Carsten Otte
Der gastrosexuelle Mann
Kochen als Leidenschaft
Illustrationen: conclouso, Mainz
Campus Verlag Frankfurt/New York
Über das Buch
Es gibt eine neue Sorte Mann. Und die denkt immer nur an das eine: Kochen. Der gastrosexuelle Mann investiert in ausgefallenstes Kochwerkzeug, kennt die exakte Sous-vide-Gartemperatur von Rindfleisch und macht aus jedem Amuse-Gueule ein wahres Vorspiel. Seine Leidenschaft erwacht nicht unterm Auto, sondern in der Küche. Carsten Otte – selbst betroffen – erklärt in seinem so schonungslosen wie humorvollen Porträt, was die neue, sich schnell vermehrende Spezies ausmacht. Otte weiß, warum Espressophilosophen und Texturenjunkies dazugehören – Wochenendgriller aber keinesfalls. Klar ist: Wenn »Mann« in der Küche entflammt und seine neue Geliebte die Eismaschine ist, ändert sich das Leben der Angehörigen. Doch keine Angst, diese neue Leidenschaft hat schmackhafte Vorteile für alle Beteiligten!
Über den Autor
Carsten Otte ist gastrosexuell – und das ist gut so. Der studierte Philosoph ist Autor von drei Romanen und schreibt Features, Glossen und Feuilletons für den SWR-Hörfunk. Wenn Otte nicht schreibt oder im Radio spricht, steht er am Herd – zur Freude und zum Leidwesen seiner Familie.
Dem Kombidämpfer, der noch verdient werden muss, sei dieses Buch gewidmet.
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Inhalt
Darf es schon mal ein Aperitif sein?
Ein Gruß aus der Autorenküche
Gastrosex?
Das erste Mal
Scharf und hart
Die Modernisierung des Geräteparks
Wir möchten zaubern können!
Neuer Fetisch Vorspeise
Fleisch, Fleisch, Fleisch
Dicke Dinger
Uga-uga, balla-balla?
Alte Schule
Frauenpower
Und ewig lockt der Zulieferer
Ein Blick in den kulinar-erotischen Bücherschrank
Wenn Gourmet, dann auch Gourmand
Männer brauchen Me-Time
Höhepunkt Hauptgang
Der Bauer in uns
Gastrosexualität als Einstellungskriterium
Hot, aber herzlich
Der Erfolg der Kochshows
Der Restaurantbesuch
Mein Freund, der Sternekoch
Dessertzeit
Darf es noch ein Digestif sein?
Die Rechnung, bitte!
Literatur
Darf es schon mal ein Aperitif sein?
Ich liebe diese Frage. Weil damit in aller Regel ein kulinarischer Rausch beginnt, entweder im Restaurant oder daheim, wenn Gäste eingeladen sind. In kleiner Runde ist man nicht so förmlich. Darf es schon mal ein Aperitif sein? Diese Frage stellt man weder Frau noch Freund. In trauter Zweisamkeit wird, ohne dass darüber gesprochen wird, ein Winzersekt aufgemacht; man trinkt meist zu schnell, und der besondere Genuss des Aperitifs ist vertan. Denn mit dem ersten Tropfen Alkohol, aber auch mit den Aromen eines nichtalkoholischen Getränks, können zu Beginn eines Menüs die Geschmacksareale im Mund noch ganz anders gereizt werden als später, wenn schon diverse Speisen ausprobiert und einige Gläser Wein getrunken sind.
Darf es schon mal ein Aperitif sein? Im Restaurant antworte ich grundsätzlich mit einer Gegenfrage: Was können Sie mir empfehlen? Wenn dann nur auf Prosecco, besagten Winzersekt oder auch Champagner verwiesen wird und wenn, nach Alternativen gefragt, schließlich nur den Geschmackssinn verklebende Longdrinks wie Campari Orange oder Gin Tonic angeboten werden, bin ich schrecklich enttäuscht. Denn wenn schon der Aperitif verzaubert, weil das Glas nach frischer Zitronenzeste duftet, wenn also das Riechorgan in das Geschmackserlebnis eingebunden ist, wenn Blüten und Essenzen den Perlwein kongenial ergänzen, wenn schon vor dem ersten Gruß aus der Küche kleine Happen auftauchen, die zum Aperitif die Handschrift des Kochs verraten, wenn auf einem Löffel mit krossen und weichen Konsistenzen, mit Gemüse, Fisch und Fleisch, mit Wärme und Kälte gespielt wird – dann freue ich mich ganz besonders auf die kulinarische Reise, die vor mir liegt.
Auch wenn ich daheim koche, gebe ich mir Mühe, dieses Vorspiel eines Menüs so präzise und aufwändig wie möglich zu gestalten, weil ich weder meine Gäste noch mich selbst um diese Freude bringen möchte, die auch darin besteht, ein Geschmackserlebnis weitgehend zu steuern: Mit dem Gericht, das auf einen Löffel passt, lege ich, wie es der deutsche Kulinarikkritiker Jürgen Dollase in seiner Geschmacksschule zutreffend beschreibt, die gustatorische Wahrnehmung fest. Bei einem Tellergericht mit unterschiedlichen Komponenten wählt jeder Gast eine eigene Reihenfolge und damit auch ein sehr subjektives Geschmackserlebnis, indem er etwa mit dem angebotenen Püree oder einem frittierten Gemüse beginnt beziehungsweise diese beiden Elemente gleichzeitig isst. Das Minigericht bietet die Möglichkeit des perfekten Genusserlebnisses. Allerdings birgt es auch die Gefahr, Quatsch mit Sauce aufzutischen, denn weil es derzeit très chic ist, ein Löffelgericht zu präsentieren, muss der Mode selbst dann gefolgt werden, wenn Banalitäten auf dem Miniteller mit Stiel landen oder Produkte auf kleinstem Raum kombiniert werden, die gar nicht zusammenpassen.
Ich brauche viele Stunden, um die komplizierten Löffelüberraschungen vorzubereiten. Instabile Schäume oder feine Essenzen, die nur bei einer bestimmten Temperatur wirklich gut schmecken, baue ich eher selten in spätere Gänge ein, weil Details oft nur am Anfang wahrgenommen werden und sich die Aufmerksamkeit der Gäste im Laufe eines Abends verschiebt: Die Unterhaltung wird wichtiger, das Essen tritt ein wenig in den Hintergrund, Schäume zerfallen, Warmes wird lauwarm.
