Der gekränkte Mann - Tobias Haberl - E-Book
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Der gekränkte Mann E-Book

Tobias Haberl

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Beschreibung

Männer sind die Geisterfahrer der modernen Gesellschaft: Der Feminismus stellt sie als Mängelwesen dar – »toxische Männlichkeit« ist zu einem Kampfbegriff geworden. Und die vermeintlichen Übeltäter? Passen sich geschmeidig an oder aber: fühlen sich überrollt von einer Logik, die ihre männliche Identität als zerstörerisch brandmarkt. Wie fühlt sich diese Kränkung an, wenn man weder ein Vorzeigefeminist noch ein Typ von gestern ist? Warum ist es gar nicht so einfach, einen Kulturwandel anzunehmen, der alles, was einem in der Jugend als erstrebenswert verkauft worden ist, als peinlich, fragwürdig oder unmoralisch entwertet? Und wie kann man heute überzeugend Mann sein – offen und empathisch, aber nicht dressiert und glattgeschliffen?

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Für Olaf

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Motto

Vorwort

Mein Leben als Mann

Böse Männer

Clowns und Helden

No country for old men

Andere Männer, andere Sitten

Kleine Schritte

Haben oder Sein

Star Wars

Der neue Mann?

Dank

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

»Aber ich kann Grausamkeit gegen Männer nicht ertragen.Männer können sich nicht wehren.«

Martin Mosebach, Krass

Vorwort

Ich erinnere mich genau an den Moment, in dem ich beschloss, dieses Buch zu schreiben: Es war Oktober, draußen regnete es, ich nahm lächerlicherweise ein Honigschaumbad und blätterte im Spiegel, als ich in einem Interview mit Alice Schwarzer folgenden Satz las: »Rechtsradikale und Islamisten sind im Grunde gleich toxisch, es geht um den gekränkten Mann.«[1] Ich hielt inne, wurde nachdenklich, irgendwann ließ ich das Magazin über den Badewannenrand gleiten und verfiel in langes Grübeln: Der gekränkte Mann – irgendwas lösten diese drei Worte in mir aus.

Ich fühlte mich nicht gemeint, nicht direkt jedenfalls, schließlich bin ich weder rechtsradikal noch ein Islamist. Trotzdem spürte ich, dass in dem Satz eine tiefe Wahrheit steckt, weil sich vieles, was in unserer Gesellschaft gerade beschwerlich oder bedrohlich ist, damit erklären lässt, dass sich unsere Vorstellung von Männlichkeit gewandelt hat, ja dass Männlichkeit an sich immer öfter attackiert und verurteilt wird.

Ich bin sechsundvierzig. Kein alter Mann, aber auch kein junger mehr, der seine Jeans nach oben krempelt, damit man seine nackten Knöchel sehen kann. In den letzten Jahren stand man als mittelalter weißer Mann ganz schön unter Druck. Gerade hatte man sich damit abgefunden, dass einem Haare nur noch an Körperstellen wachsen, an denen gar keine sein sollten, schon musste man sich anhören, wie fragwürdig und toxisch man ist, im Grunde ein Auslaufmodell, ein Zivili-sationsirrtum, verantwortlich für jede Menge Unheil auf der Welt, denn ohne die Vorherrschaft der alten weißen Männer, das hört man ständig, wäre die Welt eine bessere, dann wären nicht Geld, Macht und Ichsucht unser Antrieb, sondern Empathie und Solidarität. Zu Beginn der Finanzkrise veröffentlichte das Süddeutsche Zeitung Magazin das Foto eines gewaltigen Büroturms, dazu die Überschrift: »Hochmut kommt vor dem Phall – Die Wirtschaftskrise ist vor allem eine Krise der Männer«, und dahinter in Klammern: »Im Ernst: Wäre Frauen der ganze Mist passiert?«

Okay, ich muss mich korrigieren, vielleicht bin ich doch gekränkt. Nicht so, dass ich weinen muss, aber immerhin arbeite ich an einem Buch, obwohl draußen der Sommer kommt. Vielleicht bin ich auch gar nicht selbst, sondern stellvertretend für andere Männer gekränkt, deren Lebensleistung ich kenne, die ich respektiere, bewundere oder liebe, zum Beispiel meinen Vater.

Auch ich finde, dass es jetzt mal reicht mit der Alleinherrschaft der weißen Männer, gleichzeitig geht mir die Aggressivität (und manchmal auch Heuchelei) der Gender-Debatte ziemlich auf die Nerven. Einerseits ist die Gleichstellung noch lange nicht erreicht, andererseits beobachte ich, wie ein teils dogmatischer Feminismus verunsicherte Männer nicht nur nicht überzeugt, sondern verschreckt, indem er sie als Mängelwesen diffamiert, die hoffentlich bald tot sind. Rational erkenne ich die Notwendigkeit einer Neuordnung, emotional kann ich mich nur schwer vom Bild des traditionellen und ja, wahrscheinlich auch fragwürdigen Mannes lösen.

Im Moment geht es vielen Männern so. Woher ich das weiß? Sie erzählen es mir. Die einen offen, die anderen hinter vorgehaltener Hand, im Flüsterton oder per E-Mail. Typen, die morgens mit der Lunchbox ins Büro radeln und abends Netflix schauen, Männer, die mit Helmut Kohl und der Schwarzwaldklinik, aber ohne Instagram aufgewachsen, die weltoffen und selbstkritisch sind, sich aber schon fragen, warum sie auf einmal »gebärender Elternteil« sagen sollen, wenn sie »Mutter« meinen.

Der Männlichkeit ist die Selbstverständlichkeit abhandengekommen. Das ist gut, weil sich gesellschaftliche Normen verschoben haben, das ist aber auch heikel, weil Millionen gekränkter Männer ein politisches Problem sind. Im Moment inszenieren sich die einen als Vorzeigefeministen, während sich andere resigniert durch die Kommentarspalten im Internet hassen. Ich kann mich mit keinem der beiden Lager identifizieren, weil ich Männer, die sich ihre Artigkeit wie eine Medaille um den Hals hängen, zu geschmeidig und Männer, die Feministinnen für »schlecht gefickt« halten, indiskutabel finde.

