstmöglich aus dieser Situation herauskommen wollte, bevor Frau Hof doch noch mitbekam, wie es wirklich zu Finkles Nase gekommen war.

„Hervorragend. Dann gehen Herr Finkle und ich zu Doktor Klein, Herr Finkle lässt seine Nase verarzten und dann kommen wir mit Klein zu Ihnen“, verkündete Frau Hof fröhlich. „Und bis dahin haben Sie schon etwas in Erfahrung gebracht. Nicht, Kolspra?“

*

Noch leicht irritiert darüber, dass Frau Hof bezüglich Finkles Nase nicht weiter nachgehakt hatte, steuerte Reinhold mit diesem Reisner und Sven durch die Untersuchungshaft auf den nächsten Verhörraum zu. Feebe hatte sich bereits davor positioniert, die Nachricht über die erfolgreiche Festnahme musste schon die Runde durchs Präsidium gemacht haben, dachte Reinhold. Feebes strahlend blaue neue Polizeiuniform fiel Reinhold erst im zweiten Moment auf, möglicherweise, weil er blaue Uniformen noch aus Schweden gewohnt war.

„Nur herein!“, verkündete Feebe fröhlich. Er hielt den Kollegen selbstbewusst die Tür auf, was wohl an der neuen Uniform liegen musste. „Ich habe schon drei Wassergläser vorbereitet!“

Reinhold und Sven nickten nur, während sie Reisner durch die Tür zogen. Ehrlich gesagt, interessierten sie sich im Moment einzig dafür, diesen Reisner irgendwo absetzen zu können, bewegte sich der Mann doch immer weniger aus eigenem Antrieb, je näher sie dem Tisch kamen.

Reinhold warf einen kurzen Blick zu Feebe, ob er ihnen vielleicht helfen wollte, aber der Mann hatte sich schon vor der Scheibe positioniert und war ganz darin vertieft, sein Spiegelbild zu analysieren.

Reinhold seufzte, dann hatten sie endlich einen Stuhl erreicht, auf dem sie Reisner absetzten. Reinhold nahm ihm die Handschellen ab, Sven stürzte schon zu einem weiteren Stuhl davon, um erschöpft darauf niederzusinken und eines der Wassergläser in einem Zug leerzutrinken.

„Gibt’s hier nichts Besseres?“, beschwerte sich Reisner mit Blick auf das vor ihm befindliche Wasserglas.

„Nee“, sagte Reinhold knapp, dann begab auch er sich zu dem Stuhl neben Sven. Aus dem Augenwinkel beobachtete er Feebe dabei, wie er seine Krawatte neu knotete.

„Was ist jetzt?“, fragte Reisner ungeduldig. Reinhold bemühte sich, seinen herausfordernden Blick nicht zu beachten, und trank stattdessen ebenfalls aus seinem Glas.

„Sie können mich nicht einfach grundlos festhalten, das wissen Sie doch bestimmt“, fing Reisner die Polizisten dann zu belehren an. „Dieser angebliche Zeuge hat mich ja noch nicht einmal erkannt…“

„Was haben Sie denn da in der Lagerhalle gemacht?“, fragte Sven. Reinhold schlürfte noch an seinem Wasserglas, um nichts sagen zu müssen und stattdessen Feebe beobachten zu können, wie er sein Hemd richtete.

„Ich weiß nicht, was Sie das angeht“, gab Reisner zurück.

„Ich denke nicht, dass Ihnen die Halle gehört, oder? Und Ihr Verhalten bei unserem Auftauchen war alles andere als unverdächtig.“

„Übersprungshandlung…“

„Wegen was?“

„Sie hätten ja auch die Einbrecher sein können, da habe ich mich lieber davon…“

Reisner brach ab, als es an die Tür des Verhörraums klopfte. Reinhold wechselte einen verwunderten Blick mit Sven. Ob Doktor Klein mit Finkle schon fertig war?

Feebe schob nochmals seine Krawatte zurecht, dann sprang er zur Tür. Allerdings schien er nicht so recht gefasst auf denjenigen, der dort angeklopft hatte: Ein perfekt gekleideter Herr mit gegelten Haaren, hundertmal selbstbewusster als Feebe, woran auch die neue Uniform nichts ändern konnte.

„Schottmeier. Ist mein Mandant hier drin? Ah, ich seh‘ schon“, sagte der Mann und fing an, sich an Feebe vorbeizudrängen. Reinhold beobachtete ihn mit gestocktem Atem, war dieser Schottmeier doch der Anwalt dieses Mighty Trouble-Mitglieds, das damals von Georg Ritter verprügelt worden war. Und scheinbar auch von diesem Reisner, so wie sich das anhörte.

„Was ist bei Ihnen, Karneval?“, fragte Schottmeier mit Blick auf Feebes Uniform, woraufhin Feebe offensichtlich um ein paar Zentimeter schrumpfte. Reinhold überlegte derweil fieberhaft, wie dieser Schottmeier so schnell von Reisners Festnahme erfahren haben konnte.