Für den ambitionierten Hobbykoch können die Snacks zu Beginn deshalb zum Problem werden: Wer am Anfang alles zeigt, was kochtechnisch möglich ist, entpuppt sich rasch als kulinarischer Prahlhans. Denn wer nach der Häppchenexplosion keine Ideen mehr für das folgende Menü hat, wird die hochgeschraubten Erwartungen nicht nur der kulinarisch etwas versierteren Gäste enttäuschen. Außerdem gefällt nicht jedem die geschmackliche Diktatur des Löffelgerichts. Die Sehnsucht des Menschen nach Wahlfreiheit ist auch und vor allem beim Essen nicht zu unterschätzen.
Damit die kulinarische Spielfreude auch zu Beginn nicht zu kurz kommt, übertreibe ich es also nicht mit der Aromen- und Texturenvorgabe, und versuche, die Gäste mit kleinen Details zu überraschen. Derzeit setze ich gerne Getreidesorten ein, die man eher aus dem Reformhaus kennt, Amaranth und Quinoa zum Beispiel. Ich stelle selbstgebackenes Kamutbrot, frische Buchweizenblini und zwei Buttervarianten auf den Tisch. Vielleicht eine orangefarbene Version, die ihre leuchtende Farbe vom Karottenpulver erhält, das ich selbst hergestellt habe. Manchmal eine klassische Kräuterbutter. Oder doch einen frischen Gemüseaufstrich aus weiß-gelbem Knollenziest? Das kommt natürlich darauf an, was ich sonst noch koche. Meine Frau meint, sich schon bei Butter und Brot zu verausgaben, sei etwas übertrieben. So unrecht hat sie nicht. Aber wenn ich die Gesichter meiner Gäste sehe, dann weiß ich, warum es sich lohnt, diesen Aufwand zu betreiben.
Ein Freund, von dem ich weiß, dass er Brot und Butter liebt, wollte einmal gar nicht mehr aufhören, mein Tonkabohnenbrot zu verschlingen – sollten die schwarzen Bohnen nicht doch als Rauschmittel eingestuft werden? Ich konnte mir jedenfalls nicht vorstellen, dass er nach der vierten Scheibe Tonkabrot noch irgendetwas in seinem Bauch würde unterbringen können. Konnte er aber. Nach sieben Gängen plus Vordessert und ordentlicher Nachspeise bat er mich, auch noch die Reste von Brot und Butter essen zu dürfen. Ob er denn noch Hunger habe, fragte ich. Er schüttelte den Kopf und lächelte. »Der Geschmack des Brotes«, sagte er, »erinnert mich an den Anfang des Menüs. Am liebsten würde ich noch einmal von vorne beginnen.«
Ein Gruß aus der Autorenküche
Immer diese Missverständnisse. In Oswalt Kolles Aufklärungsfilm Das Wunder der Liebe, uraufgeführt im Februar 1968, gibt es eine Szene, in der sich eine junge Frau bei ihrem desinteressierten Mann beschwert: »Du hast mich nicht mal richtig in die Arme genommen!« Er versucht sich rauszureden, aber sie lässt nicht locker: »Nein, jetzt muss es raus. Ich liege im Bett und grüble: Mag er dich nicht mehr? Hat er vielleicht eine andere?« Als ich diese Szene meiner Frau vorspiele, lacht sie und meint: »Ist wie bei uns. Nur dass ich weiß, mit wem du mich betrügst. Nämlich mit deiner Eismaschine.«
Tatsächlich verbringe ich seit Monaten viel Zeit mit meinem neuen Lieblingsspielzeug. Ehrfürchtig stehe ich vor dem Gerät, andächtig lausche ich dem Höllenlärm, den es macht, wenn es mit Hilfe eines robusten Messers einen Eisblock nach und nach zu einem Pulver, einem Sorbet oder einer Mousse verarbeitet. Dass der legendäre Pacojet in meiner Hobbyküche steht, halte ich immer noch für ein kleines Wunder, denn ich weiß durchaus, dass die viel zu teure Kopffräse normalerweise nur bei den Profis zu finden ist. Aber mein schlechtes Gewissen, die Haushaltskasse geplündert zu haben, schwindet schon bald. Schalte ich nämlich die Hochleistungsmaschine ein, erlebe ich viel mehr als ein kulinarisches Freizeitvergnügen. Wenn die Kiste zum Beispiel gefrorene Petersilie in ein feines grünes Eispulver verwandelt, mit dem ich hocharomatische Emulsionen anrühren kann, dann vibriert etwas in mir, auf das meine Frau durchaus eifersüchtig sein darf. Nicht dass Sie denken, ich mache hier und auf den folgenden Seiten etwa Werbung für dieses oder jenes Küchengerät! Es geht mir ausschließlich um die Gaumenerotik, die dieses Ding ermöglicht; besagte Kopffräse ist nämlich so einzigartig, dass Köche vom Markennamen ein eigenes Verb abgeleitet haben, nämlich »pacossieren«. Ähnlich schwärmen kann ich auch von der Sous-vide-Technik, von einem guten Räucherofen oder wirklich scharfen Messern. Und das werde ich in diesem Buch auch tun. Aber alles der Reihe nach.
Geraume Zeit habe ich mich gefragt: Was ist mit mir los? Hat sich aus einem Hobby ein veritabler Hau entwickelt? Habe ich den Beruf verfehlt? Dann habe ich mich mal in meinem Bekanntenkreis umgehört und erleichtert festgestellt, dass immer mehr Männer kochen und dass sie anders kochen als Frauen. Freunde, denen ich nicht mal zugetraut hatte, dass sie wissen, was eine Mehlschwitze ist, entpuppten sich als heimliche Saucenfreaks und Fondspezialisten. Andere gaben sich als Rindfleischfanatiker zu erkennen; ich traf auf Espressophilosophen und verwegene Experimentalgourmets, die auch schon mal das Risiko eingehen, die Küche in die Luft zu sprengen, weil sie mit flüssigem Stickstoff experimentieren.
So unterschiedlich das kulinarische Spezialgebiet im Einzelfall, alle Männer, denen ich begegnete, erzählten mit einem Lächeln auf den Lippen von ihrer wachsenden Freude, die Freizeit in der Küche zu verbringen. Alle sprachen verhältnismäßig ehrlich über Stärken und Schwächen der eigenen Kochkunst, und sie schwärmten von technischen Geräten, als verspräche allein schon die Ausrüstung eine orale Befriedigung.
