Der Gejagte - Gabriella Ullberg Westin - E-Book
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Der Gejagte E-Book

Gabriella Ullberg Westin

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Beschreibung

Der vierte Band um den ehemals kriminellen Kommissar Johan Rokka: Oktober in Hudiksvall, Nordschweden: Die Elchjagdsaison beginnt. Eine Gruppe von sechs Jägern bricht zur Jagd auf. Kurz darauf hängt im Kühlhaus neben dem gehäuteten Elch eine aufgeschlitzte menschliche Leiche. Es handelt sich um einen der Jäger, eingeritzt in seine Haut ist die Ziffer 6. Johan Rokka beginnt zu ermitteln, doch auch er kann nicht verhindern, dass kurze Zeit später ein weiterer Kopf an einer Sennhütte hängt, daneben die Zahl 5. Die Verbindung zwischen den Verbrechen ist klar, doch wer macht Jagd auf die Schützen? Kann Rokka den Täter stellen, bevor er auch die verbliebenen vier Jäger umbringt?

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Seitenzahl: 498

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Copyright © 2021 by MIRA Taschenbuch in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

© 2020 by Gabriella Ullberg Westin Deutsche Erstausgabe © 2021 für die deutschsprachige Ausgabe by HarperCollins in der HarperCollins Germany GmbH

Covergestaltung: zero-media.net, München (Wolfgang Staisch) Coverabbildung: Petr Baumann / shutterstock E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783959675963

www.harpercollins.de

Widmung

Für meine lieben Geschwister: Patrick & Margareta

1

Tag 1

»Er war ein Junkie, und Junkies nehmen schon mal ’ne Überdosis.«

Stina Olsdotter starrt die Frau, die ihr mit rot unterlaufenen Augen gegenübersitzt, an. »Das haben sie also gesagt?«

Die Frau nickt und schließt die Augen.

Vor ihnen auf dem Tisch liegt Stinas Handy, das jeden Atemzug, jedes Zögern während ihres Gesprächs aufzeichnet. Sie spürt Wut in sich aufsteigen, ist kurz davor zu explodieren, doch sie zwingt sich, Ruhe zu bewahren.

»Wissen Sie eigentlich, wozu diese Männer in der Lage sind?« Die Frau schluckt und sieht Stina direkt in die Augen.

»Möchten Sie es mir erzählen?«

Die Hände im Schoß zu Fäusten geballt, holt die Frau einmal tief Luft. »Das erste Mal geschah es an einem Tag, als ich freihatte. Es war erst kurz nach dem Mittagessen, aber draußen war es schon ziemlich dunkel. Ein schwarzer BMW mit getönten Scheiben hielt vor unserem Haus. Die hintere Tür sprang auf, und ein Mann schubste Agnes und Ida aus dem Wagen.«

»Die haben Ihre Kinder einfach aus dem Kindergarten abgeholt?«

Die Frau nickt. »Die Mädchen wachen nachts immer noch auf und weinen, obwohl es jetzt schon ein halbes Jahr her ist«, sagt sie, und ihre verquollenen Augen füllen sich mit Tränen.

»Ist sonst noch was passiert?«

Mit zitternden Fingern sucht die Frau nach einem Bild auf ihrem Handy und hält es Stina hin. Stina starrt fassungslos auf das Foto, ein Würgereiz macht sich bemerkbar. Auf dem Bild sind leuchtend rote Hautfetzen und verklebte Fellbüschel zu sehen. Nur ein dünnes Stück Haut hält den Kopf noch am restlichen Körper der Katze.

»Goldie lag auf der Veranda«, stammelt die Frau, und jetzt laufen ihr die Tränen unaufhaltsam über die Wangen, sie wehrt sich nicht mehr dagegen. »Sie haben … sie haben sie richtig geschlachtet!«

Stina schlägt sich die Hand vor den Mund und wendet den Blick ab. »Haben Sie Anzeige erstattet?«

»Gegen die kann man nicht gewinnen.« Die Frau vergräbt das Gesicht in den Händen und schüttelt den Kopf. »Wir mussten umziehen, noch mal ganz von vorn anfangen … Hier war eine Stelle als Bezirkskrankenschwester frei, also sind wir hierhergezogen.«

»Es ist sehr mutig von Ihnen, mir all das zu erzählen.«

»Ich habe keine Wahl«, sagt sie schluchzend. »Sonst würde auch ich diese Jugendlichen im Stich lassen.«

»Haben Sie das …« Stina presst die Kiefer aufeinander, sie bringt die Worte nicht über die Lippen. Die Frau reckt sich nach ihrer Handtasche, holt ein zerknülltes Stück Papier heraus und überreicht es Stina Olsdotter. Mit zittrigen Händen greift Stina zu und faltet es auseinander, starrt auf den Text. Es dauert eine Weile, bis sie den Kopf wieder heben und der Frau ins Gesicht sehen kann. »Sind das Ihre Worte?«

»Ja«, antwortet die Frau, und ihr steht die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. »Das habe ich geschrieben.«

Die Trauer löst nun die Wut ab, als Stina das Papier wieder zu einem Ball zusammenknüllt und in ihre Tasche steckt. »Ich verstehe«, sagt sie und verdrängt alle anderen Gefühle, um dem Platz einzuräumen, was jetzt in ihr wächst. »Ich weiß genau, wozu diese Männer in der Lage sind.«

***

Kriminalinspektor Johan Rokka hängt seinen Helm ans Lenkrad seiner Harley-Davidson und fährt sich über den rasierten Schädel. Er ist in Norrbo, nicht weit von Hudiksvall. Der gekieste Hof vor ihm ist von buntem Herbstlaub bedeckt, und an der einen Seite steht ein rotes Holzhaus mit weißen Sprossenfenstern. Über der Eingangstür hängt ein Schild mit grünen Buchstaben. Nordicura steht darauf. Eins der sieben Häuser des norrländischen Konzerns, in denen Menschen zu Therapiemaßnahmen, Pflege und Reha untergebracht sind. Auf der anderen Seite des Hofes liegen die Zimmer, und links befindet sich ein Stall. Den sucht er.

Die Scharniere der Stalltür knarren, als er sie aufschiebt, und ihm fährt der Geruch von Sägespänen und Mist in die Nase. Rokka holt einmal tief Luft und kommt zu dem Schluss, dass es hier gut riecht.

Weiter hinten ist jemand vollauf damit beschäftigt, den Gang zu fegen, doch mit einem Mal steht der Besen still, und Eddie Martinsson dreht sich um.

»Hey, was geht?« Er kommt Rokka mit dem Besen in der Hand entgegen und begrüßt ihn mit einem Faustcheck.

Eddie hat einen Lebenslauf, von dem jeder Sozialarbeiter Albträume bekommt. Mit neun verübte er den ersten Einbruch, und dann nahm seine Karriere ihren Lauf, von kleinen Diebstählen bis zu unerlaubtem Waffenbesitz und Dealen von Haschisch, Kokain, Amphetaminen. In den vergangenen Jahren liefen Rokka und er sich immer wieder über den Weg. Mit siebzehn war Eddie schon fast Mitglied in einer kriminellen Bande, kam dann aber wieder mit Rokka in Kontakt, der in einem Mordfall ermittelte. Obwohl sie eigentlich Gegner waren, hatten sie voreinander Respekt, und Rokka fährt immer wieder in die Therapieeinrichtung, um Eddie zu besuchen.

»Du magst den Stall, stimmt’s?«, fragt Rokka. »Sicher wegen der Mädels.«

Eddie sieht ihn scharf an und schnaubt. »Hier gibt es nur zwei Mädels, und die mögen keine Pferde.«

»Und keine von beiden ist was für dich?«

Eddie schmunzelt, dann schüttelt er den Kopf.

»Und selbst, wie läuft’s mit den Frauen?«

Rokka seufzt. »Läuft gar nicht.«

Die Stalltür schlägt zu, und der Heimleiter kommt herein. Nach Rokkas Auffassung ist Anders genau richtig auf dieser Stelle, denn er kennt den ständigen Kampf, den diese Jungs hier mit sich selbst ausfechten. Vor zehn Jahren hatte er selbst eine Strafe wegen Raubüberfalls und Drogenbesitzes verbüßt und dann beschlossen, aus seinen Erfahrungen das Beste zu machen. Schon am ersten Tag nach seiner Entlassung begann er, jungen Kriminellen zu helfen, aus der Szene auszusteigen, und als er die Ausbildung zum Sozialarbeiter abgeschlossen hatte, übernahm er diesen Job im Therapieheim.

Anders sieht gestresst aus und begrüßt Rokka nur flüchtig. Dann knallt er die Tür hinter sich zu und ist wieder weg.

Eddie fährt fort, die Sägespäne vom Gang zu fegen.

»Wie lange wirst du noch hierbleiben?«, fragt Rokka ihn.

»Anders spricht mal mit dem Sozialamt, dann sehen wir weiter.«

»Willst du denn wirklich weg?«

Eddie zuckt mit den Schultern. »Meine Ma hat im letzten Jahr wohl kaum ’ne Million im Lotto gewonnen. Und mit dem Trinken hat sie sicher auch nicht aufgehört.«

Rokka betrachtet Eddie eingehend. Er ist fast so groß wie er selbst. Dunkler Teint, dunkle Haare. Sein Vater, den Eddie nie kennengelernt hat, stammt aus Lateinamerika. Vom Tag seiner Geburt an hatte Eddie lernen müssen, seine Gefühle zu verdrängen. Freude, Liebe, Angst und Wut. Es war kein Erwachsener für ihn da, der damit hätte umgehen können. Deshalb streifte er alle Gefühle ab, Schicht für Schicht, sodass nur noch ein harter Kern übrig blieb. Und den füllte er mit Verachtung.

