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Über das Buch Der junge Kuballa aus Bonn zieht direkt nach der Wende in den Ostberliner Arbeiterbezirk Oberschöneweide, im Volksmund treffend Schweineöde genannt. Gelangweilt von den Genüssen des elterlichen Nobelrestaurants begreift er die Ex-DDR als Abenteuerspielplatz. Seine Haltung ist eine Provokation für die Leute in Schweineöde, die mit der Verwahrlosung ihres Kiezes zu kämpfen haben. Kuballa bleibt fast ein Jahrzehnt und leistet seinen Beitrag zur Wiedervereinigung, indem er die ehemalige Thälmannpionierin Jana verführt, seinen Nebenbuhler in den Knast bringt und die lokale Mittelstandsvereinigung zur Lynchjustiz treibt. Die deutsch-deutsche Annäherung wird schließlich zum Horrortrip: Kuballa verfällt einem grotesken Wahn. Er hält sich für den größten Stasispitzel aller Zeiten, überwacht seine Nachbarn, kontrolliert deren Post und macht ihnen, gemäß dem historischen Vorbild, das Leben zur Hölle. Ein literarischer Amoklauf gegen Ostkitsch und gefühlsduselige Wenderomane. »Dem Jungautor ist mit seinem Debüt eine zynische, eigenwillige und ziemlich amüsante Diagnose deutsch-deutscher Befindlichkeiten gelungen.« Sybille Reitenbach, Szene Hamburg Über den Autor Carsten Otte, geboren 1972 in Bad Godesberg, studierte Philosophie in Berlin und lebt heute als Schriftsteller und Radiojournalist in Bonn und Baden-Baden. Seinem Debütroman »Schweineöde«, der von deutsch-deutschen Befindlichkeiten in der Zeit nach der Wiedervereinigung handelt, folgten Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften, zahlreiche Stipendien, eine Lesereise von Heidelberg bis Peking und der Roman »Sanfte Illusionen« (2008) sowie der Essayband »Goodbye Auto« (2009). Carsten Otte wurde vielfach gefördert, etwa durch das Stipendium der Kunststiftung Baden-Württemberg sowie zuletzt vom Land Schleswig-Holstein. Im Februar 2014 erschien sein aktueller Roman »Warum wir« bei Klöpfer & Meyer, im Herbst 2014 bringt der Campus Verlag mit »Gastrosex« ein Sachbuch heraus, das der Frage nachgeht, warum es so beliebt ist, Hobbykoch zu sein.
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Seitenzahl: 320
Über das Buch
Der junge Kuballa aus Bonn zieht direkt nach der Wende in den Ostberliner Arbeiterbezirk Oberschöneweide, im Volksmund treffend Schweineöde genannt. Gelangweilt von den Genüssen des elterlichen Nobelrestaurants begreift er die Ex-DDR als Abenteuerspielplatz. Seine Haltung ist eine Provokation für die Leute in Schweineöde, die mit der Verwahrlosung ihres Kiezes zu kämpfen haben. Kuballa bleibt fast ein Jahrzehnt und leistet seinen Beitrag zur Wiedervereinigung, indem er die ehemalige Thälmannpionierin Jana verführt, seinen Nebenbuhler in den Knast bringt und die lokale Mittelstandsvereinigung zur Lynchjustiz treibt. Die deutsch-deutsche Annäherung wird schließlich zum Horrortrip: Kuballa verfällt einem grotesken Wahn. Er hält sich für den größten Stasispitzel aller Zeiten, überwacht seine Nachbarn, kontrolliert deren Post und macht ihnen, gemäß dem historischen Vorbild, das Leben zur Hölle. Ein literarischer Amoklauf gegen Ostkitsch und gefühlsduselige Wenderomane.
»Dem Jungautor ist mit seinem Debüt eine zynische, eigenwillige und ziemlich amüsante Diagnose deutsch-deutscher Befindlichkeiten gelungen.« Sybille Reitenbach, Szene Hamburg
Über den Autor
Carsten Otte, geboren 1972 in Bad Godesberg, studierte Philosophie in Berlin und lebt heute als Schriftsteller und Radiojournalist in Bonn und Baden-Baden. Seinem Debütroman »Schweineöde«, der von deutsch-deutschen Befindlichkeiten in der Zeit nach der Wiedervereinigung handelt, folgten Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften, zahlreiche Stipendien, eine Lesereise von Heidelberg bis Peking und der Roman »Sanfte Illusionen« (2008) sowie der Essayband »Goodbye Auto« (2009).
Carsten Otte wurde vielfach gefördert, etwa durch das Stipendium der Kunststiftung Baden-Württemberg sowie zuletzt vom Land Schleswig-Holstein. Im Februar 2014 erschien sein aktueller Roman »Warum wir« bei Klöpfer & Meyer, im Herbst 2014 bringt der Campus Verlag mit »Gastrosex« ein Sachbuch heraus, das der Frage nachgeht, warum es so beliebt ist, Hobbykoch zu sein.
Carsten Otte
Schweineöde
Roman
CulturBooks Verlag
www.culturbooks.de
Impressum
eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2014
Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg
Tel. +4940 31108081, [email protected]
www.culturbooks.de
Alle Rechte vorbehalten.
Erstausgabe: Eichborn Verlag März 2004
Durchgesehene Neuausgabe: CulturBooks 2014
Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj
eBook-Herstellung: CulturBooks
Erscheinungsdatum: 5.5.2014
ISBN 978-3-944818-48-1
Für Friedo und Henrik
Raimund W. Kuballa hatte die Kopie der Ansichtskarte schon lange nicht mehr angesehen. Warum auch? Er kannte jedes Wort, das darauf geschrieben stand. Längst hatte er sich sogar die amtliche Nummer eingeprägt, unter der die Karte bei der Staatssicherheit registriert war. Null. Vier. Zwei. Fünf. Neun. Sechs. Das Papier lag auf einem Stapel von Briefen, die er noch beantworten wollte.
Kuballa wandte den Blick von dem Blätterstapel ab und schielte zu einer Fliege, die sich auf seiner linken Wange niedergelassen hatte. Wenige Sekunden saß er reglos da. Als Kuballa die kribbelnde Backenstelle mit seiner Zunge ausbeulte, schwirrte der Brummer davon.
Seit Tagen war es schwülwarm. Kuballa hatte das Fenster über Nacht aufgelassen, um besser schlafen zu können. Doch statt kühler Luft waren, so dachte er jedenfalls, alle bösen Kerbtiere Oberschöneweides in seine Schlafstube geströmt. Und als er, Minuten nach dem Aufwachen, langsam seinen Oberkörper aufgerichtet hatte, glaubte er sogar, von den Facettenaugen eines Stechmückengeschwaders taxiert zu werden.
Die Wadenhaut hatte gejuckt; das konnte unmöglich nur ein einziges Stechvieh gewesen sein! Zehn, zwanzig Mücken hatten ihn im Schlaf angegriffen, davon war er überzeugt, wie man eben von Dingen überzeugt ist, wenn man ein paar Stunden zu viel geschlafen hat. Kuballa hatte fast elf Stunden im Bett verbracht.
