Hühneralarm - Mira Pullini - E-Book

Hühneralarm E-Book

Mira Pullini

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Beschreibung

Der Frieden auf der Hühnerwiese von Frau Hahnemann hat ein jähes Ende, als die Hühnerhalterin eines Morgens nicht zur obligatorischen Sieben-Uhr-Grünzeug-Fütterung erscheint. Schnell ist den Hühnern - und Ausnahme-Hybridhuhn Scarletti im Besonderen - klar, dass hier etwas vorgefallen sein muss. Scarletti ruft eilig den nächstgelegenen Nachbarn auf den Plan, welcher die Polizei informiert. Dem glücklicherweise sehr tierlieben Hauptkommissar Kolspra kommt Frau Hahnemanns Verschwinden genauso merkwürdig vor wie Scarletti und nach dem Umzug der Hühner vor das Polizeipräsidium stürzen sich Kolspra und Scarletti - jeder auf seine Art - in die Ermittlungen. Die Zeit drängt, schließlich weiß niemand, ob Frau Hahnemann mit ihrem überlebenswichtigen Ringelblumentee versorgt wird, und die kleine Rasenfläche vor dem Präsidium ist von Seiten der Hühner schon nach einem Tag abgegrast... Eine nervenaufreibende Suche nach der Hühnerhalterin beginnt, auf der die Hühner der Polizei stets einen Schritt voraus sind. Ein Krimi-Spaß für alle Hühnerfreunde und die, die es werden wollen!

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Mira Pullini

Hühneralarm

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Gleicher Ort, gleiche Zeit, drei Tage später…

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Das Ende

Impressum

Prolog

Der Zeiger auf der großen alten Kuckucksuhr zeigte exakt halb neun, als Frau Hahnemann zur Terrassentür hereinkam. Sie hatte soeben im Garten den ordnungsgemäßen Verschluss der elektrischen Hühnerklappe kontrolliert, das war ihr sehr wichtig, denn zu Hundertprozent hatte sie noch nie auf die Technik vertraut. Diese elektrische Hühnerklappe war ein Geschenk ihres Nachbarn gewesen, den sie in Ausnahmesituationen mit der Versorgung ihrer Hühner beauftragte, aber auch nur dann, denn der liebe Herr Nachbar war noch nie sonderlich motiviert bei der Sache gewesen, wenn es um die Versorgung der lieben Hühner ging. Daher rührte wohl diese elektrische Klappe, denn so musste der liebe Herr Nachbar nicht vor den Hühnern aufstehen. Eher ein Geschenk an ihn selbst also als an Frau Hahnemann, die, wie gesagt, immer das Bedürfnis verspürte, das ordnungsgemäße Öffnen und Schließen dieser Klappe zu beaufsichtigen.

Im Haus war es bereits noch dunkler als auf der Terrasse, sodass Frau Hahnemann, die sowieso nicht mehr die jüngste war, kaum etwas sah. Das machte aber nichts, schließlich bewohnte sie seit mindestens dreißig Jahren dieses Haus, das sie einst von ihrer Tante geerbt hatte, und so tappte sie halbblind durch das Wohnzimmer in den Gang und auf die Haustür zu, um zu kontrollieren, dass sie diese auch abgeschlossen hatte. Eigentlich schloss sie die Haustür bereits vor dem Kontrollieren der Hühnerklappe ab, aber seitdem sie es vor zwei Jahren einmal vergessen und sich dadurch am nächsten Morgen zu Tode erschrocken hatte, musste auch dies überprüft werden.

In der Haustür war zudem ein Schlitz für die Post integriert, was den Vorteil brachte, dass man sämtliche Briefe direkt vor die Füße geworfen bekam und somit nie vergessen konnte, seinen Briefkasten zu leeren. Der entscheidende Nachteil allerdings war, dass man hervorragend auf seiner eigenen Post ausrutschen konnte, wenn man verträumt den Gang entlanglief, ohne mit einem Prospekt zu rechnen. Oder im Halbdunkeln unterwegs war. So wie an diesem Tag.

Frau Hahnemann war gedanklich ganz darauf eingestellt, diese Tür zu überprüfen, also hatte sie schon lange die Türklinke fokussiert, während sie so auf die Tür – und den Postschlitz – zusteuerte. Es fehlte noch ein Schritt, bis sie die Klinke hätte drücken können, aber da war sie schon auf den Zettel getreten, der um diese Uhrzeit an dieser Position nichts zu suchen hatte. Schwungvoll schlitterte sie auf die Tür zu und konnte sich gerade noch abfangen, bevor sie mit dem Kopf dagegen gekracht wäre.

„Was zum Geier…“, entfuhr es ihr und sie besah sich ihre geröteten Hände, die dabei umso mehr schmerzten. Ihr erster Gedanke war, dass da eines ihrer ehrenwerten Hühner etwas Feuchtes hinterlassen hatte, erinnerte sie sich doch, dass ihr an diesem Tag zwei Exemplare in die Küche gefolgt waren. Die beiden exzentrischen Weißen, Netti und Betti, die Frau Hahnemann gerade noch rechtzeitig aus einem Legebetrieb gerettet hatte, bevor sie zu Suppenhühnern verarbeitet worden wären, und die so schrecklich dünn waren, dass sie ihnen fast alles durchgehen ließ.

„Wenn ich euch kriege…“, schimpfte sie, wohlwissend, dass sie niemals mit diesen chronisch verhungerten Hühnern würde schimpfen können, und beugte sich nach unten, um sich das Schlamassel anzusehen. Aber da war nur dieser Zettel, der nun etwas zerknittert war.

Irritiert bückte sich Frau Hahnemann nach unten, um das Teil aufzuheben und auseinanderzufalten. Es war wohl eine Art Brief, so viel war klar, aber in einer dermaßen unleserlichen Schrift geschrieben, dass Hühnergescharre schon fast ordentlicher aussah. Sehr geehrte Frau Hahnemann – so viel konnte man noch erkennen, dann sah Frau Hahnemann ein, dass sie zu ihrer Brille am Wohnzimmertisch gehen und das Licht einschalten musste.

Wir, zwei junge Männer mit viel Tatendrang und einer genialen Geschäftsidee, las sie weiter, kontaktieren Sie auf diesem Wege, da wir gehört haben, welch ausgezeichnetes Kräuterwissen Sie haben. Genau das fehlt uns, leider, zur Verwirklichung unserer Geschäftsidee, deswegen würden wir uns sehr freuen, wenn Sie zu uns stoßen würden. Wir teilen den Gewinn unter der Hand in drei Teile, niemand muss davon erfahren. Das ist die Möglichkeit für Sie, sich neben ihrer Rente etwas dazuzuverdienen! Interessiert? Wir freuen uns auf Sie!

Darunter stand noch eine Adresse, genauso unleserlich wie der Rest. Frau Hahnemann gab sich keine Mühe, sie zu entziffern, da sie nicht geneigt war, sich mit irgendwelchen Männern wegen irgendeiner Geschäftsidee zu treffen. Dieses „niemand muss davon erfahren“ klang nicht besonders vertrauenswürdig, also beschloss sie, nicht weiter darauf einzugehen. Sie zerriss den Zettel, bei dieser Schrift war es wirklich nicht schade drum, knipste das Licht wieder aus und machte sich abermals auf, ihre Haustür zu kontrollieren.

Gleicher Ort, gleiche Zeit, drei Tage später…

Irgendwie wollte Frau Hahnemann dieser merkwürdige Zettel vor drei Tagen vor ihrer Tür nicht aus dem Kopf gehen, während sie den schmalen gepflasterten Weg entlang dackelte, der vom Hühnerauslauf zur Terrassentür führte. Es irritierte sie nach wie vor, dass jemand sie persönlich zu einer Geschäftsidee hinzuziehen wollte, die mit Kräutern zu tun hatte, über die es doch genügend Fachbücher gab. Oder über die man im Internet recherchieren konnte, Internet mussten so zwei junge Männer doch haben. Oder hatten sie etwa keinen Computer, wenn sie trotz ihrer hässlichen Schrift einen handschriftlichen Brief an sie schrieben?

Wahrscheinlich hielten sie sie für so alt, dass sie nur auf einen handschriftlichen Brief eingehen würde, beantwortete sie sich ihre Frage selbst. Dass zwei junge Männer keinen Computer oder Laptop hatten, konnte eigentlich nicht sein.

Kopfschüttelnd schlurfte die Dame durch die Terrassentür und weiter auf die Haustür zu, den Blick auf den Boden gesenkt, um einen Zettel zu entdecken, falls noch ein weiterer käme. Aber da war keiner, zum Glück auch. Vielleicht hatten die Herren ja mittlerweile doch eingesehen, dass sie das Internet bemühen sollten. Dann mussten sie ihren Gewinn immerhin nur durch zwei teilen…

Also schlurfte Frau Hahnemann weiter in Richtung Schlafzimmer, ohne nochmals die Haustür zu kontrollieren. Dann hätte sie wahrscheinlich gemerkt, dass sie sie vor lauter Nachdenken über diesen Zettel noch nicht abgeschlossen hatte. So allerdings tappte sie völlig unbedarft durch die Schlafzimmertür.

Im Schlafzimmer war es wahrlich noch dämmriger als im Flur, hatte irgendjemand doch schon die Vorhänge zugezogen. Frau Hahnemann konnte sich nicht direkt erinnern, dass sie das gewesen war. Sie war wohl geistig zu sehr mit diesem Zettel beschäftigt gewesen.

Also schlurfte sie auf das Bett zu und beschloss, nicht weiter über diesen Zettel nachzudenken, da blieb sie mit einem Fuß an irgendetwas hängen. Das Etwas gab nach, trotzdem verlor Frau Hahnemann das Gleichgewicht, ihr zweiter Fuß blieb ebenfalls hängen, kurz durchzuckte sie der Gedanke, dass da jemand ein Seil durch ihr Zimmer gespannt hatte, was aber eigentlich nicht sein konnte. Sie streckte die Hände aus, aber ihr Fall war zu schnell, als dass sie ihren Kopf gut genug hätte abfangen können. Unsanft stieß sie an die Bettkante und blieb benommen liegen. Nur gedämpft hörte sie, wie irgendjemand hinter der Tür hervorkam – oder auch aus dem Schrank, so genau wusste man das nicht.