Eddie fährt sich mit der Hand durchs Haar, und Rokka hat den Eindruck, als hätte sich ein grauer Schleier über ihn gelegt, seit er ihn das letzte Mal gesehen hat.

Sie verlassen den Stall. Eddie redet von den Pferden und vom Kickboxen, das er nebenbei machen darf, und erzählt, dass er das Heim einmal in der Woche putzen muss. Als sie schließlich vor Rokkas Motorrad stehen, sieht Rokka Eddie direkt in die Augen. Irgendwas ist nicht in Ordnung.

»Jetzt will ich dich mal was fragen.«

»Fine«, sagt Eddie.

»Hast du irgendwas genommen, seit du hier bist?«

»Ich hab nicht gewusst, dass du als Bulle hierherkommst.« Eddie schlägt die Augen nieder.

Rokka seufzt. Er will für Eddie nicht der Polizist sein, der herumschnüffelt, sondern einfach ein Mensch, der ihn nicht im Stich lässt. Er sieht hinüber zu Anders, der gerade mit zwei übervollen Mülltüten über den Hof läuft. Dann greift er zu seinem Helm und setzt ihn auf, schwingt sich auf die Harley und kickt den Ständer hoch.

Vom Norden her ziehen dunkle Wolken am Himmel auf, und ein kühler Wind fährt unter Rokkas Lederjacke. Eddie nimmt den Besen und geht zurück in den Stall, stellt ihn an die Wand und bleibt dann gedankenverloren ein paar Sekunden still stehen. Rokka läuft ein Schauer über den Rücken. Eddie zu beobachten ist für ihn, wie sich selbst als Jugendlichem zuzuschauen. Er weiß genau, wie die Rastlosigkeit unter der Haut des Jungen kribbelt, wie tausend Ameisen, die einen Ausgang suchen. Und Rokka sieht ihm an, was in seinem jungen Kopf vor sich geht – diese ständige, nagende Unruhe.

Keiner sieht mich.

Ich gehöre nicht dazu.

Nur mit Drogen halte ich es in dieser Scheißwelt aus.

Rokka hat sich am Ende für die andere Seite des Gesetzes entschieden. Aber er weiß genau, wie schmal der Grat zwischen Gut und Böse sein kann und dass er bei der nächsten Gelegenheit ein Wörtchen mit dem Einrichtungsleiter reden muss.

Eddie kommt zurück und schaut Rokka ins Gesicht.

»Jetzt hab ich eine Frage«, sagt er und lehnt sich an den Türrahmen. »Wann hast du gewusst, dass du Bulle werden willst?«

Rokka zieht die Augenbrauen hoch. »Willst du etwa Polizist werden?«

»Nicht direkt«, antwortet Eddie und wird mit einem Mal ernst. »Aber ich will aus dieser Scheiße raus. Ich will was Richtiges tun.«

Der Deckel der Mülltonne schlägt laut krachend zu. Anders schielt zu ihnen herüber, dann geht er zurück zum Hauptgebäude. Rokka legt Eddie die Hand auf die Schulter.

»Die Seite zu wechseln ist ziemlich hart«, sagt er. »Aber du würdest es schaffen.«

***

Spärliches Nachmittagslicht fällt durch die Baumkronen hoch über ihm. Die Heidelbeersträucher wachsen hier dicht an dicht, und hin und wieder tauchen graue Steine wie Trolle im Märchen auf. Im Osten erheben sich steile Berghänge.

Es ist schön hier. Doch die eisige Luft füllt den Hals beim Atmen mit Kälte, und die Jagd, die den ganzen Tag lang andauerte, hat seine Beine müde gemacht. Eigentlich hätte er schon viel früher nach Hause fahren sollen, doch es hat eine Weile gebraucht, bis er den Hund wiedergefunden hatte. Sie haben keinen Elch geschossen, obwohl die Hündin einen Schaufler über mehrere Kilometer verfolgt hat. Jetzt springt sie an der Leine aufgebracht hin und her, trotz der Anstrengung, die hinter ihr liegt.

»Sitz«, keucht er und hält die Leine fest, er braucht jetzt einfach eine kurze Pause. Ihm steht der Schweiß auf der Stirn, und doch schlottert er vor Kälte. Ihm ist, als käme die Kälte aus dem feuchten Erdboden gekrochen und würde nach ihm greifen, ihn umschlingen. Er sieht sich um. Es ist noch ein ganzes Stück bis zu dem Waldweg, auf dem er den Wagen geparkt hat, also setzt er sich wieder in Bewegung.

Als er zu einer Lichtung kommt, ein paar Hundert Meter vom Weg entfernt, hört er ein Geräusch. Eine Art Knacken. Er dreht sich um, kann jedoch nichts erkennen. Vielleicht noch ein Elch, denkt er. Das ist jetzt die Zeit. Das Gewehr hat er dummerweise im Auto gelassen, als er losging, um nach seinem Hund zu suchen.

Der Hund keucht heiser, als er an der Leine zieht. Sie gehen weiter, doch schon nach einem kurzen Stück ertönt erneut ein Geräusch. Irgendetwas zischt und knurrt. Was um Himmels willen ist das? Es knackt wieder, und nun überkommt ihn die nackte Angst, ein Jagdkamerad hat von Bären in der Gegend erzählt. Nun geht er weiter, läuft schneller über Moos und umgestürzte Bäume. Der Bär fällt Menschen von Natur aus nicht einfach an, zumindest normalerweise nicht. Doch wenn dieses Tier nun verletzt ist?

Sein linker Stiefel versinkt zwischen zwei Steinen, und plötzlich schlägt er der Länge nach hin. Hört das Tier wieder knurren. Er versucht, so schnell wie möglich auf die Beine zu kommen. Es muss ein richtig großes Tier sein, und es ist nur wenige Meter entfernt.

Der Stiefel ist stecken geblieben, doch er hat keine Zeit dafür, jetzt ist er sich sicher, dass es sich um einen Bären handeln muss und dass dieser seine Witterung aufgenommen hat. Nach ein paar schnellen Schritten bleibt der Hund mit einem Mal stehen, will sich nicht mehr von der Stelle bewegen. Das Keuchen kommt jetzt ganz aus der Nähe, dann ein zischender Laut, und nun überkommt ihn die Panik. Gleich wird der Bär sich auf ihn stürzen.

Er wirft sich zu Boden, die Taschenlampe fliegt in die Blaubeersträucher neben ihm. Das Einzige, was er jetzt noch tun kann, ist, sich tot zu stellen. Der Hund springt vor und zurück, verbellt das Tier, und im Lichte der Taschenlampe erkennt er, wie sich ein Schatten nähert, sich vor ihm auftürmt. Er presst sich an den Erdboden, spannt den ganzen Körper an, und die Gedanken, sich tot zu stellen, existieren auf einmal nicht mehr.

Das ist kein Bär.

Es ist ein Mann. Er steht da wie ein Höhlenmensch, der aus den hintersten Felsspalten zum Vorschein gekommen ist. Der Mann hebt die Arme hoch, er hält etwas in den Händen. Eine kurze Bewegung, und ihn trifft ein Schlag auf den Kopf.

Der Schmerz fährt ihm durch den Schädel, er greift sich an den Kopf und kauert sich zusammen. Noch ein Schlag, und ihm wird schwarz vor Augen. Er liegt auf der Seite, kann sich keinen Zentimeter bewegen.

Heftige, schnelle Atemzüge kommen immer näher, dann sinkt der Höhlenmensch neben ihm auf den Boden. »Ich will wissen, wer dahintersteckt!«, brüllt er. »Alle Namen!«

Ein erneuter Schlag trifft seinen Kopf, und es fühlt sich an, als sei sein Schädel gespalten.

»Sprich, sonst schlage ich weiter.« Die Stimme klingt längst nicht mehr menschlich, und in der Dunkelheit ist das Gesicht nur noch ein Schatten. Der Tierische holt etwas aus seiner Tasche, die er über der Schulter trägt. Die Schneide eines Messers blitzt auf.

Mit einem dumpfen Geräusch setzt sich der Mensch auf ihn, keine Chance mehr zu fliehen. Er reißt die Jacke seines Opfers auf. Fährt mit dem Messer einmal nach unten, bis er das Unterhemd zerschlitzt hat. Die Kälte ist auf der nackten Haut kaum noch zu spüren.

»Sprich! Ich will alle Namen!« Die Hand, die das Messer hält, wandert nach oben, hält direkt unter den Rippen an, die Klinge presst sich gegen seinen Leib.

Er schreit auf vor Schmerz, und der Höhlenmensch bekommt seinen Willen, denn jetzt ruft er einen Namen nach dem anderen, bis er sie alle verraten hat. Als er verstummt, schüttelt sein Bezwinger nur den Kopf und fletscht die Zähne. Ihm rinnt der Speichel aus dem Mund.

»Ihr miesen Geier!« Das Gebrüll hallt zwischen den Bäumen wider.