Verschwitzt war er aufgestanden, sein Pyjama müffelte. Auf dem Weg zur Toilette hatte er sich erneut von einer unsichtbaren Insektenübermacht verfolgt gefühlt; deshalb war er, statt seine mit Nachtharn gefüllte Blase zu entleeren, endlich zum Gegenangriff übergegangen. Kuballa hatte sich an seinen ehemaligen Bonner Hausarzt erinnert, der oft davon erzählt hatte, daß er, der Fachmann für Allgemeinmedizin und Spezialist für Tropenkrankheiten, damals im Dschungel, als er noch jung gewesen sei, täglich mehrere Liter Gin Tonic getrunken habe, woraufhin das üble Dschungelungeziefer vom Geruch des stechenden Gintonicschweißes in die Flucht geschlagen worden sei.
So hatte der Juckreiz, eine merkwürdige Insektenparanoia und die Hoffnung, all dies sofort zu beenden, den vom langen Schlaf noch müden Kuballa in die Küche zu dem Regal mit den Alkoholika getrieben.
Kuballa hatte ein mit Kalkrückständen verunreinigtes Glas, eine halbvolle Pulle Gin und eine frische Flasche Tonic Water auf ein Tablett gestellt, er war ins Schlafzimmer zurückgekehrt, in dem er nicht nur schlief, sondern auch wohnte und arbeitete.
Hier saß er also im Schlafanzug vor seinem Schreibtisch, schlotzte langsam den Gin Tonic. Außerdem verdrückte er eine Hand voll Knoblauchzehen. Erst lutschte er den Knoblauch, dann schluckte er die Zehen hinunter. Er stank fürchterlich aus dem Mund. Den Tip mit dem Knoblauch hatte Kuballa von seiner Mutter, die im Sommer jeden Morgen zwei Löffel Knoblauchgranulat in ihren Tee gab, um sich vor unangenehmen Insekten zu schützen.
Kuballa atmete tief ein und wieder aus; die Stechmücken hatten sich wohlweislich längst verkrochen. Von der Insektenübermacht blieb allein die Fliege zurück, die er mit geschwollenen Augen beobachtete.
Die Fliege landete auf der Tageszeitung vom vierzehnten August neunundneunzig. Das Blatt war schon ein paar Tage alt, was die Fliege natürlich nicht sonderlich interessierte; das Tierchen schien die Oberfläche des Papiers zu untersuchen. Die Seiten mit den Wohnungsanzeigen waren aufgeschlagen. Kuballa rieb sich den Schlaf aus den Augen und glaubte zu beobachten, wie die Fliege genüßlich die Druckerschwärze ableckte.
Die mag das Zeug, dachte er, die ist richtig bedröhnt. Die saugt sich Druckerschwärze in den Körper, und dann läßt sie ihre Druckerschwärzekacke auf meinen Kopf fallen.
Die Fliege aber hob nach kurzer Zeit wieder ab; die Druckerschwärze hatte sie offenbar doch nicht beduselt, und ihren Fliegendarm wollte sie auch nicht entleeren. Stattdessen umkreiste sie Kuballas Kopf, in dem der Gin Tonic zu wirken begann, und ließ sich auf seinem linken Unterarm nieder. Kuballa rührte sich keinen Millimeter vom Fleck. Das Tierchen ging zwei, drei Zentimeter über seinen Arm. Kuballa bekam eine Gänsehaut. Er mochte dieses Gefühl. Jetzt wünschte er sich, die Fliege möge immer weiter auf seiner Haut spazierengehen, über seine Armhärchen tänzeln.
Arme Fliege, dachte er nun, wie oft mußtest du schon in Träumen sensibler, depressiver Romanheldinnen auftauchen, wie oft wurdest du als Symbol für ein sonst nicht näher bestimmbares Ekelgefühl mißbraucht, wie oft warst du auch in meinen schlaftrunkenen Phantasien der Inbegriff des Bösen – dabei bist du ein harmloses Vieh.
Grünlich schimmerte der Rücken der Fliege; Kuballa registrierte jede Bewegung des Sechsbeiners. Das rastlose Insekt hangelte sich von Armhaar zu Armhaar. Fliege, sagte Kuballa nun deutlich lauter, so laut, als wollte er eine Ansprache an die Fliege halten: Du weißt nicht, daß jede deiner Bewegungen mich kitzelt, und ich weiß nicht, was dich antreibt und warum du nicht stillhältst. Warum du für eine weitere kurze Rast ein Zeitungsblatt ausgesucht und warum du daraufhin wieder Kreise durch mein Zimmer gezogen hast, um ausgerechnet auf dem größten Leberfleck meines Unterarms zu landen, aus dem schwarze Leberfleckhaare sprießen, die viel dicker und härter sind als der weiche Rest meiner Armbehaarung. Eine nervöse Romanheldin würde dich quälen, dich mit der flachen Hand plattschlagen. Hier aber bist du frei, du stolzierst in Richtung Armbanduhr, das Zifferblatt im Visier, ein flotter Salto, und dann läßt du dich über der Zahl sechs nieder, auf die der große Zeiger weist. Es ist halb drei. Fliege, vor ein paar Wochen noch hätte deine Unruhe mir ein schlechtes Gewissen gemacht. Ich bin gerade erst aufgestanden, und du surrst schon wieder durch mein dunkles Zimmer.
Weil zu keiner Tageszeit genügend Sonnenlicht in Kuballas Erdgeschoßwohnung fiel, weshalb er ohne elektrisches Licht keine Zeitung, geschweige denn ein Buch lesen konnte, hatte er in seinem Schlafwohnundarbeitsraum drei Deckenlampen, eine Schreibtischlampe und eine Stehlampe installiert. Alle Lichtquellen hatte er an einen Schalter angeschlossen. Entweder waren alle Lampen angeschaltet, oder sie waren eben ausgeschaltet. Die vierhundertzwanzig gesammelten Watt können, erklärte Kuballa – wenn Gäste sich nach dem Sinn dieser Konstruktion erkundigten, und das taten sie eigentlich immer – einen wirksamen Kunstlichtschock auslösen: Zack, sagte er, und du bist wach!
Heute aber genoß Kuballa den Dämmerzustand, den unproduktiven Übergangszustand nach dem Aufstehen. Die Lampen blieben erst einmal ausgeschaltet. Nicht nur dunkel, sondern auch ruhig war es. Ab und zu summte die Fliege. Kein Krach dröhnte durch die Wand; der Sägebetrieb im Nachbarwohnblock hatte Bankrott gemacht.
Pech für den Sägemeister, flüsterte Kuballa, Glück für mich. Wie schön, daß die kreischenden Maschinen stillgelegt sind.
