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Eine tödliche Bedrohung hält die Welt in Atem Eine Frau, die brutal zusammengeschlagen wurde, wird in die Notaufnahme des Krankenhauses in Hudiksvall eingeliefert. Sie weigert sich zu verraten, wer sie ist und was passiert ist. Zeitgleich arbeiten Rokka und Janna zusammen auf der Polizeiwache. Seit Rokka die Hoffnung, mit Janna eine Beziehung eingehen zu können, endgültig aufgegeben hat, ist ihr Verhältnis distanziert. Doch als Janna zum Opfer mehrerer Anschläge wird, kann Rokka nicht anders, als ihr zu helfen. Schon bald wird klar, dass es eine Verbindung zwischen den Angriffen auf Janna und der Patientin in der Notaufnahme gibt. Eine Verbindung, die weit über die Grenzen des idyllischen Städtchens Hudiksvall hinausreicht.
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Seitenzahl: 476
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem TitelEtt enda andetag bei Nordic AB, Stockholm.
© 2021 by Gabriella Ullberg Westin
Deutsche Erstausgabe
© 2023 für die deutschsprachige Ausgabe
by HarperCollins in der
Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
Published by arrangement with
Enberg Agency
Covergestaltung von Zero Media, München
Coverabbildung von Jordan Siemens / Getty Images
E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783749906031
www.harpercollins.de
I know what it feels like Swimming through the stars when I see her And I dont’t need air cause I breathe her
MR. PROBZ, »NOTHING REALLY MATTERS«
Hochsicherheitslabor der Firma Universal Med, Berlin
Nur ein winziger Schritt nach links. Genau hier muss ich stehen. Mein Körper bebt vor Anspannung, als die Tür langsam aufgleitet, und ich halte die Luft an. Jetzt zählen Sekunden. Drei, zwei, eins. Los!
Der Infrarotlichtstrahl leuchtet mir direkt auf den Bauch.
Ich muss geradlinig durch ihn hindurchgehen. Eine einzige falsche Bewegung, und es wird ein ohrenbetäubender Alarm losheulen. Und alles, wofür ich gekämpft habe, wäre verloren.
Ich korrigiere die Nachtsichtbrille, und ganz vorsichtig betrete ich den luftdichten Raum. In dem Laborregal aus Metall stehen Kunststofffläschchen und Dosen, mit dreieckigen Gefahrensymbolen etikettiert, dicht an dicht mit Druckbehältern und anderen nicht identifizierbaren Gefäßen. Was ich holen will, befindet sich ganz hinten.
Ich muss an einer Unmenge von Gläsern vorbei. Ihr Inhalt besteht aus einer Flüssigkeit und etwas Klumpigem. Mein Blick bleibt an einem Gefäß hängen, und obwohl es das Risiko, entdeckt zu werden, vergrößert, kann ich nicht anders. Ich bleibe stehen. Als ich erkenne, was sich darin befindet, bleibt mir die Spucke weg. Zwei Augen starren mich aus dem Glas an, und Todesangst überkommt mich. Der Schädel eines Affen.
Mir wird sofort schlecht, doch ich muss die Übelkeit beherrschen. Hier wird der Gang ganz schmal, ich muss mich drehen und ab jetzt seitlich vorwärtsgehen. Ich gebe acht, mich kontrolliert zu bewegen, weil die Gläser nun so dicht vor und hinter mir stehen, dass ich sie fast schon berühre.
An der schmalsten Stelle fällt mir etwas in den Blick. Mir ist, als gäbe der Boden unter meinen Füßen nach. In den Gläsern vor mir sind Arme. Hände. Füße. Sie sind knotig, schrecklich deformiert. Und … Oh Gott! Mein Hirn wehrt sich, will nicht das verarbeiten, was meine Augen in dem größeren Glas, das ganz rechts steht, erblicken. Offenbar hat man nicht nur Tierversuche an Affen durchgeführt, die dafür ihr Leben lassen mussten. Es war weit schlimmer …
Kostbare Sekunden verstreichen, bevor es mir gelingt, mich ansatzweise wieder zu fassen. Mein Puls rast, und ein Gedanke nach dem anderen jagt mir durch den Kopf, während ich die nächsten Schritte mache, um das zu holen, wofür ich gekommen bin. Ich hasse es, hier zu sein, und ich hasse es, dass ich die einzige Person bin, die gegen diesen menschlichen Abgrund etwas ausrichten kann.
Jetzt kann ich meine Wut nicht länger unterdrücken, sie kommt tief aus meinem Inneren, und ein Brüllen steigt aus meiner Kehle auf: »Mögest du in der Hölle schmoren!«
Hudiksvall,3. Oktober, neun Jahre später
Cilia Gonzales legt die Hand auf den verkratzten Fensterrahmen. Da draußen sieht alles so frisch und gesund aus. Die Luft ist klar. Tagsüber heben sich die hübschen roten und gelben Blätter vor dem strahlend blauen Himmel ab. Doch hier drinnen ist alles so krank.
Ihr Blick bleibt an den Fenstersprossen hängen, von denen die Farbe abblättert, sie bilden ein graues Gitter auf der Fensterscheibe. Cilia hat nicht die geringste Ahnung, wo sie sich befindet. Und da sie Pass und Portemonnaie abgeben musste, ist sie hier gefangen.
Der Wind pfeift ums Haus, und sie starrt in die undurchdringliche Finsternis der Nacht. Wie lange sie wohl schon hier ist? Sie tastet nach dem silbernen Kreuz, das sie an einer Kette um den Hals trägt. Mittlerweile müssen es Wochen sein. Sie zittert am ganzen Körper und blickt verstohlen hinüber zu der verschlossenen Schlafzimmertür. Aus dem Zimmer dringen noch immer leise Schnarchtöne. Eine Hand fest um das Silberkreuz geklammert, nimmt sie all ihren Mut zusammen. Die Dielen unter ihren Füßen geben nach, als sie sich langsam durch die Dunkelheit in Richtung Haustür bewegt. Hoffentlich wacht Robin nicht auf!
Ganz behutsam drückt sie die Klinke nach unten. Als es quietscht, bleibt ihr fast das Herz stehen, und sie blickt hinüber zur Schlafzimmertür, doch es gilt jetzt oder nie.
Der eisige Wind verfängt sich unter ihrem T-Shirt, als sie über den Hof rennt, an dem schwarzen Motorrad vorbei, das an einem Baum parkt. Cilia rennt geradewegs in den Wald, nimmt nicht den zugewucherten Kiesweg, der vom Haus wegführt. Sie hat nur das eine im Sinn: in die Dunkelheit einzutauchen.
Sie läuft immer schneller. Das silberne Kreuz fliegt und schlägt gegen ihre Brust. Beim Atmen brennt es im Hals, und die Nässe des Bodens durchdringt jetzt den Stoff ihrer Hausschuhe. Bald fällt durch die dichten Baumkronen des Nachthimmels kein Lichtschein mehr. Wie weit ist es bloß bis zum nächsten Haus?
Cilia ist schon steif vor Kälte, aber sie muss weiter. Hinter ihr knackt etwas. Sie stoppt, versucht, das Geräusch zu orten, doch kann nur ihren eigenen Herzschlag hören. Langsam wird sie panisch, und jetzt fließen die Tränen. Doch das ist ihre einzige Chance. Sie muss über nasses Moos, Steine und umgefallene Bäume steigen. Stolpert über eine Wurzel und fällt der Länge nach ins Blaubeergestrüpp. Bleibt auf der Seite liegen, wimmernd. Wieder knackt es im Gebüsch. Da sind Geräusche zu hören, Rascheln von Zweigen, Schritte. Robins Keuchen kommt näher, ist gleich da. Sie strauchelt, als sie versucht, aufzustehen. Ein Hausschuh klemmt zwischen zwei Steinen fest, doch es gelingt ihr, sich loszureißen. Kopflos stürmt sie weiter, versucht verzweifelt, doch noch zu fliehen, aber dann spürt sie den unerbittlichen Griff um ihren Arm. Es ist zu spät.
***
Mit ein paar schnellen Tastenkombinationen deaktiviert die Kriminaltechnikerin Janna Weissmann die Alarmanlage an ihrem Haus, öffnet das Tor und geht über den Hof auf die Eingangstür zu. Das grelle Licht der Scheinwerfer, deren Bewegungsmelder ihre Anwesenheit registrieren, blendet sie. Ihr Haus befindet sich in der Fiskarstan, einem der ältesten Stadtteile Hudiksvalls, wo kleine pastellfarbene Holzhäuschen die Straßen dieses ruhigen Wohngebiets säumen. Große Ahornblätter bedecken den Boden. Der schöne Jasmin an der Hauswand ist schon vor längerer Zeit verblüht, und wenn sie sich das jetzt so ansieht, fällt ihr ein, dass sie die Gartenmöbel eigentlich längst winterfest gemacht haben sollte.
