Unter Heiden - Tobias Haberl - E-Book

Unter Heiden E-Book

Tobias Haberl

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Beschreibung

»Erst ungläubig und dann staunend verfolgt man dieses moderne Glaubensbekenntnis. Tobias Haberl erzählt so pur von seinen Zweifeln und Wegen zu Gott, dass man danach ganz anders in den Himmel schaut.« Florian Illies

Ich bin katholisch. In meiner Kindheit war das eine Selbstverständlichkeit. Heute muss ich mich dafür rechtfertigen, ja manchmal komme ich mir vor wie ein Tier, das im Zoo angegafft wird: Wie kann man im 21. Jahrhundert an Gott glauben? Und wie kann man immer noch in der Kirche sein – nach allem, was ans Licht gekommen ist? Es ist tatsächlich so, dass ich in meinem Viertel (gentrifiziert), meiner Branche (Medien) und meinem Job (linksliberale Zeitung) von Menschen umringt bin, die, wenn es um den Glauben geht, oft nur noch an Missbrauch und Vertuschung denken.

Leider haben viele von ihnen keine Ahnung davon, was das bedeutet: Christ sein. Sie kritisieren etwas, das sie nie kennen gelernt haben, und vergessen, worauf es ankommt: den Halt, den Trost, die Hoffnung. Glaube ist mehr als Schlagwörter (Zölibat, Missbrauch, Frauenpriestertum), mehr als eine Kirche, mit der ich auch hadere, auch mehr als eine Auszeit vom stressigen Alltag. Gläubige Menschen suchen keine Befriedigung, sondern Erlösung, nicht zuletzt von einer Welt, die aus den Fugen geraten scheint, zerrissen zwischen Zukunftsängsten und (gespenstischen) technologischen Visionen.

Ständig wird gefordert, dass sich die Kirche verändern muss, um im 21. Jahrhundert anzukommen. Ich drehe die Frage um: Was kann das 21. Jahrhundert eigentlich von gläubigen Menschen lernen? Welche vermeintlich aus der Zeit gefallenen Rituale können die spätmoderne Gesellschaft von ihrer Atemlosigkeit erlösen? Denn eines ist offensichtlich: Der Mensch, der sich von Gott verabschiedet hat, findet nicht, was er sucht. Die große Freiheit stellt sich nicht ein. Stattdessen: neue Zwänge, neue Ängste, Ablenkung statt Trost, weil Google jede Frage beantworten kann, nur nicht die, wozu wir leben und was uns Halt gibt. Im Moment sind viele verunsichert, suchen Orientierung, etwas, woran sie sich festhalten können, aber: da ist nichts.

Ich bin ein mittelmäßiger Christ, ganz sicher sind viele, die nicht an Gott glauben, bessere Menschen als ich. Aber ich versuche jeden Tag mit großer Ernsthaftigkeit, Gott zu gefallen – es gelingt halt nicht immer. Und deshalb erzählt dieses Buch davon, wie der Glaube mein Leben nicht nur verschönert, sondern vertieft, wie ich ein „zeitgemäßes Leben“ mit einem vermeintlich „unzeitgemäßen Glauben“ verbinde, weil Freiheit eine grandiose Sache ist, man aber schon eine Idee haben sollte, was man mit ihr anstellen will. Ich glaube, dass der moderne Mensch darunter leidet, dass er seinen Glauben verloren hat, ohne dass er es merkt. Ich glaube, dass sein Glück in falschen Dingen und an falschen Orten sucht. Ich glaube, dass er Sehnsucht nach etwas hat, das er sich nicht erklären kann. Was das sein könnte, steht in diesem Buch.

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Zum Buch

Ich bin katholisch. In meiner Kindheit war das eine Selbstverständlichkeit. Heute muss ich mich dafür rechtfertigen, ja manchmal komme ich mir vor wie ein Tier, das im Zoo angegafft wird: Wie kann man im 21. Jahrhundert an Gott glauben? Und wie kann man immer noch in der Kirche sein – nach allem, was ans Licht gekommen ist? Es ist tatsächlich so, dass ich in meinem Viertel (gentrifiziert), meiner Branche (Medien) und meinem Job (linksliberale Zeitung) von Menschen umringt bin, die, wenn es um den Glauben geht, oft nur noch an Missbrauch und Vertuschung denken.

Leider haben viele von ihnen keine Ahnung davon, was das bedeutet: Christ sein. Sie kritisieren etwas, das sie nie kennen gelernt haben, und vergessen, worauf es ankommt: den Halt, den Trost, die Hoffnung. Glaube ist mehr als Schlagwörter (Zölibat, Missbrauch, Frauenpriestertum), mehr als eine Kirche, mit der ich auch hadere, auch mehr als eine Auszeit vom stressigen Alltag.