Da man nicht von seinem Bekanntenkreis auf ein gesellschaftliches Phänomen schließen sollte, dachte ich: Kein Wunder, dass diese Typen deine Freunde sind. Dann erschien ein Artikel in einer überregionalen deutschen Tageszeitung. »Huch, mein Mann ist gastrosexuell!«, lautete die Überschrift des informativen Textes von Brenda Strohmaier, der mir prompt von allen Freunden gemailt wurde. Oft mit dem Zusatz: »Da scheint dich aber jemand ziemlich gut zu kennen. Hihi! Hast du eine Geliebte?« Hatte ich nicht. Welt-Autorin Strohmaier beschrieb lediglich Männer, die ihre Freizeit so ähnlich verbrachten wie ich, nämlich in der Küche.
Nach der Lektüre des Artikels habe ich mit einer großen Recherche begonnen, die wohl nie mehr aufhören wird: Im Auftrag der unterschiedlichsten Medien – fürs Radio, für Zeitungen und nun auch für dieses Buch – fahre ich durch Deutschland und spreche mit Hobbyköchen aus den unterschiedlichsten sozialen Milieus, die sehr ähnlich, nämlich enthusiastisch übers Kochen reden, die sich für gute Lebensmittel begeistern können, die etwa, wenn sie einen fangfrischen Fisch beschreiben, Liebeserklärungen abgeben. Ich habe Leute kennengelernt, die sehr bescheiden leben und ihr Erspartes investieren, um Spitzenrestaurants besuchen und daheim die Menüs der Sterneköche replizieren zu können; ich habe Unternehmer getroffen, die mittlerweile viel Geld verdienen mit uns Gastrosexuellen, weil sie etwa übers Internet all jene Waren anbieten, die es weder am Biobauernstand noch im gut sortierten Supermarkt gibt. Und jetzt weiß ich: Ja, wir Gastrosexuellen werden immer mehr! Wir sind ein gesellschaftliches Phänomen, jippieh!
Die Interviews, die ich führte, zeigten mir auch, dass über die Kochleidenschaft der Männer viele Klischees im Umlauf sind. Da wird psychologisiert und theoretisiert, leider aber nur selten mit den Hobbyköchen selbst gesprochen. So lässt sich schnell ein Muster- und Zerrbild des kochenden Mannes entwerfen, der in der Midlife-Crisis steckt, ziemlich viel Geld auf dem Konto hat und nach Wegen sucht, den ebenfalls nach neuen Kicks suchenden Golfkumpel zu beeindrucken. Dazu passt natürlich nicht die Geschichte des 28-jährigen Maschinenbaustudenten Mirko Mößle, der sich aus Industriestahltanks einen Fass-Smoker gebaut hat, um endlich mal gute Rippchen und das legendäre »pulled pork« zuzubereiten. Der junge Mann macht die Brötchen für die eigenen Burgerkreationen selbst, und er geht auch mal in den Wald, um Pilze zu sammeln, die in frischen Ravioli verarbeitet werden. Zwischenzeitlich wohnt Mößle wieder bei den Eltern, doch statt im Hotel Mama zu faulenzen, bekocht er die ganze Familie. Und zwar nicht nur am Wochenende, sondern mindestens jeden zweiten Abend.
Wenn Mößle im Restaurant Fleisch bestellt, ist er meistens enttäuscht. Weil das, was er aus seinem Smoker holt, meistens besser schmeckt. Kaum überraschend also, dass der Student, der sich auf Automobiltechnik spezialisiert hat, davon träumt, ein eigenes Barbecuelokal aufzumachen. »Das würde einschlagen wie eine Bombe, ich kann das besser, ganz bestimmt!« Wir führen ein Fachgespräch über »pulled pork«, die Schweineschulter, die mit einem »rub«, also einer intensiven Gewürzmischung eingerieben, dann einen Tag lang im Kühlschrank mariniert und schließlich im Smoker rund 15 Stunden bei einer Temperatur zwischen 100 und 130 Grad gegart wird. Das Fleisch ist so zart, dass es anschließend in kleine Stücke zerfällt oder dünne Fasern gezupft werden kann, daher »pulled pork«.
Räuchermeister Mößle scheint nicht zuletzt wegen seiner Kochkünste beliebt bei Familie und Freunden zu sein. Auf die Frage, ob denn auch die Damenwelt positiv reagiere, wenn er seinen Ofen anschmeißt, antwortet er prompt: »Na, aber sicher!« Dieser Mann, denke ich, ist noch jung, und ich wünsche ihm, dass ihm heftige Konflikte um sein Freizeitvergnügen erspart bleiben. Als ich Kontakt zu Brenda Strohmaier aufnahm, erzählte sie mir sofort, dass viele Frauen auf die Kochexperimente des Gatten alles andere als gelassen reagieren: Eine Kollegin hatte sich gar von ihrem Mann, einem erfolgreichen Anwalt, scheiden lassen, und zwar vor allem weil sie die Kochriten des Angetrauten nicht länger ertrug: »Das war wohl ein gestresster Typ, der sich aber entspannte, wenn er irgendwelche Tiere so lange köchelte, bis er sie in eine Karkassenpresse stopfen und ausquetschen konnte. Das Haus muss die ganze Zeit nach diesen Suppen gestunken haben. Meine Kollegin hatte wirklich genug von dem Getue und freut sich jetzt, einen Mann zu haben, der nicht kocht.«
Nach dem Gespräch mit Brenda Strohmaier hatte ich begriffen, warum ausgerechnet eine Frau uns Gastrosexuelle in die Medienöffentlichkeit bringen musste: Wenn sich Männer fürs Kochen begeistern, ergeben sich neue Chancen und Herausforderungen fürs Zusammenleben, verändern sich Ehen und Partnerschaften. Dieses Hobby findet nicht im dunklen Keller oder der Garage statt, sondern in der Mitte der Familie. Das hat viele Vorteile, die ich in diesem Buch herausstellen werde, aber müffelt die Wohnung ständig nach Fischfond oder steht das Konto im Minus, weil der Mann ein Küchengerät nach dem anderen anschafft beziehungsweise teure und seltsame Fleischstücke einkauft, kann das durchaus ein Scheidungsgrund sein.