Sie greift zu ihrem Smartphone, das noch auf lautlos gestellt ist. Die Dokumentation ihrer Tatortbegehung hat sich hingezogen, jetzt kommt sie viel später nach Hause als geplant. Endlich hat sie Zeit, die Nachricht ihrer Freundin zu lesen. Seit Wochen versuchen sie, sich telefonisch zu erreichen. Jetzt hat Katarzyna offenbar dringend Gesprächsbedarf.
Janna seufzt. Sie hat die Hoffnung schon aufgegeben, eine Liebesbeziehung am Laufen zu halten, doch offensichtlich schafft sie es jetzt nicht einmal, für ihre beste Freundin da zu sein. Ihre einzige Freundin, korrigiert sie sich selbst und antwortet kurz »lass uns morgen telefonieren«, dann lässt sie das Handy wieder in der Tasche verschwinden. Sie sollte sich mehr Mühe geben, doch zu mehr ist sie nicht in der Lage.
Sie wirft einen Blick über die Schulter. Eine schwarze Katze streift über den Hof und verschwindet durch die Latten des Zauns. Janna tippt die acht Zahlen des Türcodes ein und öffnet die Haustür. Als sie den Flur betritt, erklingt schon das vertraute Geräusch der Dobermannhündin Jazz, als sie vom Sofa springt. Sekunden später das Kratzen von kralligen Pfoten auf den Holzdielen, als Jazz blitzartig auf sie zukommt.
»Hallo Süße«, begrüßt Janna sie lachend. Jazz winselt. Ihr Schwanz wedelt unablässig, und sie rennt hin und her. Janna kniet sich hin und lässt sich von ihrem Hund umwerfen. Sie kugeln durch den Flur. Obwohl Janna wirklich durchtrainiert ist, muss sie sich anstrengen, die Hündin zu überwältigen, die mit ihren fünfzig Kilos außergewöhnlich schwer ist. »Ist ja gut, wir gehen gleich raus«, sagt Janna, obwohl es schon spät ist. »Ich muss mich nur erst noch umziehen.«
Das Licht der Scheinwerfer vom Innenhof dringt bis in den Flur, als Janna den Einbauschrank öffnet. Sie lässt ihren Blick nach draußen wandern. Die knorrigen Zweige des Jasmins wiegen sich leicht im Wind. Jazz sitzt brav da und wartet auf sie. Da wird es wieder dunkel im Flur, das Scheinwerferlicht erlischt.
Ein Tippen auf den Lichtschalter, und die Spotlights an der Decke gehen an. Dann kramt Janna nach ihren Sportklamotten. Ihr Hund steht auf und läuft zur Tür. Stellt sich breitbeinig davor hin und spitzt die Ohren. »Was hörst du, Süße?«, fragt Janna und hält inne, die Klamotten in der Hand. Vielleicht springt die Katze noch draußen herum. Janna sieht hinaus in das Dunkel. Doch erkennen kann sie nichts. Da wird ihr bewusst, dass jeder, der gerade auf der Straße vorbeikommt, jede Bewegung von ihr sehen kann. Also wendet sie sich ab, sie zieht sich schnell um und stopft sich einen Tennisball in die Jackentasche. »Wollen wir los?«, fragt sie. Aber Jazz steht da wie gebannt, senkt den Kopf und gibt ein tiefes Knurren von sich.
»Was ist los mit dir, Süße? Was hörst du denn?«
***
Kriminalinspektor Johan Rokka greift zum Rotweinglas. Er hockt in der Sportsbar und schaut aus dem Fenster. Die Storgata und der Rådhus-Park liegen leer und verlassen im Licht der Straßenlaternen, das Lokal ist allerdings rappelvoll, obwohl es ein stinknormaler Abend an einem Wochentag ist. Mein Hudik, denkt Rokka, und nimmt einen Schluck Rioja. Jetzt ist es schon fünf Jahre her, dass er hierhergezogen ist, nach Hudiksvall. Fünf Jahre fast ununterbrochen Schufterei.
Sein Blick sucht die Straße ab. Langsam müsste Elina kommen, die Frau, die er seit einer Weile datet. Die inzwischen einen angenehmen Ausgleich zu seinem stressigen Job darstellt.
Da bemerkt er eine dunkel gekleidete Gestalt, die sich eilig in Richtung Fiskarstan bewegt. Der Mann durchquert den Park hinunter zum See Lillfjärden, und irgendwann fängt er an zu joggen. Ziemlich untypischer Jogger, denkt Rokka und greift wieder zu seinem Weinglas.
Jetzt ist Elina schon zehn Minuten zu spät. Rokka blickt in die andere Richtung und kommt sich blöd vor, weil er sich mit einem Mal Sorgen macht. Kürzlich sind zwei Frauen Mitte vierzig in Hudiksvall überfallen worden, und das innerhalb nur einer Woche. Dem Täter gelang in beiden Fällen die Flucht, das Tatmotiv ist unbekannt. Rokka schiebt sein Weinglas beiseite. Die Personenbeschreibung der Opfer könnte auf den Mann passen, der hier eben vorbeigelaufen ist.
Im selben Moment tippt ihn jemand auf die Schulter. Als er aufsieht, steht Elina da. Rokka springt auf. »Hi, Darling«, sagt sie und stellt sich auf die Zehenspitzen, um ihm ein Begrüßungsküsschen zu geben.
Vor ein paar Wochen haben sie sich kennengelernt. Er hatte sich eigentlich nur auf einen netten Abend mit einem Freund in einer Kneipe eingestellt: ein gutes Essen, ein, zwei Gläser Rotwein und ein bisschen quatschen. Die Stunden vergingen, und natürlich war ihm die blonde Frau, die in einer größeren Gruppe ein paar Tische weiter saß, schon während des Essens aufgefallen, doch erst als sie beide aufstanden und sich an der Bar herumdrückten, sah er sie richtig.
Jetzt sitzen sie am selben Tisch. »Wie war dein Tag im Yogastudio?«, fragt er und streichelt Elina über die Wange. Sie hat so etwas Strahlendes. Ihre Augen funkeln, und ihre Haut ist unglaublich zart.
»Fantastisch«, antwortet sie lächelnd. »Es ist einfach herrlich, nicht mehr ins Krankenhaus zu müssen.«
Ein halbes Jahr lang hat sie parallel zu ihrer Arbeit als Krankenschwester ein Yogastudio aufgebaut, und jetzt hat sie alles auf eine Karte gesetzt und sich ihren Traum erfüllt, in Vollzeit als Yogalehrerin zu arbeiten.
Sie wirft sich den langen Zopf hinter die Schulter. »Und bei dir«, sagt sie mit glitzernden Augen und legt ihre Hand auf seinen Oberschenkel. »Wie geht’s meinem Polizisten?«
Kaum berührt sie ihn, läuft ein angenehmes Kribbeln durch seinen Körper. »Kann mich nicht beschweren, alles gut.«
Sie lässt ihre Hand weiter aufwärtswandern und flüstert ihm ins Ohr: »Weißt du, worauf ich jetzt Lust hätte?«
»Nein, lass hören«, sagt Rokka und grinst. Im Augenwinkel sieht er Pelle Almén, der gerade auf dem Weg in die Kneipe ist. Sein Kollege von der Schutzpolizei hat Nachtschicht und weiß, dass Rokka hier abhängt. Vermutlich will er nur mal Hallo sagen. Rokka beugt sich zu Elina. »Da kommt gerade ein Arbeitskollege.«
Elina richtet sich auf und zieht ihre Bluse wieder zurecht.
»Pelle«, sagt Almén und hält ihr zur Begrüßung die Hand hin. »Hab schon von dir gehört. Ist es in Ordnung, wenn ich mich kurz zu euch setze? Ich muss auch gleich wieder los.«
Rokka weist einladend auf einen freien Stuhl, während Elina aufsteht. »Ich gehe mal zur Bar und bestelle was«, sagt sie und ist verschwunden. Alméns Blick hängt noch an ihr, dann rutscht er näher an Rokka heran.
»Weißt du was«, sagt er. »Janna ist erst nach Hause gegangen, als ich auch Feierabend gemacht habe, da war es fast elf Uhr.«
»Das heißt?«
»Na ja, also sie arbeitet in letzter Zeit viel mehr als sonst.«
»Aber dagegen kann ich doch nichts tun.«
Almén sieht sich kurz um und senkt die Stimme. »Also, ich freu mich ja für dich. Elina ist bestimmt klasse. Aber weiß Janna, dass ihr beide …«
»Was soll das?«, fährt Rokka ihm ins Wort.