Auch Nachbar Florian Überreiter schien nicht anwesend zu sein; seine Stereoanlage gab jedenfalls keinen Mucks von sich. Der Herr Überreiter war ein begeisterter Popmusikhörer. Allerdings besaß der Herr Überreiter nur wenige Musikkassetten und noch weniger Compactdiscs. Außerdem hörte sich der Herr Überreiter kein Lied bis zum Ende an.
Nach zwanzig Sekunden, dachte Kuballa, unterbricht der Herr Überreiter den Popsong, dann spielt er dieselbe Stelle noch einmal, oder er entscheidet sich für eine andere markante Stelle desselben Songs. Die Lieblingssongs des Herrn Überreiter werden zwar auch im Radio gespielt, aber der Typ hört kaum Radio. Die Überreitersongs werden zwar auch im Radio mehrmals am Tag wiederholt; der Herr Überreiter aber zieht es vor, einzelne Stellen der immergleichen Songs so oft wie möglich hintereinander zu hören. Kein Radioprogramm der Welt, dachte Kuballa, kann die Bedürfnisse des Herrn Überreiter befriedigen. Ein Wonneleben, wenn seine Stereoanlage schweigt. Ein Wonneleben in Oberschöneweide. Unvorstellbar. Hier wird es leise, und ich muß bald weggehen. Unvorstellbar, nachmittags um drei Uhr träge herumzusitzen, die Lichter nicht anzuschalten, Gin Tonic zu trinken und Knoblauch zu lutschen, und das alles nicht am Sonntag, nein, an einem Mittwoch, und nicht in den Ferien, sondern an einem Tag, an dem ich schon seit Stunden durch die Straßen Oberschöneweides hätte ziehen können, um dies oder das zu erledigen.
An diesem Tag machte Kuballa so gut wie gar nichts. Ab und zu starrte er auf die Kopie der Ansichtskarte, die mit dem Eingangsstempel der Staatssicherheit versehen war.
Kuballas Abenteuer in Oberschöneweide begann am dritten April einundneunzig. Er war soeben von einer ausgedehnten Asienreise nach Deutschland zurückgekehrt. Statt direkt nach Bonn zu seinen Eltern zu fliegen, hatte er sich für einen Zwischenstopp in Berlin entschieden. Fast drei Monate war er durch Kambodscha, Vietnam und Laos gereist, und als er in einem Berliner Hotelbett lag, dachte er darüber nach, warum ihn diese Reise eigentlich gelangweilt hatte. Er kam zu keinem Ergebnis. Kuballa blätterte in einem Stadtmagazin und stieß auf das schlichte Inserat des Maklers Manfred Wesemüller. »Leben im Osten«, hieß es in der Anzeige, »Einraum, Zweiraum, Dreiraum – der wahre Wohnungstraum« Von diesem Text, von diesem, wie Kuballa meinte, sakralen Werbegedicht angetrieben, machte er sich am nächsten Tag auf den Weg in Wesemüllers Büro.
Kuballa trug, als er zu Wesemüller ging, einen grauen Flanellanzug und ein schwarzes Hemd; seine schulterlangen, pechschwarzen Haare hatte er mit Gel glatt nach hinten gestrichen.
Ich sehe aus, dachte Kuballa, wie einer, den westdeutsche Trendforscher wohl für einen Prototyp der achtziger Jahre halten.
Kuballa duftete nach süßlichem Parfum. Also sah er nicht nur so aus wie ein westdeutscher Prototyp der achtziger Jahre, er roch wahrscheinlich auch wie einer. Seine Körpergröße allerdings war mit einem Meter siebenundachtzig alles andere als durchschnittlich. Außerdem wirkte Kuballa älter, als er tatsächlich war. Man schätzte ihn auf Ende zwanzig. Wenn man ihn zum ersten Mal zwei, drei Minuten reden hörte, mochte man ihn sogar für einen Enddreißiger halten. So ernsthaft sprach er, und so weltläufig gab er sich. Kuballa war allerdings, als er nach Oberschöneweide kam, erst vierundzwanzig Jahre alt.
Kuballa sah unsportlich aus, was besonders dann auffiel, wenn er von seinen athletischen Heldentaten erzählte. Während eines Schüleraustausches mit einem College in Cambridge hatte Kuballa zu rudern begonnen, und solange er noch ins Gymnasium ging, ruderte er fast jeden Tag. Stundenlang war er mit dem Boot auf dem Rhein; er ruderte am liebsten allein. Damals waren seine Schultern mit Muskelpaketen bepackt, die mittlerweile aber, weil er nach dem Abitur das Rudern aufgegeben hatte und seitdem kaum noch Sport betrieb, wie Fettpolster aussahen. Kuballa war ein ungelenker Klotz. Auf seinem etwas aus den Fugen geratenen Rumpf und dem viel zu kurzen Hals saß ein verhältnismäßig kleiner Kopf. Und dieser Kopf wurde durch die etwas zu groß geratene Hornbrille, die Kuballa zu seinem fünfzehnten Geburtstag geschenkt bekommen hatte und die er bis heute nicht durch ein zeitgemäßeres Modell ersetzen wollte, leider nicht verschönert.
Der Makler Wesemüller residierte in einer Friedrichshainer Hinterhofwohnung. Kuballa suchte fast zwei Stunden lang Wesemüllers Klingelknopf in Häusern, die unbewohnbar aussahen, und er hatte die Suche schon fast aufgegeben, als er neben einem Maschinenlager in einem Hinterhof hinter einem Hinterhof schließlich die Wesemüllerklingel und den Wesemüllerbriefkasten fand. Und schließlich auch Herrn Wesemüller höchstpersönlich.
»Allein?« fragte der Makler, und als Kuballa sagte, daß er bislang bei den Eltern gelebt habe und die nächste Zeit erst mal keine Mitbewohner um sich herum ertrage, entgegnete Wesemüller, er könne ihm bestimmt die passende Wohnung anbieten. Kuballa müsse nur sofort zuschlagen. Sofort, denn man wisse ja nie, wer noch alles komme.
Als Kuballa das Wesemüllerbüro betrat, nahm er an, daß dieser Makler in seinem Leben noch nie ein großes Geschäft gemacht hatte. Einer, dachte Kuballa in seiner unnachahmlich arroganten und in dieser Arroganz sehr klugen Art, einer, der wie ich in Bonn-Bad Godesberg aufgewachsen ist, also im Zentrum des Wirtschaftswunderlandes Bundesrepublik Deutschland, erkennt auf den ersten Blick, wer ein guter und wer ein schlechter Geschäftsmann ist.
Daß Wesemüller wie ein schlechter Geschäftsmann aussah, begeisterte Kuballa genauso wie die schmucklos schöne Werbegedichtanzeige in dem Berliner Bezirksblättchen.
Der Makler las weitere Angebote vor.
Lustlos, dachte Kuballa, desinteressiert.
Ein derart lethargisches Geschäftsgebaren war ihm noch nicht begegnet. Warum vertrödelt dieser Wesemüller, fragte er sich, seine kostbare Zeit mit Dienstleistungen, die ihn eher ruinieren als weiterbringen?