Der Schmerz, als das Messer seine Haut durchstößt und ihm in den Magen fährt, ist so groß, dass alles um ihn schwarz wird. Aus Panik wird Resignation. Er schreit, aber am Ende dringt nur noch ein röchelnder Laut aus seiner Kehle.

***

Stina Olsdotter sitzt am Esstisch, vor ihr der Laptop. Die Hündin Maja liegt schlafend zu ihren Füßen, und Kent, Stinas Lebensgefährte, sitzt ihr gegenüber und rührt in seiner Kaffeetasse. Der Dielenboden knarrt, als sie den Stuhl näher an den Tisch zieht. Obwohl sie kürzlich noch ein wichtiges Interview geführt hat, geht es mit der Enthüllungsreportage, an der sie arbeitet, nur schleppend voran. Sie hat die Datei noch nicht einmal geöffnet. Vor sechs Monaten hat sie mit ihren Recherchen begonnen. Eine der größten schwedischen Tageszeitungen will die Reportage veröffentlichen. Die Deadline für die Abgabe ist bereits in zehn Tagen.

Stina starrt das Hintergrundbild ihres Computers an. Das Foto zeigt den See Södra Dellen unterhalb ihres Hauses, mit dem Badesteg. Dort steht Kent, die Hemdsärmel hochgekrempelt, und hält in seiner rechten Hand einen Hecht. Seine knallblauen Augen strahlen direkt in die Kamera. Diese Aufnahme ist gut zwölf Jahre alt.

Stinas Blick wandert aus dem Fenster, zu den hohen Baumstämmen, die sich da draußen in unendlicher Zahl ins Dunkel ausbreiten, als hätte jemand Geld dafür bekommen, möglichst viele Setzlinge ins grüne Moos zu pflanzen.

»Was gibt es da draußen zu sehen?«, fragt Kent.

»Nichts.«

»Das sagst du oft, einfach: nichts.«

Der Hund knurrt im Schlaf und wechselt die Stellung.

»Stimmt«, seufzt Stina und stützt das Kinn auf die Hand. »Ich sehe deinen Wald und muss daran denken, wie groß und fremd er uns trotz allem ist. Voller Leben und Geheimnisse.« Sie fegt eine tote Fliege vom Fensterbrett. »Wir haben nicht die geringste Ahnung, was sich noch alles in ihm verbirgt.«

Kent beugt sich über den Tisch und hat plötzlich etwas Schelmisches im Blick. »Du meinst Monster und Hexen?« Seine Stimme klingt mit einem Mal tiefer, dramatischer.

»Wer weiß, wer weiß«, antwortet sie, ebenso theatralisch. »Oder ein versteckter Schatz, den jeder gern finden würde.« Ihre Blicke treffen sich, und für einen Augenblick ist da wieder diese Freude in seinem Gesicht.

»Das große Unbekannte eben«, sagte er und lehnt sich zurück. »Vielleicht ist es ganz gut, dass wir es nicht wissen.« Der Stuhl knarrt, dann wird es wieder still. Jetzt schweift sein Blick zum Fenster hinaus und bleibt an der Silhouette des Waldes hängen.

Sie betrachtet Kent, wie er dasitzt. Als sie sich kennengelernt haben, arbeitete sie bei der Lokalzeitung von Hudiksvall. Sie war achtzehn und kam frisch vom Gymnasium. Der erste richtige Auftrag war ein Interview mit einem der größten Waldbesitzer in der Gegend, und er hatte seinen Sohn Kent dabei, der den Betrieb gemeinsam mit ihm führte.

Damals hatte sie noch nicht ahnen können, dass sie ihr Leben mit ihm teilen würde. Kent sah keinem der Jungs ähnlich, mit denen sie zur Schule ging. Typen, denen sie regelmäßig einen Korb gab, wenn sie sich an sie ranmachten, mit sauber gebügelten Hemden, die ihnen aus den Chinos hingen, und unerträglich betrunken vom selbst gebrannten Schnaps. Kent kam zu diesem Interview in Holzschuhen, Flanellhemd und ausgebeulten Jeans. Er begann, ihr vom Wald zu erzählen, von den verschiedenen Arbeitsphasen im Forstbetrieb, vom Abholzen, vom Lichten und vom Bäumesetzen. Und seine Augen, diese blauen Augen, hatten eine Schärfe und eine Präsenz, die sie neugierig machten, sodass sie wieder Kontakt zu ihm aufnahm.

Bei ihrer ersten Verabredung machten sie einen Spaziergang durch den Wald, ließen sich dann am Steg am See nieder, hielten die Füße ins sommerwarme Wasser und unterhielten sich stundenlang. Sie erinnert sich daran, wie sehr sie lachen musste, als sie ihre rosa Ballerinas neben seine Holzschuhe hielt. Und wie bedeutsam sie es fanden, als sie feststellten, dass ihre Familiengräber zufällig beide auf demselben Friedhof lagen, in Delsbo. Da war mit einem Mal dieser Mann, der schon so viel mehr vom Leben kannte als sie selbst, der dabei gewesen war, wenn Kühe gekalbt hatten, und der beim Schlachten auf dem Hof geholfen hatte. Er kannte sich mit Leben und Tod schon aus.

Ihre Gedanken werden unterbrochen, als Kent einen Schluck Kaffee schlürft und die Tasse wieder auf dem Tisch abstellt.

»Wir müssen eine Entscheidung treffen, was wir mit den Möbeln meiner Eltern anstellen«, sagte er. »Ich will sie nicht mehr im Schuppen rumstehen haben.«

»Ja«, sagt sie, doch jeder weitere Gedanke daran ist ihr zu viel. Nach nur einem Monat Beziehung waren sie damals in dem kleinen Nebenhaus auf dem Anwesen seiner Eltern zusammengezogen. Sie träumten davon, eines Tages den Hof zu übernehmen. Kent würde auch den Forstbetrieb weiterführen, der mittlerweile modernisiert worden war. Stina würde weiterhin ihren Beruf ausüben, sie war freie Journalistin. Und sie würden die kleine Familie gründen, die sie sich innig wünschten.

Wieder starrt sie auf ihren Bildschirm. Ihr wird ganz kribbelig zumute. »Ich fahre in die Stadt und arbeite dort weiter«, sagt sie. »Im Büro kann ich besser schreiben, und ich muss endlich vorwärtskommen.« Außerdem hat sie noch einen Termin für ein Interview ausgemacht.

Kent reckt sich nach einer staubigen Sonnenbrille, die seit dem Sommer auf dem Fensterbrett liegt. Er setzt sie auf und schlägt den Kragen seines Flanellhemdes hoch. »Du tust ja ziemlich geheimnisvoll«, sagt er und spielt ungehalten. »Kannst du nicht einfach erzählen, worüber du schreibst?«

»Das kann ich leider nicht«, erwidert sie und steht auf, ohne seine Bemühungen, witzig zu sein, zu kommentieren. In seinem Gesicht steht die Enttäuschung geschrieben, er legt die Sonnenbrille aufs Fensterbrett zurück.

»Ich hätte gern mit dir zusammen gegessen«, sagt er und seufzt. »Und ich hatte gehofft, du würdest heute mal zu Hause übernachten.«

Sie sieht, wie Kent die Kaffeetasse fixiert. Dann wirft sie einen Blick auf das Hintergrundbild ihres Computers, auf Kents fröhliche blaue Augen, klappt den Laptop zu und geht.

***

Der Bürostuhl knarrt, als Rokka sich zurücklehnt und die Füße auf den Schreibtisch legt. Er muss wieder an seinen Besuch im Therapieheim denken. Die Häuser dieses Betreibers genießen im ganzen Land einen hervorragenden Ruf, die Therapien dort sollen äußerst erfolgreich sein. Zumindest war das vor ein paar Jahren noch so. Dennoch greift Rokka zu seinem Handy und sucht die Telefonnummer des Leiters heraus, um ihn zu fragen, wie die Lage ist und wann Eddie zuletzt Urinproben abgegeben hat. Ein Klingeln nach dem anderen ertönt, doch niemand nimmt ab. Rokka spielt kurz mit dem Gedanken, eine Nachricht zu hinterlassen, doch dann beschließt er, es lieber etwas später noch einmal zu versuchen.

Es klopft an der Tür, und kurz darauf steht Janna Weissmann da. Sie trägt eine dunkle Jeans und ein hellblaues Polo-Shirt, das ihre durchtrainierten Arme entblößt. Doch die Kollegin sieht blasser aus als gewohnt, sie hat sogar dunkle Ringe unter den Augen.

»Wie läuft’s?« Rokka verschränkt die Arme im Nacken und rückt die Füße auf dem Schreibtisch zurecht.

»Ich bin mit der Dokumentation fertig und hatte vor, jetzt nach Hause zu gehen.«

In den vergangenen acht Wochen waren sie mit einem Fall von Betrug befasst, bei dem ein paar junge Männer einen Computer in eine Wohnung gestellt und übers Internet von einem Unternehmen Geld abgezweigt haben. Wäre Janna nicht so ein IT-Spürhund, würden sie die Täter immer noch suchen, und jetzt hat Carl Linderoth, der Chef der Abteilung für Schwerverbrechen, ihnen beiden Urlaub verordnet.

»Setz dich«, sagt Rokka. »Komm mal ein paar Minuten runter, nicht dass du auf dem Heimweg einen Herzinfarkt bekommst.«

Sie schüttelt den Kopf über ihn.