„Das hat ja ziemlich gerumst“, ertönte da eine männliche Stimme, „hoffentlich hat sie sich nicht verletzt…“

„Mach dir nicht ins Hemd“, erwiderte ein anderer Mann, deutlich lässiger als der erste, „nach Allem, was ich gehört habe, soll die ziemlich robust sein.“

„Ich dachte, du hättest gesagt, sie wäre alt?“

„Das eine schließt das andere ja nicht aus.“

„Meinst du? Wir sollten trotzdem mal nachsehen.“

„Jetzt schaffen wir sie erstmal ins Auto, bevor sie wieder aufwacht. Danach sehen wir weiter.“

1

Scarletti war immer das erste der Hühner, wenn es darum ging, das ordnungsgemäße – sprich das rechtzeitige und vollständige – Öffnen der Hühnerklappe am Morgen zu überwachen. Auch wenn es im Stall noch dunkel war, so wusste Scarletti sowohl, wo sich die Hühnerklappe befand als auch, wann sie aufzugehen hatte, und positionierte sich bereits zehn Hühnerminuten vorher in der Regel exakt vor der Klappe.

Dann, nach natürlich exakt zehn Hühnerminuten, erklang endlich das gewohnte Rattern, das den Hühnern anzeigte, dass es jetzt losgehen würde. Ein heller Schlitz tat sich am Boden auf, der langsam größer wurde und Scarletti zeigte, dass sie sich natürlich exakt ohne einen Millimeter Abweichung vor der Hühnerklappe platziert hatte. Das konnte man so genau sagen, denn die Klappe war kaum größer als Scarletti selbst. Genau genommen war Scarletti eines der wenigen Hühner, das exakt die richtigen Proportionen aufwies, um durch die Hühnerklappe zu kommen, ohne sich verbiegen zu müssen.

So schoss Scarletti auch an diesem Morgen, sobald sich die Klappe ganz geöffnet hatte, exakt in der Mitte durch die Klappe, eine schmale Hühnerleiter hinunter und flatterte einige Meter den Rasen entlang bis zu der Stelle unter dem Haselnussstrauch, an der sie am vorherigen Abend den Regenwurm gesehen hatte. Laut ihrer Berechnung dürfte der Wurm bei einer maximalen Wurmgeschwindigkeit höchstens zehn Zentimeter weitergekommen sein, also fing Scarletti exakt zehn Zentimeter weiter in die Richtung zu graben an, in der ihr der Wurm entwischt war.

Und natürlich fand sie ihn an der entsprechenden Stelle wieder. Scarletti erkannte sofort, dass es exakt dieser saftige Wurm war, bevor sie ihn im Bruchteil einer Sekunde einsaugte. Bei Scarletti war immer alles exakt und hatte auch so zu sein, anderenfalls bekam sie sofort Bauchschmerzen, die nur dadurch wieder verschwanden, wenn der exakte Zustand wieder hergestellt war. War das nicht möglich, so half nur noch, auf eines der rangniederen Hühner einzuhacken. Scarletti hatte das große Glück, in der Hackordnung an zweiter Stelle zu stehen, über ihr nur noch Hermine, ein graues Königsberger Huhn, das sich so benahm, wie es seine Herkunft vermuten ließ.

Scarletti dagegen war ein einfaches genormtes braunes Legehybridhuhn, wie es sie millionenfach in Deutschland gab, hatte Scarletti gehört. Leider hatte sie keine exakte Vorstellung davon, wie viel „millionenfach“ war, was sie immer wieder ins Grübeln brachte, aber es mussten sehr viele sein. Allerdings bildete sich Scarletti ein, ein deutlich röteres Gefieder als die anderen braunen Hühner vom Geflügelhof zu haben, weshalb sie sich mindestens einmal am Tag einredete, doch ein ganz besonderes Huhn zu sein. Das musste man auch, wenn man in der Hackordnung an zweiter Stelle stehen wollte, anderenfalls kamen einem zu viele Selbstzweifel und man sackte ab…

Scarletti überlegte kurz, ob sie noch weiter nach Würmern unter dem Haselnussstrauch suchen sollte, aber ein Blick gen Himmel zeigte ihr, dass gleich sieben Uhr war und dann die Hühneroma – so nannten die Hühner Frau Hahnemann – kommen und den Hühnern ihr Frühstück bringen musste.

„Kikeriki!“, rief da auch schon Karl-Gustav, ein prachtvoller braun-weiß gescheckter Hahn, ein Schwedischer Blumenhahn, der direkt aus Schweden importiert worden und darauf sehr stolz war. Bis auf Scarletti hatten sich schon alle weiteren acht Hühner um ihn herum versammelt, um das Frühstück in Empfang zu nehmen. Scarletti beobachtete sie, wie sie Karl-Gustav bewunderten, der ein weiteres „Kikeriki“ ertönen ließ: Hermine, die über Scarletti stehende Hühnerkönigin; die prachtvolle Suse, ein flauschiges schwarz-weißes Sussex; die gesperberte Antonie, Hermines Liebste und Scarletti daher immer ein Dorn im Auge; die beiden extrem schlanken weißen Legehybriden Netti und Betti aus der Hühnerfabrik; Frida, das eitle schwedische Blumenhuhn mit Haube, das passend zu Karl-Gustav aus Schweden importiert worden war; Mareike, ein gemütliches Barnevelder, welches von Antonie persönlich ausgebrütet worden war; sowie die uralte Bertha, ein dickes braunes Welsumer Huhn, das den größten Teil des Tages sitzend verbrachte und das Gras in einem Halbkreis um sich herum abfraß.

Scarletti schielte kurz Richtung Haus, aber Hühneroma war noch nicht zu sehen. Also setzte sie sich vorerst nur langsam in Bewegung. Aus Richtung Hühnerstall ertönte ein ersticktes „Gügerügü“, das wohl von Jean-Claude stammen musste, dem zweiten Hahn, der hinter Karl-Gustav immer das Nachsehen hatte. Er war ebenfalls von Antonie ausgebrütet worden und hätte auch ein Barnevelder sein sollen, aber so sah er keinesfalls aus, war er doch etwas klein und dünn geraten und hatte ein Gefieder in verschwommenem grau, weiß und gelb, was keinesfalls eine gelungene Kombination darstellte. Scarletti hatte öfters belauscht, wie Hühneroma gemutmaßt hatte, der Bruteierversand hätte die Barnevelder-Bruteier mit beliebigen Eiern aus dem Supermarkt vermischt und da sei dieser Jean-Claude herausgekommen.

Als Scarletti bei den übrigen Hühnern ankam, konnte sie auch Jean-Claude aus dem Hühnerstall stolpern sehen, der immer erst herausdurfte, wenn Karl-Gustav dreimal gekräht hatte.

„Die muss doch jetzt kommen!“, jammerte Betti. Mit „die“ war wohl Hühneroma gemeint.

Der Ansicht war Scarletti eigentlich auch. Es müsste jetzt exakt sieben Uhr sein.

„Wir verhungern!“, ergänzte Netti.

„Scarletti, wie spät ist es?“, fragte Hermine, die wusste, dass Scarletti alle Uhrzeiten exakt benennen konnte.

„Exakt zwei Hühnerminuten nach sieben, also eine Menschenminute nach sieben…“

„Und wann kommt Hühneroma normalerweise?“

„Exakt um sieben.“

„Genau. Kannst du sie rufen?“, forderte Hermine, um diese, wie auch die meisten Aufgaben, an Scarletti zu delegieren.

Scarletti gab ein zustimmendes „Puk“ von sich, schließlich war auch sie der Ansicht, dass solche Verspätungen von Seiten der Hühneroma eigentlich nicht zu dulden waren. „Wir verhungern!“, wiederholte sie, allerdings doppelt so laut und doppelt so kläglich wie Netti.

„Sehr gut, weiter…“, lobte Hermine.

„Wir verhungern! Wir verhungern! Wir verhungern! Wir verhungern!“

Scarletti lauschte kurz, ob sich im Haus etwas tat, aber dem war nicht so. Sogar die Vorhänge am Schlafzimmerfenster waren noch zugezogen, wie ihr nun auffiel. Das konnte eigentlich nichts Gutes bedeuten. Bisher hatten die Hühner kaum einmal erlebt, dass Hühneroma nicht pünktlich zum Frühstück erschienen war. Eigentlich nur, wenn der merkwürdige Nachbar die Versorgung der Hühner übernehmen musste. Und dieser Fall kündigte sich immer dadurch an, dass Hühneroma den Nachbarn im Garten herumführte und ihm jedes Mal aufs Neue die Hühnerpflege erklärte. Und das war in den letzten Tagen nicht der Fall gewesen.

Folglich krampfte sich Scarlettis Bauch zusammen und Panik fing an, in ihr aufzusteigen. Hermine und die anderen Hühner sahen sie erwartungsvoll an, daher fing sie nochmals an, zu schreien: „Pokpokpok Poook! Pokpokpok Poook! Pokpokpok Poook!“

„Da stimmt was nicht!“, kreischte Antonie.

„Ganz meine Meinung“, stimmte Hermine zu. „Scarletti, gehst du nachsehen?“

Scarletti hätte ein gehorsames „Puk“ oder „Tuk“ ertönen lassen müssen, aber es blieb ihr im Hals stecken, also drehte sie sich eilig um und rannte zu dem kleinen Loch im Zaun, durch das sie sich immer bei Bedarf hindurchquetschte. Jean-Claude schlich unpassenderweise hinter ihr her.

Scarletti hatte das Loch gerade erreicht, da hörte sie auch schon Jean-Claude hinter sich: „Soll ich dich vielleicht begleiten? Nicht, dass das gefährlich…“

Scarletti quetschte sich durch das Loch, ohne Jean-Claude zu beachten, der abbrach, als etwas Großes neben ihn geflattert kam.

„Das ist Chefsache“, verkündete Karl-Gustav.

Scarletti drehte etwas den Kopf und sah, wie Karl-Gustav Jean-Claude zur Seite drängte und sich ebenfalls durch das Loch quetschen wollte, aber steckenblieb, da er natürlich viel zu groß war.