»Hast du ihr nicht davon erzählt?«
Die Frage versetzt ihm einen Stich, und er presst die Lippen aufeinander. »Ich weiß doch noch gar nicht, wie ernst das hier wirklich wird. Und Meldepflicht besteht ja wohl nicht, oder?«
»Nee, ich dachte nur, weil …«, seufzt Almén. »Ich hab gedacht, Janna und du, ihr seid mehr als Freunde, zumindest sah das im Sommer so aus, oder?«
Rokka schwenkt sein Rotweinglas leicht hin und her. Der letzte Sommer war der beste seit Langem gewesen. Zum ersten Mal war er überzeugt gewesen, wirklich in Hudiksvall bleiben zu wollen. Er hat sogar die Umzugskartons ausgepackt, die seit seinem Einzug immer noch im Wohnzimmer gestanden haben. Mit Janna hatte er nie über Gefühle geredet, aber zwischen ihnen lag immer etwas in der Luft. Und in diesem Sommer waren sie sich endlich nähergekommen. Hatten abends oft zusammen gegessen und lange Touren auf seiner Harley-Davidson unternommen. Und er kann sich noch gut an den einen Abend erinnern, als er zum ersten Mal nicht mehr daran zweifelte, dass da tatsächlich etwas zwischen ihnen war.
»Hättest du mich das im Sommer gefragt, hätte ich dir geantwortet, dass ich mir nichts sehnlicher wünsche.«
»Voll schade«, sagt Almén. »Ich mag euch doch beide.«
Rokka schielt rüber zur Bar, wo Elina immer noch ansteht und darauf wartet, eine Bestellung aufgeben zu können. »Janna ist cool«, sagt er, »das steht außer Frage.«
»Aber?«
Rokka schüttelt verzweifelt den Kopf. »Genau das. Aber«, wiederholt er. »Sie …«
»Sie ist was …?«
»Janna ist nicht wie die anderen.«
»Nein … das weiß ich. Aber ist nicht genau das der Grund, warum du sie so magst?«
***
Es gibt nur wenige Dinge, die Janna Weissmann so ein Gefühl von Freiheit schenken, wie durch eine menschenleere, abendmüde Stadt zu joggen. Vor ihr breitet sich der See Lillfjärden aus. Auf der stillen, dunklen Wasseroberfläche, über der weiße Nebelschwaden treiben, spiegeln sich die Straßenlaternen. Unter ihren Schuhen knirscht der Kies, und sie schaut Jazz an, die energiegeladen neben ihr herrennt. Treu erwidert die Hündin ihren Blick.
»Was hätte ich nur ohne dich gemacht?«, sagt Janna, und ihr wird ganz heiß. Da kommt schon wieder dieses unliebsame Gefühl auf. Ihr Kontakt zu Rokka ist im Sommer fast abgerissen. Und das war ihre Schuld. Sie schluckt und versucht, den Kloß im Hals loszuwerden, der immer auftaucht, wenn sie daran denkt, was in den Hochsommerwochen zwischen ihnen passiert ist.
Während der heißesten Wochen waren ihre Gefühle für ihn immer stärker geworden, das konnte sie nicht leugnen. Aber dann kam dieser Abend, an dem er ihr tief in die Augen gesehen und ihr seine Gefühle gestanden hatte. Dass er sich von ihr angezogen fühlte. Er wollte sie nach Hause begleiten, stand mit ihr vor der Haustür. Sie nickte, etwas nervös, doch eigentlich voller Vorfreude. Sie liefen über den Hof, bis zu dem blühenden Jasmin. Da blieben sie stehen, standen sich gegenüber, ohne ein Wort zu sagen. Die Sekunden verstrichen. Das war nicht falsch zu verstehen, es war eindeutig. Janna presste die Lippen aufeinander. Geh nicht, dachte sie. Bleib. Sie versuchte, ihre Gedanken in Worte zu fassen, doch so weit kam es nicht. Schließlich sah sie, wie er die Hand zum Abschied hob, und während die Endorphine durch ihren Körper pulsierten, spürte sie seine Fingerkuppen ganz leicht an ihrer Wange. Doch sie verkrampfte sich innerlich und wich instinktiv einen Schritt zurück, sodass seine Hand sich langsam senkte. Etwas Fragendes schlich sich in seinen Blick, dann Enttäuschung. Seine Schultern sackten herab. »Dann sehen wir uns im Büro, Janna.« Mehr sagte er nicht, bevor er durchs Gartentor ging, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Dieser Abend hatte alles zerstört, und sie konnte ihn nicht ungeschehen machen.
Jetzt setzt ein Nieselregen ein, und die Tropfen kühlen ihr die Wangen. Sie greift nach dem Tennisball. Drückt ihn fest und versucht, sich auf ihre Schritte auf dem Weg zu konzentrieren. Immer bis zur nächsten Laterne, so treibt sie sich an.
Vor ihr wird der Laubwald dichter. Jazz sieht sie an, bettelt um die Erlaubnis, losrennen zu dürfen. Mit aller Kraft schleudert Janna den Tennisball weg. Jazz stürzt mit ein paar Sätzen los und verschwindet zwischen den Bäumen in der Dunkelheit. Janna weiß, dass sie erst zurückkommen wird, wenn sie den Ball in der Schnauze hat.
Mit einem Mal wird es dunkler. Janna blickt auf und stellt fest, dass die Lampen der Straßenbeleuchtung kaputt sind, und sie will sich gerade über den Vandalismus aufregen, als es zwischen den Bäumen raschelt. So schnell hat Jazz den Ball?, denkt Janna. Doch gleichzeitig bemerkt sie etwas anderes weiter vorn. Eine große Gestalt steht mitten auf dem Weg, mit einer Sturmhaube über dem Gesicht. Abrupt bleibt sie stehen. Sofort fallen ihr die Überfälle auf die beiden Frauen ein, die sich erst vor Kurzem in Hudiksvall ereignet haben.
Der schwarz gekleidete Mann kommt langsam auf sie zu. Er ist groß und durchtrainiert. Janna registriert die weißen Streifen auf den Ärmeln seines Pullovers. Sie versucht, ihm in die Augen zu sehen, und spannt jeden Muskel ihres Körpers an. Geht in Verteidigungsbereitschaft.
Im selben Augenblick packt sie jemand von hinten. »Nein!«, schreit sie, doch wird auf den harten Boden gezogen. »Aufhören!« Sie windet sich. Will sehen, wer der andere ist. Auf Höhe des Mundes hat sich auf seiner Sturmhaube ein Muster aus kleinen Wassertropfen gebildet. Sie kann tatsächlich noch rational denken und kratzt ihn überall mit den Fingernägeln, um an die DNA des Mannes zu kommen. Sie boxt und tritt mit aller Kraft, um freizukommen, und fast gelingt es ihr. Doch der Mann ist stark und wirft sie erneut zu Boden. Scharfe Steine schneiden ihr in die Wangen, als sie auf den Kies gepresst wird. Wo bleibt Jazz?, fragt sie sich und schielt zu dem Schwarzgekleideten, der mit etwas Abstand dasteht und sie beobachtet. Sie unternimmt erneut eine Kraftanstrengung und hebt den Kopf. Da hört sie etwas klacken, und in der nächsten Sekunde drückt er ihr etwas Kaltes, Hartes an den Hals. Ein Klappmesser.
»Nein!«, brüllt der Mann in Schwarz. »Wir sollen doch nicht …«
»Willst du die Kohle oder nicht?«, zischt der Mann, der auf ihr liegt, zurück. Er spricht so einen südschwedischen Dialekt.
»Schon, aber …« Der andere zögert. Janna bricht der kalte Schweiß aus, als sie die beiden sprechen hört. Dann spürt sie einen brennenden Schmerz am Hals und stöhnt. Sie begreift, dass er ihr in die Haut geritzt hat, das könnte das Ende sein. In dem Moment erklingt ein durchdringendes Knurren. Im Augenwinkel sieht sie Jazz auf sie zurennen, und dann stürzt sich der Hund auf den Typen mit dem Dialekt. Mit weit aufgerissenem Maul beißt Jazz den Mann in den Oberarm, sodass der aufschreit und sofort das Messer fallen lässt. Jazz knurrt und zerrt an ihm, wirft den Kopf zur Seite und lässt ihn nicht mehr los. Unter der Sturmhaube sieht Janna die vor Schreck weit aufgerissenen Augen des Mannes. »Hilfe!« Sein verzweifeltes Brüllen hallt über den See.
Doch der Typ in den schwarzen Klamotten steht nur wie angewurzelt da.
»Jetzt stich doch den blöden Köter ab!«, schreit der Mann mit dem starken Dialekt. Da erwacht der Schwarzgekleidete zum Leben. Setzt sich in Bewegung, um das Messer zu ergreifen. Als er die Hand hebt, wird Janna wild vor Wut. Mit neuer Kraft stürzt sie sich auf ihn. Rollt mit ihm über die Erde, doch er ist stärker, sticht nun in jede Richtung um sich, sie kriegt ihn nicht zu fassen. Jazz jault und lässt los. Der Typ aus Südschweden kann fliehen, und Janna versucht, den anderen noch am Bein zu packen, doch auch er springt auf und haut ab in den Wald.
Keuchend stürzt sie zu Jazz. Der Hund hat sich zusammengekauert und liegt im prasselnden Regen. »Süße«, flüstert sie, und Jazz’ dunkle Augen sehen sie flehend an. Aus dem Mund ihres Hundes tropft etwas Rotes, und als Janna über Jazz’ Fell streicht, hat sie Blut an den Fingern. Der Hund wimmert, und Janna wird vor Angst fast ohnmächtig. Doch als sie sich die Wunde genauer ansieht, beruhigt sie sich etwas. Die Verletzungen scheinen nur oberflächlich zu sein.