Ständig wird gefordert, dass sich die Kirche verändern muss, um im 21. Jahrhundert anzukommen. Ich drehe die Frage um: Was kann das 21. Jahrhundert eigentlich von gläubigen Menschen lernen? Ich bin ein mittelmäßiger Christ, ganz sicher sind viele, die nicht an Gott glauben, bessere Menschen als ich. Aber ich versuche jeden Tag mit großer Ernsthaftigkeit, Gott zu gefallen – es gelingt halt nicht immer. Und deshalb erzählt dieses Buch davon, wie der Glaube mein Leben nicht nur verschönert, sondern vertieft, wie ich ein »zeitgemäßes Leben« mit einem vermeintlich »unzeitgemäßen Glauben« verbinde, weil Freiheit eine grandiose Sache ist, man aber schon eine Idee haben sollte, was man mit ihr anstellen will. Ich glaube, dass der moderne Mensch darunter leidet, dass er seinen Glauben verloren hat, ohne dass er es merkt. Ich glaube, dass er sein Glück in falschen Dingen und an falschen Orten sucht. Ich glaube, dass er Sehnsucht nach etwas hat, das er sich nicht erklären kann. Was das sein könnte, steht in diesem Buch.

Zum Autor

Tobias Haberl, geboren 1975 im Bayerischen Wald, hat Literaturwissenschaften in Würzburg und Großbritannien studiert, die Henri-Nannen-Schule in Hamburg besucht und arbeitet seit 2005 als Autor beim Süddeutsche Zeitung Magazin. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, unter anderem Der gekränkte Mann sowie den Bestseller Die große Entzauberung – Vom trügerischen Glück des heutigen Menschen. Für seinen Essay »Unter Heiden«, auf dem das vorliegende Buch basiert, erhielt er 2023 den Reporterpreis. Er lebt in München.

TOBIAS HABERL

UNTER HEIDEN

Warum ich trotzdem Christ bleibe

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Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: LNT Design unter Verwendung einer Illustration von Michael Kelly

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-31630-3V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Für Lam in Dankbarkeit

Wo keine Götter sind, walten Gespenster.

NOVALIS

Inhalt

Warum dieses Buch?

Krise! Welche Krise?

Eine katholische Kindheit (I)

Unter Ungläubigen

Eine katholische Kindheit (II)

Die Alte Messe

Das ganz Andere

Im Kloster

Unzeitgemäß

Im Zweifel für den Zweifel

Dank

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Warum dieses Buch?

Jetzt glaube ich fast fünfzig Jahre lang an Gott, aber so was ist mir noch nicht passiert: Als ich am Montag, dem 3. April 2023, wenige Tage vor Ostern, mein Notebook aufklappte, lagen hundert neue Mails in meinem Postfach. Spam, dachte ich, was sonst? Zweifelhafte Angebote von Versicherungen, Schönheitskliniken, Erotikfirmen. Aber dann schaute ich genauer hin und erkannte, es waren überhaupt keine Werbemails, sondern Reaktionen auf meinen Text »Unter Heiden«, der am Freitag zuvor im Süddeutsche Zeitung Magazin erschienen war. Ein persönlicher Essay darüber, dass ich mich als gläubiger Christ zunehmend unverstanden fühle, wie eine seltene Affenart, die man lieber von der anderen Seite eines Gitters aus bestaunt.

Dass ich von Menschen, die sich noch nie mit meinem Glauben auseinandergesetzt und im Grunde keine Ahnung haben, was sie da eigentlich ablehnen, nicht ernst genommen oder sogar kritisiert werde, weil ich immer noch in der Kirche bin, in die Messe gehe und zu Gott bete, manchmal sogar auf Knien. Und dass ich schon verstehen kann, wenn man nach den vielen Missbrauchsfällen, die in den letzten Jahren ans Licht gekommen sind (und eher widerwillig aufgearbeitet wurden), der Kirche den Rücken kehrt, dass ich aber auch glaube, dass uns etwas göttlicher Beistand guttun könnte, weil Google jede Frage beantworten kann, nur nicht die, wozu wir leben und was uns Halt gibt.

Ich hatte ein modernes Glaubensbekenntnis veröffentlicht und anders als die meisten, die sich heute öffentlich zum Thema Religion äußern, ihre strahlende Seite in den Mittelpunkt gestellt: die Schönheit, den Trost, die Hoffnung. Nicht um die Sünden der Kirche zu verharmlosen, sondern weil die sowieso jeden Tag in der Zeitung stehen, was unter anderem dazu geführt hat, dass sich viele nicht mehr vorstellen können, dass es außer Missbrauch und Vertuschung noch etwas anderes in ihr geben könnte. Ich wollte darauf aufmerksam machen, was trotzdem für die Kirche, aber vor allem: für ein Leben mit Gott sprechen könnte. Oder wie die FAZ einmal hinsichtlich des Missbrauchsskandals kommentierte: »Es geht um die Wiederherstellung eines Zusammenhangs zwischen Gott und dem Guten, den die Kirchen auch selbst verdunkelt haben.«[1]

Dazu kommt, dass ich das Reden über, aber auch die Kritik an meinem Glauben nicht denen überlassen will, die beim Wort »Kirche« reflexhaft an übergriffige Priester denken. Menschen, die Toleranz für alles Mögliche einfordern, aber meinen Glauben nicht gelten lassen wollen, weil sie ihn unzeitgemäß finden, wo seine Kraft doch gerade in der Differenz zum Zeitgeist liegt, weil er überfordern muss, um nicht banal zu werden. Ob sie ahnen, dass auch ich mit der Kirche hadere, nur differenzierter, weil ich weiß, dass sie nicht von den Männern in den scharlachroten Soutanen, sondern von jedem einzelnen Getauften repräsentiert wird, also auch von mir?