Ich bin irgendwas dazwischen: für gleiche Chancen, gleiche Rechte, gleiches Einkommen, aber gegen Gendersternchen, für mehr Frauen in Führungspositionen, aber gegen die reflexhafte Skandalisierung jedes nicht hundertprozentig besenreinen Satzes. Ich finde Sophie Passmann gut, aber Harald Martenstein auch, bewundere die Tennisspielerin Naomi Osaka, finde aber Frauenfußball langweilig, verehre die Schriftstellerin Sally Rooney und lese doch meistens Romane von weißen Männern, weil ich mich irgendwie mehr gemeint fühle. Es gibt Feministinnen, mit denen bin ich befreundet, andere respektiere ich, wieder andere empfinde ich als Zumutung. Ich bin fasziniert von Menschen, die weder Mann noch Frau sein können oder wollen, hänge aber an der Idee der traditionellen Familie, freue mich jetzt schon auf meine Elternzeit und spüre doch einen Stich, wenn ich Männer mit gepunkteten Socken sehe, die mit stillenden Müttern im Café »Schneewittchen« über Kitagebühren plaudern. Es ist tatsächlich so, dass ich im Bayerischen Wald, wo ich aufgewachsen bin, als fortschrittlich und in München, wo ich wohne, als konservativ wahrgenommen werde. Die einen sagen: Man merkt, dass du in der Stadt lebst. Die anderen: Man merkt, dass du vom Land kommst.

Es geht in diesem Buch um die Sehnsucht nach einer Männlichkeit, die sich nicht verleugnet, aber auch nicht anbiedert, denn natürlich möchte ich kein Typ von gestern, aber halt auch nicht dressiert und totalangepasst, nicht immer nur zeitgemäß und glatt geschliffen sein. Im Moment bin ich auf der Suche, weil die Idee von Männlichkeit, die mich ein Leben lang begleitet hat, nicht mehr gilt. Weil vieles, was früher okay war, problematisch und vieles, was lässig war, lächerlich geworden ist. Weil ich aufpassen muss, wie ich mich hinsetze (nicht zu breitbeinig!), wie ich spreche (geschlechtergerecht!), wie ich Witze mache (diskriminierungsfrei!), weil ich also erkannt habe, dass ich mich mit Mitte vierzig noch mal grundsätzlich hinterfragen muss.

Ich habe Freunden von diesem Buch erzählt. Einer hielt mich für lebensmüde, ein anderer für masochistisch. In den Tagen danach hatte ich ernste Motivationsprobleme. Irgendwann habe ich mich selbst gefragt, warum ich eigentlich für Männer in den Ring steige, von denen ich die meisten selbst peinlich finde, und warum ich mir das alles antue: böse E-Mails, fiese Shitstorms, geschockte Kollegen, enttäuschte Cousinen. Ich bin nämlich gar kein Alphamann, im Gegenteil: Ich finde Macht so langweilig wie Promi Big Brother, rede fast nur über Gefühle und fange nach den ersten Takten von Schuberts Winterreise zu heulen an. Am Ende habe ich nur eine Antwort gefunden: Bevor Björn Höcke oder Jan Böhmermann auf die Idee kommen, sich Gedanken über Männlichkeit zu machen, mache ich es lieber selbst, weil die Sache an den politischen Rändern ja klar ist: Der eine will den starken Mann zurück, dem anderen kann es nicht gendersensibel genug sein. Interessant aber ist es dazwischen, wo es widersprüchlich wird und sich meistens auch die Wahrheit versteckt.

Ich weiß, dass ich den Zeitgeist eher nicht auf meiner Seite habe: Bücher, die traditionelle Männlichkeit nicht nur verteufeln, stehen in der Buchhandlung irgendwo zwischen Kollegah und Thilo Sarrazin. Die Gefahr, dass ich in eine finstere Ecke geschoben werde, ist groß, ziemlich sicher werden mich einige absichtlich falsch verstehen. Außerdem hat man, wenn man sich in der Geschlechterdebatte auf keine Seite schlägt, am Ende meistens alle gegen sich. Aber wie sagte schon Stefan Zweig: »Jede Widerstandsgeste ohne Risiko ist nichts als Geltungssucht.«

Es gibt Menschen, die jeden Trend mitmachen, weil sie das Neue grundsätzlich interessanter als das Alte finden. Mich hat immer nur das Wahrhaftige interessiert, egal, ob es alt oder neu ist. Und wenn ich ehrlich bin, denke ich seit Jahren darüber nach, welche der vom Zeitgeist geforderten Verhaltens- und Sprachrevisionen nur sinnvoll erscheinen, weil sie neu sind, und welche, weil sie unsere Gesellschaft tatsächlich gerechter machen. Was ist gut, und was klingt nur gut – auf Twitter und in Talkshows? Was ist aufrichtig, was Effekthascherei? Was Ethik, was Heuchelei?

Ich bin seit Jahren elektrisiert von der Gender- und Identitätsdebatte, fühle mich mal zu Recht, mal zu Unrecht angeklagt, manchmal denke ich so lange über einen einzigen Tweet nach, dass am Ende der Abend vorüber ist und ich mich frage, ob das noch verhältnismäßig sein kann, weil es in Europa doch Frauen und Männern ziemlich gut geht. Viele Vorwürfe gegen traditionelle Männlichkeit teile ich, andere finde ich überzogen, über manche zerbreche ich mir seit Jahren den Kopf, und dann gibt es rote Linien, die ich nicht überschreite, weil ich mich nicht selbst verraten möchte, als Mann nicht und als Mensch auch nicht. Leider wird die Debatte von vielen Selbstdarstellern geführt, die in einer Eskalationssymbiose aneinandergekettet sind. Die einen schreien: »Männer sind dominant und gewalttätig!« Die anderen schreien zurück: »Feministinnen sind hysterisch und sehen scheiße aus!« Was passiert, wenn sie sich gegenseitig niederbrüllen, um anschließend ihre Likes zu zählen, kann man jeden Tag auf Twitter verfolgen.