Wesemüller bot seinem Kunden keinen Stuhl an. Das Geschäft, mutmaßte Kuballa, muß schnell über die Bühne gehen. Ein irgendwie dubioses Geschäft. Da schwatzt man nicht drüber. Ist das überhaupt ein Makler? Ich soll, dachte Kuballa, nicht länger abwägen. Diese oder jene Wohnung, dieser oder jener Bezirk? Egal. Hauptsache ich entscheide mich endlich.
Wesemüller kam immer auf die Wohnung zurück, von der er offenbar glaubte, es sei die einzige, die Kuballa gefalle. Aber so schnell konnte und wollte sich Kuballa nicht entscheiden, und so begann der Makler, doch ein wenig zu plaudern.
Prima, dachte Kuballa. Der Kerl hat doch noch herausgefunden, worauf es mir ankommt.
»Ich war Lehrer«, sagte Wesemüller, »ich war in der Partei, und jetzt wollen sie mich nicht mehr. Ich habe meine Kollegen verpfiffen.«
Wesemüller machte eine kurze Pause und sagte dann: »So ein Rhabarber. Einmal Verräter, immer Verräter. Mein Leben ist Rhabarber, und meine Rente, die ist lausig.«
Wahrscheinlich, dachte Kuballa, ist dieser Wesemüller doch kein so schlechter Geschäftsmann. Der vermutet, daß ein Bonn-Bad Godesberger Schnösel, der einen ostdeutschen Makler aufsucht, darauf versessen sein könnte, ein Staatssicherheitsopfer oder besser noch: einen Staatssicherheitstäter kennenzulernen. Recht hat er. Lehrer und Makler, dachte Kuballa, kann ich nicht ausstehen. Aber Makler, die mal Lehrer waren, und die auch noch behaupten, sie hätten für die Staatssicherheit gearbeitet, diese Kombination gefällt mir.
»Mit einem ehemaligen Mitarbeiter der Staatssicherheit habe ich noch nicht gesprochen«, sagte Kuballa.
»Irgendwann ist immer das erste Mal. Und wenn Sie in den Osten ziehen, wird Ihnen das ja noch häufiger passieren.«
»Habe gar nichts dagegen.«
»Ach, wirklich?«
Der Makler schien nachzudenken und sagte nach einer Weile: »Entschuldigen Sie, ich bin gleich wieder da.«
Wesemüller verschwand im Nachbarzimmer, und Kuballa nutzte die Zeit, um sich das Büro anzuschauen. Auf zwei Postern räkelten sich zwei nackte Blondinen im Dünensand.
Etwas zu mollig, dachte Kuballa.
»Setzen Sie sich, setzen Sie sich«, sagte Wesemüller, der den Raum wieder betrat. Er hatte einen wackligen Stuhl aus dem Nebenzimmer gebracht.
»Ach, ich steh gerne«, log Kuballa. Er überlegte, was Wesemüller in der Vergangenheit alles getan haben mochte. Doch seine Neugier blieb unbefriedigt, weil Wesemüller seine Staatssicherheitsgeschichte nicht weiter ausführte und wieder auf den Wohnungsmarkt in Ostdeutschland zurückkam.
»Wer in der DDR wegen eines Verteilfehlers oder wegen guter Beziehungen stolzer Mieter zweier Wohnungen gewesen ist,« erzählte Wesemüller, als wollte er eine Schulung über das Mietwesen der Deutschen Demokratischen Republik durchführen, »der braucht heutzutage einen Makler, verstehen Sie, zur Vermittlung der Zweitwohnung. Wenn man den kostbaren Wohnraum nicht abgeben will. Wenn man etwas dazuverdienen will. Ich habe ja seit dem Rauswurf aus dem Schuldienst sonst nichts zu tun, also, ich vermittle diese Zweitwohnungen. Das wußten sie doch, oder?«
Ist doch kein schlechter Job, dachte Kuballa, und er konnte es sich gerade noch verkneifen, diesen Spruch auch vorzutragen.
Kuballa nickte.
»Waren Sie mal vor dem Mauerfall im Osten?« fragte Wesemüller.
Kuballa nickte wieder.
»Und? Hat’s Ihnen gefallen?«
»Der typische Schulausflug. Mit Besuch im Pergamonmuseum. Wir meckerten über die schlechte Luft in dem Raum, wo der Altar stand, und beschwerten uns darüber, daß das Ding so ramponiert aussah. Unsere Klassenlehrerin Böhlke meinte, der Altar sei ein imposantes Bauwerk. Schriftsteller hätten darüber geschrieben. Wir waren ganz und gar nicht beeindruckt, weil die Böhlke so ziemlich jedes Bauwerk, über das sie sich äußerte, imposant nannte; nur die Klassentrulla, die Anna hieß und die mit ihrer Ponyfrisur von vorn genauso bescheuert wie von hinten aussah, glaubte der Böhlke. Wirklich imposant, sagte die dann auch. Die Annatrulla war schrecklich naiv. Sie fragte einen Museumswärter, ob sie ihre umgetauschten Ostmark nicht für den Erhalt des Altars spenden könne, worauf der Wärter lächelnd die Hand aufhielt und das Geld einsteckte. Ihre Spende war futsch, der Ausflug ging weiter.«
Wesemüller, der offenbar nicht damit gerechnet hatte, daß der Kunde, der bislang zurückhaltend, fast wortkarg gewesen war, so ausführlich antworten würde, forderte Kuballa mit einer kurzen Handbewegung auf, doch bitte fortzufahren.