Scarletti hätte den Kopf schütteln können, sah man doch mit nur einem Blick, dass nur Jean-Claude exakt durch das Loch gepasst hätte, nicht aber dieser Karl-Gustav, aber herauszufinden, was mit der Hühneroma los war, war ihr jetzt wichtiger. Also düste sie den gepflasterten Weg in Richtung Terrassentür entlang.

„Kacke!“, fluchte Karl-Gustav aus Richtung Zaun, da war Scarletti schon an der Terrassentür und ab durch die Katzenklappe.

2

Die beiden Typen fielen Reinhold sofort auf, als er aus der Fußgängerunterführung kam. Eigentlich war Samstag und er hatte frei und war auf dem Weg zu seinem Freund Sven, welcher an diesem Tag Geburtstag feierte und ihn als einzigen Ehrengast eingeladen hatte, damit er den Tag bei ihm verbringen konnte.

Aber nun standen da diese zwei Jünglinge auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Der eine, ein schwarzhaariger, faltete ein Blatt auseinander, während sich der andere, ein blonder, ein verdächtiges Pulver in einem kleinen Tütchen besah.

Instinktiv zog sich Reinhold in den Schatten der Unterführung zurück. Die beiden Herren schienen ihn noch nicht bemerkt zu haben, fing der Blonde doch nun an, etwas von dem Inhalt aus dem Tütchen auf das Blatt des Schwarzhaarigen rieseln zu lassen.

Reinhold musste zugeben, dass da trotz seines Urlaubs der Polizist mit ihm durchging, als er aus dem Schatten trat und anfing, schnellen Schrittes den Zebrastreifen zu überqueren. Der Schwarzhaarige bemühte sich derweil, das Blatt zu einem Röllchen zu rollen.

Dies zusammen mit der Tatsache, dass es erst Viertel nach sieben am Morgen war, erhärtete Reinholds Verdacht, dass hier etwas Illegales betrieben wurde.

„Grüß Gott!“, rief er, sobald er auf der anderen Straßenseite angelangt war. Der Blonde hatte schon ein Feuerzeug gezogen, aber der Schwarzhaarige drehte sich zu Reinhold um, bevor das Röllchen angezündet werden konnte, was Reinhold nur Recht war, schließlich benötigte er das Röllchen noch als Beweismittel.

„Was raucht ihr da so?“ Reinhold würde versuchen, sich zunächst kumpelhaft gegenüber den Männern zu verhalten, bis sie ihm das Röllchen ausgehändigt hatten.

Der Blonde warf dem Schwarzhaarigen einen verstörten Blick zu, was dieser aber nicht zu sehen schien. Der Schwarzhaarige schien sowieso der entspanntere von beiden zu sein.

„Unsere neue Kreation“, erklärte er. „Wollen Sie probieren?“

Reinhold lächelte dankbar, als ihm der Mann das Röllchen hinhielt.

„Was ist das genau?“, fragte er.

„Betriebsgeheimnis.“

„Klar.“ Reinhold hob das Röllchen zu seiner Nase. Da war eindeutig etwas Marihuanaartiges dabei.

„Was rauchen Sie denn sonst so?“, fragte der Schwarzhaarige.

Reinhold lächelte wieder und kramte in seiner Jackentasche nach einer Plastiktüte, wie er immer eine für den Fall der Fälle dabeihatte.

„Ich rauche gar nichts“, sagte er siegessicher.

„Bitte?“, entfuhr es dem schwarzhaarigen Mann. Der Blonde war erschrocken zusammengezuckt.

„Das ist beschlagnahmt.“ Reinhold zog die Plastiktüte aus seiner Tasche und steckte das Röllchen hinein.

„Das ist unsere Kreation! Geben Sie das wieder her!“, regte sich der schwarzhaarige Mann auf.

„Kolspra, Kripo Landsberg“, erklärte Reinhold. „Zeigen Sie mal Ihre Ausweise her.“

Nun blieb dem schwarzhaarigen Mann im wahrsten Sinne des Wortes der Mund offenstehen. Der Blonde fing mit schuldbewusstem Blick an, in seiner Jacke zu suchen.

„Los, Sie auch“, forderte Reinhold mit Nachdruck. Der Blonde hatte mittlerweile etwas hervorgeholt, was dieser Ausweis sein musste. Also machte Reinhold einen Schritt auf ihn zu, um ihm den Ausweis abzunehmen, der schwarzhaarige Typ stand immer noch regungslos da. Reinhold streckte seine Hand aus, der Blonde setzte an, seinen Ausweis in seine Hand zu legen, da sah Reinhold aus dem Augenwinkel die Faust des Schwarzhaarigen auf sein Gesicht zukommen. Er fing an auszuweichen, aber nicht schnell genug, die Faust landete auf seiner Nase. Der Schmerz war ungeheuerlich, Reinhold stolperte ein paar Schritte nach hinten und verlor das Tütchen. Der Schwarzhaarige schnellte nach vorne und packte die Tüte, Reinhold schrie „Hey!“, dann stiegen ihm Tränen in die Augen und er hatte Mühe, den Mann im Blick zu halten.

„Lauf!“, hörte er ihn seinem Kumpanen zurufen, dann sah er schemenhaft, wie die beiden lossprinteten. Reinhold versuchte, sich eilig die Augen trocken zu reiben und den Schmerz zu ignorieren, und rannte ebenfalls los. Er hatte erst wenige Schritte geschafft, da sah er, wie rote Tropfen unter ihm auf den Boden fielen, die wohl aus seiner Nase stammen mussten. Als er den Blick wieder hob, waren die beiden Männer schon mindestens fünfzig Meter entfernt und er sah ein, dass das so nichts werden würde. Er blieb wieder stehen, der Schmerz in der Nase wurde wieder stärker und weiteres Blut tropfte auf seine Jacke.

„För fan!“, fluchte er und zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche, das er sofort an die Nase drückte und das ebenso sofort mit Blut durchtränkt war.

„Oh Mann…“ Reinholds Augen wurden schon wieder feucht, also sank er auf den Boden nieder und fummelte sein Handy aus seiner Hosentasche hervor, während er mit der anderen Hand dieses durchweichte Taschentuch an seine Nase drückte. Er legte das Handy auf seinen Oberschenkel und fing an, Svens Handynummer einzugeben.

Reinhold schloss die feuchten Augen, während er auf das Tuten lauschte. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis es aufhörte.

„Na Reinhold, wo steckst du?“, hörte er dann endlich Svens Stimme.

„Sven…“, hauchte Reinhold, dann musste er erst etwas Blut hinunterschlucken, das ihm in den Mund gelaufen war.

„Ja?“

„Ich brauch‘ deine Hilfe, kannst du mich abholen?“

„Wo? Bist du noch bei Arabella?“

„Nein, ich… hier bei der Fußgängerunterführung…“

„Bei der Fußgängerunterführung?“

„Ja, bitte…“

„Warum hörst du dich so gequält an? Geht’s dir nicht gut?“

Reinhold musste wieder etwas hinunterschlucken. Er hatte noch nie erlebt, dass eine Nase so bluten konnte.

„Reinhold?“

„Ich… mich hat hier so ein Typ niedergeschlagen…“

„Wie bitte?“

„Als ich seinen Ausweis kontrollieren wollte…“

„Gütiger… Soll ich die Kollegen informieren?“

„Du sollst daher kommen und zwar zackig! Mit Taschentüchern! Ich rufe die Kollegen an.“

*

„Darf ich fragen, warum du am Samstagmorgen, wenn du frei hast und zu meinem Geburtstag eingeladen bist, die Ausweise von gewaltbereiten Typen kontrollieren willst?“, fragte Sven, als Reinhold mit in den Nacken gelegtem Kopf und Wattebäuschen in jedem Nasenloch bei ihm am Esstisch saß und sich von seiner Frau Margarethe umsorgen ließ.

Reinhold schielte kurz zu Sven, der sein dreijähriges Söhnchen auf dem Schoß hatte, welches an seinen Hemdknöpfen herumfingerte. Er wusste auch nicht genau, wie er das erklären sollte. Sven würde ihn hundertprozentig darauf hinweisen, dass er erst Verstärkung hätte anfordern müssen, bevor er die Männer angesprochen hätte.

„Hmm?“, hakte Sven nach.

„Du siehst doch, er kann so nicht sprechen“, mischte sich Margarethe da ein, was Reinhold nur Recht sein konnte.

„Ich denke, er hatte die Watte jetzt lang genug drin. Wir sollten mal schauen, ob es aufgehört hat.“

„Man sollte da nichts überstürzen. Oder willst du die Watte schon loswerden?“, fragte Margarethe und beugte sich über Reinhold.

Reinhold gab nur einen undefinierbaren Laut von sich. Eigentlich wollte er die Watte schon loswerden, aber Sven die Angelegenheit erklären, wollte er eigentlich nicht.

„Okay, wir schauen mal“, entschied Margarethe und zog Reinhold einen Wattebausch aus der Nase. „Schon sehr rot… Mach mal den Kopf nach vorne, dann schauen wir, ob es noch läuft.“

Ganz langsam senkte Reinhold seinen Kopf wieder in seine normale Stellung. Er hatte nicht das Gefühl, dass noch etwas nachlief, also zog er sich den zweiten Wattebausch ebenfalls heraus. Er war tatsächlich sehr rot.

„Kannst du wieder atmen?“, fragte Sven von der anderen Seite des Tisches. Reinhold nickte leicht, während er bekümmert den Wattebausch betrachtete.

„Dann kannst du mir also jetzt sagen, was da vorgefallen ist“, stellte Sven fest. Reinhold spürte, wie sich sein Blick in seine Seite bohrte, als Margarethe ihm den Wattebausch abnahm. Etwas unwillig wandte er sich Sven zu, dessen Söhnchen, ein fast identisches Ebenbild seines Vaters nur mit noch etwas heller blonden Haaren, weiter an den Hemdknöpfen hantierte.

„Die beiden Männer… waren kurz davor, illegale Drogen zu nehmen…“, versuchte Reinhold sich zu erklären.