Ich schäme mich, wenn Männer Frauen abwerten oder belästigen. Ich schäme mich, wenn Männer im Internet erläutern, wie man eine Frau vergewaltigt, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden. Ich schäme mich, wenn bild.de schreibt, der Sexualstraftäter Harvey Weinstein sei irgendwie »auch eine geniale Sau« gewesen. Ich schäme mich, wenn Männer verzweifelte Rückzugsgefechte führen, um längst verlorenes Terrain zurückzuerobern, weil sie nicht begreifen, dass alles, wirklich alles eines Tages vorübergeht, auch ihre tief empfundene Überzeugung von der Vormachtstellung des weißen Mannes.

Und dann gibt es Momente, in denen ich trotzig und manchmal sauer werde: Wenn jemand pauschal Stimmung gegen Männer macht, um ein paar Follower abzugreifen. Wenn die FDP-Politikerin Cornelia Pieper mal eben die These aufstellt, dass Männer von der Evolution und dem weiblichen Geschlecht überholt worden seien. Wenn mir mal wieder ein ideologischer Shitstorm ins Gesicht bläst, der mich nur als privilegierten weißen Mann und nicht als Mensch wahrnimmt. Es gibt Momente, in denen fühle ich mich so falsch verstanden, dass ich am liebsten schreien würde. Und dann fällt mir wieder ein, was Margarete Stokowski mal geschrieben hat, nämlich dass der Feminismus zu weit gehen müsse, wenn er die bestehenden Verhältnisse überwinden wolle, dass ein Feminismus, der nicht übertreibe, kein Feminismus sei. Was, wenn sie recht hat? Wenn eine Revolution absurde Züge annehmen muss, damit die Verhältnisse sich um zwei Zentimeter verschieben?

Als weißer Mann wird man heute grundsätzlich infrage gestellt: Könnte James Bond nicht von einer Frau gespielt werden? Muss der Papst wirklich ein Mann sein? Und das Jesuskind in der Krippe ein Junge, wo es doch vor allem darum gehe, dass Gott Mensch und nicht Mann geworden sei? Inzwischen wird sogar darüber nachgedacht, ob das Maskottchen des 1. FC Köln, der Geißbock Hennes, nach zweiundsiebzig Jahren durch eine Ziege ersetzt werden könnte. Einen Tag vor der Wahl des neuen CDU-Vorsitzenden titelte die Süddeutsche Zeitung: »Es wird ein Mann«, um deutlich zu machen, was es definitiv nicht wird, nämlich eine Frau. Dass Männer rundherum toll sind, finden eigentlich nur noch Gangsta-Rapper, Wladimir Putin und Zlatan Ibrahimović, der auf die Frage, warum er seiner Frau nichts zum Geburtstag geschenkt habe, meinte: »Sie hat doch schon Zlatan.«

In deutschen Vorständen sitzen weniger Frauen als Männer, die Michael oder Thomas heißen. Keine einzige deutsche Universität ist nach einer Frau benannt. Fast jeder Aspekt unseres Lebens, von der Höhe unserer Kleiderschränke bis zu den Dummys, mit denen Autofirmen die Sicherheit neuer Modelle testen, orientiert sich an männlichen Merkmalen. Mir ist schon klar, dass ich in dieser Angelegenheit auf keinen Fall das Opfer bin und dass Männerfeindlichkeit – wie die französische Feministin Pauline Harmange schreibt – Stand heute zu »null Toten und null Verletzten« geführt hat.[2] Aber erstens gibt es schon so viele gute Bücher über Feminismus und so wenige über Männer, und zweitens fühlt sich irgendwas falsch an, wenn man eigentlich beim Gegensteuern mithelfen will, aber permanent ausgebremst wird, weil man nicht jede Volte mitmachen will, die einem vom Zeitgeist aufgedrängt wird.

Vor drei Jahren habe ich ein Porträt über die Feministin Margarete Stokowski geschrieben, das nicht nur wohlwollend war. Danach habe ich mich drei Tage lang nicht auf die Straße getraut, aus Angst, vermummte Soziologiestudentinnen könnten mich mit einem handbedruckten Jutebeutel erwürgen. Auch darum geht es in diesem Buch: um den reflexhaften Vernichtungswillen einiger Twitter-Brigadisten, die tief empfinden und wenig argumentieren.

Ich möchte die problematischen Aspekte von Männlichkeit nicht bagatellisieren: die Gewalt, den Missbrauch, die Skrupellosigkeit, die Rechten und die Incels, die starke Frauen dafür verantwortlich machen, dass sie keinen Sex und auch sonst nichts auf die Reihe kriegen. Frauen, Homosexuelle und Transmenschen werden definitiv stärker diskriminiert als heterosexuelle weiße Männer. Ehrlich gesagt bin ich bei der Recherche für dieses Buch auf derart schockierende Statistiken gestoßen, dass ich mich mehr als einmal gefragt habe, ob es vielleicht kein Wagnis, sondern eine Dummheit ist. Ich bin dann mit jeder weiteren Seite vorsichtiger geworden, aus einem Plädoyer für wurde eine tastende Suche nach Männlichkeit.

Natürlich sind Männer seit Jahrhunderten für Gewalt und Profitgier verantwortlich. Auf der anderen Seite hatten die meisten Frauen nicht die Möglichkeit, andere Menschen zu unterdrücken oder zu enteignen. Im Moment ist es leider so, dass ein paar Äußerlichkeiten genügen, schon ist die Schublade zu und der Schlüssel versteckt: Transmensch? Gut. Alter weißer Mann? Böse. Junge Frau, die Karriere machen will? Gut. Alter weißer Mann, der noch ein bisschen mitmischen will? Böse. Junger Aktivist, der sich für Berggorillas und die LGBTQ-Community einsetzt? Gut. Alter weißer Mann, der in die Kirche geht? Böse.