„Die Herren Kommissare. Was werfen Sie dem Herrn vor?“

Reinhold öffnete den Mund, allerdings nicht schnell genug, sodass Reisner an seiner Stelle verkünden konnte, dass man ihn für den Serieneinbrecher hielt, der schon seit Wochen fast jede Nacht irgendwo im Kreis Landsberg in ein Häuschen oder ein Auto eindrang.

„So was glauben Sie? Wie kommen Sie dazu? Irgendwelche Beweise?“

„Ein Zeuge hat…“, fing Reinhold an, aber Schottmeier fiel ihm sofort wieder ins Wort.

„Der Zeuge hat seine Aussage zurückgenommen, wie ich gehört habe. Also können wir jetzt gehen. Kommen Sie.“

Fassungslos musste Reinhold mitansehen, wie Schottmeier seinen mittlerweile breit grinsenden Mandanten am Arm packte und hochziehen wollte.

„Au!“, rief Reisner dabei.

„Was ist da mit Ihrem Arm? Ist das bei der Festnahme passiert?“, fragte Schottmeier sofort.

„Ja…“

„Wer von Ihnen beiden war das?“

Reinhold wollte die Schuld gerade auf sich nehmen, bevor dieser Schottmeier irgendetwas von Finkles Beteiligung an der Festnahme erfahren konnte, da fing Reisner schon wieder an:

„Keiner von denen. So ein kleinerer mit einer schrumpeligen Nase… Dem habe ich ordentlich eines auf die Nase gegeben…“

Schottmeier blickte kurz zu den Kommissaren, die sich beide versteift hatten.

„Finkle?“, fragte er dann ungläubig.

„Ich weiß nicht, wie der heißt“, antwortete Reisner.

„Aber eine Schrumpelnase hatte er?“

„Ja, und ich habe ihm ordentlich eine…“

„Psst! Sie haben Ihren inhaftierten Kollegen zu einer Festnahme mitgenommen?“

„Nein“, sagte Reinhold.

„Dann wurde ich also gar nicht von einem richtigen Polizisten festgenommen?“, überlegte Reisner.

„Eben“, stimmte Schottmeier zu. Reinhold öffnete den Mund, um zu protestieren, da ging schon wieder die Tür zum Verhörraum auf und ein Mann, nicht größer als Finkle, mit einem weißen Kittel, erschien.

„Doktor Ulrich Klein, Gerichtsmediziner“, verkündete der Mann ahnungslos. „Ich soll hier einen Drogentest vornehmen?“

„Nichts da, wir gehen jetzt“, erklärte Schottmeier und zog Reisner nun endgültig vom Stuhl.

„Wie bitte?“

„Wir haben alles geklärt.“

Reisner ließ sich von Schottmeier zur Tür eskortieren, wo kurz Finkles Kopf auftauchte.

„Der war das!“, rief Reisner fröhlich.

*

Reinhold hörte die Schritte von Reisner und Schottmeier auf dem Gang verhallen, während er, immer noch steif und mit klopfendem Herzen, auf das Aufnahmegerät auf der Mitte des Tisches starrte. Klein drückte sich mit Finkle, dem man ein Pflaster auf die Nase geklebt hatte, in den Raum. Feebe sank deprimiert auf dem freigewordenen Stuhl nieder.

„Der hat meine Uniform für ein Kostüm gehalten“, winselte er und vergrub das Gesicht in den Händen. Finkle eilte zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

„Das war nur ein gelackter Anwalt, den würde ich nicht ernstnehmen“, meinte er. „Die Uniform sieht gut aus.“

„Finden Sie?“, fragte Feebe immer noch verunsichert. Finkle nickte.

Reinhold fing an, an dem Aufnahmegerät herumzufummeln, um sicher zu gehen, dass es ausgeschaltet war. Wieso musste Finkle nur da in der Tür auftauchen? Jetzt war es nur noch eine Frage der Zeit, bis Schottmeier Frau Hof alles erzählen würde…

„War der das jetzt oder nicht?“, fragte da Klein. Reinhold bemühte sich, immer noch beschäftigt zu wirken.

„Wissen wir nicht“, seufzte Sven.

„Das heißt, die Einbrüche gehen weiter?“

Sven zuckte mit den Schultern, dann stupste er Reinhold an, damit er doch auch mal etwas sagen würde.

„Was ist mit Finkles Nase?“, fragte Reinhold daraufhin.

„Hä?“, machte Klein verwirrt.

„Gebrochen?“

„Nein, nur blutig…“

„Gut“, sagte Reinhold und erhob sich. Er wollte nun schnellstmöglich zur Toilette gelangen, bevor Frau Hof ihn abfangen konnte.

„Was machen wir da jetzt?“, fragte Sven, aber Reinhold machte nur eine abwehrende Handbewegung und stürzte aus dem Raum.

Der Kuchen schien mittlerweile ausreichend verdaut und so stürmte Reinhold in rasender Geschwindigkeit den Gang mit den Zellen entlang, bis die Anmeldung wieder in Sicht kam. Ein Postbote stand dort und überreichte dem diensthabenden Polizisten, einem Mann namens Thomas Eichinger, ein Päckchen. Reinhold dachte sich nichts weiter dabei, als dass es sicherlich eine Lieferung Kugelschreiber oder Bleistifte für den Tag der offenen Tür beinhaltete, und sprintete weiter auf die Treppe zum Kripotrakt zu.