„Wie? Was für Drogen?“

„Irgendwas zum Rauchen, kräuterig… Marihuana war bestimmt dabei, aber noch irgendwas Anderes…“

„Du hast nicht etwa auch probiert? Deswegen hat das so stark geblutet?“

„Nein, nur geschnuppert… Ich hatte das Zeug ja schon beschlagnahmt, aber dann hat mir der eine… auf die Nase…“

Sven seufzte und versuchte, sein Söhnchen von den Hemdknöpfen abzubringen.

„Grade vorgestern rief mich der Kollege Landsmann aus Buchloe an, dass da in der Drogenszene irgendwas im Gange ist. Irgendwas Neues… Die Leute werden noch bekloppter davon…“

„Mhm…“

„Ich sage dir, die beiden waren nicht zufällig um diese Zeit da!“

„Nicht aufregen, Reinhold, sonst fängt es wieder an.“

Reinhold seufzte und fasste sich an die Nase, aber sie war noch trocken.

„Vielleicht solltest du dich untersuchen lassen, wenn es wirklich irgendetwas Neues ist und du das inhaliert hast?“

„Ich habe nur ganz kurz geschnuppert“, wehrte Reinhold ab, der nicht geneigt war, sich untersuchen zu lassen. „Da kann man bestimmt nichts feststellen…“

„Vielleicht in den Wattebäuschen aus deiner Nase?“, überlegte Sven weiter.

„Musst du deine Frau fragen, wo sie die hinhat…“

Sven schubste sein Söhnchen von seinem Schoß, möglicherweise wollte er wirklich nach den Wattebäuschen suchen, da fing auf einmal Reinholds Handy zu klingeln an. Reinholds erster Gedanke war, dass die Kollegen von der Streife vielleicht die beiden Typen dingfest gemacht hatten. Aber als er das Handy aus seiner Tasche zog, wurde die Nummer seiner Freundin Arabella angezeigt. Fehlte nur noch, dass die Kollegen ihr schon von dem Unglück erzählt hatten…

„Was ist?“, fragte Sven, da Reinhold zögerte, dranzugehen.

„Arabella“, sagte Reinhold. „Hallo, mein Schatz“, sprach er dann in das Telefon und bemühte sich, so normal wie möglich zu klingen.

„Hi, bist du schon bei Sven?“, fragte Arabella. Reinhold irritierte diese Frage. Eigentlich hatte er erwartet, dass sie ihn fragte, ob er noch blutete oder ob er schon beim Arzt war.

„Ja… klar“, antwortete Reinhold.

„Okay, gut, dann kannst du ja mit Svens Auto fahren…“

Reinhold blinzelte irritiert. Was sollte jetzt das heißen? Hatte Arabella etwa schon einen Arzttermin für ihn ausgemacht?

„Ehm… wohin?“, überwand sich Reinhold zu sagen, dann meinte er, die Stimme des Kriminaltechnikers Erik Pretzel im Hintergrund zu hören und er fragte sich, was Arabella mit ihrem Kriminaltechniker zu schaffen hatte.

„Ach, entschuldige, hier in Ellighofen ist eine ältere Dame verschwunden, wahrscheinlich unfreiwillig… und da dachten wir, es wäre gut, wenn jemand von der Kripo vorbeikäme“, erklärte Arabella.

Reinhold warf einen kurzen Blick zu Sven, der unverändert neben dem Tisch stand und ihn interessiert beobachtete, während das Söhnchen anfing, mit einem Salzstreuer zu spielen.

„Franz hat heute Bereitschaft“, sagte Reinhold, der dachte, dass Arabella das eigentlich wissen müsste.

„Ich weiß, aber… du bist der Hauptkommissar…“

Reinhold stöhnte innerlich. Mit dieser verkrusteten Nase stand ihm der Sinn in keinster Weise danach, irgendwohin zu fahren.

„Und ich weiß auch nicht, ob Franz bei diesem Fall der Geeignetste wäre… ob er das ernst genug nehmen würde…“

Reinhold fing an, sich die Augen zu reiben. Irgendwie war ihm so, als würde er nicht darum herumkommen, zu Arabella und Pretzel nach Ellighofen zu fahren. Obwohl er eindeutig nicht ganz fit sein konnte, hörte er doch zwischen Arabellas Worten regelmäßig Puk- und Tukgeräusche, die sich fast nach einem Huhn anhörten. Als Arabella aufhörte zu sprechen, wurde es sogar noch energischer: „Puuuk! Puuuk! Pooook!“

Ob er durch das Schnuppern doch mehr von dieser Droge aufgenommen hatte, als ihm lieb war?

„Was ist jetzt?“, fragte Arabella da wieder.

„Was sind denn das für Geräusche da?“, fragte Reinhold zurück.

„Was für Geräusche? Ach so, du meinst die Hühner?“

„Die Hühner?“ Lagen die Geräusche also doch nicht an der Droge?

„Ja, das ist der zweite Teil des Problems. Die Dame hat mindestens zehn Hühner, soweit ich das überblicke, um die muss sich irgendjemand kümmern. Deswegen vermuten wir ja auch, dass sie nicht freiwillig verschwunden ist. Ich glaube, die Hühner vermissen die schon…“

„A…ha“, machte Reinhold langsam, dem noch nicht ganz klar war, was das alles bedeutete.

„Du kannst doch gut mit Tieren, nicht?“

Reinhold schluckte. Er hatte mal vorübergehend eine weiße Ratte im Präsidium aufgenommen. Aber zehn Hühner schienen ihm doch etwas viel.

„Außerdem laufen in deinem schwedischen Dörfchen doch auch überall Hühner rum. Da musst du doch ein gewisses Basiswissen haben, oder dein Bruder… Vielleicht können wir die in Igling im Garten einquartieren?“

Reinhold bezweifelte, dass sein Bruder das zulassen würde. Wenn er eines über Hühner wusste, dann, dass eine Henne ein Gemüsebeet in einer halben Stunde umgraben konnte, wenn sie es über Nachbars Gartenzaun geschafft hatte, und seine Mutter dann immer zur Furie mutiert war…

„Komm schon, die sind sehr zutraulich. Wenn du sie siehst, magst du sie bestimmt. Also, kommst du dann? Ich schick dir die Adresse auf dein Handy, ja?“

3

Eine halbe Stunde später traf Reinhold mit Sven am Haus von Frau Hahnemann und ihrer Hühnertruppe ein. Es hatte etwas länger gedauert, da Reinhold darauf bestanden hatte, sich zunächst die Blutkruste von seiner Nase zu entfernen. Wobei er festgestellt hatte, dass sie immer noch gerötet und nun zusätzlich angeschwollen war und nach wie vor höllisch schmerzte, wenn er sie berührte. So heftig hatte er noch nie eins auf die Nase bekommen…

„Grüß Euch!“, rief ihnen ihr uniformierter Kollege Lukas Mernle zu, als sie vor dem Haus aus dem Auto stiegen. Der Mann hatte sich vor der geschlossenen Tür postiert, was Reinhold verwunderte. Normalerweise ließen die Beamten die Türen von zu durchsuchenden Häusern offenstehen, da Pretzel und seine Kollegen regelmäßig zwischen Haus und Auto hin und herwanderten.

„Pretzel ist drin, Arabella auch“, fuhr Mernle fort, während Reinhold sich lieber das mit irgendeiner Kletterpflanze überwucherte Häuschen ansah, um dem Kollegen nicht seine malträtierte Nase präsentieren zu müssen.

„Und die Tür muss geschlossen gehalten werden…“

Diese Aussage war es, durch die Reinhold sich doch von der Kletterpflanze ab und Mernle zuwandte, der mit einer Hand den Türknauf umklammert hielt.

„Wieso das?“, entfuhr es Sven.

„Die Hühner sind im Haus und wir haben Angst, dass sie hier raus und auf die Straße laufen könnten…“

Reinhold glaubte, nicht recht gehört zu haben. Die Droge musste doch irgendwas bei ihm ausgelöst haben.

„Die Hühner… sind im Haus?“, hakte Sven nach. Hatte der das etwa auch so verstanden?

„Ja, Pretzel regt sich auch schon darüber auf, dass sie alle Spuren vernichten… Arabella hat schon mehrfach versucht, sie rauszulocken, aber in der Tür ist eine Katzenklappe, die sind schneller wieder drin, als man sie raushatte…“

„Und die Katzenklappe verschließen?“, überlegte Sven.

„Kannst du gerne versuchen“, meinte Mernle, dann stieß er galant die Tür auf.

*

Scarletti hatte sich mit Suse und Antonie direkt hinter der Wohnzimmertür platziert, da sie unbedingt in Hühneromas Schlafzimmer gelangen wollte, in welchem sie vorhin auffällige Spuren entdeckt hatte. Ein Seil, das hinter der Tür gelegen hatte und da nicht hingehörte, sowie Tränenflüssigkeit von Hühneroma, doch dann war dieser eigenartige Kriminaltechniker aufgetaucht und hatte alle Hühner aus dem Schlafzimmer verscheucht, weil sie angeblich Spuren vernichten würden. Dabei hätte Scarletti ihm die Spuren doch gezeigt, wenn er mal netter zu ihr gewesen wäre! Aber nein, der Mann spielte sich auf, als wolle er alle Spuren selbst finden, was nach Scarlettis Prognose Stunden dauern würde, wusste sie doch, dass diese Menschen immer nur dachten, sie sähen so gut, aber mit einem Huhn waren sie lange nicht vergleichbar…

Nun hörte Scarletti, wie die Haustür geöffnet wurde. Vielleicht kam da ja endlich dieser Kommissar, von dem schon die ganze Zeit die Rede war. Vielleicht war der ja fähiger, was das Interpretieren der Spuren betraf.

„Da kommt, da kommt, da kommt wer!“, trällerte Antonie los.

„Nicht Hühneroma, -oma, -oma!“, stimmte Suse ein.

Der Kommissar, hoffentlich, dachte Scarletti.