Von Montaigne stammt der Satz, dass es doch erlaubt sein müsse, von einem Dieb zu sagen, dass er ein schönes Bein habe. Heute sagen viele: Dieb ist Dieb – und meist ist er ein Mann. Die feministische Schriftstellerin Doris Lessing beklagte schon vor Jahren, dass die Abwertung alles Männlichen so sehr Teil unserer Kultur geworden sei, dass sie kaum noch wahrgenommen werde. Wir hätten uns so lange eingeredet, dass Männer das Problem und Frauen die Lösung seien, dass es sich natürlich anfühle, ja dass wir es tatsächlich glaubten.

Im Moment sind weiße Männer die Geisterfahrer der modernen Gesellschaft, über die alles gesagt werden darf – nur nichts Gutes. Verdächtig ist jeder, der weiß, heterosexuell, über vierzig und mit seiner Identität einigermaßen einverstanden ist. Problematisch wird es, und das ist nur die Shortlist, wenn er Tweedsakkos trägt, Botho Strauß liest, Briefmarken sammelt, in der Provinz lebt, einen Diesel fährt, ZDF schaut, das Gender-Sternchen ablehnt, CDU wählt oder in die Kirche geht, dann nämlich wird er verspottet, und zwar von denselben Menschen, die im Netz für Toleranz und Meinungsfreiheit eintreten.

Die meisten Männer sind weder glühende Feministen noch Frauenfeinde, sondern irgendwas dazwischen. Im Moment sind viele von ihnen verunsichert, weil sie – während andere Identitäten aufbrechen und gefeiert werden – mit fragwürdigen Geschlechtsgenossen in einen Topf geworfen werden, als steckte in jedem Mann ein möglicher Teufel. Viele ältere Männer fühlen sich abgehängt in einer Arbeitswelt, die jünger und weiblicher zu werden versucht, sind irritiert von einer digitalisierten Gegenwart, die sich so rasant verändert, dass sie sich überfordert, bedeutungslos und manchmal wie Rocky Balboa vorkommen, wenn er ein letztes Mal in den Ring steigt, um sich zu beweisen, dass er noch nicht überflüssig ist in einer Welt, die er immer weniger versteht.

Sollte man diese Männer nicht lieber auf eine beschwerliche, aber aufregende Reise einschwören, statt ihnen vor dem Aufbruch ein paar Ziegelsteine in den Rucksack zu schmuggeln? Sollte man ihnen nicht lieber die Hand reichen, statt sie zu verspotten? Sollte man ihnen nicht erklären, dass das Ziel der Reise auch ihnen gefallen könnte, weil sie dort freier und ohne Dauerdruck und Schutzpanzer leben könnten? »Wovon wird einer klüger?«, heißt es in Bertolt Brechts »Lied über die guten Leute«. »Indem er zuhört, und indem man ihm etwas sagt.«

Die Ära des Patriarchats stirbt vor sich hin, unsere Gesellschaft ist transparenter und vielfältiger geworden. Trotzdem gibt es noch jede Menge zu tun. Es wird Jahrzehnte dauern, bis die erkämpften Rechte gelebte Wirklichkeit werden und sämtliche Vorurteile gegen Frauen und Minderheiten aus unseren Köpfen verschwunden sind. Neue Formen von Macht, Verantwortung und Liebe werden entstehen, die wir uns noch gar nicht vorstellen können, auch neue Konflikte und Verteilungskämpfe. Wer weiß, vielleicht ist unsere Geschichte am Ende tatsächlich eine der Verweiblichung, bei der das vermeintlich schwache Geschlecht über das vermeintlich starke triumphiert, wie Annalena Baerbock über Robert Habeck, als sie die erste Kanzlerkandidatin in der Geschichte der Grünen wurde.

Aber noch sind wir nicht so weit. Noch stecken wir in einem anstrengenden Kulturkampf, der mit Verletzungen auf beiden Seiten einhergeht. Ich glaube nicht, dass wir uns als Gesellschaft weiterentwickeln, wenn wir ältere weiße Männer grundsätzlich als Mängelwesen demontieren. Man kann viel kaputt machen, wenn man für eine gute Sache ohne Empathie und Rücksicht auf Verluste kämpft. Vielmehr sollten wir den Wettbewerb im Schuldzuweisen hinter uns lassen, weil er uns in eine totalitäre Welt fragwürdiger Reinheitsfantasien führt, in der wir seelenlos aneinander vorbeileben, und eben nicht in eine ausbalancierte Gesellschaft, die mit sich selbst Frieden geschlossen hat. Deshalb plädiert dieses Buch für einen gemeinsamen Aufbruch in eine Welt, die wir noch nicht kennen. Für Verständnis und Geduld mit Männern, die sich schwertun mit einer Welt, die ganz anders ist als die, die sie jahrzehntelang kannten, deren Gewiss- und Gewohnheiten von den emanzipatorischen Errungenschaften der letzten Jahre erschüttert wurden. Als Verlierer der neuen Gesellschaftsordnung gehen sie einer unsicheren Zukunft entgegen. Sie brauchen keine Häme, sondern Verständnis, weil es nun mal dauert, um sich von erlernten Konventionen zu lösen, selbst wenn man sie als falsch durchschaut hat.

Als Mann hat man heute drei Möglichkeiten: Man kann resignieren, aggressiv oder nachdenklich werden. Ich habe mich fürs Nachdenken entschieden. Und deshalb ist dieses Buch beides: eine selbstkritische Innenschau, aber auch eine Verteidigungsschrift, weil ich einen souveränen Feminismus unterstütze, aber nicht jeden seiner parodistischen Auswüchse, weil Männer nicht automatisch Täter, sondern meistens Opfer anderer Männer sind, und weil ich glaube, dass viele Männer die Zeichen der Zeit erkannt, aber Schwierigkeiten mit der Umsetzung haben. Rational haben sie verstanden, emotional fallen sie in alte Rollen und Muster und Selbstmitleid. Ich jedenfalls dachte schon oft: »Okay, Botschaft verstanden, aber wenn ihr mich im Boot haben wollt, dann reicht es jetzt auch wieder.« Und danach? Wurde es schlimmer.