Sie greift zu ihrem Handy und wählt den Notruf. Wenn sie Luft holt, brennt es in ihrem Hals, und sie versucht, ihren Herzschlag mit bewusst langsamem Atmen zu beruhigen. Unterdessen hört sie ein schrilles Motorengeräusch, und als sie konzentriert lauscht, nimmt sie wahr, dass es noch ein paar Male pufft und dann verklingt.
»Janna Weissmann, Polizei Hudiksvall«, keucht sie, als der Anruf entgegengenommen wird. »Ich bin am Lillfjärden überfallen worden. Die Täter sind flüchtig, vermutlich mit einem Moped oder kleineren Motorrad in Richtung der östlichen Stadtteile unterwegs.«
Sie setzt sich neben ihren Hund und streichelt Jazz über den Rücken. Erst da spürt sie den Schmerz und fasst sich an den Hals. An ihrer Handinnenfläche klebt warmes Blut.
***
Der Motor röhrt, als Pelle Almén aufs Gas drückt. Der Funkruf kam genau in dem Moment, als er wieder zu seinem Kollegen in den Streifenwagen gestiegen war, der vor der Sportsbar gewartet hatte. Welch ein Glück, dass sie sich schon im Stadtzentrum befinden. So spät am Abend sind sie in einem Umkreis von hundert Kilometern die einzige Streife. Für den Bruchteil einer Sekunde spielt Almén mit dem Gedanken, Rokka zu informieren, doch stattdessen konzentriert er sich lieber auf die Jagd nach den Tätern.
Der Regen klatscht gegen die Scheibe, und die Scheibenwischer arbeiten auf höchster Stufe. Almén versucht, die Sorgen um Janna zu verdrängen. Jetzt muss er sich voll darauf konzentrieren, die Kerle zu schnappen, die sie überfallen haben. Ein paar Minuten Vorsprung haben sie, aber mehr nicht.
Das Blaulicht flackert über die Fassaden der Häuser an der Hamngata. Das Regenwasser hat die Bürgersteige schon unter Wasser gesetzt. Welcher Fluchtweg ist der wahrscheinlichste? Rüber nach Malnbaden oder raus auf die Halbinsel Hornslandet?
Almén steigt in die Eisen, als die Straße sich gabelt. Er fährt die Scheiben runter, lauscht. Irgendwo in der Nähe meint er, ein Motorengeräusch zu hören. Etwas hupt. Das könnte ein Moped sein. Er konzentriert sich. »Das kommt von dort.« Er zeigt in Richtung Malnbaden. Der Kollege nickt, und Almén gibt wieder Gas. Durch die geöffneten Fensterscheiben ist das schrille Geräusch jetzt noch deutlicher zu hören. Das könnten sie sein. Kaum ein Mensch ist um diese Zeit unterwegs. Gleich haben sie die Täter!
Almén versucht, seine Gedanken zu beherrschen. Rational zu denken. Auf der linken Seite liegt der Wald. Auf der rechten ein Wohngebiet. Alles scheint ruhig zu sein. Das Geräusch ist weg, komischerweise. Ob sie angehalten haben? Aber dann bewegt sich etwas ein Stückchen vor ihnen. Da ist ein Schatten zwischen den Häusern. Das sieht doch wie ein Moped aus?
Almén hält das Lenkrad krampfhaft fest. Das Moped verschwindet wieder und ist jetzt außerhalb seines Sichtfelds, sodass Pelle beschleunigt, um die nächste Querstraße für sie zu blockieren.
Obwohl er damit rechnet, zuckt er zusammen, als das Moped plötzlich wie aus dem Nichts wieder auftaucht und zwanzig Meter vor ihnen auf die Straße einbiegt. Almén macht eine Notbremsung. Zwei Typen sitzen auf dem Moped. Der eine schwarz gekleidet, weiße Streifen an den Ärmeln. »Das sind unsere Jungs«, sagt Almén.
Doch auf der nassen Straße schlägt der Fahrer den Lenker zu stark ein, das Moped kippt um und fällt auf die Seite. Die Typen kommen langsam hoch, und dem einen in Schwarz gelingt es, das Fahrzeug wieder aufzustellen. Der Motor heult auf, als er abhaut. Der andere rennt in das Waldstück neben dem Wohngebiet. »Fuck!«, schreit Almén. Jetzt müssen sie sich entscheiden: Das Moped oder den Typen zu Fuß verfolgen? Das Moped hat den größeren Vorsprung. Also dem anderen, der zu Fuß flieht, hinterher. »Wir teilen uns auf und schneiden ihm den Weg ab!«, schreit Alméns Kollege.
Sie springen aus dem Wagen. Der Kollege rennt nach rechts, Almén geradeaus, direkt in den Wald hinein. Adrenalin pumpt durch seinen Körper. Zweige peitschen ihm ins Gesicht. Er stolpert über einen großen Stein, doch kann sich wieder fangen. Aus dem Monophon, das an seiner Uniform sitzt, hört er einen Kollegen sprechen, doch er versteht kein einziges Wort. Etwas weiter vor ihm bewegt sich was zwischen den Bäumen. Gleich haben sie wenigstens einen von ihnen. Jetzt sieht er die Gestalt deutlicher. Verspürt einen Energieschub. Sieht sich nach seinem Kollegen um, der müsste doch gleich von der anderen Seite kommen? Da fällt der Typ vor ihm hin. Ein kurzer Moment, dann ist Almén da und stürzt sich auf ihn. Packt seinen Arm und dreht ihn auf den Rücken.
»So, Freundchen, jetzt reicht’s!«
***
Rokka liegt keuchend im Bett. Elina und er hatten es eilig, von der Sportsbar nach Hause zu kommen. Sein Puls ist immer noch auf 180, und aus dem Badezimmer hört er das Wasser fließen, als Elina duscht. Er muss grinsen. Hat sie dieses Körperbewusstsein von ihren Yoga-Übungen? Mit ihr zusammen zu sein, ist ein wahrer Traum. Sie hat keinerlei Hemmungen, scheint es zu genießen, sich nackt zu zeigen, meist zwingt sie ihn sogar, ihr unablässig in die Augen zu sehen. Beim ersten Mal fand er das etwas merkwürdig, aber mittlerweile erregt es ihn. Und dann ihre Worte, wie sie detailliert beschreibt, was sie mit ihm anstellen will, bis er sich nicht mehr beherrschen kann und sie gemeinsam explodieren.
Er zieht die Decke hoch und macht es sich im Bett bequem. Als er sie kennenlernte, hatte er die Befürchtung, dass er sich Elina nur deswegen hemmungslos hingab, weil er sich so nach Janna sehnte. Jetzt, ein paar Wochen später, will er noch nicht so weit denken, dass es mit ihnen beiden ernst werden könnte, doch missen möchte er Elina auch nicht mehr.
Er verschränkt die Arme hinter dem Kopf und starrt grinsend an die Decke. Jetzt stellt sie das Wasser in der Dusche aus. Gleich ist sie wieder hier, denkt er, doch irgendwie macht sich jetzt sein schlechtes Gewissen bemerkbar. Almén hatte schon recht: Er hält sein Verhältnis mit Elina vor Janna bewusst geheim. Fuck! Er vergräbt den Kopf im Kissen, als könne er damit diese unbequemen Gefühle abschalten. Die Badezimmertür geht auf, beschwingt kommt Elina auf ihn zu, und schon ist seine volle Aufmerksamkeit wieder bei ihr.
»Hallo du.« Mitten im Raum bleibt sie stehen. Splitterfasernackt. Er kann die Augen nicht von ihr lassen. Die hübschen Rundungen ihrer Brüste, die schmale Taille und die Hüften – eine perfekte Linie.
»Komm her«, sagt Rokka.
Sie kriecht zu ihm ins Bett. Setzt sich gleich rittlings auf ihn, und schon ist dieses Kribbeln wieder da. Ihr Zeigefinger fährt über seinen Brustkorb und bewegt sich weiter in Richtung Nabel. »Hast du eine Idee, was ich vorhabe?«
»Nein, erzähl schon.«
»Ich hätte gern dasselbe noch mal.«
Er lacht auf. »An mir soll’s nicht liegen.«
»Aber dieses Mal mit einem anderen Finale.« Sie lässt ihre Finger tiefer rutschen.
Er stöhnt. »Wie meinst du das?«
»Wir versuchen es mal ohne Zieleinlauf.«
»Machst du Witze?«
»Nein.«
***
Janna legt das Handy neben sich aufs Sofa und streichelt Jazz über den Rücken. Nachdem sie der Tierärztin einige Bilder von den Schnittwunden am Hals und an der Schnauze des Hundes geschickt hatte, war ihre Vermutung bestätigt worden: Sie müsse die Wunden nur reinigen und dafür sorgen, dass kein Dreck hineinkomme. Ein Verband sei nicht nötig. Ihre eigene Verletzung hat sie mit einer Kompresse versorgt.