„Da kommt, da kommt, da kommt…“, fing Antonie wieder an, da ging die Wohnzimmertür auf und die Hühner sahen sich zwei schlaksigen Typen gegenüber. Scarletti machte einen Satz auf den vorderen, kleineren zu und fixierte ihn mit einem Auge. Er hatte dunkelblonde Haare und auffällige smaragdgrüne Augen, die zum Draufeinpicken einladen würden, falls er Scarletti genauso blöd kommen sollte wie dieser Kriminaltechniker. Außerdem eine krass gerötete und geschwollene Nase…

Das war der Hauptkommissar, entschied Scarletti, aber mit dieser Nase würde der nichts zustande bringen. Also sprintete Scarletti in Richtung Schlafzimmer los, ohne sich den zweiten Mann näher angesehen zu haben.

*

„Huch“, entfuhr es Sven, der irritiert hinter dem rotbraunen Huhn herblickte, wie es mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit den Gang entlangzischte und dann in die nächste offene Tür einbog.

„Nicht!“, rief Arabella, die herbeigeeilt kam und ebenso rote Haare wie das Huhn hatte. „Wo ist es hin?“

„Da hinten“, sagte Sven und deutete den Gang entlang, da gackerten die beiden verbliebenen Hühner schon wieder los.

„Pokpokpokpoook! Pokpokpokpokgoook!“

„Das Huhn ist schon wieder hier!“, hörte man Pretzel schreien.

„Ich komme!“, rief Arabella.

„Gügerigüüü!“, drang es irgendwo aus dem Wohnzimmer.

„Heilige Maria und Josef“, stöhnte Sven, während Reinhold gebannt das weiß-schwarze flauschige Riesenhuhn vor ihm anstarrte, das wirklich ein bemerkenswertes Stimmorgan haben musste.

„Pookpookpokpokpook!“

„Pokepokepokepook!“, stimmte das kleinere gestreifte Huhn ein.

„Wir finden eure Halterin bestimmt wieder“, sagte Reinhold, dann folgte er Arabella in Richtung Schlafzimmer. Sven verblieb vor der Wohnzimmertür.

„Könnt ihr nicht mal leise sein?“, hörte Reinhold ihn noch fragen, dann warf er einen Blick in den Raum, in dem ein großes Doppelbett stand, um das gerade das rotbraune Huhn herumsauste, dicht gefolgt von Pretzel, dem Reinhold diese Geschwindigkeit angesichts seines Bauchumfangs gar nicht zugetraut hatte.

„So wird das nichts, du musst es anlocken“, schimpfte Arabella, die neben dem geöffneten Fenster stand und das Treiben beobachtete. Reinhold fragte sich, ob sie das Huhn wohl zum Fenster nach draußen befördern wollte, da sauste das Tier schon wieder auf ihn zu und versteckte sich hinter seinen Beinen.

„Na warte!“, schimpfte Pretzel und stolperte hinter dem Bett hervor. Reinhold drehte sich etwas und blickte zu seinen Beinen, hinter denen das Huhn hervorlugte und ihn schon wieder mit einem Auge fixierte.

„Kannst du schon was sagen?“, fragte Reinhold, sobald er das Gefühl hatte, dass Pretzel bei ihm angelangt war. Den Blick konnte er allerdings nicht von dem Huhn lösen.

„Scheiße!“

„Wie bitte?“ Nun blickte Reinhold doch auf.

„Hingekackt hat es, da neben den Schrank! So kann ich nicht arbeiten, verdammt!“

„Also kannst du noch nichts sagen?“

„Dass das Bett unbenutzt ist.“

„Also hat die Dame das Haus schon gestern Abend verlassen?“

„Vielleicht…“

„Aber ob sie gewaltsam…?“

„Dafür müsste erst mal das Huhn entfernt werden! Ich verstehe nicht, was das hier verloren hat!“

„Vielleicht sucht es seine Halterin?“, überlegte Reinhold.

„Tuuuk“, hörte er es hinter sich.

„Heißt das ja?“

„Tuuk“, machte es wieder, dann sauste das Huhn hinter Reinhold hervor und verschwand hinter der angelehnten Tür.

„Schon wieder! Da wollte es vorhin schon hin!“, regte sich Pretzel auf. Reinhold dagegen machte ein paar Schritte hinter dem Huhn her, bis er sah, dass es ein Seil mit dem Schnabel gepackt hatte und dieses hinter der Tür hervorziehen wollte.

„Ja, was hast du denn da? Gib mal her…“ Das Huhn ließ wahrhaftig das Seil los.

„Tuuk“, sagte es wieder.

„Unterhält der sich jetzt mit dem Tier?“, fragte Pretzel wohl an Arabella gewandt.

Reinhold besah sich währenddessen das Seil. Es war sehr lang und an den Enden klebte es irgendwie komisch.

„Hast du das schon gesehen, Erik?“, fragte er.

„Ja, ein Seil“, entgegnete Pretzel genervt.

„Warum hat die Frau ein Seil in ihrem Schlafzimmer?“

„Weiß ich nicht!“

„Tuuuk!“

Das Huhn fing an, an das Bein des Kleiderschranks zu picken.

„Ist da auch noch was?“, fragte Reinhold erstaunt und fing an, das Schrankbein zu betasten. Es klebte auch, genau wie das Seil.

„War das da drangeklebt? Oder geknotet? Was meinst du?“

Das Huhn betrachtete ihn erwartungsvoll. Ob es wollte, dass er es ausprobierte?

„Der unterhält sich echt mit dem Huhn“, hörte Reinhold wieder Pretzels Stimme, dann knotete er ein Ende des Seils an das Schrankbein fest.

„Und das andere Ende…“ Reinhold stand auf und ging ein paar Schritte mit dem anderen Ende des Seils in Richtung Bett. Das Huhn flitzte hinter ihm her.

„Was wird das jetzt? Seilspringen mit Huhn?“, entfuhr es Pretzel, der mittlerweile auf das Bett niedergesunken war und Reinhold skeptisch beobachtete.

„Die Frage ist, wo man das andere Ende festmachen könnte…“

„Warum? Damit ich hinfalle, wenn ich versuche, dieses Huhn zu fangen?“

„Vielleicht wurde die Dame, wie heißt sie…?“

„Elvira Hahnemann“, sagte Arabella.

„Vielleicht wurde die Frau Hahnemann auf diese Weise gefangen?“

„Ernsthaft?“, fragte Pretzel ungläubig.

„Als sie auf dem Weg ins Bett war? Im Halbdunkeln, vielleicht…“ Reinhold hatte nun alle Bettpfosten betastet, ohne einen klebrigen gefunden zu haben. Also ging er weiter zu einer Kommode neben dem Fenster, neben der sich das Huhn bereits positioniert hatte.

„Aber dann hätte der oder die Täter ja hier im Haus sein müssen“, knirschte Pretzel. „Und an den Türen waren keine Einbruchsspuren.“

„Die Haustür war aber auch nicht abgeschlossen. Wir konnten sie einfach aufdrücken“, warf Arabella ein.

„Warum erfahr‘ ich das jetzt erst?“, regte sich Pretzel auf.

Reinhold hatte derweil zusammen mit dem Huhn ein Bein der Kommode ausgemacht, das ebenfalls klebte und um das er nun das andere Ende des Seils knotete und festzog, bis das Seil straff einige Zentimeter über dem Boden vor dem Bett durch den Raum gespannt war.

„Sehr hübsch“, seufzte Pretzel.

„So könnte man die Frau abgefangen haben, als sie zum Bett wollte“, verkündete Reinhold. „Sie müsste dann hier irgendwo hingefallen sein… Hast du schon was gefunden, Erik?“

„Nein, wie denn? Das Huhn kackt mir hier alles zu!“

„Okay, dann gehen wir mal mit dem Huhn raus… und du machst hier weiter“, entschied Reinhold und bewegte sich mit dem Huhn, das ihm mittlerweile bereitwillig hinterherkam, zur Tür. Arabella folgte ihnen, während der Kriminaltechniker perplex auf dem Bett zurückblieb.

*

Scarletti war um Einiges zufriedener, nachdem der Hauptkommissar trotz seiner geschwollenen Nase die Sache mit dem Seil kapiert hatte. Das Einzige, was nun noch fehlte, damit sie sich vorerst zur Ruhe setzen und abwarten konnte, ob dieser Kriminaltechniker vielleicht auch noch etwas finden würde, war die Sieben-Uhr-Grünzeug-Fütterung, die nun schon seit drei Hühnerstunden überfällig war. Ob der Kommissar das auch kapieren würde, wenn Scarletti ihn zum Kühlschrank führen würde, in dem Hühneroma das Grünzeug aufbewahrte?

„Habt ihr eigentlich schon irgendwelche Nachbarn befragt?“, hörte Scarletti da den Kommissar fragen.

„Wir haben kurz mit dem Nachbarn von gegenüber gesprochen“, antwortete die rothaarige Polizistin. „Aber dann sind wir hier ins Haus und ab da hatten wir mit den Hühnern zutun…“

„Okay. Und was hat der Nachbar gesagt?“

„Dass die Hühner einen Mordslärm veranstaltet haben und er daraufhin zum Gartentor rein ist… und gesehen hat, dass die Hühner aus ihrem Gehege ausgebrochen waren und noch keine Futterschüssel da war, die die Frau Hahnemann jeden Morgen direkt vorbeibringt, wenn es hell ist. Das hat ihn stutzig gemacht, deswegen hat er uns angerufen.“

„Interessant…“, meinte der Kommissar, dann waren sie wieder im Wohnzimmer angekommen, wo der andere Mann, ein großer Blonder, mit einer Rolle Küchentücher umherrannte und Hühnerhäufchen aufzuwischen schien.

„Da seid ihr ja endlich! Könnt ihr mir mal helfen?“, forderte er und drückte den anderen beiden Menschen je einen Stapel Tücher in die Hand. „Diese Tiere kacken schneller als du gucken kannst!“

„Und sie wollen echt nicht raus?“

„Nein, die lagern jetzt da hinten vor dem Fernseher…“

Natürlich lagerten die Hühner da. Und sie würden auch da warten, bis die Sieben-Uhr-Grünzeug-Fütterung nachgeholt wurde, wusste Scarletti. Also schlich Scarletti schon mal in die Küche zum Kühlschrank, der Kommissar würde sowieso nachkommen, wenn er die Hühnerhäufchen in den Mülleimer werfen wollte.