Ich habe mal eine Psychoanalyse gemacht, vier Jahre lang, zwei Stunden pro Woche. Seitdem schaffe ich es nicht mehr, mich selbst zu belügen. Das macht mein Leben nicht leichter, glücklich werde ich schon gar nicht. Aber für dieses Buch war es hilfreich, weil ich die Erkenntnis, dass eine Ära zu Ende geht und eine neue beginnt, nicht panisch wegdrücken muss. Ich weiß, dass ich mich umstellen, auf Dinge verzichten und andere neu lernen muss, und ja, das ist oft anstrengend, aber auch interessant und manchmal sogar aufregend. Ich freue mich auf die neue Welt der Vielfalt, und trotzdem frage ich mich, ob manche Männer nur gekränkt sind, weil sie Macht abgeben müssen, oder ob das Pendel der Geschichte vielleicht zu heftig die Richtung gewechselt hat und Männerfeindlichkeit zu einer Art Mode geworden ist, auf die sich gerade erschreckend viele einigen können.

Wer über gekränkte Männer schreibt, kann vom Feminismus nicht schweigen. Trotzdem ist dieses Buch keine Auseinandersetzung mit Judith Butler oder Simone de Beauvoir. Alice Schwarzer und Sophie Passmann kommen vor, aber nur am Rande, auch akademische Studien haben mich nicht übermäßig interessiert. Ich weiß nicht, ob Männer und Frauen von Natur aus verschieden sind oder nur unterschiedlich erzogen werden. Ich habe keine Ahnung, ob Frauen weniger Kriege führen würden als Männer, kann es mir aber gut vorstellen. Ich versuche einfach nur zu beschreiben, wie verwirrend es sein kann, wenn das Selbstbild, das man jahrzehntelang von sich aufgebaut hat, mit Wucht auf ein neues Männerbild prallt, von dem man noch nicht so recht überzeugt ist.

Dieses Buch handelt von bösen und unschuldigen, faszinierenden und fragwürdigen Männern. Manche gab oder gibt es wirklich, Robert Habeck, Ernest Hemingway, Thomas Gottschalk, Tommy Lee, Harald Schmidt, Charles Schumann oder den Besitzer der Shishabar in der Münchner Landwehrstraße, andere nur in Romanen, Filmen und Serien wie den Kriminalkommissar Franz Münchinger, besser bekannt als Monaco Franze, oder den New Yorker Taxifahrer Travis Bickle. Manche sind grandios gescheitert, vergessen oder tot, andere sagen »menno«, verschicken Grummel-Smileys und gondeln mit dem Lastenfahrrad durch mein Viertel. Es handelt von Flaneuren und Glücksrittern, die sich verschwenden, und Männern, die sich Gedanken über die perfekte Müslimischung machen. Es handelt von traditioneller und gegenwärtiger Männlichkeit, vom Umgang der Geschlechter miteinander und der reizvollen Spannung zwischen ihnen, von Sprache, Macht, Musik und einem Jungen, der lange nicht gemerkt hat, dass er ausschließlich von Männern geprägt wurde. Es handelt von Versäumnissen, Peinlichkeiten, einem Mini-Shitstorm und dem merkwürdigen Gefühl, wenn man als weißer Mann mit seinem Kaschmirpullover in einer türkischen Teestube rumsteht und sich wie ein Schuljunge vorkommt, dem man das Pausenbrot weggenommen hat.

Bevor es losgeht, habe ich eine Bitte: Dieses Buch handelt von gekränkten Männern. Sie sind mein Thema, ihre Perspektive hat mich interessiert. Das heißt nicht, dass mich die Belange anderer gesellschaftlicher Gruppen nicht beschäftigen. Es heißt auch nicht, dass es Männern schlechter als anderen geht. Ich habe mich für sie entschieden, weil ich ihre Situation am besten nachvollziehen kann. Sie werden auf Reizwörter, provokative Sätze und Tabus, vielleicht auch ganze Passagen stoßen, von denen Sie sich angegriffen fühlen. Ziemlich sicher sind mir Fehler und kränkende Halbsätze unterlaufen, die mir gar nicht bewusst sind. Garantiert bin ich zu wehleidig, polemisch und einseitig. In all diesen Fällen bitte ich Sie, gelassen zu bleiben und nicht jeden Absatz nach einem Skandal zu durchforsten. Es ist nur ein Buch, keine Kriegserklärung, im Gegenteil, eher ein Vermittlungsversuch, zwischen Männern und Frauen und allen, die es sonst noch gibt. Aufrichtigkeit kann wehtun, Aufrichtigkeit kann auch mal danebengehen, ich finde nicht, dass wir deswegen auf sie verzichten sollten.

»Man kann nicht immer ein Held sein, aber man kann immer ein Mann sein«, hat Goethe geschrieben. Was bedeutet das heute, »ein Mann sein«, wenn man nicht wie ein Feldherr durchs Leben laufen, aber auch kein Vorzeigefeminist sein möchte, wenn man sich selbstkritisch beobachtet, aber auch nicht umkrempeln lassen möchte wie ein altes Hemd? Lassen sich Aspekte traditioneller Männlichkeit bewahren, ohne den Gleichstellungskampf von Frauen und Minderheiten zu gefährden? Und wie begreifen wir, dass Frauen nicht die wahreren Menschen und Männer nicht grundsätzlich toxisch sind, sondern auch nur auf der Suche nach ein bisschen Glück und Liebe?

Warum tun sich viele Männer so schwer mit Tofubällchen, E-Rollern und dreißigjährigen Frauen, die mit Turnschuhen bei Anne Will sitzen und Christian Lindner ins Wort fallen? Und ganz wichtig: Von welchen Veränderungen fühlen sie sich zu Recht gekränkt, und welche sollten sie akzeptieren, ja selbst wollen, weil sie auch ihr Leben freier, gesünder und schöner machen könnten?