Er war abermals dabei, einen Fuß auf die erste Stufe zu setzen, da hörte er Thomas hinter sich rufen: „Reinhold, warte!“

Nicht schon wieder, dachte Reinhold. So würde er nie in sein Büro oder zur Toilette kommen…

„Reinhold, das Päckchen hier…“

Etwas widerwillig drehte sich Reinhold wieder um und sah Thomas samt Päckchen auf ihn zu humpeln. Normalerweise wäre er ihm sicherlich entgegengelaufen, aber da er kein Päckchen angefordert hatte und sowieso bald entnervt war, ließ er es dieses Mal.

„Das ist für dich“, erklärte Thomas und hielt Reinhold das Päckchen hin.

„Wieso? Was ist das?“, fragte Reinhold verständnislos.

„Weiß ich nicht. Aber für dich ist es. Da hat sich jemand große Mühe gegeben: Extra ein Etikett ausgedruckt mit der Aufschrift An Herrn Hauptkommissar Reinhold Kolspra. Jetzt nimm schon…“

Immer noch etwas widerwillig nahm Reinhold das Päckchen zur Hand und betrachtete zunächst das ausgedruckte Etikett, dann suchte er nach einem Absender, ohne einen zu finden.

„Was soll das sein?“, fragte er nochmals.

„Vielleicht kriegst du auch so eine blaue Uniform?“

„Ich habe keine angefordert…“

„Ich habe gehört, wenn die neuen Uniformen eingeführt werden, soll jeder Beamte mindestens eine bekommen, egal ob uniformiert oder nicht. Für offizielle Anlässe, damit man ordentlich aussieht…“

Reinhold schnaubte. Eigentlich fand er, dass er immer ordentlich aussah, bemühte er sich doch, jeden Tag ein gebügeltes Hemd anzuziehen. Und außerdem war dieses Päckchen viel zu schwer für Reinholds Geschmack, um nur eine Uniform zu beinhalten.

„Schau halt rein, dann weißt du’s…“

„Mhm“, machte Reinhold nur und wollte sich wieder umdrehen.

„Kolspra!“, rief es da durch die ganze Eingangshalle.

Reinhold und Thomas zuckten gleichermaßen zusammen. Reinhold überlegte, ob er es noch wagen könnte, zur Toilette zu sprinten, aber sie schien ihn schon gesehen zu haben. Frau Hof.

„Ich geh‘ dann mal wieder“, flüsterte Thomas und humpelte zurück zur Anmeldung. Frau Hof war mittlerweile fast bei Reinhold angelangt. Dass sie nicht mehr so fröhlich war wie bei ihrer ersten Begegnung, war offensichtlich.

„Kolspra! Wissen Sie, was ich soeben von Herrn Rechtsanwalt Schottmeier erfahren musste?“

Reinhold nickte schuldbewusst.

„Soll ich es Ihnen sagen oder sagen Sie es mir?“

Reinhold schluckte. Irgendwie war ihm nicht so, als könnte er eine gute Erklärung abgeben.

„Dass Sie Herrn Finkle mit zu einem Außeneinsatz genommen haben, obwohl wir besprochen hatten, dass er nicht über den Parkplatz hinausdarf! Und dass dieser Außeneinsatz genau die Festnahme dieses Herrn Reisner war und Finkle den Herrn überwältigen musste, weil Sie nicht schnell genug waren! Und das, obwohl Sie sonst immer so schnell sind! Was war da los?“

Der Kuchen, dachte Reinhold. „Es waren keine anderen Kollegen verfügbar…“, würgte er hervor.

„Da hätten Sie in Buchloe oder weiß der Geier wo anrufen und Unterstützung anfordern müssen, Kolspra!“

„Aber es musste schnell gehen…“

„Sie hätten schneller rennen müssen!“

Reinhold blinzelte irritiert. Er war doch schnell gerannt…

„Wenn das bei der nächsten Festnahme nicht besser wird… Was wollen Sie überhaupt mit dem Paket da?“

„Weiß ich nicht…“

„Sie wissen es nicht? Herr Kolspra, wie ist Ihr Vorname? Wo befinden wir uns?“

„Ich… ich meinte, ich habe nichts bestellt… Ich weiß nicht, was das ist…“

„Zeigen Sie mal her!“, forderte Frau Hof und wedelte mit der Hand, bis Reinhold ihr das Päckchen gab.

„Puh, das müffelt aber!“, entfuhr es Frau Hof, während sie wie Reinhold nach einem Absender suchte. Reinhold schnupperte etwas, da merkte auch er, dass da ein komischer Geruch in der Luft lag.

„Sie sollten das nicht einfach so aufmachen“, entschied Frau Hof. „Nicht, dass da eine Briefbombe drin ist. Holen Sie mal Ihren Herrn Kriminaltechniker, ich bringe das vorsichtshalber nach draußen.“

Reinhold nickte, dann nutzte er die Chance, in Richtung Kriminaltechnik davonzurennen und Erik Pretzel Bescheid zu geben.

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