Scarletti platzierte sich exakt auf zwölf Uhr vor dem Schrank und fasste das Poster mit den Hühnerfotos ins Auge, das dort angeklebt war und alle Hühner wie Hähne zeigte. Scarlettis Foto war das zweite, direkt neben dem von Hermine, was Scarletti immer wieder mit Stolz erfüllte, wenn sie so vor dem Kühlschrank stand.

„Wir müssen uns irgendwas überlegen, wegen diesen Hühnern“, hörte man die Stimme des großen Blonden.

„Reinhold verstand sich ja ganz gut mit dem Rotbraunen“, antwortete die Frau.

Soso, Reinhold hieß der Kommissar also, dachte Scarletti.

„Vielleicht folgen sie ihm ja nach draußen? Obwohl, wo ist das Rotbraune überhaupt?“

„Ich schau mal nach“, sagte Reinhold.

„Tuuuk, tuuuk“, machte Scarletti, damit er sie auch finden würde.

Tatsächlich steckte der Mann seinen Kopf in die Küche. „Was machst du denn hier?“

Scarletti pickte einmal gegen den Kühlschrank, das musste der doch wohl verstehen. Aber anstatt den Kühlschrank zu öffnen, griff sich dieser Reinhold nur das Poster mit den Hühnerbildern.

„Hübsch. Seid ihr da alle drauf?“

„Tuuk“, machte Scarletti ungeduldig. Natürlich waren da alle Hühner drauf.

„Und das hier bist du? Scarletti?“ Reinhold tippte auf Scarlettis Foto. Natürlich war sie das. Das interessierte jetzt aber eigentlich nicht. Scarlettis Kropf war trotz des Regenwurms so leer wie lange nicht mehr.

Also pickte sie nochmal gegen den Kühlschrank, energischer als zuvor.

„Du willst was aus dem Schrank?“, überlegte Reinhold. Tatsächlich öffnete er den Kühlschrank und holte einen Salatkopf heraus. Scarletti war kurz davor, hochzuspringen, konnte sich aber gerade noch zurückhalten, schließlich durfte sie den Mann jetzt auf keinen Fall verschrecken.

„Geht ihr raus, wenn ich euch das gebe?“, fragte Reinhold weiter.

Scarletti wollte sich diesbezüglich eigentlich nicht festlegen. Also legte sie nur den Kopf schief und fixierte den Mann mit einem Auge.

„Okay, versuchen wir’s“, entschied er, dann verließ er mit dem Salatkopf die Küche. Scarletti flitzte hinter ihm her.

*

Zufrieden beobachteten Reinhold und Sven durch das Fenster, wie die Hühner dem Salatkopf auf der Terrasse den Garaus machten. Arabella telefonierte währenddessen mit der Einsatzzentrale, um die Suche nach Frau Hahnemann zu koordinieren.

„Was machen wir mit den Hühnern, wenn die Frau nicht bald wieder auftaucht?“, fragte Sven.

„Gute Frage“, erwiderte Reinhold, da wurde die Haustür aufgestoßen und Lukas Mernle erschien.

„Der Herr Forstschmidt fragt, ob es schon Erkenntnisse gibt“, sagte er.

„Wer?“, fragte Reinhold verwundert.

„Der Nachbar von gegenüber. Der hat ein starkes Mitteilungsbedürfnis. Der würde bestimmt gerne mit den Kommissaren reden.“

„Okay, dann reden wir mit ihm“, entschied Reinhold, der deutlich besser gestimmt war, seitdem er Scarletti kennengelernt hatte, und seine geschwollene Nase fast vergessen hatte.

Der sogenannte Herr Forstschmidt, ein beleibter Herr mittleren Alters, wartete bereits vor der Tür.

„Ferdinand Forstschmidt, FF“, verkündete er sofort und kicherte. „Und Sie sind?“

„Kolspra, Hauptkommissar und mein Kollege Hansen“, erklärte Reinhold. „Sie haben die Kollegen verständigt, ja?“

„Ja, die Hühner haben pausenlos gegackert, es hat gar nicht mehr aufgehört“, sprudelte Forstschmidt sofort los. „Normalerweise kommt die Hühneroma sofort, wenn die Hühner sich aufregen…“

„Die Hühneroma?“

„Frau Hahnemann, wir alle nennen sie Hühneroma, weil, die Hühner sind quasi ihre Kinder…“ Forstschmidt kicherte wieder.

„Ah ja.“

„Als es nicht aufgehört hat, bin ich rüber, ich habe einen Schlüssel fürs Gartentor, und da seh‘ ich die Hühner über den Rasen ins Haus rennen und… ich bin hinterher und habe durch die Scheibe geguckt, aber nur die Hühner gesehen, wie sie sich weiter aufgeregt haben…“

„Okay.“

„Sagen Sie, stimmt es, dass die Hühneroma, ehm, Frau Hahnemann, entführt wurde?“

„Wie kommen Sie jetzt da drauf?“

„Na, weil, die würde ihre Hühner nicht alleine lassen, ohne mir Bescheid zu sagen.“

„Sie betreuen dann also die Hühner?“, fragte Sven, der wohl auf eine Möglichkeit hoffte, die Hühner loszuwerden.

„Ja, klar, aber was ist denn jetzt mit Frau Hahnemann? Haben Sie sie gefunden?“

„Leider nein.“

„Also wurde sie doch entführt? Dacht‘ ich’s mir doch!“

„Haben Sie irgendwelche Beobachtungen gemacht? Gestern Abend?“

„Gestern… Ja, da stand da so ein Auto, am Ende der Straße, das hab‘ ich noch nie gesehen… Das war sicher keiner der Nachbarn…“

„Können Sie das beschreiben?“

„Silbernes… silberner Kombi, VW…“

„Kennzeichen?“

„Moment… LL…“

„Ja.“ Reinhold stupste Sven an, damit er das Kennzeichen notieren würde.

„Ähmm…“

„M?“

„Nein, ich… ich glaub‘, ich weiß nicht weiter… 'Ne Eins am Ende…“

„Aha.“

„Das hilft Ihnen doch weiter?“

„Bestimmt“, meinte Reinhold. Sven betrachtete ihn ausdruckslos. „Aber sagen Sie, wenn Sie sich mit den Hühnern auskennen… könnten Sie sich vielleicht um die Tiere kümmern, bis wir Frau Hahnemann gefunden haben?“

„Oh, das… das ist grade ganz schlecht… Heute Nachmittag krieg‘ ich Besuch, davor muss ich noch einkaufen… unter der Woche arbeiten… Ich will Ihr Können ja nicht in Abrede stellen, aber ich habe gehört, das kann schon ein paar Tage dauern, bis man eine vermisste Person wiedergefunden…“

„Ist gut, wir haben verstanden, was Sie sagen wollen. Sie können dann wieder in Ihr eigenes Haus gehen, wir befragen währenddessen die anderen Anwohner.“

4

Es war kurz vor elf, als Reinhold einen mit neun Hühnern und zwei Hähnen beladenen Einsatzwagen vor dem Präsidium parkte. Nur eine kleine Rasenfläche trennte den Wagen von dem Gebäude, aber genau auf die hatte Reinhold es abgesehen, plante er doch, die Hühner dort vorübergehend unterzubringen. Gemäß Svens Befürchtungen hatte sich keiner der zwei weiteren Nachbarn bereiterklärt, sich um die Hühner zu kümmern, sodass Reinhold kurzerhand entschieden hatte, dass er das übernehmen musste. Ein Anruf bei seinem Bruder in Igling allerdings hatte ihm bestätigt, dass er dort wegen der Gemüsebeete keine neun Hühner haben wollte, also blieb nur noch diese Rasenfläche vor dem Präsidium. Dann würde Reinhold die Tiere von seinem Büro aus wenigstens im Blick haben. Und Pretzel konnte sich in Ruhe das Haus und anschließend den Stellplatz dieses ominösen silbernen Kombis ansehen.

Reinhold sah durch den Innenspiegel, wie Sven und Arabella hinter ihm parkten.

„Tuuuk“, machte es von den Rücksitzen.

„Nur noch einen kurzen Augenblick, ja?“, sagte Reinhold und drehte sich zu den Hühnern nach hinten, die momentan noch brav auf einem großen Handtuch in einer Reihe saßen. Allerdings fing das weiße Riesenflauschhuhn, das gemäß des Hühnerposters Suse hieß, schon an, aus dem Fenster zu schielen.

„Schön sitzen bleiben“, ergänzte Reinhold, dann sprang er aus dem Wagen, winkte seinen Kollegen und begab sich auf die Suche nach dem fahrbaren Gerätehäuschen des Hausmeisters, welches sich irgendwo auf dem Parkplatz befinden musste.

*

Sven und Arabella gaben sich größte Mühe, die kleine Rasenfläche vor dem Präsidium fluchtsicher mit alten Stühlen und Absperrband einzurahmen, als Reinhold das Gerätehäuschen samt Hausmeister endlich gefunden und ohne Angabe von Gründen beschlagnahmt hatte. Er schob das Ding gerade noch rechtzeitig auf die Rasenfläche, bevor alles mit Absperrband verschlossen war. Dann wurden die Hühner ausgeladen, die schon angefangen hatten, unruhig an die Autoscheibe zu picken. Reinhold, Sven und Arabella nahmen je zwei Hühner unter die Arme und entließen sie auf die Rasenfläche, auf der diese sofort mit dem Graspicken anfingen. Reinhold und Sven holten sich dann je noch einen Hahn, welche die Hühner mit lautem Kikeriki begrüßten, dann begab sich Sven mit dem zugekackten Handtuch zur nächsten Mülltonne. Reinhold und Arabella besahen sich derweil das Poster mit den Hühnerfotos, auf welchem Name, Rasse und Alter der einzelnen Tiere vermerkt war.

„Die beiden sind schwer auseinanderzuhalten“, meinte Arabella und zeigte auf Netti und Betti, die weißen Legehybriden aus dem Hühnerknast, die sich eifrig daran gemacht hatten, ein Loch in die Rasenfläche zu graben.