Wobei ich jedem Paar, das mit gastrosexuellen Auswüchsen zu kämpfen hat, den guten alten Oswalt Kolle empfehle. Dein Mann, das unbekannte Wesen heißt ein anderer Film des Volksaufklärers, in dem Sätze verbreitet werden, die uns heutzutage amüsieren, weil Selbstverständlichkeiten auf angestrengt-seriöse Weise vorgetragen werden. Der besondere Witz aber ist, dass diese Sätze keineswegs an Aktualität verloren haben: »Wenn beide Geschlechter«, doziert Kolle, »besser über die sexuellen Vorgänge beim Mann Bescheid wüssten, würden viele Missverständnisse erst gar nicht aufkommen, die eine Partnerschaft trüben oder gar zerstören können.« Man stelle sich nur einmal vor, wie viele Scheidungen hätten verhindert werden können, wenn die Frau gewusst hätte: Mein Mann ist gastrosexuell, mein Mann zeigt gerade mit dem Versuch, auch noch den letzten Geschmackstropfen aus dem Fisch zu pressen, wie sehr er mich liebt!
In diesem Sinne möchte das vorliegende Buch Aufklärungsarbeit leisten, nämlich über die Küchenfixierung des modernen Mannes, über die geheimen Sehnsüchte und konkreten Wünsche eines Gastrosexuellen. Weibliche Leser werden erfahren, was ihre kochenden Männer wirklich umtreibt, und gastrosexuelle Männer werden ihre Freude haben, wenn sie während der Lektüre feststellen: Klar, so geht’s mir auch. Oder aber: Nee, das mache ich vollkommen anders. Oder: Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Und all diese Männer dürfen das Buch auf den Tisch legen, wenn sie wieder mal von ihrer Frau oder einem Freund gefragt werden: Warum zum Teufel stellst du dich zehn Stunden in die Küche? Weil du ernsthaft versuchst, ein Gericht auf mittlerem Sterneniveau zuzubereiten?
Wer gar keine Ahnung vom Kochen hat oder die etwas ambitionierte Herangehensweise gastrosexueller Männer wahlweise für elitär, seltsam überdreht oder sogar zynisch hält (angesichts des Hungers in der Welt), wird mit einem durchaus seriösen Einblick in eine Szene belohnt, die, allen politischen Korrektheiten zum Trotz, zum gesellschaftlichen Leitbild avanciert: Wer sich ansieht, mit welchem Erfolg wir Männer das traditionelle Terrain der Frau erobern, nämlich die Küche, wie wir diesen Ort verwandeln, indem wir Geräte aus Labor oder Werkstatt herbeischleppen, mit welcher Leidenschaft wir Saucen und Schäume herstellen, wie kunstvoll wir Teller arrangieren, mit Dessertring und Anrichtpinzette, alles Spielzeuge unserer kulinarischen Lust, ja, wer bemerkt, wie Männer sich verändern, wenn sie stundenlang Knochen auskochen, wer all diese Vorgänge unvoreingenommen beobachtet, wird den Begriff Gastrosexualität weder für ein bescheuertes Modewort noch für eine Randerscheinung in unserem Freizeitbetrieb halten.
Wer allerdings eine wissenschaftliche Abhandlung erwartet, wird enttäuscht sein, denn ich möchte mich dem Thema – wie könnte es anders sein? – eher lustvoll nähern. Das Buch erinnert daher weniger an eine universitäre Arbeit als vielmehr an ein Überraschungsmenü, wobei die Überraschung auch darin bestehen kann, dass einige Aspekte der Gastrosexualität zunächst nur angedeutet und später vertieft werden, wie eben bei guten Amuse-Gueules die kulinarischen Ideen des Kochs kurz vorgestellt werden, um sie dann Gang für Gang auszuarbeiten. Ich möchte die Parallelität von Buchstruktur und Speisenfolge aber auch nicht überstrapazieren, denn bei allem, was sie hier lesen, schwingt eine große Portion (Selbst-)Ironie mit – ansonsten könnte man(n) wie frau dieses Männerthema gar nicht aushalten.
Sind Sie gastrosexuell? Diese Frage habe ich allen Gesprächspartnern gestellt, und natürlich haben viele zunächst verschämt gelacht, um dann aber zuzugeben, was sie schon lange umtreibt. In Berlin habe ich zum Beispiel Axel Herrmann interviewt, einen jungen Designer, der auch für das Internetportal sternefresser.de Restaurantkritiken schreibt und der nur kurz nachdenken musste, bevor er antwortete: »Ich glaube, ich habe noch nie beim Sex Tränen in den Augen gehabt, aber beim Essen schon.«
In Hamburg erzählte mir Peter Wagner, Autor einer vielgelesenen Hobbykochkolumne auf Spiegel Online, mit leuchtenden Augen: »Für ein befreundetes Paar habe ich mal ein sehr, sehr feines Spargelrisotto mit einer Krustentierjus und großen Garnelen oben drauf gekocht, und als sie das gegessen hatten, guckte mich Thomas, ein durch und durch in der Wolle gefärbter Heterosexueller, ganz verklärt an und sagte: Wenn du eine Frau wärst, ich würde sofort Sex mit dir haben wollen.« Ach, hätte Wagner das Spargelrisotto auch mir zubereitet! Aber wir trafen uns leider nur in seinem Büro am Jungfernstieg. Und dort gab es nicht einmal eine Kochnische …
Der Düsseldorfer Unternehmer Ralf Bos, dessen kulinarischer Versandhandel Bos Food fast alle Wünsche eines Gastrosexuellen befriedigen kann, berichtete mir von seiner kulinarischen Schnüffelsehnsucht, die er auch dann nicht in den Griff bekommt, wenn es peinlich zu werden droht: »Ich habe, als ich meine Frau kennenlernte, mal richtig Ärger bekommen. Denn als die Schwiegereltern beim ersten gemeinsamen Essen Brot auf den Tisch gestellt haben, habe ich in alter Gewohnheit eine Scheibe genommen und daran gerochen. Meine Schwiegereltern guckten mich an, als sei ich verrückt: Ist irgendwas mit dem Brot nicht in Ordnung?, fragten die. Nö, habe ich gesagt, ich riech nur gern an Brot.«
Gastrosex?