Männern wird oft der Vorwurf gemacht, dass sie nicht selbstkritisch über ihre Privilegien nachdenken. In diesem Buch mache ich genau das: Ich schaue nach, ob sich in meinem Denken, Sprechen und Handeln Reste autoritärer Männlichkeit verstecken, und wenn ja, wo ihr Ursprung liegen könnte und ob ich sie lieber bearbeiten oder wegwerfen sollte. Ich erinnere mich an meine Jugend, um herauszufinden, warum ich mich mit dem urbanen Zeitgeist oft schwertue und viele Männer zu brav, zu angepasst, irgendwie zu »unmännlich« finde, wenn sie Gurken- und Kohlrabisticks aus einer Tupperdose ziehen. Ich rede mit mir und schreibe mit, durchsuche meine Seele, beichte Fehler, klage an.

Ich bin bereit, meine Männlichkeit unserer Zeit anzupassen, aber nicht gedanken- oder vorbehaltlos. Weil ich manches, was auf dem Prüfstand steht, für schützenswert halte. Und weil ich mit vielem, aber nicht allem einverstanden bin, was gerade von mir gefordert wird. Aber wir können diskutieren und ehrlich zueinander sein. Ich bin sicher, wir finden eine Lösung oder einen Kompromiss. Und wenn mich am Ende des Buches alle Frauen hassen, habe ich etwas falsch gemacht. Wenn sie mich alle lieben, aber auch.

Mein Leben als Mann

»Der Mann steht im Mittelpunkt und somit auch im Wege.«

Pablo Neruda

Der erste Mann, den ich gut finde, ist mein Vater. Er trägt einen weißen Kittel, ein Stethoskop um den Hals und sagt: »Mund auf, Zunge raus und ›Bähhhh‹ sagen!« Ich bin elf, habe Fieber und fühle mich schlapp, aber irgendwie auch glücklich, weil ich nicht zur Schule muss, in meinem Zimmer mit der Dschungelbuch-Tapete liegen bleiben kann und weiß, dass meine Mutter gleich ihren Kopf durch die Tür strecken und mir eine Wärmflasche unter die Decke legen wird.

Mein Vater sieht beeindruckend aus in seinem Kittel, besonders im Sommer, wenn er einen dunkleren Teint hat. Meine Freunde, unsere Nachbarn, seine Patienten, eigentlich alle, die ich kenne, lieben ihn, weil er ein großes Herz hat und sie ihn immer anrufen können, auch nachts um zwei wegen »einem Drücken im Bauch«. Ich bin stolz, dass die Leute Respekt vor ihm haben, dass sie ihn »Herr Doktor« nennen und um Rat fragen, aber das begreife ich damals noch nicht, weil es so selbstverständlich ist. Leider arbeitet er ziemlich viel, achtzig Stunden in der Woche, manchmal mehr, am Wochenende sowieso. Seine Sprechstunde beginnt um sieben Uhr morgens, mittags macht er fünfzehn Minuten Pause, abends dauert es lange, bis er nach Hause kommt, und wenn ich ins Bett gehe, um zehn oder halb elf, setzt er sich noch mal an den Schreibtisch.

Jeden Abend wähle ich die 1 auf unserem Plastiktelefon, die Direktverbindung zur Praxis: »Wie viele Patienten noch?«, frage ich Corinna, Monika oder Renate, die mir immer Gummibärchen zustecken, wenn ich »Forscher« spiele und im Labor eines meiner Haare unter dem Mikroskop begutachte: Einer oder zwei sind okay, oft sind es drei oder vier, aber meine Mutter, meine Schwester und ich warten trotzdem meistens mit dem Essen, weil ein Essen ohne Papa, das ist nicht das Gleiche, das macht weniger Spaß, das ist, als würde man versuchen, ohne Ball Fußball zu spielen. Wenn es losgeht, isst er wahnsinnig schnell, als stünde jemand mit der Stoppuhr neben ihm, dafür ist sein Teller am Ende immer leer. Dann reißt er eine Scheibe Bauernbrot in Fetzen, tunkt sie in den letzten Rest Soße und erklärt, dass man das so mache, wenn man in der Nachkriegszeit aufgewachsen sei. Überhaupt sind die Jahre nach dem Krieg immer wieder Thema: die Kaugummis der Amerikaner, die Elvis-Songs im Radio, die zusammengeflickten Fußbälle, die Nachmittage im Kohlenkeller, die Christmetten, zwei, drei Stunden lang, dann nach Hause durch den tiefen Schnee, in miserablen Schuhen, um im Kreis der Familie die traditionellen »Mitternachtspfälzer« zu essen.

Es gibt Männer, die arbeiten viel und machen sonst, worauf sie Lust haben: mit Kumpels auf die Berghütte fahren, mit Nutten im Whirlpool rumliegen, auf dem Fußballplatz fünf Bier trinken. Mein Vater ist anders: Die paar Stunden, die ihm bleiben, versucht er für seine Familie, also auch für mich, da zu sein. Manchmal gehen wir am Sonntag in die Kirche und danach einen Schweinebraten essen. Manchmal fahren wir ins Münchner Olympiastadion oder in die Uffizien nach Florenz. Manchmal spielen wir Tennis oder sammeln Steinpilze im Wald, in der Dämmerung, morgens um fünf. Manchmal denkt er sich lateinische Sätze aus, lässt sie mich übersetzen und freut sich, dass ich in Latein offenbar genauso gut bin wie er.

Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals ohne uns verreist wäre. Er telefoniert viel, aber immer mit Patienten, fast nie mit Freunden, weil dafür die Zeit nicht reicht. Er ist ein herzlicher Mensch, empathisch, gefühlvoll, ein Idealist, der niemanden vernachlässigen will, seine Familie nicht und seine Patienten auch nicht, ein Perfektionist, der alle glücklich sehen will und sich die Schuld dafür gibt, wenn sie es nicht sind. Seinen Herzkranzgefäßen tut das gar nicht gut, aber das wird er erst ein paar Jahre später herausfinden, wenn sie ihm mit neunundvierzig in der Uniklinik den Brustkorb aufsägen. Noch heute, mit knapp achtzig, schreibt er mir alle vier Wochen einen Brief, obwohl wir sowieso jeden Tag telefonieren. In letzter Zeit entschuldigt er sich dafür, dass die Schrift immer unleserlicher, die Zeilen immer schiefer, die Buchstaben immer schnörkeliger werden, dabei macht mir das gar nichts aus.