„Mhm… Aber die anderen sind alle eindeutig…“, fand Reinhold. Er ließ den Blick über die Hühnerschar gleiten, die alte Bertha - die sich bereits im Schatten des Präsidiums niedergelassen hatte, um das Gras in einem Halbkreis abzufressen – Hermine, Scarletti, Suse, Antonie, Frida, Mareike, Netti und Betti sowie die zwei Hähne. Allesamt sahen sie sehr zufrieden aus, das Gras schmeckte wohl so gut, dass sie den Hühnerfutternapf, den Reinhold aus Ellighofen mitgenommen hatte, unbeachtet stehen ließen.

„Puh“, ertönte da Svens Stimme hinter ihnen. „Seid ihr schon fertig?“

„Mit was?“

„Mit dem Gerätehäuschen? Müsste das nicht ausgeräumt werden, wenn die Hühner da drin schlafen sollen? Und 'ne Sitzstange rein?“

„Sitzstange?“, fragte Reinhold.

„Die Hühner bei meiner Oma schliefen auf einer Sitzstange“, erklärte Sven.

„Ah… okay, dann… sollten wir das jetzt angehen…“

„Und wer kümmert sich um die Recherche zu dieser Frau Hahnemann?“

„Arabella trommelt die Kollegen zusammen, nicht wahr?“

„Mit dem größten Vergnügen“, seufzte Arabella, dann verschwand sie im Präsidium.

*

„Er wollte unser Können ja nicht in Abrede stellen“, knirschte Sven, während er vergeblich versuchte, einen Haken für die Sitzstange – einen Ast, welchen sie auf dem Parkplatz gefunden hatten – an der glatten Plastikwand dieses fahrbaren Gerätehäuschen festzukleben.

„Er kann froh sein, dass wir sein Können nicht in Abrede gestellt haben“, meinte Reinhold und besah sich die restlichen Werkzeuge, die sich in dem Gerätehäuschen befanden.

„Ich garantiere dir, der wusste genau, warum der die Hühner nicht haben wollte…“, fuhr Sven fort.

„Dabei hätte der schon einen fertigen Stall mit Sitzstange dagehabt.“

„Ich sag‘ nur Hühnerkacke, Reinhold.“

„Hier auf dem Rasen können die ja erstmal kacken, wie sie wollen…“

In diesem Moment fing Reinholds Handy zu klingeln an. Pretzels Nummer wurde angezeigt.

„Ja?“, meldete sich Reinhold.

„Erik hier. Ihr müsst dringend in der KTU Abdrücke von euren Schuhen machen lassen. Nachdem wir alle dieses Huhn gejagt haben, sind hier so viele Abdrücke, dass ich überhaupt nichts mehr weiß…“

„Du meinst, die Täter könnten Schuhabdrücke hinterlassen haben?“

„Ich sagte, ich weiß es nicht!“

„Sonst irgendwas?“

„Haare, Hautschuppen, Fingerabdrücke sind hier hundertfach. Und die Hühnerkacke, nicht zu vergessen. Und die Federn von diesen Tieren… grauenvoll, hier kann ich mich noch den ganzen Tag aufhalten…“

„Vielleicht konzentrierst du dich auf das Schlafzimmer und die Türen? Und dieses Seil?“

„Danke für den Tipp, Herr Hauptkommissar!“, schrie Pretzel in das Telefon. Seine Verärgerung war klar herauszuhören. Reinhold bemühte sich, trotzdem freundlich zu bleiben.

„Und wie ist das mit den Reifenspuren von diesem Auto? Hast du da schon…?“

„Habe ich einen Kollegen hingeschickt.“

„Okay, gut.“

„Kikeriki!“, machte Karl-Gustav.

„Ihr habt die Hühner jetzt aber nicht ins Präsidium gelassen?!“, schrie Pretzel.

„Nein, wir sind noch dabei, den Stall einzurichten…“

„Ich dachte schon… Wenn ich eins von denen bei mir in der KTU erwische, garantiere ich für nichts mehr, ist das klar?“

„Natürlich.“

„Gut. Ihr denkt an eure Schuhe. Ich melde mich wieder.“

„Ja…“ Pretzel hatte schon aufgelegt. Seufzend steckte Reinhold das Telefon weg.

„Was war?“, fragte Sven.

„Pretzel braucht unsere Schuhabdrücke.“

„Aha.“

„Meinst du, wenn wir einen Bohrer hätten, könnten wir dann einen Haken anbohren… äh… schrauben?“

„Ich will dein Können ja nicht in Abrede stellen, mein Freund“, imitierte Sven den Herrn Forstschmidt, „aber ich befürchte, dann würde dieses Plastik einreißen.“

„Ach so, okay… Mit diesem Handwerks…zeugs kenne ich mich nicht so aus…“

„Das merke ich. Vielleicht holst du mal diesen Hausmeister?“

„Ich weiß nicht, ob der uns hilft, nachdem ich einfach sein Gerätehäuschen beschlagnahmt habe…“

„Ist der kein Hühnerfreund?“

„Ich weiß nicht…“

„Los, versuch es, ich habe bald keine Lust mehr hier…“

*

Etwa eine Stunde später begab sich Reinhold mit Sven in den kleinen Konferenzraum im Kripotrakt des Präsidiums, wo sich auf Arabellas Geheiß sämtliche Kriminalbeamten eingefunden hatten.

Die Hühnersitzstange hatten sie mithilfe des Hausmeisters fertiggestellt, der sich glücklicherweise als Hühnerfreund zu erkennen gegeben und kurzerhand zwei alte Besenstiele zu einer Art Hühnerstangenständer umgebaut hatte, sodass die Stange nicht mehr an der Wand befestigt werden musste und zudem transportabel war. Was gemäß Svens Kindheitserinnerungen nur von Vorteil sein konnte, wenn die Hühner die Stange verschmutzt hatten und diese irgendwie gereinigt werden musste.

Aber Reinhold wollte nicht länger über diese Sitzstange nachdenken und beeilte sich daher, sich neben einer kleinen Tafel in Position zu bringen, an die schon ein Foto von Frau Hahnemann geklebt worden war. Arabella war dabei, Wassergläser für die Kollegen zu füllen und Reinhold dachte sich, dass er ihr eigentlich helfen müsste, als der Kollege Franz die Hand hob, als wolle er eine Frage stellen.

Reinhold überlegte noch, ihn zu ignorieren, da die allermeisten Fragen oder Kommentare des Kollegen Franz bekannterweise dazu dienten, ihn irgendwie zu kritisieren.

„Herr Hauptkommissar!“, rief Franz da aber, sodass Reinhold sich ihm zuwenden musste. „Darf ich fragen, warum wir alle hier zusammengetrommelt werden, wenn eine erwachsene Frau noch nicht einmal 24 Stunden nicht anzutreffen ist?“

„Es gibt Hinweise darauf, dass sie nicht freiwillig nicht anzutreffen ist“, erklärte Reinhold.

„Nämlich?“

„Es gibt seltsame Spuren in ihrem Schlafzimmer.“

„Seit wann untersuchen wir die Schlafzimmer von Menschen, die noch keine 24 Stunden…“

„Franz, jetzt lass‘ ihn doch fertig erklären“, mahnte Annette, eine Kollegin, die eng mit Franz befreundet war, wie eng, wusste man nicht so genau.

„Ich wollte nur sicher gehen, dass der junge Mann weiß, dass wir normalerweise nur tätig werden, wenn…“

„Der junge Mann weiß das“, entgegnete Reinhold verärgert.

„Also, wieso suchen wir jetzt schon…?“

„Wegen den Hühnern“, sagte Arabella und reichte Franz eines der Wassergläser.

„Wegen den Hühnern vor dem Präsidium?“, fragte Franz immer noch zweifelnd.

„Ja, die gehören nämlich der Dame und müssen täglich versorgt werden, deshalb ist es sehr unwahrscheinlich, dass sie freiwillig gegangen ist.“

„Aber nicht unmöglich“, meinte Franz.

„Vielleicht lassen wir Reinhold mal erklären, welche seltsamen Spuren es da im Schlafzimmer gibt?“, schlug da Melanie, die jüngste Kollegin im Kommissariat, vor.

„Na gut, bitte“, sagte Franz.

Reinhold bekam von Arabella ebenfalls ein Wasserglas gereicht, dann setzte sie sich neben ihn auf einen Tisch, an dem sich auch schon Sven angelehnt hatte.

„Also: Das Bett im Schlafzimmer der Dame machte einen unbenutzten Eindruck, so als habe sie das Haus schon gestern Abend verlassen…“

„Vielleicht ist sie bei einem Abendspaziergang gestürzt und musste ins Krankenhaus? Sieht ja schon älter aus…“, warf Franz wieder ein.

„Das haben meine Kollegen schon überprüft“, sagte Arabella.

„Außerdem…“, fuhr Reinhold fort, „lag hinter der Schlafzimmertür ein Seil mit Klebstoffspuren an beiden Enden. Dieselben Klebstoffspuren fanden sich auch an zwei Schränken an den gegenüberliegenden Wänden, also könnte das Seil quer durch den Raum vor das Bett gespannt worden sein, um die Frau zu Fall zu bringen.“

Nun runzelte auch Franz die Stirn.

„Dann müssten die Täter ja in das Haus gelangt sein“, überlegte Giovanni, ein kleiner, aus Italien stammender Kollege. „Waren da Einbruchspuren?“

„Bisher nicht, aber die Tür kann man wohl einfach aufdrücken, wenn sie nicht abgeschlossen ist.“

„Oh…“

„Nicht zu empfehlen, solche Türen“, murmelte Sven.

„In der Tat. Die Tür hätte auch abgeschlossen sein müssen, wenn die Frau freiwillig gegangen wäre. War sie aber nicht.“

Das schien sogar Franz einzusehen, da es keine Widerrede gab.

„Außerdem will der Nachbar einen verdächtigen silberfarbenen VW gesehen haben, gestern Abend. Gibt es da schon Erkenntnisse zu?“, fragte Reinhold in Richtung der verbliebenen beiden Kollegen, Marian van Tenne und Herrn Finkle, wobei Kollege bei Finkle nicht unbedingt der richtige Ausdruck war. Zwar war Finkle tatsächlich einmal Hauptkommissar gewesen, hatte sich dann aber in ein Tötungsdelikt verwickeln lassen und hatte seitdem eigentlich eine Haftstrafe zu verbüßen. Wobei der Begriff „Haft“ in seinem Fall großzügig ausgelegt wurde, da er sich im gesamten Präsidium frei bewegen durfte und meistens im Büro seines Freundes van Tenne, dem IT-Experten, schlief anstatt in einer der Zellen. Folglich war Finkle als erstes zugegen gewesen und hatte auf Arabellas Anweisung sämtliche silberne VWs mit einer 1 am Ende des Kennzeichens zusammengetragen.