Ein Brotschnüffler bin ich nicht, aber ich kenne die kulinarische Sehnsucht, die erfüllt werden will und sich nicht mit Ahnungen zufriedengibt. Ralf Bos wollte das frische Brot, das ihn anmachte, nicht nur aus der Ferne bewundern, sondern anfassen und riechen. Nun wird er damals, als er die Schwiegereltern verstörte, nicht erklärt haben: »Entschuldigen Sie, ich bin gastrosexuell!« Denn damals gab es den Begriff noch gar nicht. Wäre auch nicht gut angekommen. Was aber wissen wir heute über die Spielart der Lust, die vor allem uns Männer befällt? Meistens hilft ein Blick ins Lexikon, und in diesem Fall müssen wir, so neu ist der Begriff, ein englisches Onlinenachschlagewerk bemühen, das Urban Dictionary: »Gastrosexual. A term used to describe men who cook, taking the household chore part away from it, and turning it more into a hobby, used to impress friends and prospective partners.«
Und was halten wir von dieser Definition? Geht es wirklich nur darum, Freunde und potenzielle Partner zu beeindrucken? Vielleicht auch, aber es ist, wie so oft mit solchen Internetlexika: Die Artikel sind so umfassend und seriös wie Textchen, die man in bunten Lifestylemagazinen über das Phänomen der Gastrosexualität findet. Zumal die einen von den anderen abschreiben. In der Cosmopolitan liest man zum Beispiel: »Er filetiert enthusiastisch eine Dorade oder fachsimpelt über das beste Gazpacho-Rezept? Dann haben Sie es bei Ihrem Verehrer womöglich mit einem ›Gastrosexuellen‹ zu tun. So bezeichnet eine britische Studie 25- bis 44-jährige Männer, die mit ihren Kochkünsten potenzielle Partnerinnen beeindrucken wollen.«
Wer sich mit der Geschichte der Gastrosexualität etwas näher beschäftigt, wird zwar nicht auf eine wissenschaftliche Studie stoßen, dafür aber auf eine Firma namens Pur Asia, die zum Mars-Konzern gehörte und die vor einigen Jahren in Großbritannien neue Fertigprodukte für ein männliches Zielpublikum entwickeln sollte. Bei der Marktforschung kam heraus, dass es nicht wenige Männer gibt, die sich dem Genuss verschrieben haben, Männer, die sich kulinarischen Herausforderungen stellen, welche an die Kochkunst der Sternegastronomie erinnern, und die vor allem ganz andere Speisen auf den Tisch stellen als die Hausfrau, die ihre Kinder jeden Tag zu verköstigen hat. Besonders hilfreich waren die Ergebnisse für den Mars-Konzern nicht, denn die dort beschriebenen Männer verzichten nämlich lieber aufs Essen, bevor sie Fertigprodukte in die Hand nehmen, und das hat nicht nur damit zu tun, dass der kochende Mann mit einer Asia-Gewürztunke aus dem Supermarktregal niemand beeindrucken kann.
Wer männlichen Leidenschaften beikommen will, sollte zunächst eine Frau dazu befragen. Ich habe mich, wie schon erwähnt, bei Brenda Strohmaier erkundigt, was den gastrosexuellen Mann ihrer Meinung nach charakterisiert – abgesehen davon, dass er mit mehrgängigen Menüs Freunden imponieren und Frauen verführen will. »Wie der metrosexuelle Mann«, erklärt sie mir auf charmante Weise, »einer ist, der der Frau auch etwas klaut, nämlich die Idee, dass man gut aussehen kann, aber trotzdem seine Männlichkeit behält, so ist es jetzt mit dem gastrosexuellen Mann. Der geht in eine Domäne der Frau und besetzt sie auf eine andere Art, als die Frau sie besetzt. Während die Frau immer noch für die Alltagsküche zuständig ist, macht der Mann das Besondere, also das, was dem Status nützt.«
Wie aber ist es dazu gekommen, dass der Mann eine Domäne der Frau besetzt? Blicken wir ein wenig zurück: Die Eroberung der Privatküchen durch den Mann, so viel steht fest, erfolgte nicht handstreichartig. Die Entwicklung, die den Gastrosexuellen den Boden bereitete, begann bereits vor einem halben Jahrhundert. Mit der zunehmenden Berufstätigkeit der Frauen in den sechziger Jahren hatten viele von ihnen keine Lust mehr, neben ihrem Job auch noch die Küchenfee zu spielen. Emanzipation hieß auch und vor allem, sich vom Herd wegzubewegen. Die privaten Küchen waren also zunehmend verwaist. Fertiggerichte und Tiefkühlkost machten sich in den Haushalten breit. Wer seine Kindheit in den siebziger Jahren verlebt hat, kennt das Phänomen: Schnell mal eine Dose Ravioli aufmachen, und die hungrigen Mäuler sind gestopft. Die Männer haben auf diese Art der fixen Verköstigung sehr unterschiedlich reagiert. Manche waren einverstanden, weil sie sich für höhere Kochkunst eh nicht interessierten. Konservative Typen moserten und wünschten sich Großmutters Köstlichkeiten zurück. Die kulinarisch Versierten befriedigten ihre Bedürfnisse zunehmend in der Spitzengastronomie, die sich hierzulande erstaunlich zu entwickeln begann. Eckart Witzigmann brachte die Nouvelle Cuisine nach Deutschland, und mit seinen Münchener Erfolgen im Tantris und in der Aubergine veränderte sich hierzulande die gastronomische Landschaft. Aber diese Kochkunst besaß kaum Berührungspunkte mit den Privatküchen der Republik. Auch wenn die Gourmetkultur von Männern geprägt war, daheim gab es entweder Muttis gute und schwere Hausmannskost oder die schnelle Küche aus dem Maggi-Kochstudio beziehungsweise der Mirácoli-Packung. Ebenfalls von Mutti zusammengerührt.
Dann kamen die achtziger Jahre und die Toskanafraktion. Eine angeblich ehrliche Tomatensauce, authentische Pasta, einfache Fisch- und Fleischgerichte aus der italienischen Bauernküche wurden immer beliebter – und nun stellten sich immer mehr Männer an den Herd. Einerseits um sich von den alten Paschas abzuheben, die sich immer noch von Mutti bekochen ließen, andererseits auch aus Einsicht in die Notwendigkeit. Denn die Partnerinnen, auf die sich die Männer der Toskanafraktion zumeist einließen, gehörten in aller Regel zur wachsenden Gruppe der berufstätigen Frauen. Die Zeit konnte nicht zurückgedreht werden. Helmut Kohl hatte zwar eine »geistig-moralische Wende« proklamiert, inklusive Rückgriff auf die Wertvorstellungen der fünfziger Jahre, aber der Alltag der Deutschen entwickelte sich in eine andere Richtung. Die kochende Hausfrau wurde langsam, aber sicher zum Auslaufmodell.