Almén hat einen der Täter geschnappt. Janna ist bislang nur telefonisch vernommen worden und hat alles ausgesagt, was sie wusste. Trotzdem fällt es ihr jetzt schwer, zur Ruhe zu kommen. Seit sie in Hudiksvall wohnt, und das sind jetzt neun Jahre, läuft sie genau diese Joggingrunde mehrmals pro Woche. Ob die Täter wussten, dass sie da regelmäßig joggt, oder war sie nur zur falschen Zeit am falschen Ort?
Jazz stupst sie mit der Nase an, und das ist im Moment alles, was sie braucht, um sich wieder sicher zu fühlen. Ihr Handy piept. Eine SMS von Almén.
Wollte nur nachfragen, ob du okay bist.
Sie atmet tief durch und schreibt.
Ich bin okay. Wir sehen uns morgen.
Almén antwortet mit dem Daumen hoch. Dann wird das Display wieder schwarz. Doch Jannas Blick weicht nicht. Etwas nagt an ihr. Sie ruft den Chatverlauf mit Rokka auf. Die letzten Messages Mitte August. Davor waren sie im Prinzip täglich in Kontakt.
Janna kann die Tränen nicht unterdrücken. In den vergangenen Monaten waren sie nicht im selben Ermittlungsteam. Carl Linderoth hat sie auf verschiedene Fälle angesetzt. Möglicherweise hat er die Vibes zwischen ihnen gespürt.
Wahrscheinlich ist sie einfach nicht dafür gemacht, eine Beziehung zu haben. Aber jetzt, nach diesem Überfall, wäre Rokka doch der Erste, den sie anrufen möchte. Einem engen Kollegen erzählt man so was, redet sie sich selbst ein. Will all ihren Mut zusammennehmen. Kurz spielt sie mit dem Gedanken, ihn anzurufen, doch dann schreibt sie ihm nur eine Nachricht.
Würde gern mit dir sprechen. Rufst du an?
LG Janna
Ihr sitzt ein Kloß im Hals. Sie sieht, dass die Nachricht versendet worden ist, und wartet nun auf die blinkenden Punkte, die anzeigen, dass er eine Antwort formuliert, doch nichts tut sich.
Sie steht auf und geht zum Fenster, noch immer mit Schmerzen im ganzen Körper. Auf dem Hof und in der Lotsgata ist es still, es ist stockdunkel. Sie kann es nicht lassen, ihr Handy noch einmal zu checken. Rokka antwortet in der Regel schnell, wenn er wach ist. Janna geht duschen. Trinkt ein Glas Wasser. Füllt Jazz Hundefutter in den Napf und steckt eine Ladung Wäsche in die Maschine.
Als sie sich schlafen legt, ist noch immer keine Antwort da.
4. Oktober
Zusammengekauert liegt Cilia Gonzales auf dem Sofa, Tränen laufen ihr über die Wangen. Als sie sie mit dem Handrücken wegwischt, zuckt sie kurz zusammen. Sie ist an ein Hämatom gekommen. Und die Albträume dieser Nacht sind immer präsent.
Durch die Wand hört sie, dass das Bett im Schlafzimmer knarrt. Dann Schritte, die sich nähern, und das Quietschen von Scharnieren, als die Tür geöffnet wird.
»Hier bin ich«, sagt Robin grinsend und greift nach der Bomberjacke, die auf dem Stuhl liegt. »Hast du wieder Dummheiten ausgeheckt?«
Betreten senkt Cilia das Kinn. »Nein.«
Warum kann sie Gefühle nur so schlecht verbergen? Gestern Abend hat Robin sie überwältigt und ins Haus zurückgeschleift. Und jetzt ist Cilia wieder hier. Eingesperrt. Erst wenn sie ihre Aufgabe erledigt hat, kommt sie frei.
Sie muss wieder an die Reise denken. Wie sie ganz allein von New York nach Oslo geflogen ist und von Robin am Flughafen abgeholt wurde. Aber anstatt in Norwegen zu bleiben, wie es besprochen war, sind sie über die Grenze nach Schweden gefahren, über eine kleine Straße gekurvt, fernab der Grenzkontrollen. Während der Fahrt ist ihr dieser spitzbübische Gesichtsausdruck im Rückspiegel aufgefallen. Verzweifelt hat sie in diesem Blick nach etwas Warmherzigem, Vertrauensvollem gesucht. Doch da war nichts.
Auf der Reise hielten sie nur ein einziges Mal, zumindest kann sie sich nicht an weitere Stopps erinnern. An einer Tankstelle mitten im Nirgendwo kaufte Robin etwas zu essen und zu trinken, während sie auf dem Rücksitz hockte und wartete. Die Bockwurst, oder war es eher das Getränk, hinterließen einen bitteren Nachgeschmack in ihrem Mund, und das Einzige, was sie draußen erkennen konnte, waren hohe Nadelbäume, dann schlief sie ein.
Als sie aufwachte, waren sie da. Sie bat Robin, ihr wenigstens kurz das Handy zurückzugeben, damit sie ihre Eltern in Lima anrufen und ihnen mitteilen konnte, dass sie heil gelandet war. Tränen brannten in ihren Augen, als sie stotternd erzählte, dass die Reise gut verlaufen und sie nun an ihrer schönen, neuen Wohnung angekommen sei und sich schon auf die neue Arbeit freue. Dieser Wortlaut entsprach Robins Anweisungen.
Bist du traurig?, fragte ihre Mutter, als sie Cilia schniefen hörte.
Nein, sagte Cilia und schluckte. Nur ein bisschen erkältet. Hab mir auf dem Flug vermutlich irgendein Virus eingefangen.
Mama lachte. Ist das nicht typisch?
Papa ließ aus dem Hintergrund grüßen. Als Cilia sich nach Clemente erkundigte, berichteten sie, dass er gerade abgeholt worden und in seine neue Schule gebracht worden sei.
Beim Gedanken an ihren kleinen Bruder laufen ihr die Tränen über die Wangen. Ginge es nicht um ihn, wäre sie niemals freiwillig hierhergekommen.
»Cilia!«, hört sie und wird aus ihren Gedanken gerissen. »Ich weiß, woran du gerade denkst.« Robin sieht sie hämisch an und greift nach dem USB-Stick, der auf dem Schreibtisch liegt. Wedelt damit vor ihrer Nase herum. »Ich weiß, du willst das alles nicht. Tut mir sehr leid, Cilia, aber ich sage es noch mal: Du bist jetzt hier. Du kennst das Spiel, und du hast keine Wahl. Erst wenn ein Mensch am Abgrund gestanden hat, kann er auch Erlösung spüren.«
Cilia starrt auf die schwarz lackierten Nägel. Sie ist zwar religiös, aber solch ein Gerede macht ihr eine Heidenangst. Mit jedem Tag wird es schlimmer, und schon geht es weiter. »Du bist Teil des Plans, Cilia, ob du willst oder nicht.«
Sie blickt zu Boden. Der Mensch, der vor ihr steht, ist gefährlich, jetzt weiß sie es. Aber gegen eine Gehirnwäsche wird sie sich wehren. Robin geht auf sie zu, instinktiv weicht sie zurück, bis sie mit dem Rücken an der Wand steht.
»Willst du das etwa infrage stellen?« Die Stimme wird wieder laut.
Cilia presst sich an die Wand. »Nein, überhaupt nicht«, sagt sie so ruhig und beherrscht wie möglich. Doch es scheint nicht überzeugend genug gewesen zu sein, denn der Sermon geht weiter.
»Die Menschen werden in Panik geraten, sie werden die Hoffnungslosigkeit und die Todesangst spüren. Das ist auch Sinn der Sache, und vor allem ist es die Voraussetzung für das, was kommen wird. Ich will, dass die Menschen den Wert des Geschenkes begreifen, das ich ihnen mache. Dieses Geschenk ist die Sicherheit, die Hoffnung und die Zukunft.« Robin tritt näher. Fährt sich durch das kurze, dunkle Haar und hat nun etwas Fanatisches im Blick. Hebt die geballte Faust. »Das wird mir gelingen, und du wirst mir dabei helfen. Verstanden?«
Cilia versucht, ihre Hände zu verbergen, die vor Angst zittern. Aus meinem Engel ist ein Teufel geworden, denkt sie und umschlingt ihren Brustkorb mit den Armen, um sich so gut es geht zu schützen.
***
Es ist kurz nach acht, als Janna aufwacht. Sachte tastet sie mit der Hand über das Pflaster, mit dem sie die schmerzende Wunde am Hals abgedeckt hat. Wieder hat sie dieses ungute Gefühl. Ob das dieselben Täter waren, die schon die anderen Frauen überfallen haben? Oder muss man die Tat in einem ganz anderen Zusammenhang betrachten?
Jazz blickt auf und jault.