»Und wohin?«
»Im Roten Rathaus diskutierten wir mit drei Mädels von der Freien Deutschen Jugend. Das heißt, wir sollten mit ihnen diskutieren. Über Menschenrechte und Freiheitsliebe. Uns fiel zu diesem Thema relativ wenig, um es genauer zu sagen: gar nichts ein. Irgendwann erklärte dann die Annatrulla, sie finde es schlimm, daß in der Deutschen Demokratischen Republik keine politische Opposition zugelassen werde. Die drei Mädels waren auf die Einwürfe der Annatrulla gut vorbereitet. Die perfekten Diskussionskader eben. Die drei Mädels erwähnten die Kommunistische Partei Deutschlands, die in der Bundesrepublik verboten worden sei. Die Annatrulla war verdutzt und fragte ziemlich abstrakt: Wie ist das bei euch, mit der Freiheit und den Menschenrechten? Die Kadermädels entgegneten: Und wie ist das bei euch, mit der Armut und der Arbeitslosigkeit? Die Annatrulla sagte: Staatssicherheit; die Kadermädels sagten: Bundesnachrichtendienst. Die Annatrulla empörte sich über: Bautzen; die Kadermädels beschwerten sich über: Stammheim. Die Annatrulla sprach von der Wassertropfenfolter; in unserem Geschichtsbuch war dieses fiese Gerät im Kapitel über die kommunistische Willkürherrschaft abgebildet. Die Kadermädels konterten mit Isolationshaft und sensorischer Deprivation. Heiliger Bimbam, das waren Wörter, die in unserem Geschichtsbuch nicht vorkamen. Wir hatten keine Ahnung. Die Annatrulla aber auch nicht so richtig, die Böhlke sowieso nicht, und deshalb beendete die Frau Klassenlehrerin den Schlagabtausch nach einer halben Stunde. Die Kadermädels lächelten. Wir trotteten davon. Zur nächsten Sehenswürdigkeit. Es ging zum Berliner Dom. Dort setzte ich mich mit zwei Freunden ab. Der Hunger trieb uns ins nächstbeste Restaurant. Und das nächstbeste Restaurant war im Palasthotel. Damals hatte ich keine Ahnung, daß wir in der Ostberliner Nobelherberge landeten. Wir fragten den Mann an der Rezeption – wie ein Concierge sah der nicht aus –, welches Lokal er ausländischen Gästen empfehlen könne. Der Mann an der Rezeption nannte ein asiatisches Restaurant mit einem exotischen Namen, Jade oder so ähnlich. Der Mann an der Rezeption machte uns allerdings keine Hoffnung, daß wir dort auch dinieren dürften. Die Tische seien alle reserviert, sagte er. So entschieden wir uns für die Grill-Bar, die, aber das wissen Sie bestimmt, auch im Palasthotel untergebracht war. Dort waren alle Tische frei. Als wir die Grill-Bar betraten und drei freie Stühle am Tresen ansteuerten, stürmte ein Kellner aus der Küche auf uns zu und röchelte: Bitte warten, Sie werden plaziert. Wir wurden plaziert. Uns wurden drei andere Barhocker zugewiesen. Jeder von uns bestellte drei Portionen Schweinebraten mit Salzkartoffeln und einer weiteren, in diesem Fall aber schwer definierbaren Sättigungsbeilage; wir haben unsere dreifache Portion brav aufgegessen, weil wir uns von einem mürrischen Kellner beobachtet fühlten. Während der Schweinebratenorgie schrieb ich eine Postkarte an das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und bedankte mich für die Erkenntnis, wie reichhaltig das Warenangebot im Sozialismus doch sei. Nur die Kellner, habe ich geschrieben, sollten ihre Kundschaft ein wenig freundlicher bedienen. Ich habe die Postkarte mit dem Hinweis beendet, daß man unter den gegebenen Umständen die Mauer durchaus niederreißen könne. Nur peinliche Liedermacher würden aus der Deutschen Demokratischen Republik abhauen, und auf die könne man auch verzichten. Venceremos! Wir gingen zur Kaufhalle am Alexanderplatz. Wir kauften fünf Sahnetorten, um den Rest des Zwangsumtausches zu verprassen. Die Sahnetorten waren zuckersüß. Zu süß für unseren Geschmack. Wir verschenkten Kuchenstücke an Passanten, sobald wir die Kaufhalle verlassen hatten. Nach drei Minuten waren wir alle Tortenstücke los und das, obwohl wir keine Papptellerchen parat hatten und die Leute das Sahnezeug ohne Kuchengabeln oder Löffel essen mußten. Eine ältere Dame fragte nach dem Anlaß für den klebrigen Reigen. Die Torten seien ein Geschenk der Partei, sagten wir. Da lächelte die Frau ganz ungläubig ...«
Kuballa hatte sich in einen Rederausch hineingesteigert. Er hätte noch zwei oder drei Anekdoten vom Schlage der Schweinebratenorgie oder der Sahnetortengeschichte parat gehabt. Doch Wesemüller wollte offenbar keine weitere Anekdote hören; er räusperte sich, blätterte in einem Aktenordner.
Kuballa, der am liebsten weitergeredet hätte, bemerkte immerhin, daß Wesemüller auf die Uhr schaute.
Der hat es eilig, dachte er.
Kuballa wünschte sich eigentlich, daß Wesemüller nun seinerseits loslegte. Er habe, sagte Kuballa herausfordernd, einige Bücher und Artikel über den Staatssicherheitsdienst gelesen.
»Aber was steht schon in den Büchern? Die Realität«, sagte Kuballa, »sah doch ganz anders aus. Aber wem erzähle ich das?«
Doch Wesemüller reagierte nicht. Der Mann wollte wieder über das Wohnungsgeschäft sprechen.
Haben ihm, fragte sich Kuballa, meine Geschichten nicht gefallen?
Kuballa war verunsichert, und um die Verunsicherung zu meistern, wurde er leicht aggressiv: »Wie war das mit Ihren Wohnungen?«
Wesemüller holte einen Zettel aus seinem Aktenordner hervor und begann, die von ihm favorisierte Zimmerflucht in Oberschöneweide erneut zu beschreiben.
Kuballa hörte nicht mehr genau zu. »Hunderfünfzig Mark Miete im Monat«, sagte Wesemüller, »eine Wohnung in der Nähe des Müggelsees, billiger geht das nicht.«
Wäre Kuballa nicht so intensiv mit sich selbst beschäftigt gewesen, hätte er gesagt, daß ihm die Höhe der Miete vollkommen gleichgültig sei. Hätte Kuballa begriffen, daß Wesemüller ihm eine fünfunddreißig Quadratmeter große Einraumwohnung im Erdgeschoß und Hinterhof eines Oberschöneweider Mehrfamilienhauses empfahl, hätte er den Makler umgehend gebeten, ein Appartement in der berüchtigten Wandlitzer Waldsiedlung zu suchen. Auf der schönen Weide wollte er nicht wohnen. Wenn schon im Grünen, dann aber richtig: Kuballa wollte doch leben, wo das Politbüro oder eine andere, so nannte er das, geschichtsbuchtaugliche Vereinigung residiert hatte.
»Bald fährt die alte S-Bahn wieder«, sagte Wesemüller, »dann sind Sie in Null Komma nichts im Westen. Schöneweide, das sage ich Ihnen, hat Zukunft.«
Westen? In Null Komma nichts? Zukunft? In den häßlichen Osten wollte Kuballa, und die Zukunft interessierte ihn viel weniger als die Vergangenheit, und das hätte er auch in aller Deutlichkeit gesagt, wenn er nicht von dem Gefühl bedrückt worden wäre, eine mittelmäßige, möglicherweise sogar eine Geschichte erzählt zu haben, die der Makler in dieser oder in vergleichbarer Form schon einmal gehört hatte. Und so dachte er an den Schweinebraten und die Sahnetorten, statt sich mit seiner zukünftigen Bleibe auseinanderzusetzen.
Wesemüller rauchte, wie Kuballa immerhin bemerkte, die ollen Ostkarokippen; der Zigarettendunst verdunkelte Wesemüllers eh schon finsteres Hinterhofhinterhofbüro.
Wesemüller glaubte offenbar nicht mehr daran, diesem absonderlichen Kunden eine Wohnung vermitteln zu können; denn unvermittelt gab er zu, die Wohnung in Oberschöneweide sei ohnehin etwas düster, ja, dieses Loch erinnere ihn an seine eigene finsteren Höhle.