Es dauerte zwar noch ein paar Jahre, bis der kochende Mann endgültig zum Phänomen wurde, aber Ende der neunziger Jahre war es unübersehbar: Inspiriert von den technischen Neuerungen in der gehobenen Gastronomie und der Möglichkeit, sich im Internet übers Kochen zu informieren und auch zu verbreiten, wuchs ein zumeist männliches Publikum, das nicht länger nur Gast, sondern auch Gastgeber sein wollte, das nicht nur genießen, sondern den ambitionierten Genuss auch selber herstellen wollte. Was nicht hieß, dass auch die Alltagsküche von den Männern sofort übernommen wurde. Für die Fütterung des Nachwuchses waren und sind bis heute vor allem die Frauen zuständig. Doch auch auf diesem Küchenfeld ist ein Wandel zu verzeichnen, den die Avantgarde der gastrosexuellen Männer vorgibt. Den Vorwurf, nur das Wochenenddinner zu inszenieren, um sich Lob im Freundeskreis abzuholen, will sich der Küchenmacho nicht länger gefallen lassen. Selbstverständlich koche ich (fast) jeden Tag für Frau und Kind, weil es mir eben eine große Freude bereitet, die Kleine von unliebsamen Gemüsesorten zu überzeugen, indem ich Rote Bete etwa in einen rosafarbenen Schaum verwandele oder Pastinaken in Puffern verstecke. Meine Tochter sagt dann: »Papi, du kannst zwar nicht Autofahren, aber du bist ein Superkoch!« Was will der stolze Vater mehr?
Insofern hat Brenda Strohmaier recht, wenn sie behauptet, dass kochende Männer aus ihrem Hobby auch emotionales Kapital zu schlagen wissen. Ebenfalls stimmt, dass sich einige Gastrosexuelle schicke High-End-Küchen als eine Art soziales Distinktionsmittel zulegen. Angeber gibt es überall. Aber nach meinen vielen Gesprächen mit Hobbyköchen, die alles andere als statusgeil sind, wage ich zu behaupten, dass der gastrosexuelle Mann mit diesem ohnehin etwas pauschalisierenden Attribut nicht hinreichend beschrieben werden kann. Meine Erfahrung ist, dass die Leute zuhören, wenn ich übers Kochen rede. Spreche ich übers Tennisspielen, interessiert das heutzutage keinen Menschen mehr. Frauen sowieso nicht. Wenn ich nicht gerade koche, spiele ich trotzdem Tennis. Status hin, Status her.
An dieser Stelle sei erwähnt, dass auf dem Gebiet der kulinarischen Leidenschaft die unterschiedlichsten Begriffsschubladen und Selbstzuschreibungen miteinander konkurrieren. Da gibt es Feinschmecker und Foodies, Gourmets und Gastrosexuelle. So what?, könnte man nun sagen. Ja, sollen sich die Leute, die gerne essen und kochen, doch bitte nennen, wie sie wollen. Wenn man sich aber mit den verschiedenen Identitäten näher beschäftigt, wird man nicht nur Gemeinsamkeiten, sondern auch interessante Unterschiede feststellen.
Foodies beispielsweise, so liest man in einem Wikipediaeintrag, der offenbar von einem bekennenden Foodie verfasst wurde, haben »ein starkes Interesse (Leidenschaft) daran, zu essen und über das Essen zu lernen, ohne dabei ihren Lebensunterhalt mit einer gastronomienahen Tätigkeit zu bestreiten«. Demnach sind Foodies »im Gegensatz zu Gourmets, die gewöhnlich als Fachleute der guten Küche gelten, interessierte Laien, die gutes Essen und Trinken in ihrer Gesamtheit lieben, sich für die kulturellen Hintergründe interessieren. Dabei verfolgen sie die neuesten Trends im Bereich des Kulinarischen. Dies schließt auch Informationen aus der Lebensmittelindustrie, aus der Ernährungswissenschaft und über bekannte Persönlichkeiten in diesen Bereichen ein.« Was für die Foodies gilt, trifft selbstverständlich auch auf alle Männer zu, die ich als gastrosexuell beschreiben möchte. Mit einem wichtigen Unterschied: Gastrosexuelle wollen mehr sein als Laien, die sich fürs gute Essen und die kulturellen Hintergründe interessieren. Gastrosexuelle schreiten zur Tat, wollen kochen wie die Profis, kennen keine kulinarischen und kulturellen Grenzen, und gerade diese Aktivität hat dazu geführt, dass sich die Rollenaufteilung in den Privatküchen verändert hat.
Eine wichtige Ergänzung: Die große Lust am Kochen überfällt nicht nur heterosexuelle Männer. Im Gegenteil, unter Schwulen ist die Gastrosexualität genauso verbreitet. Bloß scheinen homosexuelle Männer ihre Kochlust oft etwas vornehmer auszuleben und reden in breiter Öffentlichkeit nicht so ausgiebig über ihre kulinarischen Exzesse. Ich würde sogar behaupten, dass die gastrosexuelle Lebenskunst, der ganze barocke Tellertüttelkram, sich stärker an schwuler Alltagsästhetik orientiert, als sich das mancher kochende Hetero eingestehen will. Das meint auch der amerikanische Autor John Birdsall und stellt in seinem lesenswerten Foodblog itsjohnbirdsall.tumblr.com fest: »America, your food is so gay!« Susan Sontags Camp-These lässt grüßen.