»Beruhige dich, Süße.« Janna schlüpft aus dem Bett und hockt sich zu ihrem Hund vors Bett. »Die Gefahr ist vorbei.« Eine Weile krault sie Jazz hinter den Ohren. Ihr selbst gewähltes Singleleben macht ihr jetzt doch zu schaffen. Von ihrer Familie lebt niemand mehr. Keiner wird sich erkundigen, wie es ihr jetzt geht, nach diesem Überfall. Eine Sehnsucht überkommt sie, die sie schon lange nicht mehr verspürt hat, und sie streicht mit der Hand über das Furnier der Tür am Nachtschränkchen. Drückt leicht darauf, sodass sie sich öffnet. Sie gibt den Code des Safes ein, der sich dahinter befindet. Surrend öffnet sich die Klappe. Janna schiebt den Laptop, der darin liegt, zur Seite und streckt sich nach dem Sandstein, den sie bei einem Urlaub in Jordanien in der Nähe des Elternhauses ihrer Mutter entdeckt hat. Sie reibt ihn ganz fest, dass er warm wird, und dann streicht sie mit dem Daumen über die teils raue, teils glatte Oberfläche. Jazz kommt zu ihr, und Janna öffnet die Hand und lässt sie am Stein schnuppern. »Ich glaube, du hättest Mama gemocht.«
Sie nimmt einen Umschlag heraus, in dem sich alte Fotos befinden. Blättert weiter bis zu einem Bild von ihrem Vater. Er hat eine Glatze, und hinter seiner Brille funkelt ein stahlharter Blick. Schnell legt sie das Foto wieder hin und sucht nach einem anderen, auf dem ihre Mutter abgebildet ist. Nima. Janna betrachtet das lange schwarze, mit Mittelscheitel geteilte Haar. Die hellbraune Haut. Den ernsten Mund, die fülligen Lippen. Lange hat sie das Foto nicht mehr in der Hand gehabt, und jetzt staunt sie, wie ähnlich sie ihrer Mutter sieht. Janna blickt in Nimas traurige Augen. Nachdem du Vater getroffen hast, hat sich alles anders entwickelt, als du geglaubt hattest, oder?
Jannas Großvater war damals jordanischer Botschafter in Deutschland. Als Nima ihn Mitte der Siebzigerjahre auf einen Kongress in Westberlin begleitete, lernte sie den charismatischen Geschäftsmann Wolfgang Weissmann kennen. Wolfgang konnte seine Augen von der schönen Nima nicht mehr lassen, und mit der für ihn typischen Zielstrebigkeit bekniete er sie, bis sie mit ihm ausging.
Seinem Schwiegervater hatte Wolfgang mit seinem zielstrebigen Aufstieg aus der Ostberliner Arbeiterklasse und ganz besonders mit der Gründung von Universal Med imponiert – das mit der Zeit zu einem Big Player der Pharmaindustrie wurde. Nimas Vater sah es gern, dass sich seine Tochter mit dem hart arbeitenden Deutschen traf. Janna weiß, dass Wolfgang ihm versprochen hatte, es solle seiner Tochter niemals an etwas fehlen.
»Und, hat er Wort gehalten?«, flüstert Janna und sieht ihrer Mutter in die Augen. »Hat dir nie etwas gefehlt?« Unter dem Foto von Nima liegt ein Bild von Janna, auch sie mit ernstem und etwas melancholischem Blick. Janna versetzt es einen Stich, dieses kleine Mädchen zu sehen. Sie dreht das Bild um und liest die krakeligen Buchstaben auf der Rückseite.
Ich bin ein Vogel, der in seinem Käfig sitzt. Der Vogel darf keine Träume haben. Warum hältst du ihn gefangen, wo er doch frei sein und fliegen will?
Janna,9Jahre
Nimm mich doch mal in die Arme, Mama, das hat sie damals gedacht. Nimm mich doch mal in die Arme.
So oft hat sie sich gefragt, warum ihre Eltern sie überhaupt bekommen haben. Meist stand sie ihnen doch nur im Weg. Sie musste an das Weihnachtsfest denken, als sie mit Grippe im Kinderzimmer in ihrem Haus in Djursholm lag und ihre Mutter an ihrer Seite wachte. Janna bekam heiße Bouillon zu trinken, und die Mutter legte ihr eine kühle Hand auf die Stirn. Wie schön umsorgt sie sich da fühlte. Bis die Schritte auf der Treppe erklangen. Das Scharnier quietschte, als die Tür zu ihrem Zimmer aufsprang. Ihr Vater steckte den Kopf herein. Hör auf, sie zu verhätscheln, sagte er zur Mutter. Du steckst dich noch an. Mit traurigen Augen verließ sie dann das Zimmer und folgte ihrem Mann nach unten. Das Hausmädchen trat an ihren Platz.
Eine schmerzvolle Erinnerung, wie so viele andere Ereignisse, die Janna zu verdrängen versucht hatte.
Jannas Eltern hinterließen ihr ein riesiges Erbe. Einen Großteil des Geldes hat sie angelegt, sodass sie bis zum Ende ihres Lebens versorgt ist. Die Alarmanlage, die sie sich ausgesucht hat, hat sie auch von dem Geld bezahlt. Alles, was übrig war, hat sie wohltätigen Vereinen gespendet. Der Wagen ihres Vaters, ein zwölf Jahre alter Mercedes, steht in einer Garage ein paar Straßen weiter und wird nur selten bewegt. Aus irgendeinem Grund tut Janna sich schwer, ihn aus der Hand zu geben.
Genau wie dieses kleine Kästchen, denkt sie und fährt mit der Hand über das Ebenholz. Mit seinen geschnitzten Verzierungen wäre es wunderschön, hätte man für dieses exklusive Stück nicht wertvolle Bäume in Afrika abgeholzt und hätte es nicht ihrem Vater gehört. Sein Antrieb war stets pure Habgier gewesen, das weiß Janna. Es gebe so viele Medikamente zu entwickeln, waren seine Worte, und so viel Geld, das nur darauf warte, von Universal Med verdient zu werden. Noch immer hat sie seine brummige Stimme mit dem typisch deutschen Akzent im Ohr: Deinetwegen arbeite ich so viel, Janna. Für deine Zukunft.
Und sein Geld hatte sie immer gehasst. Ihr Vater war fast ununterbrochen bei der Arbeit, und auch ihre Mutter war oft abwesend. Sie war in die Fußstapfen ihres Vaters getreten, zur großen Freude des alten Mannes. Als sie das Angebot bekam, als jordanische Botschafterin nach Stockholm zu gehen, bezog die Familie eine exklusive Villa in Djursholm, und der Vater pendelte fortan zwischen Berlin und Stockholm. Die Abendessen im Diplomatenkreis, die regelmäßig im großen Salon ausgerichtet wurden, nutzte Jannas Vater als willkommene Gelegenheit, um internationale Geschäftskontakte zu knüpfen.
Janna läuft ein kalter Schauer über den Rücken. Sie rückt den Laptop gerade und streicht ein letztes Mal über den jordanischen Sandstein. In dem Moment kommt ihr der Gedanke: Könnten die Täter rassistische Motive gehabt haben? Da könnte sie ein Blick auf die anderen Opfer womöglich weiterbringen. Vorsichtig stellt sie das Kästchen und den Stein zurück und schließt den Safe mit leichtem Druck. Die Tasten wischt sie mit einem feuchten Tuch ab.
Als sie ihr Handy checkt, muss sie feststellen, dass Rokka sich noch immer nicht gemeldet hat. Jetzt braucht sie jemanden zum Reden, und obwohl es noch recht früh am Tag ist, klickt sie Katarzynas Nummer an. Schließlich ist sie eine enge Freundin. Sie waren zusammen im Internat. Janna und das Mädchen mit der dicken Brille fanden sich gleich bei der ersten Gruppenarbeit in ihrer Klasse, weil sie übrig geblieben waren, alle anderen Kinder hatten sich bereits anderweitig zusammengetan. Seitdem waren sie befreundet, allerdings war ihr Kontakt im letzten Jahr sporadischer geworden, und sie sprachen sich nur am Telefon.
Während das Klingeln ertönt, merkt Janna, dass sie keinen Schimmer hat, was sie sagen soll, nachdem sie sich seit Ewigkeiten nicht gesprochen haben. Schließlich geht Katarzyna ran.
»Na, hallo«, sagt sie mit ihrem ganz normalen, monotonen Tonfall. »Endlich klappt es mal mit uns.« Ihre Stimme ist emotionslos. Mehr als einmal hat Janna schon geahnt, dass Katarzynas Charakter einen sozialen Umgang nicht gerade leicht macht. Da ist sie wie ich, denkt sie frustriert.
»Ja, endlich«, sagt Janna, mehr nicht. Zwischen ihnen entsteht ein Schweigen, während Janna krampfhaft nach ein paar passenden Worten sucht. Sie kann ja nicht gleich von dem Überfall erzählen, außerdem weiß sie, dass Katarzyna auch etwas auf dem Herzen hat.