»Wahrscheinlich«, sagte Wesemüller, »habe ich doch nicht das Richtige für Sie.«
»Finster und düster, wirklich?« fragte Kuballa, der plötzlich wieder aufpaßte.
Wesemüller schien seine Verkaufsstrategie zu ändern. Er sagte nicht mehr Oberschöneweide, sondern nur noch: Oberschweineöde. Und als der Makler auch noch das Ober wegließ und stumpf vor sich hinlullte: »Schweineöde. Schlagen Sie zu? Das ist wirklich Osten, nicht so poliert wie dieser Prenzlberg. In Schweineöde gibt’s keine Dichter, da gibt’s Arbeiter. Hundertprozentig. Kein Rhabarber, alles echt«, da war Kuballa wieder hellwach, da waren die Selbstzweifel verscheucht, da nahm Kuballa das Angebot von Wesemüller an.
Als Kuballa den Vermittlungsvertrag unterschrieb, fiel ihm auf, daß der Makler angetrunken war, und so versprach Kuballa ihm neben der mageren Maklergebühr zusätzlich einen Kasten Bier. Wesemüller versprach, die Hauptmieterin sofort zu informieren.
»Das ist reine Formsache. Sie treffen sich mit der Dame, und dann können Sie sofort einziehen«, sagte Wesemüller.
Ein paar Tage später zog Raimund W. Kuballa aus der freundlichen Familienstadt Bonn-Bad Godesberg in den familienarmen Arbeiterbezirk Berlin-Oberschöneweide.
»Von der alten Hauptstadt in die neue«, sagten seine Eltern enttäuscht, als Kuballa in Bonn-Bad Godesberg verkündete, er wolle künftig in Berlin-Oberschöneweide wohnen.
Ortfried und Gisela Kuballa führten in Bonns Diplomatenhochburg Bad Godesberg ein Luxusrestaurant, das sagenumwobene Zum Silberlöffelchen, und weil sie befürchteten, ihren Laden schließen zu müssen, wenn die Bundesregierung demnächst von Bonn nach Berlin zöge, werteten sie die Umzugspläne ihres Sohnes als persönliche Beleidigung, als Angriff auf ihre Bonn-Bad Godesberger Identität.
»Oberschöneweide gehört nicht zur Hauptstadt«, sagte Kuballa und versuchte, seine Eltern zu beruhigen.
»Noch schlimmer«, meckerten Ortfried und Gisela. »Dort wirst du es bestimmt keine Woche lang aushalten.«
»Zehn Jahre sollen es schon werden«, sagte Kuballa, ohne seine Worte allzu ernst zu nehmen.
Die Sonne schien, und doch war es noch recht kühl an diesem elften April einundneunzig. Die Zeitungen berichteten, daß der letzte Wartburg vom Band gelaufen sei und daß demnächst auch die Produktion des Trabant eingestellt werde.
Was soll’s, dachte Kuballa.
Oberschöneweide näherte sich. Gut gelaunt blickte er auf die Schornsteine in der Ferne. Die Stadtbahn fuhr in Richtung Königs Wusterhausen. Die Stationen vor Schöneweide waren Plänterwald und Baumschulenweg.
Der Bezirk, mutmaßte Kuballa, wird in einem Naturparadies liegen. Wenn der Wesemüller sich bloß nicht getäuscht hat. Plänterwald? Baumschulenweg? Schöneweide? Das hört sich nicht nach schrecklicher Ostzone an.
Der Klang der Haltestellennamen beunruhigte ihn. Kuballa blätterte im Reiseführer, den er im Buchladen am Bahnhof Zoo gekauft hatte, und las darin, daß Theodor Fontane den Ort Königs Wusterhausen beschimpft, daß der schreibende Wandersmann behauptet hatte, dieses Kaff gehöre zu den unangenehmsten und häßlichsten rund um Berlin.
Nur liegt die Wohnung leider nicht in Königs Wusterhausen, dachte Kuballa, sondern in Oberschöneweide.
Die Schornsteine kamen näher, und Kuballa beruhigte sich wieder.
Die Straßenbahn rumpelte langsam zum Rathenauplatz. Anfang der neunziger Jahre fuhr man in Schöneweide noch mit einer Bahn aus den fünfziger Jahren, was Kuballa sehr gut gefiel. In der Tram mit den Holzbänken war jede Unebenheit auf den Gleisen zu spüren; polternd zuckelte die Straßenbahn von Niederschöneweide nach Oberschöneweide –
Kuballa hielt sich die Ohren zu. Es war kalt in der Bahn, die Heizung mußte ausgefallen sein. Kuballa war glücklich.
Ein schlaksiger Mann mit Schnauzbart starrte Kuballa und seinen schwarzen langen Kaschmirmantel an. Kurz bevor Kuballa ausstieg, maulte der Schnauzbartträger: »Wir brauchen hier keinen Pfaffen.«
Verwirrt verließ Kuballa die Klapperbahn und blickte zum ersten Mal auf die backsteingelben Industrieburgen in der Wilhelminenhofstraße. Die Fabrikfassaden hatte man renoviert. Die Fenster vieler Wohnhäuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite waren mit Holzlatten vernagelt. Das übliche Straßenbild in Ostdeutschland, dachte Kuballa. Er bog in die Rathenaustraße ein. Vor dem Haus, in das Kuballa einziehen sollte, lag ein Balkon in mehreren Einzelteilen auf dem Bürgersteig.
Solange mir kein Balkon auf den Kopf knallt, dachte Kuballa und grinste.
Er blickte zur Rathenaustraße zehn, denn dort sollte die Dame stehen, die ihm den Schlüssel übergeben wollte. Und tatsächlich, da hielt jemand Ausschau: Vor der hölzernen Eingangstür wartete Franziska Wetzlaff, die noch pünktlicher war als Kuballa.
»Hallohallohallo, willst du in meine Wohnung einziehen?« fragte Franziska. Sie lächelte, und weil Kuballa auch nach ihrem dritten Du sie weiterhin siezte, fragte Franziska, ob das Siezen im Westen denn üblich sei.
»Kommt darauf an«, sagte Kuballa, wobei er nicht geneigt war zu erklären, worauf es denn ankomme, einen Menschen zu siezen oder zu duzen.
»Also, ich bin die Franziska«, sagte sie und versuchte, das Thema zu einem gütlichen Abschluß zu bringen.
»Nenn mich Kuballa. Das machen alle«, sagte er.
Franziska hatte ihren Mund mit hellrosa Lippenstift und ihre Augenlider mit hellblauer Schminke eingefärbt. Kuballa hielt das für eine ostzonale Geschmacksverwirrung und war stolz, eine solche entdeckt zu haben.