Janna ist die kompetenteste Mitarbeiterin der Polizeiwache, findet Rokka. Sie ist Kriminaltechnikerin und auch IT-Forensikerin, und am liebsten arbeitet sie eng mit den Ermittlern zusammen, weil sie weiß, dass das ihren Blick für den Fall erweitert. Manchmal bewegt sie sich weit außerhalb ihres eigentlichen Aufgabengebietes.

»Hast du jetzt, wenn du freibekommst, vor, mit dem Training anzufangen?«, fragt sie und zwinkert. »Du musst schließlich schneller sein als die bösen Buben.«

Rokka schnaubt nur. »Das Wichtigste ist …«, sagt er und fährt sich über die geschwollene Brust, »eine gewisse Substanz mitzubringen.«

Und die beträgt genauer gesagt 120 Kilo, gut verteilt auf hundertsiebenundneunzig Zentimeter. Sein letzter Besuch im Fitnessstudio ist etwa ein Jahr her. Er kann sich bei der Genlotterie nur für seine Kraft bedanken, und auf Kurzstrecken knackt ihn von den Kollegen keiner, zumindest nicht über dreißig Meter.

Janna legt den Kopf schräg, und als er ihr hübsches Lächeln sieht, kommt wieder das Gefühl in ihm hoch, das er im Frühjahr hatte. Sie hatten gerade einen komplizierten Fall abgeschlossen, und es sah so aus, als seien sie sich nähergekommen, und zwar auf eine Art und Weise, gegen die er überhaupt nichts einzuwenden hätte. Ihre Gesprächsthemen hatten sich plötzlich nicht mehr um DNS-Analysen und die neuesten Erkenntnisse aus der IT-Forensik gedreht. Es war sogar schon so weit gewesen, dass er darüber nachgedacht hatte, wie er den ersten entscheidenden Schritt machen könnte. Aber seitdem war nichts mehr zwischen ihnen geschehen.

Eigentlich war es völlig lächerlich – zum einen, dass er sich überhaupt vorstellte, dass es mit ihnen zweien etwas werden könnte, zum anderen, dass er nicht einfach aufhörte, daran zu denken. Er sollte die Tatsachen besser akzeptieren: Sie geht am liebsten mit Frauen ins Bett, und über Gefühle zu reden, fällt ihr schwer.

Als wäre er selbst ein Held, wenn es um den Umgang mit Emotionen ging.

Jannas schöne braune Augen schauen ihn an, und er verschränkt die Arme und reckt sich. Aber sein Skelett fühlt sich an wie ein Schokoladenkuchen, der ein bisschen zu lange in der Sonne gelegen hat. Was ist denn verdammt noch mal mit ihm los? Macht es ihn so an, dass sie nicht zu kriegen ist, fühlt er sich deshalb von ihr so dermaßen angezogen?

Janna hat die Hand schon wieder an der Türklinke, dann dreht sie sich zu Rokka um.

»Willst du nachher mit mir zu Abend essen?«, fragt sie. »Zum letzten Mal vor dem Urlaub?«

Er weiß nicht, ob er zusagen soll oder sie zum Teufel jagen, damit er nicht wieder daran erinnert wird, dass aus ihnen beiden nie etwas werden wird.

»Okay«, sagt er. »Wenn wir nicht in deinen schrecklichen Raw-Food-Laden gehen.«

Sie hält den Daumen hoch und verlässt sein Büro.

***

Der See Södra Dellen ist stürmisch, der Waldbesitzer Kent Wik kann die Wellen erkennen, die sich unterhalb der steil abfallenden Wiese aufbäumen, wie immer, wenn die ersten Herbststürme darüberziehen. Auf der anderen Uferseite breitet sich ein Laubwald aus, der aussieht, als habe ihn jemand mit roten und gelben Farben angemalt.

Kent setzt sich auf die Treppe vor der Haustür und schiebt die Cap gerade. Maja sitzt neben ihm, auf der obersten Stufe, und sieht ihn mit ihren braunen, ein bisschen traurigen Augen an. Er krault das Tier am Kopf und an der Brust. Die Hündin ist jetzt vierzehn Jahre alt, sie hat bereits seinem Vater gehört. Maja kann nicht mehr gut laufen, der Tierarzt hat bei der Untersuchung im Sommer festgestellt, dass sie Schmerzen in den Hüftgelenken hat. Kent hat es bislang nicht übers Herz gebracht, sie einschläfern zu lassen, obwohl es für das Tier vermutlich das Beste wäre. Doch sie ist die letzte Verbindung zu seinem Vater.

Die Tür springt auf, und Stinas Vater kommt mit einer Thermoskanne in der einen Hand und einer Kaffeetasse in der anderen heraus. Seit zehn Jahren hilft Olle ihm auf dem Hof und bei den Arbeiten im Wald, und er hat sich seitdem nicht verändert, immer dasselbe graue, zerzauste Haar und die zerrissene Arbeitshose.

»Hier, für dich«, sagt er und hält ihm die Tasse hin. Sie ist mit einem Aufdruck verziert – einer Fichte. »Die habe ich kürzlich in Stockholm entdeckt, da musste ich gleich an dich denken.«

»Wie nett, danke«, sagt Kent und macht Platz.

»Du weißt ja, was ich immer sage«, meint Olle und setzt sich. »Nette Menschen kommen immer durch.«

»Da hast du sicher recht.«

»Brauchst du sonst noch irgendwo Hilfe?« Sein Schwiegervater stützt die Hände auf die Knie. Ansonsten würde ich den Zaun am See unten weiter abmontieren.«

»Die zwanzig Hektar bei den Hansehäusern müssen bald komplett abgeholzt sein«, antwortet Kent. »Der Käufer hat sich schon gemeldet.«

»Hundert Jahre alte Kiefern, etwa sechstausend Kubik«, erwidert Olle schnell. »Ein Geschäft in Höhe von zweieinhalb Millionen Kronen.«

Kent nickt zögerlich. Obwohl er mit der Forstwirtschaft aufgewachsen ist, befällt ihn noch immer eine gewisse Unsicherheit, wenn es um Geschäfte mit dem Holz geht. Er sieht Olle an, seine viele Erfahrung mit der Arbeit im Wald, unter der grünen Mütze mit den zotteligen Ohrenklappen verborgen. »Könntest du bei den Verhandlungen mit den Käufern vielleicht dabei sein?«

»Nein«, antwortet Olle. »Ich weiß, dass dein Vater sagen würde, ich soll dir einen Tritt in den Hintern geben, damit du das alleine hinkriegst. Früher oder später musst du da sowieso ran.«

Kent lässt den Blick über den Kuhstall schweifen. Er hatte nie vorgehabt, den Betrieb im Alter von fünfunddreißig allein weiterzuführen. Fünfunddreißig Jahre und der größte Grundbesitzer im Bezirk Gävleborg. Vor ein paar Jahren war sein Vater an einem Herzinfarkt gestorben und damit seiner Frau ins Familiengrab gefolgt. Und jetzt muss Kent zum allerersten Mal so ein großes Geschäft ohne ihn abwickeln.

Er beobachtet Olle, der Maja über den Kopf streichelt und leise mit ihr spricht, als sei der Hund ein kleines Kind.

Wir brauchen das Geld, denkt Kent. Im letzten Jahr hat er mehr ausgegeben als geplant, und glücklicherweise weiß keiner, wie er die Kohle investiert hat.

Er sieht hinauf zum Himmel, betrachtet die dunklen Wolken, die sich in verschiedenen Schichten schnell fortbewegen.

Du fehlst mir, Papa, denkt er.

»Bis später«, sagt Olle und stiefelt in Richtung Traktor.

Kent sieht dem untersetzten Mann hinterher. Sein Schwiegerpapa. So nennt er Olle immer, obwohl Stina nicht seine Ehefrau ist.

Er hat Glück, dass Olle ihm auf dem Hof und im Wald zur Hand geht. Aber vor allem ist es ein Glück, dass er diese Lebenspartnerin hat. Von dem Tag an, als sie ihm über den Weg lief, war es, als würde nichts mehr gelten, was er bis dahin über Liebe gewusst hatte. Als sie sich gegenübersaßen, füllte sich sein Herz mit einer pulsierenden Wärme, die mit jeder Sekunde wuchs. Er liebte es, wie sie ihn ansah, wie sie lächelte und blinzelte, als wolle sie ihn noch klarer erkennen. Die neugierigen Fragen aus ihrem Mund, das interessierte Nachhaken. Sie nickte und begriff, sie kitzelte die Freude aus ihm heraus, und ihm war, als habe er vorher niemals richtig von Herzen gelacht.

Er seufzt und schaut hinaus auf den Dellen. Sein Herz füllt sich immer noch mit dieser glutheißen Wärme, wenn er sie anblickt. Doch in der letzten Zeit ist das Lachen weniger geworden. Die neugierigen Fragen sind verstummt, und die hübschen Augen sind müde und traurig geworden. Stina hat etwas auf dem Herzen, doch sie will nicht darüber sprechen. Und wenn er sie darauf anspricht, ist es, als würde etwas mit ihr passieren, so wie man eine Schraube zu fest anzieht. Kent bekommt Magenschmerzen, wenn Stina so traurig ist, er kann damit nicht umgehen.