„Ja“, sagte Finkle und hielt ein Blatt Papier hoch, „hier im Kreis sind acht silberne VWs mit einer 1 am Ende des Kennzeichens gemeldet.“

„Okay. Deren Besitzer werden wir alle überprüfen, und wenn sie nur als Zeugen in Frage kommen.“

*

Während die Kommissare im ersten Stock des Präsidiums noch darüber diskutierten, wie bezüglich der Hühneroma weiter vorzugehen sei, sank Scarletti neben der alten Bertha im Gras nieder. Sie hatte nun mindestens ein Neuntel der vorhandenen Rasenfläche abgegrast und ihr Kropf fühlte sich wieder gut gefüllt an, sodass nun Gelegenheit war, über die Geschehnisse des Vormittags nachzudenken.

„Schmeckt gut, das Gras“, meinte die alte Bertha.

„Ja, sehr gut“, stimmte Scarletti zu, dann beobachtete sie, wie die alte Bertha die Augen schloss und den Kopf auf den Kropf sinken ließ, was Scarletti nur recht sein konnte, schließlich wollte sie jetzt nicht in ein Gespräch verwickelt werden.

Stattdessen legte sie den Kopf schräg und schielte zum ersten Stock des Präsidiums nach oben. Scarletti war sich sicher, dass die Kommissare dort waren. Ob sie schon weitere Erkenntnisse hatten?

Scarletti fing an zu lauschen. Tatsächlich meinte sie, die Stimme dieses Reinholds ausmachen zu können, aber sie war zu weit weg, um etwas zu verstehen, zumal die alte Bertha nun im Schlaf zu gurren angefangen hatte.

Kacke, dachte Scarletti und beobachtete stattdessen, wie sich Netti und Betti zusammen in das Erdloch quetschten, das sie zuvor gegraben hatten, und genüsslich mit dem Sandbad anfingen. Das musste Scarletti auch noch machen, sobald das Loch wieder frei war, was allerdings eine Hühnerstunde dauern konnte. Ob sie in der Zwischenzeit versuchen sollte, per Telepathie Kontakt mit Hühneroma aufzunehmen?

Scarletti schätzte ihre telepathischen Fähigkeiten als sehr gut ein, hatte sie es in der Vergangenheit doch schon öfters geschafft, Hühneroma durch bloßes An-Sie-Denken zum Auftauchen und Hühnerfüttern zu bewegen. Ja, einmal war Hühneroma sogar vorzeitig aus ihrem Urlaub zurückgekommen, als Scarletti Bauchschmerzen gehabt und sie sich zurückgewünscht hatte. Dann war Scarletti so lange mit Kamillentee betuddelt worden und hatte neben Hühneromas Bett schlafen dürfen, bis es ihr wieder gut gegangen war…

Scarletti sagte sich, dass sie es versuchen musste. Wenn Hühneroma schon nicht herkommen konnte, weil sie von irgendjemandem festgehalten wurde, konnte sie Scarletti vielleicht wenigstens ein Lebenszeichen senden…

Also schloss Scarletti wie die alte Bertha die Augen und fing an, angestrengt an Hühneroma zu denken. Ihr zu sagen, dass sie Hunger hätte, auch wenn das eigentlich nicht stimmte. Aber ein paar Nudeln würde sie noch essen können, wenn es darauf ankäme und sie von Hühneroma persönlich überreicht würden…

Scarletti verharrte ganze fünf Minuten in der Stellung und dachte an die Nudeln und Hühneroma, meinte sogar, wirklich Hunger zu bekommen, aber von Hühneroma merkte sie nichts. Nach sechs Minuten kam sie zu dem Schluss, dass es keinen Zweck hatte. Sie fragte sich, woran das liegen könnte, da sah sie, wie das Sandbad schon wieder frei wurde. Scheinbar wollten die unersättlichen weißen Legehybriden doch lieber Gras fressen. Das war die Chance für Scarletti…

*

Hühneroma, sprich Frau Hahnemann, hatte momentan keinen Sinn dafür, sich telepathisch mit Scarletti auszutauschen, da sie genug mit diesen beiden Typen zu tun hatte, die sie an einem Stuhl festgebunden hatten und nun irgendetwas schwafelten, dass sie ihnen bei irgendetwas helfen sollte.

„Mach dir nicht in die Hose!“, zischte gerade der Schwarzhaarige, der eindeutig der dominantere zu sein schien, zu seinem hellhaarigen Kollegen. „Ich sag‘ dir, mit der Hilfe von der Frau kriegen wir die beste Kreation hin, die es hier je gegeben hat!“

„Aber ich glaube trotzdem, dass wir ihr etwas zu trinken geben sollten“, meinte der Hellhaarige. „Ich habe gehört, alte Leute dehydrieren schnell…“

„Ein Ringelblumentee wäre mal nicht schlecht!“, regte sich Frau Hahnemann auf.

„Ein was?“, entfuhr es dem Hellhaarigen.

„Da siehst du’s!“, freute sich der Schwarzhaarige. „Die kennt sich voll aus!“ Dann kam er auf den Stuhl mit Frau Hahnemann zu und ging vor ihr in die Hocke. „Verehrteste, Sie bekommen gleich Ihren Tee, aber zuerst einmal müssen Sie uns garantieren, dass Sie uns bei unserer Kreation helfen werden.“

„Was für ‘ne Kreation?“

„Eine Kräuter…komposition…“

„Ein Tee?“

„So was Ähnliches. Also?“

Frau Hahnemann war sich nicht sicher, ob sie da zustimmen sollte. Irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, dass das die beiden Typen sein könnten, die ihr vor einigen Tagen diesen merkwürdigen Brief geschrieben hatten, auf den sie nicht hatte eingehen wollen.

„Machen Sie mich dann hier los? Ich habe eine äußerst unbequeme Nacht auf dem Stuhl hier verbracht! Und außerdem müsste ich mal nach den Hühnern sehen!“

„Ich denke, die Hühner kommen auch mal ohne Sie zurecht. Aber los mache ich Sie natürlich, wenn Sie…“

„Was erzählen denn Sie da für einen Schmarren, die Hühner kämen ohne mich zurecht?!“, schrie Frau Hahnemann und hätte dem Typ glatt eine gewatscht, wären ihre Hände nicht festgebunden gewesen. „Die brauchen regelmäßig Futter…“

„Das können die sich doch selbst suchen…“

„Heute hätte es Nudeln geben sollen!“

„Natürlich.“ Der Schwarzhaarige fing an zu lachen, als wolle er sie nicht ernstnehmen.

„Was, wenn ein Fuchs kommt und es ist niemand da? Und die armen Hühnerchen werden alle…“

Der Blick des Hellhaarigen hatte einen entsetzten Ausdruck angenommen. Der Schwarzhaarige aber lachte immer noch.

„Wir schauen dann mal nach Ihren sogenannten Hühnerchen!“, gluckste er. „Aber erst müssen Sie unserem Deal zustimmen!“

„Welchem Deal?“, fragte Frau Hahnemann und fühlte sich auf einmal erschöpft, was wohl an der unbequemen Nacht auf dem Stuhl liegen musste.

„Dass Sie uns mit Ihrem Kräuterwissen bei unserer Kreation helfen und dann dafür Ihre Hühner zurückbekommen. Und mein Freund diesen… Ringelblumentee besorgt, nicht wahr?“

Der Hellhaarige nickte, sah aber immer noch entsetzt aus.

„Also?“

„Ja“, seufzte Frau Hahnemann.

„Sie stimmen zu?“

„Ja.“

„Juchu!“, rief der Schwarzhaarige und sprang wieder auf. „Hervorragend! Dann besorgt mein Freund diesen Tee und… ich komme auch gleich wieder.“ Der Typ schlich sich zu einer dicken Metalltür.

„Wie hieß der Tee?“, fragte der Hellhaarige.

„Ringelblume“, wiederholte Frau Hahnemann.

„Ringelblume… okay.“ Mit diesen Worten quetschten sich die Männer durch die Tür, ohne Frau Hahnemann losgemacht zu haben. Dann wurde auch noch von außen das Licht gelöscht, sodass sich Frau Hahnemann allein im Dunkeln wiederfand.

„Die verkackeiern mich doch“, stöhnte sie und versuchte, irgendwie eine bequeme Position auf diesem Stuhl zu finden. Auf einmal musste sie an die Nudeln denken, die es heute hätte geben sollen, und an Scarletti, die sicherlich schon halb verhungert war…

*

Scarletti lag derweil in Seitenlage in dem freigewordenen Erdloch und schielte weiter zum ersten Stock des Präsidiums nach oben, wo ein kleiner Mann mit schwarzen Haaren an einem offenen Fenster aufgetaucht war. Scarletti fragte sich, ob das auch ein Kommissar sein konnte, als der Mann etwas Längliches, vielleicht ein kleines Stöckchen, aus einer Schachtel nahm, sich in den Mund steckte und dann daran herumzusaugen begann.

Ohne dass sie es wollte, musste Scarletti wieder an die Nudeln und ihren missglückten Versuch denken, mit Hühneroma Kontakt aufzunehmen. Während sie so in dem Erdloch gelegen hatte, hatte sie immer wieder darüber nachgedacht, warum die Kontaktaufnahme nicht funktioniert hatte, und hatte nur zwei Erklärungen gefunden, die ihr beide nicht recht gefallen wollten. Die eine, harmlosere, war, dass jemand Hühneroma hypnotisiert hatte. Scarletti wusste, wie man jemanden hypnotisieren konnte, hatte der liebe Herr Nachbar doch des Öfteren vorgeführt, wie gut er Hühner hypnotisieren konnte. Sonst konnte er nicht viel mit Hühnern, aber Hypnotisieren konnte er… Scarletti war heute noch froh, dass sie dem Mann immer entkommen war.