»Vor drei Jahren«, sagte sie, »habe ich hier auch mal gewohnt.« Franziska war aber, so erfuhr Kuballa, nach drei Monaten wieder weggezogen, weil sie sich in Oberschöneweide unwohl gefühlt hatte. Denn sie promovierte über ein chemisches Thema, und bei all den seltsamen Chemiegerüchen im Laborraum wollte sie nicht auch noch in einer Gegend wohnen, in der es nach verbrannter Braunkohle aus den Heizöfen, nach Bierdüften aus der benachbarten Brauerei und säuerlichem Zeug aus der Kanalisation stank – was sie aber nicht davon abhielt, Kuballa die Behausung anzupreisen.
Klasse, dachte er.
Immerhin gab es eine Badewanne, wie Kuballa nach einer kurzen Führung durch die Wohnung erfreut bemerkte, und so unterzeichnete er den zweiten Vertrag in seiner ersten Berlinwoche. Der Wesemüllervertrag zähle nicht so richtig, sagte die Frau Hauptmieterin, wobei auch das Zettelchen, das Franziska ihm zur Unterschrift vorlegte, nicht so richtig zählte. Man benötigte noch eine offizielle Erlaubnis für das Vertragsverhältnis.
Franziska und Kuballa gingen also zur Köpenicker Wohnungsbaugesellschaft, wo die beiden sich als goldiges Ostwestliebespaar vorstellten.
Die Frau vom Wohnamt, eine, wie Kuballa empfand, unsympathische Sächsin, erkundigte sich, ob Frau Wetzlaff und Herr Kuballa wirklich gemeinsam in der Einraumwohnung leben wollten.
»Natürlich, natürlich!« Die Skepsis der Wohnungsbaugesellschaftsfrau brachte Franziska aus der Fassung. Sie bekam einen Heulkrampf.
»Von mir aus können Sie allein, zu zweit oder auch zu dritt in der Wohnung hausen«, sagte die Sächsin.
Franziskas Heulkrampf löste sich, und so erhielt das ungleiche Paar seinen amtlichen Segen. Die Sächsin bot dem Herrn aus dem Westen sogar eine Hausführung an. Franziska war das offenbar gar nicht recht.
»Ich mach das schon«, sagte sie.
»Das gehört zum Service«, sagte die Sächsin und schaute Kuballa an. »So heißt das doch bei Ihnen in Westdeutschland.«
Kuballa schmunzelte.
»Die soll nicht herumschnüffeln, bevor du eingezogen bist«, flüsterte Franziska. »Die weiß eh schon alles«, raunte Kuballa.
Die Hausführung dauerte nur wenige Minuten, und nach jedem erklärenden Wort warf die Sächsin einen spöttischen Blick auf Kuballa.
Als sie den bröseligen Wandputz erwähnte, der so aussah, als bestünde er aus dickem Ruß, der sich über Jahrzehnte in den Poren des Mauerwerks festgesetzt hatte, lächelte Kuballa übertrieben freundlich: Wartet die Hexe darauf, dachte er, daß ich mich über den verlotterten Zustand des Hausflurs, über die Rußablagerungen an den Wänden auslasse?
»Keine Sorge, ich bin Nichtraucher«, sagte Kuballa.
Das hat gesessen, dachte er.
»Na, da werden ja nun noch mehr kommen, von Ihrer Sorte«, verabschiedete sich die Sächsin.
Nachdem ein Bonn-Bad Godesberger Möbelunternehmen Kuballas Hab und Gut, das dank der Zuwendungen seiner Eltern zu einem richtigen Hausstand angewachsen war, mühselig in der kleinen Wohnung untergebracht hatte, ließ er sich von einem Taxi zu einem Getränkemarkt in Friedrichshain kutschieren.
Der Fahrer wartete vor dem Markt, während Kuballa einen Kasten Bier besorgte. Und mit dem Bier im Kofferraum ratterte das Taxi übers Kopfsteinpflaster zu Wesemüller.
Aber Kuballa fand das Büro schon wieder nicht. Der Taxifahrer hatte ihn zwar vor dem richtigen Haus abgesetzt, aber der Name Wesemüller war nirgendwo verzeichnet. Kuballa ging zum Nachbarhaus. Wieder Fehlanzeige. Der Kasten Bier wurde schwerer, Kuballas Kehle trockener, seine Laune schlechter. Die grauen Häuser ähnelten einander. Er ging zurück und suchte noch einmal im Haus, vor dem ihn der Taxifahrer abgesetzt hatte. Im Hinterhof entdeckte er eine verrostete Schubkarre und alte Baumaschinen, an die er sich erinnerte: Das war das richtige Gebäude, der richtige Hinterhof! Nur waren Wesemüllers Namensschilder längst abmontiert. Der Staatssicherheitsmakler hatte sein Büro verlegt! Auch im Telefonverzeichnis waren er und seine Firma nicht aufgeführt.
Die hundert Mark Vermittlungsgebühr, dachte Kuballa, habe ich ihm bar auf die Hand gegeben. Mit dem Kasten Bier hat der Wesemüller wohl nicht mehr gerechnet. Schade eigentlich.
Der Taxifahrer hatte gewartet, hatte beobachtet, wie Kuballa von einem Haus zum nächsten gegangen war. Und als Kuballa auf die Straße ging, einmal nach rechts und einmal nach links schaute, kam der Taxifahrer wieder herbeigefahren.
»Zurück nach Oberschöneweide«, sagte Kuballa gereizt. Der Taxifahrer sah ihn entgeistert an, hielt aber seinen Mund und brachte Kuballa zu seiner neuen Wohnung.
Das Bier trank Kuballa allein. Besoffen pinselte er mit schwarzem Filzstift auf ein Stück Pappe eine Art Begrüßungsformel: Keine Sorge, ich bin Nichtraucher. Und darunter etwas kleiner: Raimund W. Kuballa, der neue Nachbar. Er dachte darüber nach, wie wenig er seinen altmodisch klingenden Vornamen Raimund mochte. Schon in der Schule hatten ihn alle nur Kuballa genannt. Das W. stand für Wisbert. So hieß sein Großvater, ein Mann, von dem Kuballa eigentlich nur wußte, daß er im Zweiten Weltkrieg von einer Granate zerfetzt worden war.
Kuballa pappte das Schild an seine Wohnungstür. Spät am Abend ging er noch einmal hinaus, um den Mülleimer zu leeren, als er bemerkte, daß seine Begrüßungstafel eine Stellungnahme provoziert hatte. Das Schild war zwar unversehrt, allerdings hatte jemand das altmodisch große Fensterchen in der Wohnungstür, das, wie Kuballa mutmaßte, die Ostausgabe des westdeutschen Gucklochs sein mußte, mit einem roten Papierstück zugeklebt, auf dem in schwarzen Großbuchstaben zwei unverständliche Wörter geschrieben standen: LIEHGEIS.
Kuballa war ratlos. War das ein Willkommensgruß? Ein ostdeutscher Geheimcode?
»Ich werde eure Geheimnisse schon noch entschlüsseln«, schrie er durchs Treppenhaus und hoffte, daß alle Nachbarn seine Kampfansage hörten.
Am liebsten wäre Kuballa nach dem sechsten Bier ins Bett gefallen, doch bevor er sich niederlegte, packte er den Staubsauger aus, reinigte die Wohnung und holte altes Spinngewebe von den Wänden.