Meine Mutter ist schön und scheu. Sie ist neunzehn, als sie meinen Vater kennenlernt, geht auf ein Klosterinternat, danach auf ein Musikkonservatorium, Klavier und Viola da Gamba. Ihr Taschengeld gibt sie für Schallplatten aus, die heute bei mir im Regal stehen: Klavierkonzerte von Brahms, Sinfonien von Mozart, Streichquartette von Schubert. Ein paar Jahre lang gibt sie Klavierunterricht, manchmal lausche ich heimlich, wie sie ihren Schülerinnen und Schülern vorspielt, wie sie verbessert, lobt und tadelt, irgendwann lässt sie es sein. Ich habe sie mal gefragt, ob sie glücklich war, so ohne eigenes Geld, ohne Kollegen und Wertschätzung in einem Beruf. »Aber natürlich«, hat sie gesagt, »ich war immer gern mit euch zusammen«, doch ich glaube, dass sie das am wenigsten beurteilen kann und es sich auch nicht eingestünde, wenn es anders wäre.

Wir leben in einem großen Haus mit einem großen Garten, an den Wänden hängen gerahmte Bilder, in der Garage steht ein senfgelber Mercedes, so groß wie ein kleines Schiff, meine Bauklötze verteile ich auf Orientteppichen. Erst viel später werde ich begreifen, dass nicht jede Mutter ihren Kindern am Dienstagnachmittag Pfefferminztee und selbst gebackenen Käsekuchen serviert. Es dauert lange, bis zum Studium und ersten Reisen, bis mir klar wird, dass ich behütet, privilegiert und konsequent bürgerlich aufgewachsen bin, ja dass meine Kindheit absolut sorglos war und dass das natürlich toll ist, aber nicht nur – weil irgendwas immer zu kurz kommt und das ja gar nicht geht: nichts falsch machen, wenn man Kinder erzieht.

Der Preis meiner Kindheit war, dass ich lange gebraucht habe, bis ich sie abschütteln und, sagen wir mal: eine Steuererklärung ausfüllen oder eine Toilettenschüssel reinigen konnte. Nachdem ich jahrelang wie ein kostbares Stück Porzellan behandelt worden war, hatte ich mich zu einem verhätschelten Träumer entwickelt, ohne Sinn für die Wirklichkeit, auch ohne Talent für alles Handwerkliche oder Bürokratische. Mir wurde alles abgenommen, erleichtert oder erspart, weshalb ich heute regelmäßig Schweißausbrüche kriege, wenn ich auf einem Amt ein Formular ausfüllen oder wegen eines Auffahrunfalls mit einem Versicherungsmenschen telefonieren muss. Eine Szene verfolgt mich bis heute: Wie ich mit sechzehn den dringenden Wunsch verspürte, endlich auch mein eigenes Geld zu verdienen und in den Sommerferien, mehr aus Neugierde als Notwendigkeit, für zwei Wochen auf einer Baustelle anheuerte, wie mir dann der Bauleiter, als er mich in der halb fertigen Wendeltreppe entdeckte, panisch den Pickel aus der Hand riss und mich in den Tagen danach nur noch Holzlatten von einem Eck ins andere und wieder zurück schleppen ließ.

In Philip Roths Roman Mein Leben als Mann erinnert sich der Protagonist, dass sein Vater ihn immer besorgt fragte, ob er auch seine Vitaminkapseln genommen habe, und dass seine Mutter ihm, um herauszufinden, ob er sich erkältet und womöglich Fieber habe, beim Abendessen einen sanften Kuss auf die Stirn gab. Als ich die Passage das erste Mal las, war ich überzeugt, dass Roth heimlich unter unserem Frühstückstisch gesessen und sich Notizen gemacht haben muss, denn auch ich war immer etwas kränklich, und auch meine Eltern waren immer etwas besorgt.

Die Welt meiner Kindheit war nicht perfekt, aber sie kam mir so vor: Es gab keinen Mangel, keine Schwierigkeiten, keine nennenswerten Konflikte, und es hat lange, viel zu lange gedauert, bis ich begriffen hatte, dass die Art, wie wir als Familie zusammenleben, nur eine von vielen ist. Dass alles auch ganz anders sein kann, mit anderen Traditionen und Rollen und Ritualen, ja dass andere Kinder sich selbst Mirácoli kochen mussten, wenn sie von der Schule nach Hause kamen. Bis heute steht in unserem Esszimmer ein gerahmtes Familienporträt: mein Vater im dunklen Anzug mit Krawatte, meine Mutter im hübschen Sommerkleid mit merkwürdiger Frisur, meine Schwester und ich, lächelnd und herausgeputzt – eine Achtzigerjahre-Traumfamilie.

Die Atmosphäre innerhalb meiner Familie ist herzlich, liebevoll und liberal, nie engherzig oder dogmatisch; schon wohlhabend, aber nicht protzig, Bildung ist wichtig, vor allem Herzensbildung, auch die heilige Stabilität der Familie, aber nie, ohne Impulse von außen zuzulassen, nie bis zur Stagnation – die Familie nicht als Käfig, sondern als Fundament, was mich nicht daran hindert, die Etiketten aus meinen Wollpullovern zu schneiden und meine Haare verfilzen zu lassen, um auf Punkkonzerten weniger bürgerlich zu erscheinen, was mir natürlich nie gelungen ist, weil auch ein verwöhnter Junge mit stinkenden Haaren ein verwöhnter Junge bleibt – Alexander Dobrindt blieb ja auch Alexander Dobrindt, als er vor einigen Jahren von einer randlosen Politiker- zu einer Nerdbrille aus Horn umstieg.