Ich habe auch Frauen kennengelernt, die ihre Gastrosexualität auf, sagen wir mal, lustvoll-männliche Weise ausleben, die über Messer reden, als hätten in der Menschheitsgeschichte vor allem Frauen Tiere zerlegt. Aber diese Frauen sind die Ausnahmen. Durchaus selbstbewusst sagt Hobbykoch Peter Wagner: »Wir haben in den letzten 20, 25 Jahren endlich gelernt, dass das Zubereiten, Präsentieren und Servieren von Lebensmitteln ein Teil unserer Kulturleistung ist. Warum sollten wir Männer, zum Teufel, nicht wieder einmal die Vorreiterrolle einnehmen?«
Wir Männer in der Vorreiterrolle. Ganz heikles Thema. Männerforscher wie Walter Hollstein sehen das Objekt ihrer Studien auf dem absteigenden Ast. Es ist von einer »Krise der Männlichkeit« die Rede, und wenn man sich in Krankenhäusern und Gefängnissen, aber auch in Schulen und Universitäten umsieht, könnte man tatsächlich auf den Gedanken kommen, dass immer mehr Männer auf der Verliererstraße unterwegs sind. Feministinnen halten dagegen und weisen nach, dass sich am Patriarchat auch in unserer demokratischen Gesellschaft nicht viel geändert hat: Männer erhalten für die gleiche Arbeit immer noch mehr Lohn als Frauen; Männer besetzen in der Wirtschaft weiterhin die wichtigsten Posten; Männer treten in allen Kriminalitätsstatistiken vor allem als Täter auf und nicht als Opfer.
Dennoch erfreut sich, wie zum Beispiel die taz-Autorin Ines Kappert herausgearbeitet hat, die Figur des »realitätsuntüchtigen« Mannes seit vielen Jahren großer Popularität, und zwar sowohl in der Presse als auch in der Kulturindustrie. Dabei wird die Erzählung vom Typen, der nichts mehr auf die Reihe bekommt, zum zentralen Argument einer harschen Kapitalismuskritik: Wenn schon der ganz normale Mann scheitert, kann etwas nicht stimmen in unserer Leistungsgesellschaft. Ich werde später auf diese Diskussion noch einmal näher eingehen und möchte fürs Erste nur darauf hinweisen, dass weder Männerforscher noch Gender-Expertinnen sich besonders für alltagstaugliche Wege interessieren, die zu neuen Identitäten und Verhaltensweisen der Männer führen. Die Bedeutung der männlichen kulinarischen Sexualität scheint jedenfalls kaum jemand von ihnen erkannt zu haben. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich bin keinesfalls der Meinung, dass soziale und psychische Krisen schnell gelöst werden können, indem der Kochlöffel in die Hand genommen wird. Doch die neue Rollenverteilung in der Küche bietet durchaus eine Möglichkeit, tradierte Muster im Geschlechterdiskurs zu hinterfragen.
Ein Blick ins Internet zeigt, dass die alten Deutungsmuster leider noch sehr wirksam sind. Da es bekanntlich nicht schwer ist, im Netz anonym zu bleiben, findet man dort viele Erklärungsversuche der Gastrosexualität, die durch keine sozialen oder sprachlichen Konventionen gefiltert wurden: »Irgendwann überrollt eben jeden verheirateten Mann die Langeweile – nennt mir einen Mann, der nach 10 und mehr Ehejahren noch sexuell ausgelastet ist (…)? Nicht verwunderlich, dass Männer einen Ausgleich am Abend suchen – und dabei können sich deren Ehefrauen noch glücklich schätzen, wenn er nur den Kochlöffel schwingt und Rezeptbücher im Internet wälzt.«
»Nur« den Kochlöffel schwingen? Was heißt denn das? Will der Autor, der sich das vielsagende Online-Pseudonym »Familienvater« zugelegt hat, vielleicht andeuten, dass der von der Frau nicht ordentlich befriedigte Mann viele Gründe hätte, die Axt aus dem Keller zu holen? Liegt es wirklich an der Langeweile im Bett, dass die Männer sich an den Herd oder vor den Dörrapparat stellen? Nein, dieser »Familienvater« hat vielleicht sexuelle Probleme – aber keine Ahnung von der Erotik des Kochens und der Freude, die Freizeit mitten in der Familie zu verbringen.
Obwohl ich nach diesen und ähnlichen Beiträgen in Blogs und Foren nicht mehr glaubte, im Netz profunde Texte zum Thema zu finden, suchte ich weiter und entdeckte einen langen Artikel im Onlinearchiv einer Zeitschrift, die laut Selbstauskunft »über die dunklen wie die hellen Seiten eines Frauenlebens« berichtet. Alice Schwarzers Emma dokumentierte unter dem Titel »Männer am Herd: War ich gut?« die eigene Ratlosigkeit: »Braucht der Mann neue Herausforderungen? Sichert er neues Terrain mit seinen Kochkünsten angesichts einstürzender Männerbastionen? Vielleicht will er sich auch nur als Selbstversorger konditionieren – nun, da immer mehr Frauen an öffentlichen Krisenherden stehen, statt wie gewohnt nur den Frieden daheim am Köcheln zu halten?« Von Männern scheinen die Emma-Frauen ähnlich wenig zu verstehen wie der zitierte »Familienvater«. Auch hier wird die Kochleidenschaft der Männer vor allem als »Ersatz-Sex« verstanden.
Wer aber keinen sexistischen Begriff von Sex hat und das erotische Leben der Menschen keineswegs auf den Geschlechtsakt im Bett begrenzt, wird feststellen, dass die alte Kompensationsthese an der heutigen Lebenswelt vorbeigeht. In der Welt des alten Feminismus muss jedoch, wie auch immer sich eine Gesellschaft entwickelt, die alte Unterdrückungsgeschichte erzählt werden, und so entpuppt sich der Emma-Artikel über kochende Männer als seitenlanger Exkurs über die wahren »Helden am Herd«: In fast allen Epochen der Menschheitsgeschichte seien nämlich die Frauen für Suppe und Brei, also für die Ernährung der Familie zuständig gewesen, während der Mann, wenn er denn gekocht habe, mit der Entwicklung pompöser Speisenfolgen vor allem den eigenen Machtanspruch in der Gesellschaft demonstrierte. Und dieses Missverhältnis bestehe immer noch: »Weiterhin werden weltweit 80 bis 90 Prozent der Mahlzeiten von Frauen bereitet.« Heißt: Warum soll man sich überhaupt mit diesen kochenden Männern ernsthaft beschäftigen? Der Verweis auf den Rest der Welt ist natürlich Humbug, denn die Gastrosexualität ist ein Phänomen der fortentwickelten, westlichen Industriegesellschaft.