»Wenn sie nicht darüber reden will, dann braucht sie das auch nicht«, sagt er und krault den Hund hinter dem Ohr. »Hauptsache, sie verlässt uns nicht.«

Das Geräusch vom Traktor, der angefahren kommt, reißt ihn aus seinen Gedanken. Olle, der am Steuer sitzt, hält an und öffnet Maja die Tür zum Fahrerhäuschen. Mit einem Satz springt sie hinauf. Sie ist immer gern auf dem Traktor mitgefahren. Und sie hat Olle auch schon immer gemocht.

»So ein Mist«, schimpft sein Schwiegervater in Richtung eines BMW X5, der so geparkt hat, dass er den Traktor nicht zwischen dem Wohngebäude und dem Kuhstall rangieren kann, wie er will.

»Elchjäger«, sagt Kent und muss lachen. Es sieht manchmal aus, als wollte Olle eine lange Schimpftirade loslassen, doch bringt er nie mehr als ein paar Worte auf einmal heraus.

Der Hof füllt sich langsam mit Autos, das sind die Jäger, die sich hier nach der Jagd wieder versammeln. Sie jagen seit einigen Jahren schon auf Kents Grund und Boden. Sein Vater hat immer gesagt, dass die Jagd ein wichtiger Teil der Waldpflege sei, die Elche müssten reduziert werden, damit die Schäden an den Bäumen nicht überhandnehmen.

Kent hat nichts dagegen, eher im Gegenteil, denn dann ist auf dem Hof endlich mal was los.

Die Kälte beißt ihm in die Wangen, und er zieht den Reißverschluss seiner blauen Helly-Hansen-Jacke hoch, als er den Jägern entgegengeht. Er setzt sich auf einen Stein hinter die anderen, holt eine Dose Snus heraus und nimmt einen Klumpen dieser braunkörnigen Masse, bearbeitet ihn sorgfältig und schiebt ihn sich dann genau dorthin, wo er hingehört, unter die Oberlippe. Die Reste wischt er von den Händen ab und verschränkt dann die Arme. Beobachtet die gut zwanzig Männer und Frauen der Jagdgesellschaft, die alle in Grün gekleidet sind. Der Jagdführer Malcolm nickt Kent zu, der grüßend die Hand hebt.

Die Jäger werden sich jetzt über den zurückliegenden Jagdtag austauschen und vor allem das für morgen geplante Schlachten besprechen. Die Jagd im Oktober ist einer der Höhepunkte im Jahr. Kent selbst jagt nicht, doch er mag die gespannte Atmosphäre, wenn es losgeht, und hört gern die Geschichten, wie sie den Elchhirsch, den mit der großen Krone, erlegt haben, oder wie nah dran sie zumindest waren. In der grünen Jagduniform, das Gewehr über der Schulter, verwandeln sich die Jäger. Geschäftsführer und Unternehmer, die sonst nur im Anzug unterwegs sind, lassen den Alltag hinter sich und begeben sich in eine andere Rolle. Das ist faszinierend mit anzusehen. Aber für Kent ist die Jagd wirklich nichts, er tötet nur, wenn er nicht anders kann.

Unter den Jägern beginnt das Gerede, und es wird wild gestikuliert, der ein oder andere Fluch ist zu hören.

»Weiß einer von euch, ob Anton noch kommt?«, fragt einer der Jäger und schaut sich um.

Alle schütteln den Kopf. Anton gehört zu den Jüngeren, aber ist trotzdem einer von denen, die schon ganz lange dabei sind. Er betreibt ein Bauunternehmen und verdient damit mehr Geld, als er ausgeben kann.

»Vielleicht hat er seinen Wagen im Wald festgefahren«, lacht David Haag höhnisch, einer der Jäger, die Kent mit den Jahren näher kennengelernt hat.

Anton hatte sich gerade einen Cadillac Escalade zugelegt, einen sündhaft teuren Monster-SUV. Erst jetzt bemerkt Kent, dass der Wagen im Hof fehlt. Auch die anderen müssen über diesen dummen Spruch lachen.

Malcolm steht auf und hebt eine Hand. »Jetzt mal ruhig«, sagt er, »Anton wird bestimmt gleich kommen, wir fangen schon mal an.« Der Jagdführer steht einen Moment lang still da, breitbeinig, in seiner militärgrünen Jacke und den Hosen, die am Knie verstärkt sind. An seiner Seite ist sein Sohn, eine vierzig Jahre jüngere Kopie von ihm. Malcolm sieht sich um und wartet, bis er die Aufmerksamkeit von jedem Einzelnen hat. Er ist in den Holzwirtschaftsbetrieb, der von Kent Holz kauft, hineingeboren worden, und er kennt keine andere als die Anführerrolle.

»Ihr habt heute einen guten Job gemacht«, fährt er fort und klatscht in die Hände. »Morgen treffen wir uns im Schlachthof. Ein Schlachter wird um sieben Uhr dazukommen und uns helfen. Seid pünktlich vor Ort.«

Die Jäger erheben sich und gehen langsam zu ihren Wagen, reden noch, lachen. Nur David Haag bleibt noch etwas sitzen und blickt Malcolm nach, bevor auch er aufsteht und mit gesenktem Kopf zum Parkplatz hinübergeht.

***

Eddie Martinsson greift nach seinem Arbeitsmesser und sticht ihn mitten in den Ballen mit dem Silofutter. Er zieht einen langen Schnitt durch das weiße Plastik. Ein säuerlicher Geruch von konserviertem Gras dringt an die Luft. Seit Rokka da war, ist schon eine Weile vergangen, doch er spürt die Leere immer noch. Natürlich ist Eddie klar, dass Rokka ihn nicht ständig im Heim besuchen kommen kann, er hat ja selbst genug um die Ohren. Aber trotzdem.

Das Pferd, das direkt an der Tür steht, wiehert leise und schiebt dann das Maul in die Futterkrippe. Ein anderes schnaubt, und ein drittes tritt mit einem Hinterhuf lautstark an die Wand seiner Box. So ist es immer, wenn die Abendfütterung ansteht.

»Ruhig.« Er klingt schon so bescheuert wie eine Mutter, glücklicherweise kann ihn keiner hören. Wenn ihm vor einem Jahr jemand gesagt hätte, er würde mal freiwillig irgendwelche Vierbeiner füttern, hätte er demjenigen eine reingehauen. Heute weiß er, wenn die Pferde nicht da wären, würde er es hier gar nicht aushalten. Anfangs hatte das Jugendamt ihn in eine Anstalt bringen wollen, die in der Nähe von Göteborg lag, doch er hatte sich mit Händen und Füßen gesträubt, so weit wegzuziehen. Dann hätte seine Mutter nie zu Besuch kommen können. Als er damit drohte, sich das Leben zu nehmen, haben sie ihn stattdessen in ein Therapieheim in der Nähe von Hudik gesteckt.

Bislang hat seine Mutter sich auch hier nicht blicken lassen, und er würde auch niemals an Selbstmord denken, aber das müssen die vom Jugendamt ja nicht wissen.

»Hallo«, hört er jemanden hinter sich. Es ist Anders, der Heimleiter. »Du«, sagt er. »Was wollte Johan Rokka hier?«

»Nichts. Nur mal Hallo sagen.«

»Sicher?« Anders sieht müde, aber skeptisch aus.

»Sicher.« Rokka mag Bulle sein, aber er ist nicht wie die anderen. Er kommt nicht her, weil er Geld dafür kriegt.

»Und wie läuft’s so?«

Eddie zuckt mit den Schultern und trennt die Schnur durch, die den Ballen noch zusammenhält. Er nimmt eine Portion Silofutter und geht damit zuerst zu Truls, seinem Lieblingspferd. Ein hellbrauner Nordschwede mit Hufen groß wie Teller. Eddie füllt sein Futter in die Krippe, zieht die Tür der Box zu und bleibt einen Moment bei dem Tier, um ihm die Mähne zu kraulen. Nach wie vor antwortet er nicht auf die Frage, denn er weiß, was Anders damit bezweckt.

»Ich finde, du machst dich gut, Eddie. Oder bist du anderer Meinung?«

Wieder zuckt Eddie mit den Schultern. Die Urinproben waren unauffällig, auch wenn die letzte schon eine Weile zurückliegt. Er ist gern hier in dem Therapieheim, denn dann muss er nicht in die Schule gehen, zumindest so lange nicht, bis er zeigt, dass er Verantwortung übernehmen kann. Sein Ziel ist, irgendwann zurück auf die Berufsschule zu gehen und die Ausbildung in Fahrzeugtechnik abzuschließen, das wäre auch nice. Und auf die Sitzungen mit der Psychologin könnte er gut verzichten. So eine Tussi mit langem Rock und Sandalen, die immer fragt, wie sich etwas für ihn anfühlt. Das geht sie einen Dreck an. Darüber will er nur mit Anders sprechen, mit dem kann man besser reden als mit irgendeinem Psychologen. Sie unterhalten sich immer, wenn sie im Stall bei den Pferden sind oder wenn sie sich im Boxring ein bisschen ausgetobt haben. Nicht an einem Tisch, auf dem Servietten liegen, wo ihm schon die Beine kribbeln, kaum dass er sich gesetzt hat. Aber jetzt ist die Psychologin nicht mehr da, und das ist auch gut so.