Kuballa legte Zedernholzkugeln auf seinen dunkelgrünen Wollpullover, und er stellte seinen zwei Meter hohen und ein Meter breiten Spiegel vor den Braunkohleofen. Die Urlaubsbräune war verblaßt. Erschöpft plumpste Kuballa auf die frisch bezogene Matratze und schlief ein.
Nach stundenlangen Träumen, in denen Kuballa nach dem Sinn, nach einer möglichen Übersetzung des Wortduos LIEHGEIS fahndete, nach phantastischen Reisen, die ihn erst nach Nordvietnam und dann, wenige Minuten später, auf die Nordseeinsel Sylt führten – erst las er die seltsame Wortkombination auf den Straßenschildern Hanois, dann hielt er LIEHGEIS für einen neuen Markennamen der Surfmodenindustrie – nach Stunden des Suchens und Nichtfindens wurde Kuballa geweckt. Es klingelte. Minutenlang.
Er trottete zur Tür, öffnete sie. Gähnend stand Kuballa vor einem Pärchen im Rentenalter.
Der Mann trug eine gebleichte Jeans mit einem braunen Gürtel; sein kariertes Baumwollhemd war ordentlich gebügelt. Und seine Begleiterin?
Burschikos, dachte Kuballa, als er ihr blaues Kunststoffkleid musterte.
Gut genährt sahen die beiden aus. Sein schütteres, weißgraues Haar und sein schwarzer, offenbar gefärbter Backenbart verliehen ihm etwas Drolliges; die Frau mit ihren großporigen rosa Wangen und hellblauen Augen wirkte auf Kuballa nicht minder komisch.
Über sechzig, dachte er. Zehn Jahre jünger als meine Eltern.
»Kolb, guten Morgen«, brüllten sie im Duett, und schon standen die beiden in Kuballas engem Wohnungsflur. Sie streckten ihm ihre Hände entgegen. Schwitzig, dachte er.
Umzugskisten standen auf dem Boden. Es sah ungemütlich aus. Die Kolbs blickten den schmalen Korridor entlang, der die Küche mit dem Zimmer verband. Sie nickten zustimmend, als käme ihnen die Wohnung bekannt vor.
Statt nachzufragen, was die beiden denn umtreibe, so penetrant zu klingeln und nach der Lärmbelästigung auch noch seine Wohnung zu inspizieren, fragte Kuballa: »Wissen Sie, was LIEHGEIS bedeutet?« Die Kolbs schauten sich an und brüllten, wieder im Duett: »Wie bitte?«
Kuballa deutete auf den Zettel, der noch immer das Türfensterchen versperrte. Herr Kolb zögerte nicht lange und nahm das Papier von der Tür. »LIEHGEIS?«, nuschelte Herr Kolb und drehte den Wisch um, so daß man nun lesen und verstehen konnte, was der Verkünder der Botschaft gemeint hatte .
Der unbekannte Nachbar hatte nämlich angenommen, daß Kuballa durchs Türfensterchen schauen würde, um zu erspähen, ob die Luft rein und ein Gang durch den Flur ungefährlich sei. Dieser Blick sollte ihm, dem neuen Mieter der Rathenaustraße zehn, verwehrt werden. Stattdessen sollte Kuballa schwarz auf rot lesen, was angeblich vor der Tür zu erwarten war. Nur hatte der Botschaftsverkünder nicht damit gerechnet, daß der Neuling die schwarzen Filzstiftbuchstaben, die durchs rote Papier drückten, von der falschen Seite interpretieren und sie unbewußt entspiegeln würde.
Kuballa hatte die ungewöhnlichsten Erklärungen geträumt, die naheliegende Lösung war ihm nicht in den Sinn gekommen: die entspiegelten Buchstaben auch mal von rechts nach links zu lesen. Oder eben noch einfacher: das Blättchen umzudrehen.
Er klebte die Mitteilung wieder vors Guckloch. Die Kolbs hätten das Papier am liebsten zerknüllt und weggeworfen, aber Kuballa konnte sie davon überzeugen, daß er bestimmt eine neue Botschaft, wahrscheinlich eine noch viel drastischere, aufs Türfenster gedrückt bekäme, wenn er den alten Zettel entfernen würde.
Wenn man die Gewohnheiten, die Denkmuster der Feinde, sagte er, wenn man ihre Spielregeln kenne, habe man zumindest die Chance, sich aus der Affäre zu ziehen.
LIEHGEIS blieb hängen.
Die Kolbs, die sich für Kuballas ausgetüftelte Strategie nicht begeistern konnten, sprachen nur noch halb so laut: »Die Zeiten«, sagten sie und hielten inne. Herr Kolb stopfte sein Karohemd in die Hose, Frau Kolb lauschte der Musik, die aus einem der oberen Stockwerke das Treppenhaus herunterschallte. »Die Zeiten«, sagten sie und hielten wieder inne. Als Herr Kolb den Satz beendete, als Herr Kolb mühsam »haben sich geändert« stotterte, versuchte Frau Kolb, von den geänderten Zeiten wiederum abzulenken; sie begutachtete Kuballa und seinen Schlafanzug: »Schick, schick, Westware, wa?«
»Nö, kommt frisch aus Vietnam«, entgegnete er ihr, was auch stimmte, denn diesen eierschalfarbenen Seidenpyjama hatte Kuballa auf einem Markt in Saigon gekauft. Wenige Tage vor seinem Abflug nach Berlin.
Die Kolbs, so schien es, wären am liebsten wieder gegangen, als er, der Neuankömmling aus dem Westen, seinen eierschalfarbenen Seidenpyjama ausgerechnet mit dem sozialistischen Bruderland Vietnam in Verbindung gebracht hatte.
Eine unangenehme Situation, dachte Kuballa.
Jeder versuchte, nichts Falsches zu sagen, und diese unangenehme Situation verschlimmerte sich noch, als die Kolbs ihm erklärten, daß sie sich schon seit Jahrzehnten um die Mieter der Rathenaustraße kümmerten und daß er, Kuballa, bei ihnen, den Kolbs, in Notfällen auch telefonieren könnte.
Die Kolbs geben sich zwar Mühe, dachte Kuballa, keinen falschen Verdacht aufkommen zu lassen. Aber alles, was sie sagen, macht sie trotzdem verdächtig.
Herr Kolb redete vom Telefon, das Kuballa, der Wessi, zwar besaß, aber nicht anschließen konnte, weil in seiner neuen Oberschöneweider Wohnung noch kein entsprechendes Kabel verlegt worden war. Außerdem schien Herr Kolb zu wissen, daß die Rathenaustraße auch in den nächsten Jahren nicht ans Telefonnetz angeschlossen werden sollte.
So war das, dachte Kuballa, in der Zone besaßen Telefone nur die Genossen, die auch etwas zu melden hatten. Und so ein Genosse steht nun vor mir. Erst Wesemüller, dann Herr Kolb. Sehr interessant.