Immerhin, Emma-Autorin Eva Kohlrusch lässt in ihrem Beitrag auch Männer zu Wort kommen. Interessanterweise keinen begeisterten Hobby-, sondern einen TV-Koch. Warum die vielen Kochshows im Fernsehen nur wenig mit der Eroberung der privaten Küche durch den Mann zu tun haben, werde ich noch klären, jetzt aber möchte ich Holger Stromberg zitieren, der nicht nur vor der Kamera, sondern auch für die Fußballnationalmannschaft der Herren kocht, und der in der Emma die »neue Kochlust der Männer« als eine »besonders anrührende Flucht in die Vergangenheit« interpretiert: »Wir können uns alle an den ersten Kuss erinnern oder unseren ersten Beischlaf. Aber noch stärker ist das Essen. Diesen ersten Geschmack, diese Sehnsucht nach der Rindsroulade von Omi – das vergisst man nicht. Wenn ich mal Rahmspinat mit Spiegelei mache oder eine Rindsroulade – da ist Partystimmung.«
Nichts gegen Rindsroulade und Spiegelei, aber ich kenne keinen Hobbykoch, der ernsthaft an Omi denkt, selbst wenn er den alten Dampfkochtopf hervorkramt und darin druckgegarte Suppen und Saucenfonds herstellt. Zumal es ein Mythos ist, dass die Eltern und Großeltern immer gute Köche waren. Meine Omi war nett, aber kochen konnte sie nicht. Kartoffeln kamen bei ihr aus dem Glas und Rouladen aus der Dose. Trotzdem hat Holger Stromberg auch eine Beobachtung beizusteuern, die sich leicht verifizieren lässt: »Der Mann stellt sich halt selber in die Küche, weil es heute zu wenig Frauen gibt, die gut kochen können.« Doch wenn der Mann sich nur deshalb in die Küche stellen würde, weil die Frau diesen Job nicht mehr übernehmen möchte, wird die Küchenparty nicht lange anhalten und der Mann nach einer Weile doch wieder zu McDonald’s gehen. Es gibt viele innere und äußere Beweggründe für Männer, sich in der Küche auszutoben. Das Frauenblatt interessiert sich vor allem für das erotische Motiv – ohne es wirklich zu verstehen, denn am Ende werden doch nur die alten feministischen Deutungsmuster aus der Schublade gekramt: »Kochen ist die Kunst, die Menschen durch Speisen glücklich zu machen – eine Sache des Verführens und Verführtwerdens. Nun, wo die bekannten Variationen von Sex bis zum Überdruss durchexerziert sind, wird ein Kamasutra des Essens inszeniert. Fünf Gänge, sechs Gänge, aufgeteilt in anregende Häppchen, das Vergnügen verlängernd. Essen als neue Freizeitlust, noch dazu vor aller Augen auszuführen. Schmeckt einmal hin: War ich gut? Soll heißen: Mit dem Kochlöffel übernehmen Männer erneut die Rolle des Verführers. Falls demnächst wieder einmal die Parole ›Frauen zurück an den Herd!‹ aufkocht, können wir jetzt ohne Bedenken sagen: ›Sorry, der ist jetzt von Männern besetzt.‹«
Der Mann als eingebildeter Verführer, der die Frau letztendlich doch wieder in die Küche zurückschicken will. Hä? Ist das nun feministischer Humor? Oder ist das ernst gemeint? Da unterhält man sich besser mit einer Autorin, die ohne den ideologischen Satzbaukasten auskommt und journalistische Recherche mit eigenen Lebenserfahrungen zu verbinden weiß: Brenda Strohmaier erzählt, dass sie aus einem Modelleisenbahnerhaushalt komme und dass die Gastrosexuellen, die sich eine Zeit lang für ein ganz bestimmtes kulinarisches Thema begeistern, zum Beispiel für molekulare Experimente oder für die hoch technisierte Espressomaschine, sie sehr an die speziellen Märklin-Welten ihres Vaters erinnern: »Hauptsache, der Mann hat irgendwas, worüber er fachsimpeln kann.«
Fachsimpeln ist wichtig, keine Frage. Aber hätte ich mir vor zwanzig oder dreißig Jahren eine Modelleisenbahn in den Keller gestellt und mit Gleichgesinnten über die Vorzüge dieser oder jener Spurbreite diskutiert? Ich glaube nicht. Und die interviewten Männer, die sich für Dampfgarer und Eismaschinen begeistern, wirkten auch nicht wie verhinderte Bähnchenbauer. Denn allen kochenden Männern ist gemein, dass sie ihrem Hobby nicht allein und in einem dunklen Abstellraum nachgehen. Gastrosexuelle suchen Gesellschaft, die der Frau oder des Lebenspartners, der Kinder, der Freunde. Deshalb haben die kochenden Männer, von denen ich hier schreibe, auch wenig zu tun mit den Typen, die in der Garage ihren Porsche polieren.
Meine Gespräche und Recherchen haben ergeben, dass es, jenseits von Statusgeilheit und Langeweile, drei starke Kräfte gibt, welche Männer in die Küchen treiben: Erstens ein erotisches Verlangen, das sich auf viele Bereiche des Kochens und Essens bezieht. Zweitens eine enorme intellektuelle und handwerkliche Herausforderung – denn es geht ja hier um Laien, die wie Profis agieren. Sowie drittens die Sehnsucht eines Büromenschen nach einem gemeinschaftlichen Erlebnis mit Familie und Freunden, das Gesprächsstoff bietet jenseits des üblichen Stammtischgeredes über Arbeit, Sport und Frauen. Womit das Freizeitvergnügen des ambitionierten Hobbykochs doch ein soziales Distinktionsmerkmal ist. Und möglich wurde all dies durch einen grundlegenden Wandel der Geschlechterrollen in den vergangenen drei Jahrzehnten.
Wir Gastrosexuellen wollen nicht, wie es Beef-Chefredakteur Jan Spielhagen formuliert, »einem Zweitligaclub hinterherreisen oder die Wochenenden, fernab der Familie, in einer hässlichen Garage an einem Motorrad herumschrauben«. Nein, wir wollen gemeinsam mit unseren Frauen und Freunden, selbstverständlich auch mit den Kindern, uns darüber freuen, das beste Pesto der Welt anzurühren. Deshalb haben Männer, die für die Familie kochen und die Frau erfreuen, mehr und besseren Sex als die vielen Typen, die ihre Freizeit vor dem Rechner, in düsteren Kneipen, im eigenen Keller oder unterm Auto verbringen.
Das erste Mal