Eddie greift nach einer Bürste, die zwischen zwei Latten im Gitter der Box liegt. Dann hebt er Truls’ Mähne hoch und beginnt, dessen Hals zu striegeln. Truls’ Fell ist schon dichter geworden, es wird Winter. Das Pferd schließt die Augen.

»Es … es ist nämlich so«, sagt Anders vorsichtig. »Ich habe mit dem Sachbearbeiter vom Sozialamt gesprochen.«

Eddie hört auf zu striegeln. »Okay.«

»Sie sind auch der Meinung, dass du große Fortschritte gemacht hast, seit du hier bist.«

Eddie wirft die Bürste in Richtung Eimer, trifft aber nicht, sie fällt auf den Boden. »Nun rück schon raus mit der Sprache.«

»Wir haben die Preise erhöht, und die Gemeinde kann es sich nicht länger leisten, dich hier unterzubringen«, sagt Anders, während seine Arme mutlos herunterhängen. »Und andere warten schon auf einen Platz. Aber vielleicht ist das gar nicht so schlecht.«

Eddie sieht vom Pferdefell auf. Jetzt macht Anders ein Gesicht, als wäre seine Mutter gestorben. »Wie meinst du das?«

»Ach … vergiss es.« Anders legt Eddie eine Hand auf die Schulter und drückt sie. Er sieht Eddie nicht in die Augen. »Ich muss los«, sagt er. »Ich habe morgen eine Besprechung und muss noch einiges vorbereiten.«

»Eine Besprechung mit wem?«

Anders seufzt missmutig.

»Du bist ganz schön neugierig, dafür, dass du …«

»Dafür, dass ich in einer Therapieanstalt sitze?«

»Du bist ein Guter«, sagt Anders. »Ein richtig Guter.« Er hebt die Hand, um sich zu verabschieden, und bewegt sich schlurfend durch den Gang. In letzter Zeit ist Anders nicht mehr er selbst. Er wirkt, als hätte er irgendwie aufgegeben.

2

Tag 2

Es ist erst sechs Uhr in der Frühe, als der Schlachter Erik Larsson den kleinen Hang zum Schlachthof hinaufgeht. Wenn es mitten am Tag ist und die Sonne scheint, kann man erkennen, wie hübsch das Gebäude gelegen ist, auf einem grünen Hügel, nur ein paar Hundert Meter von Kent Wiks rot gestrichenem Gutshof entfernt. Das Land ist noch in Dunkelheit getaucht, nur ein paar einfache Lampen an der Hauswand weisen ihm den Weg.

Erik zieht seinen Gurt, an dem die Messer hängen, die er zum Stückeln braucht, fest. Er umfasst den Schaft eines Messers. Es ist aus Elchhorn hergestellt, ist blitzblank geschliffen und hat schöne Verzierungen. Das Messer fühlt sich in der Hand gut an, er hat es von seinem Vater geschenkt bekommen, der ihm alles über Fleisch beigebracht und ihm vermittelt hat, dass das Schlachten eine Kunst ist. Man muss immerhin perfekte Filets auslösen können, die nicht zu viel oder zu wenig Fett haben, ein Stück aus der Nuss so zurechtschneiden, dass es noch schön mürbe ist, und die Gulaschstücke so bemessen, das möglichst viel Fleisch vom Tier verbraucht wird. Neben den Messern benutzt er auch eine Fleischsäge, aber die befindet sich schon im Schlachthof.

Die Jäger werden frühestens in einer Stunde da sein, doch Erik ist gern überpünktlich. Dann hat er die Zeit, noch eine Weile still dazusitzen und zu lauschen, wie das Leben im Wald erwacht, er kann in Ruhe seinen Kaffee trinken und sein Brot mit geräuchertem Elchherz essen, das ihm seine Frau mitgegeben hat. Er wird es genießen, noch ein Stündchen für sich zu sein. Seit fünf Jahren hilft er jetzt dieser Jagdgesellschaft. Manchmal gibt es Streit darüber, wer welches Stück Fleisch bekommt. Zum Glück wird Malcolm, der Jagdführer, auch dabei sein, vor ihm haben die anderen Jäger Respekt.

Eine Windböe erfasst Erik, und ihm wird bitterkalt, obwohl er die dick gefütterte Jacke angezogen hat. Für das Fleisch, das im Schlachthof hängt, ist die Temperatur ideal.

Vor dem Gebäude bleibt er kurz stehen. Er holt seine Thermoskanne aus dem Lederrucksack und gießt sich eine Tasse Kaffee ein. Dann öffnet er die Tür. Vielleicht liegt es an der Müdigkeit, dass er den Lichtschalter nicht trifft, doch nachdem er ein bisschen herumgetastet hat, flackert schließlich die Leuchtstoffröhre auf, und der Raum wird hell. Hinter ihm knallt die Tür vom Wind zu, und der penetrante Geruch von kaltem Fleisch schlägt ihm entgegen. Metallisch und feucht.

Er geht hinüber in den Raum, in dem die Tierkörper hängen. Unter der Decke sind lange Rohre angebracht, an denen die Haken befestigt sind. Im Moment hängen da sieben Elche. Die hellrosafarbenen Muskeln und die weißen Sehnen sind bloßgelegt, und er versucht, die Größe des Elchhirsches abzuschätzen, mit dem einer der Jäger so angegeben hat. Doch dann hält er inne. Neigt sich ein wenig zur Seite, um den Kadaver zu erkennen, der ganz hinten hängt. Er sieht merkwürdig aus, irgendwie heller. Erik schiebt die Brille hoch, um besser zu sehen. Dabei stolpert er über einen Blecheimer, der laut scheppernd umfällt, und erst als er wieder hochschaut, geht ihm auf, warum dieser Körper anders aussieht. Die Kaffeetasse rutscht ihm aus der Hand und zerspringt auf dem Betonboden, sodass der Kaffee seine Hose vollspritzt. Aber das bemerkt Erik nicht, er ist in der Bewegung erstarrt und hat die Augen weit aufgerissen. Denn was dort vor ihm hängt, ist ein Mensch.

***

Die Kriminaltechnikerin Janna Weissmann trennt die Blätter vom Grünkohlstrunk und wirft sie in den Mixer. Sie drückt auf den Knopf, sodass der Kohl mit den grünen Äpfeln, dem Spinat und dem Ingwer zerkleinert wird, und beobachtet, wie die Messer im Gerät die Zutaten so traktieren, dass sie am Ende zusammenschmelzen und eine gleichmäßige Masse ergeben. Der Dobermann Jazz streicht ihr um die Beine und jault mit bittendem Blick. Janna krault die Hündin hinter den Ohren. Jazz lässt es sich eine Weile gut gehen, dann trottet sie über den Dielenboden davon und legt sich vor der Haustür nieder.

Das Essen gestern mit Rokka war kurz. Sie waren beide müde. Jetzt sollen sie sich ausruhen, zwei lange Wochen. Rokka wird noch den Rest der Motorradsaison genießen, und Janna wird nur zu Hause auf dem Sofa sitzen, zumindest heute. Bei dem Gedanken, Urlaub zu haben, macht sich gleich diese Ruhelosigkeit bemerkbar. Was machen Menschen, wenn sie freihaben? Verreisen? Vielleicht sollte sie auch eine Reise buchen. Tauchen auf den Malediven oder Wandern in Neuseeland. Allein.

Als der Smoothie fertig ist, gießt sie das grüne Gemisch in ein hohes Glas, lehnt sich an die Arbeitsplatte und trinkt.

Sie arbeitet so viel, dass sie es nicht schafft, nach Feierabend noch jemanden zu treffen. Katarzyna, ihre Freundin, die im Schärengarten vor Stockholm wohnt, hat die Liebe entdeckt und meldet sich nur noch selten. Rokka ist der Mensch, der Janna am nächsten ist. Eine Zeit lang hatte sie das Gefühl, er interessiere sich für sie, mehr, als es unter Kollegen üblich ist, aber wahrscheinlich hat sie sich das nur eingebildet. Warum sollte er sich in sie verlieben? Außerdem würde sie nie eine Affäre mit einem Kollegen anfangen, das wäre völlig gegen ihre Prinzipien. Sie hat schon einiges darüber gelesen, das führt fast immer zu Problemen.

Ihr Handy gibt einen Signalton von sich, und sie klickt die Nachricht an.

Es wird Zeit, dass wir die Sache mit deinem Erbe abschließen.

Vor einem Monat ist ihre Cousine Inah verstorben, und Janna ist die einzige noch lebende Angehörige mütterlicherseits. Der Notar, der sich um die Abwicklung des Nachlasses in Jordanien kümmert, möchte, dass sie ihre Kontonummer mitteilt, damit er ihr das Geld überweisen kann.

Langsam lässt sie sich auf den Boden sinken. Sie will das Geld, das ihre Cousine hinterlässt, gar nicht. In ihrem Leben hat Geld nie etwas Positives bedeutet. Jannas Mutter war jordanische Botschafterin in Stockholm, und die einzige Erinnerung, die sie noch an sie hat, sind die Abendessen, zu denen sie ihre Diplomatenkollegen in den Salon in ihrer Villa auf Djursholm einlud. Ihr Vater wiederum war nie zu Hause. Der Run auf die Arzneimittelpatente, die er sich sichern wollte, und die Gewinne, die sein Konzern anstrebte, hörten nie auf. Sie hat noch immer die polternde Stimme mit dem deutschen Akzent im Ohr:

»Ich arbeite für dich, Janna. Für deine Zukunft.«

Hätte sie es sich aussuchen dürfen, dann hätte sie sich für einen Vater entschieden, der dabei war, als sie das Fahrradfahren lernte oder als sie den Innovationspreis am Ende der siebten Klasse erhielt. Und ihre Mutter hätte Verwandtschaft in einem stinknormalen Vorort von Stockholm gehabt, nicht in Jordanien.