»Wie ist denn bei euch in den Schären das Wetter?«, fragt sie schließlich.
»Schön. Und wie geht’s deinem Hund so?«
»Hervorragend«, lügt Janna, beugt sich über das Tier und krault es unter der Schnauze. Sie verstummt und lauscht Katarzynas Atemzügen am anderen Ende der Leitung.
»Und da oben in Hudik … wie … wie ist bei euch das Wetter?«
Janna streckt sich zum Fenster. »Es hat in letzter Zeit viel geregnet, aber heute sieht es aus, als könnte es ein sonniger Tag werden.«
Dann wieder Stille.
»Und sonst so?«, fragt Katarzyna.
»Ja …«, setzt Janna an. »Du hattest doch in deiner SMS angedeutet, über irgendwas willst du mit mir reden?«
Katarzyna seufzt. »Ach, war nicht so wichtig. Jetzt wollte ich dir eigentlich nur sagen …«, sie räuspert sich und sagt danach laut und deutlich: »… dass du mir fehlst.«
Oh, denkt Janna, solch eine emotionale Äußerung war überraschend. Sie versucht, etwas zu antworten. Du fehlst mir auch, fällt ihr spontan ein, aber sie kommt sich blöd vor, wenn sie die Worte einfach so wiederholt. Doch jetzt kann sie sich auch nicht länger beherrschen. »Gestern bin ich überfallen worden.«
»Wie bitte?« Es knallt, und dann hört sie ihre Freundin aus der Ferne: »Moment mal«, und dann ein Rascheln. »Mir ist das Telefon aus der Hand gefallen, sorry. Was hast du gesagt?«
»Zwei Männer haben mich überfallen, als ich joggen war, aber Jazz hat mich gerettet.«
»Das ist ja … oh Gott, das ist ja furchtbar.«
»Heute geht’s mir schon wieder besser.« Janna streckt sich und wischt mit den Fingerspitzen ein dünnes Spinnennetz von einer der kleinen Überwachungskameras, die im Stuck an der Decke angebracht sind.
»Ganz sicher?«
»Ja.«
Dann plaudern sie über dies und das, bis Katarzyna sich entschuldigt. »Ich muss jetzt Schluss machen, aber können wir uns nicht demnächst wirklich mal sehen, ich meine, persönlich?«
Janna wird ganz warm ums Herz. »Sehr gern.«
»Und dann will ich alles von diesem Johan wissen.«
»Äh … du meinst Rokka«, sagt Janna, aber dann gerät sie ins Stocken. »Lass uns doch mal einen Blick in den Kalender werfen, wann es klappen könnte«, sagt Janna. »Hast du in den nächsten Wochen viel Zeit verplant?«
»Nein. Du?«
Janna starrt ins Leere. »Außer der Arbeit liegt bei mir nichts an, zumindest nicht bis Weihnachten.«
»Vergiss deine Work-Life-Balance nicht, sonst ergeht es dir wie mir«, sagt die Freundin. Katarzyna hatte ein paar Jahre zuvor einen Burn-out erlitten, glücklicherweise hatte sie genug Geld auf der hohen Kante und konnte sich danach erst einmal eine Auszeit nehmen. Lange Zeit hatte sie allein in ihrem großen Haus gelebt, programmiert und einsam am PC gehockt, bis sie vor etwa einem Jahr jemanden kennengelernt hatte, mit dem sie nun zusammenlebt. Katarzyna fährt fort: »Ich kann zu dir nach Hudiksvall kommen, oder du besuchst mich hier. Die Renovierungsarbeiten an meinem Haus sind demnächst fertig. Im Herbst ist es im Schärengarten sowieso am schönsten.«
»Sehr gern. Dann meld dich doch noch mal und schlag mir ein Datum vor.«
Janna beendet das Gespräch und denkt enttäuscht, genau das sagt man immer so, und dann vergeht die Zeit, und aus dem Besuch wird nie etwas.
Jazz winselt und wedelt mit dem Schwanz.
»Hast du Hunger, Süße?«, sagt Janna, geht in den Flur und öffnet einen Einbauschrank, schiebt den Staubsauger und einen zylinderförmigen Behälter zur Seite und greift zu der Packung mit Trockenfutter.
Geräuschvoll prasselt das Futter in den Fressnapf. Jazz sitzt mucksmäuschenstill da und wartet darauf, dass Janna sie ansieht. Erst dann geht sie zum Futternapf, um den Inhalt innerhalb von dreißig Sekunden zu vertilgen. Janna stellt das Hundefutter wieder an seinen Platz, und während sie noch auf den Behälter starrt, versucht sie, ihre Gefühle, die das Gespräch mit Katarzyna hervorgerufen hat, zu sortieren. Sie hofft inständig, dass es mit einem Treffen klappt.
Jetzt ist es Zeit, sich auf den Weg zur Arbeit zu machen, und Jazz begleitet sie in den Flur. Sie streichelt dem Hund über die Stirn. »Wir zwei sind das Einzige, was zählt.« Jazz sieht sie mit Hundeblick an, bewegt den Kopf keinen Millimeter. Als wollte sie sagen: Dich lasse ich nie im Stich.
***
Es ist halb zehn vormittags, und Kriminalkommissar Carl Linderoth hat Rokka und die Kollegen zu einer Besprechung in den Konferenzsaal der Polizeiwache gebeten.
Rokka lehnt sich zurück und checkt, dass der Hosenschlitz seiner Jeans auch ganz geschlossen ist. Wie oft hat er gestern Abend mit Elina geschlafen? Und heute Nacht? Es war jedenfalls hart an der Grenze. Er muss sich ein Lächeln verkneifen. Ihr Vorschlag, nicht bis zum Äußersten zu gehen, hat nicht so wirklich funktioniert. Klar, die Vorstellung war schon erregend. Aber wie sollte das in der Praxis gelingen?
»Hallo«, sagt Janna und zieht den Stuhl neben ihm vom Tisch. Rokka reckt und streckt sich. In dem Moment fällt ihm ihre Nachricht ein, die sie gestern spät abends geschrieben hatte – und auf die er gar nicht geantwortet hat.
»Ich hab deine Nachricht gestern gesehen«, flüstert Rokka Janna zu, ohne sie dabei anzuschauen. »Aber ich … bin eingeschlafen. War was Besonderes?«
»Ja«, sagt sie und nimmt Platz. »Jazz und ich sind gestern Abend überfallen worden. Ich wollte das einfach … wem erzählen. Aber jetzt geht’s mir schon besser.«
Rokka starrt ihr in die braunen Augen. Die so etwas traurig Geheimnisvolles und Unbekanntes haben, das er schon immer gern ergründet hätte. »Überfallen?« Sein Mund wird trocken. »Wie die anderen Frauen?« Er bemerkt, dass Almén und ein paar andere Kollegen den Saal betreten.
Janna nickt und schlägt die Augen nieder. »Wir haben auch Schnittverletzungen.« Sie streicht das Haar zurück und zeigt ihm das breite Pflaster seitlich an ihrem Hals. »Sieht aber schlimmer aus, als es ist.«
»Aber fuck, wie krass, Janna!« Das schlechte Gewissen versetzt ihm einen Stich.
»Jazz hat mich gerettet. Almén und ein paar andere Beamte haben einen der Täter gekriegt. Der andere konnte mit dem Moped flüchten.«
Carl Linderoth räuspert sich. »Ja, wir können froh sein, dass Janna heute hier wieder mit uns am Tisch sitzt. Kaum auszudenken, dass die Täter dieselben sein könnten wie in den anderen beiden Fällen.« Er heftet zwei Fotos ans Whiteboard. Eine dunkelhaarige Frau mit Sommersprossen, die andere mit kurzem, fast schwarzem Haar.
»Die Medien sind auch schon drauf angesprungen«, sagt Almén und hält sein Handy hoch, auf dem Display den Aufmacher der Hudiksvalls Tidning. »Polizistin ist drittes Opfer.«
»Haben die anderen einen Migrationshintergrund?«, fragt Janna.
»Diese Frau ist Halbitalienerin«, sagt er und zeigt dabei auf die Frau mit den Sommersprossen, »die andere hat schwedische Eltern. Aber wenn man nach dem Aussehen geht, könnte sie natürlich auch für eine Ausländerin gehalten werden.«
Rokka fängt Jannas Blick auf und bringt nur mit Mühe einen Satz heraus. »Mit was für Schweinen haben wir es da zu tun?«
»Der Typ, den wir festnehmen konnten, heißt Hugo Larsson«, sagt Almén. »Erst wollte er mit seinem Namen nicht rausrücken, nicht einmal, als wir ihm für die DNA-Probe das Baumwollstäbchen in den Mund geschoben haben. Aber als ich ihn gefragt habe, ob ihn jemand vermissen wird, wenn er ein Jahr lang nicht nach Hause kommt, hat er sich dazu durchringen können, uns seinen Namen zu nennen, dann konnten wir seiner Mutter Bescheid geben.«
»Kennen wir ihn?«
»Wir haben ihn im Register. Hat hier und da was mitgehen lassen, vereinzelt auch Ladendiebstähle. Drogenbesitz. Siebzehn Jahre alt. Bei der Mama am Mariboplatz gemeldet. In Malmö geboren.«
»DNS?«
»Wir haben seine DNS mit den Proben von den zwei Frauen, die überfallen wurden, abgeglichen, konnten aber keine Übereinstimmung finden.«
»Haben die anderen Frauen Hunde?«, fragt Rokka.