Bei Familienfeiern sitzt mein Großvater, dem sie an der Ostfront ins Bein geschossen haben, am Kopf der Tafel. Wenn jemand aufsteht und mit dem Löffel gegen sein Glas schlägt, fällt garantiert ein lateinischer Sinnspruch, denn eines ist in unserer Familie klar: Ohne Latein und Altgriechisch, ohne Seneca und Plato kann man vielleicht existieren, aber das Leben begreifen? Niemals! Sophie Passmann hat mal in einem Interview erzählt, dass ihr Vater ihr als Mädchen aus Büchern von Titanic-Autoren vorgelesen habe, meiner zitiert Homer, die Titanic ist für ihn ein Schiff, das gegen einen Eisberg gefahren ist.

Die Rollen sind streng verteilt: Mein Vater ist das Oberhaupt, das Ruhe und Souveränität ausstrahlt, das Zentrum, in dem sämtliche Stränge zusammenlaufen. Meine Mutter ist sein Gegenstück, temperamentvoll, erratisch, kaum zu entschlüsseln, ein poetischer, ein geheimnisvoller und trotzdem praktischer Mensch, der die Schmutzwäsche nach Farben sortiert. Er trifft die wenigen großen, sie viele kleine Entscheidungen: Er zahlt das Haus, sie richtet es ein. Er bestimmt, wohin die nächste Reise geht, sie packt die Koffer, auch seinen. Im Grunde macht sie alles, wofür er keine Zeit oder wovon er keine Ahnung hat, und da kommt einiges zusammen: Ich habe meinen Vater nie mit einem Kochlöffel, Bügeleisen oder einer Bohrmaschine in der Hand gesehen und werde nie vergessen, wie verdutzt, ja vollkommen überfordert er war, als er mit fünfundsechzig zum ersten Mal seit dreißig Jahren in einem Supermarkt stand, als wäre er jahrzehntelang im Koma gelegen. Bis heute sitzt er bis Mitternacht mit der Fernbedienung auf dem Sofa und klickt sich durch den Videotext, »weil da alles kompakt zusammengefasst« und »nicht so durcheinander wie im Internet« ist.

Wenn wir in Urlaub fahren, sitzt mein Vater am Steuer, meine Mutter sitzt mit der Landkarte auf dem Schoß daneben, ruft: »Rechts raus, rechts raus!« und nörgelt liebevoll, wenn er die Ausfahrt verpasst. Bei Jubiläen hält er die Rede, und sie verdreht die Augen, weil er so oft das Gleiche mit anderen Worten sagt, dass alle schon wie verrückt in ihren Kaffeetassen rühren. Brauchen wir einen Heizungsinstallateur, weil ein Rohr oder eine Leitung kaputt ist, bekommt er es gar nicht mit. Es ist meine Mutter, die Wurstsemmeln macht, Bier holt und den Handwerker mit lustigen Geschichten bei Laune hält. Im Restaurant zieht sie bis heute ihre Geldbörse aus der Tasche und schiebt sie meinem Vater hin. Er hat nie Geld bei sich, eine Kreditkarte besitzt er gar nicht, weshalb er immer mich anruft, wenn er was aus dem Internet bestellen möchte, was so gut wie nie vorkommt, weil ihm nichts einfällt, was er brauchen könnte. Es ist tatsächlich so, dass er, würde man ihn in Gütersloh aussetzen, Straßenkunststücke aufführen und hoffen müsste, dass ihm ein netter Mensch ein paar Münzen vor die Füße wirft.

Er ist ein Patriarch und doch auch wieder nicht, weil er so weich und liebevoll und konfliktscheu ist. Bei Meinungsverschiedenheiten gibt er immer, wirklich immer nach, weil er keinen Streit ertragen kann. Manchmal bittet er um Entschuldigung, obwohl er gar keinen Fehler gemacht hat, einfach nur, damit wieder alles gut ist. Will er Fußball und meine Mutter Doktor Schiwago schauen, verzichtet er nicht nur, sondern holt auch noch eine Flasche Wein aus dem Keller und massiert ihr die Füße. Dass der eine Bayern gegen Köln und der andere, womöglich auf einem zweiten Gerät, einen Liebesfilm anschauen könnte, finden sie absurd, weil sie doch verheiratet sind und das ihrer Meinung nach heißt, dass man die Dinge gemeinsam macht.

Das ist die Welt, in der ich aufwachse, eine andere kenne ich nicht. Sie ist überaus angenehm, vor allem für mich. Dass sich jemand nicht wahrgenommen fühlen könnte, kommt mir gar nicht in den Sinn, weil ich kein Bewusstsein dafür habe, wie eindimensional die patriarchalische Ordnung funktioniert und dass ärmere, leisere, weniger privilegierte Menschen sich viel schwerer damit tun, sich glücklich zu fühlen oder es tatsächlich zu sein. Auf dem Schulhof wird jede Abweichung von der Norm ausgelacht, »Brillenschlange«, »Gichtsepp«, »schwule Sau«, »Behindi«, »Spasti« – keiner regt sich auf, alle gehen davon aus, dass es sich um Kinderkram handelt, der sich in einigen Jahren erledigt haben würde, was dann ja auch tatsächlich so war, vor allem, wenn man der war, der gemobbt hat, und nicht der, der gemobbt wurde.

Ich denke nicht darüber nach, warum ich in die große, schlanke Katharina und nicht die kleine, rundliche Monika verliebt bin. Ich wundere mich nicht, warum manche meinen, meine Schwester solle mit ihrem 1,0-Abitur nicht Ärztin, sondern Grundschullehrerin werden, weil das »nicht so stressig« sei – sie hat trotzdem Medizin studiert. Ich frage mich nicht, warum die Plastikpuppe, die ich im Erste-Hilfe-Kurs beatme, keinen Busen hat. Ich bin nicht irritiert, als wir im Lateinunterricht übersetzen, wie Zeus in Gestalt eines Stiers Europa, die Tochter des phönizischen Königs, entführt und dreimal schwängert, weil er doch ein Gott, ja sogar der höchste Gott von allen ist.