Der Kopfschmerz hämmert von innen an ihre Stirn. Janna öffnet den Küchenschrank und greift nach einer Schachtel Aspirin. Sie füllt das größte Glas, das sie besitzt, mit Wasser aus einer Flasche, die sie im Kühlschrank aufbewahrt. Sie hasst es, chemische Substanzen zu sich zu nehmen, aber von dem Kopfschmerz, den sie schon seit Tagen hat, wird ihr heute langsam übel.

Die Zukunft, denkt sie. Die kann später kommen.

Der Klingelton ihres Handys zerschneidet die Luft. Carl Linderoth ist am Apparat. Und ihr Chef muss nicht viele Worte sagen, damit Janna begreift, was er möchte. Sie soll ihr Sofa schnellstens wieder verlassen.

***

Johan Rokka lenkt den zivilen Dienstwagen auf den Hof und parkt zwischen Kent Wiks Wohngebäude und dem Kuhstall. Da stehen bereits viele Autos, doch er findet noch eine Lücke zwischen einem silbernen Land Rover und einem Audi. Mit ein paar Schlucken trinkt er seinen To-go-Kaffee aus und verschwendet einen letzten wehmütigen Gedanken an das Frühstück, zu dem er nicht mehr kam.

Die Kollegen von der Schutzpolizei haben das Wohnhaus und die anderen Gebäude auf dem Hof bereits gesichert und den Weg, der zum Schlachthof führt, abgesperrt. Jetzt müssen sie die fünfzehn Jäger im Auge behalten, die sich auf dem Hof versammelt haben. Alle müssen an Ort und Stelle vernommen werden und dürfen vorher möglichst nicht miteinander sprechen. Es erschwert die Ermittlungen, wenn die Zeugen nicht mehr unterscheiden können, was sie selbst gehört und gesehen haben oder was ihnen jemand anders erzählt hat. Der Polizist Pelle Almén zeigt auf ein paar Jäger, die in einem Grüppchen zusammenstehen und sich unterhalten, trotz der Anweisung, es nicht zu tun. Rokka fährt zusammen, als er einen alten Bekannten entdeckt, der etwas entfernt von ihm mit einem Kollegen in Uniform spricht, die Jagdkappe in der Hand. Es ist Simon, der mit Rokka in dieselbe Grundschulklasse ging. Damals hat er kaum einen Pieps von sich gegeben, aber jetzt redet er lautstark und gestikuliert während des Gesprächs lebhaft mit den Armen.

Eine Autotür wird zugeschlagen, und ein großer Mann mit dunkelgrüner Jacke und Gummistiefeln kommt auf sie zu, hinter ihm ein jüngerer Mann. Der Ältere bewegt sich steif, sein eines Bein scheint beim Gehen zu schmerzen.

Rokka hält seinen Polizeiausweis hoch und stellt sich vor.

»Wie heißen Sie?«

»Malcom Wärner, ich bin der Jagdführer«, antwortet der Mann und reicht ihm die Hand. »Und das ist mein Sohn.«

»Ich muss mit ihnen beiden reden, getrennt voneinander«, sagt Rokka und bittet den Sohn zu warten. Malcolm Wärner macht humpelnd einen Schritt zur Seite, sodass Rokka sich nicht verkneifen kann zu fragen: »Haben Sie sich verletzt?«

»Nein, nein, das ist eine alte Geschichte. Als ich klein war, ist ein Baum auf mich gefallen, und daraufhin musste ein Teil meines Fußes amputiert werden.« Er sieht sich um und fährt sich mit der Hand durch das silbergraue Haar. »Was ist denn eigentlich passiert?«

Rokka nimmt ihn beiseite. »Wir haben im Schlachthof eine Leiche gefunden«, sagt er.

»Igitt.«

»Könnte man sagen. Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen und hoffe, Sie haben nichts dagegen.«

Malcolm schüttelt den Kopf.

Rokka holt einen Notizblock aus der Tasche und geht mit Malcolm Wärner hinüber zu einem der Schuppen. »Was haben Sie gemacht, bevor Sie hierherkamen?«

»Ich … bin von zu Hause losgefahren und auf dem schnellsten Weg hergekommen. Wer ist denn der Tote?«

»Das kann ich nicht sagen.« Rokka bedeutet Wärner, sich zu setzen. »Können Sie bitte beschreiben, was Sie gestern getan haben?«

»Wie immer sind wir früh zum Jagen aufgebrochen, haben uns an der Jagdhütte versammelt und sind dann alle ausgeströmt. Einer der Männer hatte seinen Hund dabei. Den ganzen Tag lang war es im Wald erstaunlich ruhig, keiner hat etwas geschossen. Dann habe ich mit meinem Sohn zu Abend gegessen«, sagt er und zeigt auf den jungen Mann, der etwas verloren aussieht, wie er da ein paar Meter entfernt steht und wartet.

»Und dann bin ich früh ins Bett gegangen, um am nächsten Tag ausgeruht zu sein.«

»Hat sich jemand in der Jagdgesellschaft anders als sonst verhalten?«

»Ist der Tote ein Jäger?«, fragt Malcolm nervös.

»Wir haben das Opfer noch nicht identifiziert, aber die Umstände verlangen, dass ich Ihnen diese Fragen stelle. Wie war die Stimmung untereinander?«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie sind der Jagdführer, es liegt wohl in Ihrer Hand, alle zusammenzuhalten, oder?«

»Das ist richtig«, erwidert Wärner und verschränkt die Arme.

»Und, wie war es so?«

Malcolm zuckt mit den Schultern. »Zeigen Sie mir die Jagdgesellschaft, wo alle einer Meinung sind.« Sein Mund verzieht sich zu einem schmalen Strich.

»Na gut«, sagt Rokka. »Wenn wir mal so tun, als sei ich kein Bulle, sondern nur ein netter Jäger, der die Jagd in diesem Jahr leider verpasst hat und Sie fragen würde, ob es irgendeinen Klatsch gab, was würden Sie darauf antworten?«

Malcolm winkt ab. »Okay, okay«, sagt er. »Ich gebe es zu, eine Kehrseite hat die Jagd: Sie befeuert die Gier in den Menschen. Nennen Sie es primitiv, wenn Sie wollen. Schließlich will jeder am liebsten einen Elchhirsch schießen und keine Kuh oder ein Kalb, und man will auch lieber Filet als Gulasch mit nach Hause nehmen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Aber alles in allem sind das gute Jungs und Mädels, die sich gegenseitig helfen und unterstützen.«

»Waren gestern alle bei der Jagd dabei?«

»Ja.«

»Und sind alle nach Hause gefahren, als die Jagd beendet war?«

Der Jagdführer sieht mit einem Mal ernst aus, als er ihm direkt in die Augen schaut und antwortet: »Davon gehe ich aus.«

***

Janna schiebt ein paar störrische Haarsträhnen unter die Kapuze ihres weißen Schutzoveralls zurück. Sie ist mit ein paar Kollegen von der Kriminaltechnik im Schlachthof, um am Fundort der Leiche so viele Spuren wie möglich zu sichern.

Sie stellt sich mit den Füßen auf je eine Trittplatte direkt vor den nackten Körper und richtet den Blick an die Decke. Der Mann ist mit den Achillessehnen an Haken aufgehängt, und dort, wo das Metall in den Körper dringt, ist die Haut ganz weiß und vom Gewicht des Mannes ausgeleiert. Seine Arme hängen hinunter, die Unterarme kommen auf dem Boden auf. Alle Flüssigkeiten haben sich im unteren Teil des Körpers gesammelt, der blaulila verfärbt ist, weil das Blut bereits gerinnt. Es ist deutlich erkennbar, wo der Pegel der Körperflüssigkeiten steht, denn auf Rumpfhöhe wechselt die Körperfarbe zu einem fahlen Weiß.

»Darf ich reinkommen?«, hört sie Rokka fragen.

»Wenn du die anhast«, antwortet sie und zeigt auf eine Packung mit Schuhschutzhüllen, die hinter der Tür liegt. Sie würde ihn nie in einen Schutzoverall hineinbekommen, so viel ist ihr klar. Aber in den blauen Schuhüberzügen darf er auf den Trittplatten entlangbalancieren.

»Ist das eklig«, sagt Rokka, als er neben ihr steht. »Das ist das Widerlichste, was ich je gesehen habe.«

»Ich würde sagen, er hängt hier schon eine ganze Weile«, erklärt Janna. »Vielleicht so zehn, zwölf Stunden.«

Dem Mann ist mit einem stumpfen Gegenstand auf den Schädel geschlagen worden, sein Gesicht ist derart geschwollen, dass seine Angehörigen ihn nicht wiedererkennen werden. Für die Identifikation werden sie einen Zahnabgleich und eine DNS-Analyse brauchen. Schlimmstenfalls kann es Tage dauern, bis sie die Angehörigen verständigen können.