»Die eine hat einen Labrador, die andere hatte bis vor einem Jahr einen Hund.«
Rokka muss an den Mann denken, der ihm vor der Sportsbar aufgefallen war. »Die anderen Frauen sind aber von einem maskierten Einzeltäter überfallen worden, stimmt’s?«
Carl Linderoth nickt. »Natürlich kann Hugo auch im Gebüsch gestanden und seinem Kumpel zugeschaut haben. Ich hab schon kränkere Dinge erlebt.«
»Um welche Uhrzeit hat sich der Überfall ereignet?«
»Gestern Abend, kurz nach elf.«
Rokka schluckt. Als er mit Elina zusammen war.
Janna streicht sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Der andere Typ kam mir auch recht jung vor, ich habe seine Stimme gehört. Und so wie es klang, kommt er hier aus der Gegend.«
»Okay«, sagt Rokka. »Und wie hat er ausgesehen?«
»Groß, fast eins neunzig, breite Schultern, athletisch in seinen Bewegungen, verhältnismäßig große Füße, schwarze Kleidung, an den Ärmeln weiße Streifen.«
Scharf beobachtet von einer erstklassigen Polizistin, denkt Rokka und räuspert sich. »Ich habe gestern kurz vor elf einen dunkel gekleideten Typen gesehen, wie er in Richtung Lillfjärden lief. Könnte der gewesen sein.«
Janna starrt ihn an. »Wo warst du denn?«
»In der Sportsbar.« Rokkas Mund wird trocken. »Und was … sagt der Typ, den ihr gefasst habt?«
Almén schüttelt den Kopf. »Den Hundebiss konnte er kaum verleugnen, also hat er gestanden. Aber er behauptet, er sei allein gewesen. Dass der Typ mit dem Moped mit dem Überfall nichts zu tun hat.«
»Janna hat doch den anderen, der den Hund verletzt hat, gesehen?«
»Es war offensichtlich, dass er beschlossen hatte, nichts auszusagen, deshalb habe ich zu dem Zeitpunkt nicht weiter nachgefasst«, sagt Almén. »Ich dachte, das macht vielleicht einer von euch.«
»Der Kerl hat einem Pflichtverteidiger zugestimmt«, sagt Carl und lässt den Blick über Rokka und Janna wandern.
»Ich will ihn vernehmen«, sagt Rokka.
Carl verschränkt die Arme. »Kriegst du das auch hin?«
»Ob ich das hinkriege?!«
»Entschuldige, das war ein bisschen unglücklich formuliert. Keine Frage, dass du das hinkriegst.«
»Und was meinst du dann?«
»Ich meine die Tatsache, dass es hier um deine Kollegin geht …« Er blickt zu Janna. »Und da frage ich mich … ob du einen kühlen Kopf bewahren kannst.«
***
Der Schmerz an den Rippen von den Tritten lässt keine Sekunde nach. Cilia Gonzales beugt sich auf dem Sofa nach vorn. Eigentlich bin ich zum Arbeiten hergekommen, denkt sie, doch wenn es so weitergeht, bin ich bald tot.
Ein Motor heult auf, und sie wankt zum Fenster. Robin zieht den Helm fest und steigt auf. Auf dem großen Motorrad wirkt Robin so lächerlich klein. Cilia starrt auf das dunkle Visier, hinter dem sich die bösen grünen Augen verbergen. Der Hass kommt wieder hoch. Wie gut, dass sie kein Desinfektionsmittel mehr im Haus haben, das bedeutet für sie mindestens zwei Stunden Freiheit. Sie lauscht dem Geräusch, das immer leiser wird, als die Maschine über den Kiesweg verschwindet.
Wie so oft, wenn Robin das Haus verlässt, bleibt sie am Fenster stehen. Ihr Blick fällt auf den USB-Stick auf dem Fensterbrett. Seit sie hierhergekommen ist, hat sie seinen Inhalt schon mehrmals gesichtet. Deshalb hat sie auch diese Albträume. Am liebsten würde sie den Stick verbrennen. Sie ist längst bereit, mit ihrem Auftrag loszulegen, doch Robin sagt, es seien noch einige Vorbereitungen zu treffen. Sie will gar nicht wissen, welche.
In der Fensterscheibe sieht sie ihr Spiegelbild, und wie immer versetzt es ihr einen Stich, als sie sich betrachtet. Hexennase, Hexennase! Sie hat die Stimmen aus der Grundschule noch im Ohr, als sei kein Tag vergangen. Und automatisch wandert ihr Blick weiter zu ihrem fliehenden Kinn. Ich kann auf wichtigere Dinge als mein Aussehen stolz sein, denkt sie. Aber da kommt ihr der Gedanke, dass sie genau aus dem Grund hier gelandet ist.
Dann richtet sie ihren Blick auf das alte Plumpsklo, das auf der anderen Seite vom Hof steht. So was hat sie hier zum ersten Mal im Leben gesehen. Neben dem Klohäuschen steht noch ein weiteres kleines Holzhaus. Es ist rot angestrichen und hat weiß gestrichene Eckpfosten und Fensterrahmen, und es erinnert sie an das Bilderbuch, aus dem ihre Mutter ihr vorgelesen hat, als sie klein war. Ihr fällt die Geschichte von dem kleinen Jungen wieder ein, der im Schuppen eingesperrt wurde, wenn er Unfug gemacht hatte. Dabei hatte ihre Mutter ihr erzählt, dass es diese roten Holzhäuschen in Schweden tatsächlich gebe, in einem Land weit, weit weg.
Das ist so ein Land, von dem wir nur träumen können, Cilia.
Sie schluchzt auf. Ihr jüngerer Bruder war an Kinderlähmung erkrankt, als er klein war, und seitdem ist sein Bein gelähmt. Als er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, las sie ihm immer die Geschichte von dem schwedischen Lausejungen vor, und dann träumten sie gemeinsam – träumten von solch einem Land.
Welches Datum wohl heute ist? Wenn sie nicht alles täuscht, müsste sie in genau einer Woche neunundzwanzig werden. Meine Familie, denkt sie, während sie den Kreuzanhänger ihrer Kette fest umklammert. Ihre Mutter, die mitten in der Nacht Kuchen gebacken hat, weil er am Geburtstag so frisch wie möglich sein sollte. Ihr Vater, der ihr voller Stolz selbst gemachte Geschenke überreichte. Zu ihrem zehnten Geburtstag hatte sie sich ein Mikroskop gewünscht. Er baute ihr eins aus ein paar Holzresten und einem alten zerkratzten Vergrößerungsglas. Wie hat sie das geliebt!
Was würden ihre Eltern sagen, wenn sie sie hier sehen könnten? Sie sind so stolz auf sie gewesen, dass sie so fleißig war und so begabt.
Als sie dreizehn war, erzählte sie ihnen nach und nach von ihren hochtrabenden Plänen, sie wollte nämlich an der Columbia University in New York studieren. Welche Angst hatte sie gehabt, dass sie das nur als Flausen im Kopf abtun würden. Aber ihr Vater und die übrige Familie schufteten jahrelang, kratzten alles Geld zusammen und konnten schließlich die Studiengebühren aufbringen. Wir glauben an dich, Cilia, sagte ihr Vater feierlich, als er ihr den Kontoauszug hinhielt.
Nach drei langen Jahren in den USA fuhr sie zum ersten Mal wieder nach Hause zu Besuch. Voller Stolz konnte sie berichten, dass sie zu den besten Studentinnen gehörte und deswegen ein großartig dotiertes Forschungsstipendium erhalten habe.
Die gesamte Familie feierte das tagelang, mit Musik, duftenden Eintöpfen und Chicha morada, dem peruanischen Nationalgetränk. Cilia stand eine glänzende Zukunft bevor, eine Zukunft mit einem richtig guten Job und viel Geld.
Plötzlich wird sie von einem Motorengeräusch aus ihren Tagträumen gerissen. Jetzt schon, denkt sie entsetzt. Erst steht sie unter Hochspannung, doch als das Geräusch lauter wird, erkennt sie einen stotternden, eher schrillen Ton, und das beruhigt sie. Das ist nicht Robin. Der Motor heult noch ein paarmal auf, dann verklingt er wieder, schließlich ist er weg. Ihr Herz schlägt nun wieder in gemäßigtem Takt. Sie muss an Robin denken. Robin mit den ganz großen Ideen. Sie haben sich an der Universität in den USA nach einem Gastvortrag über den Einfluss der Globalisierung auf die Weltbevölkerung kennengelernt, damals hatte sie schon einen Großteil des Studiums hinter sich.