Vom Nabel bis zum Brustbein verläuft ein Schnitt. Janna betrachtet die bleichen Wundränder. An der Wand befindet sich eine Vorrichtung, die, wie sie vermutet, dazu dient, die toten Tierkörper mithilfe von Kettenzügen hinaufzubefördern. Sie kann nur ahnen, wie viele Personen sich in den letzten Tagen im Schlachthof aufgehalten haben, vermutlich werden die Kollegen DNS von Tieren und Menschen finden. Es wird eine Heidenarbeit, alle Spuren zu sichern.

Janna hört die Stimme des diensthabenden Kollegen in Rokkas Sprechfunkgerät. Er wiederholt die neuesten Informationen über den Fundplatz. Durch die geöffnete Tür sieht Janna den Schlachter, der die Leiche gefunden hat. Er sitzt draußen vor dem Schlachthof auf einem Stein, das Gesicht in den Händen vergraben. Als er kurz aufblickt, sieht sie ihn an. Seine Augen starren aus einem blutleeren Gesicht stur geradeaus.

Janna lässt den toten Körper mithilfe einiger Kollegen hinab und legt ihn in einen Leichensack. Bevor sie den Reißverschluss zuzieht, schaut sie sich den Schnitt über den Bauch noch einmal im Detail an. Sie hat den Eindruck, ein erlegtes Tier vor sich zu haben.

»Ist er hier gestorben?«, fragt Rokka.

»Wenn man bedenkt, wie wenig Blut sich auf dem Boden befindet, glaube ich das nicht«, sagt Janna.

Janna beugt sich über die Leiche, bewegt sich zur Seite, betrachtet sie von oben bis unten. Dann hockt sie sich hin. Ihr Blick bleibt an etwas hängen, das sie komplett erstarren lässt. Sie dreht sich zu Rokka um und atmet tief durch. »Schau mal«, sagt sie und zeigt auf die Innenseite des einen Oberschenkels, beinahe im Schritt.

Rokka geht neben ihr in die Knie. Liest, was jemand mit einem schwarzen Filzstift geschrieben hat. Anton Ehrlander.

***

Kent Wik steht an die Wand des Schlachthofes gelehnt und stiert auf den Boden. Er zittert, als der Wind durch die feinen Maschen seiner Helly-Hansen-Jacke dringt. Kurz nach dem Schlachter war er vor Ort und hat ihn auf dem Stein sitzen sehen, wie er sich im Schockzustand vor und zurück wiegte. Erst hörte er sich die unzusammenhängenden Sätze des Schlachters an, dann rief er die Polizei. Er selbst hat es nicht über sich gebracht, hineinzugehen und das Opfer mit eigenen Augen anzusehen.

Die Polizei hat ihm die Anweisung gegeben, sich zur Verfügung zu halten und vor Ort zu bleiben, doch er würde am liebsten ins Auto steigen und abhauen, all das Schreckliche hinter sich lassen.

Eine Rettungsassistentin hat dem Schlachter eine gelbe Decke über die Schultern gelegt. Kent sieht hinüber zum Parkplatz vor seinem Wohnhaus, wo ein Jäger nach dem anderen seinen Wagen parkt. Als Letzter kommt David Haag in seinem Lexus.

Das blau-weiße Absperrband ist am Fallrohr an der Hausecke befestigt und verläuft quer über die Straße zum Schlachthof. Ein Polizist in Uniform hält abwehrend beide Hände in die Höhe als Stoppzeichen für die Jäger. Sie dürfen nicht näher kommen, sie müssen zu ihren Autos zurückgehen, dürfen den Hof allerdings nicht verlassen.

Die Polizei will alle vernehmen, die sich möglicherweise in der Nähe des Schlachthofes und des Bauernhofes aufgehalten und etwas beobachtet haben. Kent musste Olle holen, der noch dabei war, den Zaun am See abzumontieren, und sein Alibi bestätigen. Stina ist seit gestern nicht zu Hause gewesen, aber er hat einem Polizeibeamten ihre Kontaktdaten gegeben, der sie weiterreichen wollte. Ganz in der Nähe unterhalten sich zwei Polizisten leise. Weiß gekleidete Personen gehen durch die Schlachthoftür ein und aus. Kent vermutet, dass das Leute von der Spurensicherung sind.

Kent holt sein Handy aus der Jackentasche und schaut sich das Selfie noch einmal an, das Stina kürzlich geschickt hat. Sie war gerade auf dem Sofa in ihrem Büro aufgewacht, ihr kurzes, dunkles Haar war noch ganz zerzaust, und sie lächelt in die Kamera. Er klickt die Antwortfunktion an. Schickt ihr zehn Emojis mit Kussmund, schreibt, dass er sie liebt, aber sich erst später meldet, weil etwas passiert sei. Ihm läuft ein kalter Schauer über den Rücken, als er die Nachricht noch einmal liest, die er ihr schicken wird. Stina soll noch eine kurze Zeit glücklich unwissend sein, nicht damit konfrontiert, was sich auf ihrem Grund und Boden abgespielt hat.

***

»Dann geben Sie zu, dass Ihnen gedroht wurde«, sagt Stina Olsdotter und presst das Handy noch dichter ans Ohr. Das Vorstandsmitglied am anderen Ende der Leitung ist in Bedrängnis geraten, und kurz darauf ist ein Seufzer zu hören, danach die Bestätigung ihrer Vermutung. Stina bedankt sich, beendet das Gespräch und kontrolliert, ob ihre App alles komplett aufgezeichnet hat.

Sie zieht die Jacke an und rennt die Treppe hinunter. Das Handy piept, sie hat eine Nachricht bekommen, aber die ignoriert sie, lässt das Smartphone in der Tasche. Hinter ihr fällt die Tür ins Schloss, und sie schaut zwei Stockwerke hinauf zu ihrem Büro. Es ist nicht größer als 25 Quadratmeter, und manchmal fühlt sie sich darin wie eingesperrt. Aber die kleine Wohnung ist nicht nur ihr Arbeitsplatz, sie ist auch die Adresse, unter der sie gemeldet ist.

Häufig recherchiert und schreibt sie über sehr brisante Themen. Daher ist es schon vorgekommen, dass sie selbst bedroht worden ist, wenn sie Menschen aus den Vorstandsetagen an den Pranger gestellt und öffentlich gemacht hat, wie diese Leute Schwächere ausgenutzt haben. Deshalb will sie nicht preisgeben, wo sie wirklich wohnt.

Nachdem sie das Interview auf ihrem Handy noch einmal abgehört hat, will sie sich in ein paar Jahresberichte vertiefen. Das ist ein Teil ihrer Recherchearbeit für die Reportage. Sie hat ein Diagramm erstellt, das die Gewinne eines Unternehmens in einem Zeitraum von zwei Jahren darstellt. Nach herben Verlusten in den Vorjahren hat sich das Blatt in den letzten drei Quartalen gewendet, sodass sie zuletzt satte Gewinne abbilden konnte. Nun muss sie verschiedene Posten vergleichen, um nachvollziehen zu können, wie das Geld in den und aus dem Betrieb floss, um ihre Arbeitshypothese bestätigen zu können.

Das Handy piept noch einmal, jetzt nimmt sie es in die Hand. Es ist eine Nachricht von Kent, der sie bittet, sich so schnell wie möglich bei ihm zu melden. Seine Kuss-Smileys bedecken den ganzen Bildschirm.

Sie ruft das Selfie auf, das sie ihm geschickt hat. Sie hat es auf die Schnelle gemacht, es ist etwas unscharf, aber ihr Lächeln ist nicht zu übersehen. Sie fragt sich, ob Kent merkt, dass es aufgesetzt ist. In letzter Zeit hat Stina sehr häufig im Büro übernachtet. Kent hat sie erklärt, dass sie Ruhe zum Arbeiten benötigt, und das ist auch nicht gelogen, aber wenn sie ganz ehrlich ist, so war das ihr einziger Ausweg, sich seinem Wunsch nach Nähe zu entziehen. Ihm nicht in die Augen sehen zu müssen, wenn sie wieder einmal Nein sagt.

Sie steckt das Handy zurück in die Tasche und zieht die Jacke enger um ihren Körper, um sich vor dem eisigen Wind zu schützen. Ihre hohen Schuhe klackern auf dem Asphalt, als sie zwischen den Bootshäusern hindurchläuft und weiter auf den Holzsteg am Kanal.

Auf einer Bank lässt sie sich nieder und tastet in ihrer Handtasche nach der Zigarettenschachtel. Der Wind tut alles, was in seiner Macht steht, um sie am Anzünden der Zigarette zu hindern, aber schließlich gelingt es ihr, und sie lässt sich von dem Rauch des ersten tiefen Zugs von innen wärmen. Jeder Teil ihres Körpers wird zum Leben erweckt, als das Nikotin sich verteilt. Aber es ist so eisig, dass sie die freie Hand gleich in die Jackentasche schiebt. Die Arbeit an der Reportage geht nur schleppend voran, zudem plagt sie das schlechte Gewissen. Heute ist Donnerstag. Der Tag, an dem sie üblicherweise ihre Mutter im Heim besucht. Aber Stina bringt es nicht über sich, dort allein hinzufahren. Sie hat ihren Vater angerufen, um ihn zu fragen, ob er mitkommt, doch er ist nicht rangegangen.