Es ist so eine Sache mit Leserbriefen. Oft melden sich Nörgler oder Besserwisser zu Wort. Trotzdem lese und beantworte ich grundsätzlich alle, weil ich finde, dass jeder, der sich die Mühe gemacht hat zu schreiben, eine Antwort verdient. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es nicht immer eine Freude ist, weil man oft beleidigt oder missverstanden wird. Gerade weil die Süddeutsche Zeitung traditionell kirchenkritisch eingestellt ist, hatte ich mit einem Shitstorm gerechnet, aber ich hatte mich getäuscht: Fast alle Reaktionen waren wohlwollend, manche sogar euphorisch. Viele bedankten sich, der Text sei »mutig« und »tröstlich«. Endlich spreche jemand aus, was sich keiner mehr zu sagen traue, dass in unserer technologisch optimierten, aber seelisch verkümmerten Gesellschaft eine Lücke klaffe, die nicht mit Algorithmen, sondern nur spirituell zu füllen sei.

Manche Mails waren nur ein paar Zeilen lang. »Lieber Herr Haberl, vielen Dank für Ihren Text, der mir aus der Seele gesprochen hat.« Oder: »Herr Haberl, ihr Artikel war ein Lichtstrahl für mich.« Andere enthielten seitenlange Glaubensbekenntnisse, Lebensbeichten, Verlustgeschichten. Geschätzt waren achtzig Prozent der Zuschriften positiv und zwanzig Prozent negativ, aber auch die enthielten keine Häme, sondern persönliche Erfahrungen und differenzierte Argumente. Fast alle stellten Fragen, die wenigsten gaben Antworten, schon gar keine endgültigen. Natürlich waren auch ein paar gemeine dabei: Einer verhöhnte mich als »Einfaltspinsel«, ein anderer fand es nur gerecht, wenn Katholiken heute die Ablehnung erführen, welche die Kirche jahrhundertelang gegenüber Anders- und Nichtgläubigen an den Tag gelegt habe. Aber immerhin, richtig hässlich wurde es nie.

Ich habe mich damals gefragt, warum ich von den üblichen Hassmails verschont geblieben bin, die man heute eigentlich immer bekommt, sobald man sich öffentlich zu einem kontroversen Thema zu Wort meldet: Hatte man meinen Mut honoriert, mich in einem säkularen Umfeld zum Glauben zu bekennen? Oder taugt das Thema Religion – anders als Gendersprache – nicht mehr zum Kulturkampf? Ist es zu abseitig, um sich darüber aufzuregen, weil es sich in ein paar Jahren sowieso erledigt haben wird?

Ich entschied mich für die erste Variante: Für mich widerlegten diese Briefe das Gerede von den verfeindeten Lagern, zwischen denen kein Dialog mehr möglich sei. Ich hatte eine andere Erfahrung gemacht: Offenbar darf, wer einen Standpunkt aufrichtig vertritt, sehr wohl auf Respekt hoffen, vielleicht nicht im Internet, aber im persönlichen Miteinander. Jedenfalls hatten mir nicht nur Katholiken, sondern auch Protestanten, Muslime, Atheisten und einige Enttäuschte geschrieben, die aus der Kirche ausgetreten waren oder mit dem Gedanken spielten, es zu tun.

Eine Religionslehrerin berichtete von ihren Schülern, denen Religion so egal sei, dass sie über den Missbrauchsskandal nicht einmal diskutieren wollten. Priester baten um Erlaubnis, Teile meines Textes für ihre Osterpredigt verwenden zu dürfen. Eine muslimische Kollegin bedankte sich für eine wohlwollende Passage über den Islam, in der ich beschrieben hatte, dass Muslime und Christen selbstverständlich denselben Gott anbeteten, dass »Allah« lediglich das arabische Wort für Gott sei, was zugegebenermaßen stark vereinfacht, aber im Prinzip richtig ist. Am meisten bewegt hat mich die Mail eines krebskranken Schauspielers, der mir anvertraute, wie er, gleich nachdem er die niederschmetternde Diagnose bekommen habe, in die Klinikkapelle geeilt sei und bitterlich geweint habe. »Ich habe Angst, ich habe richtig schlimm Angst«, habe er vor sich hin gemurmelt, als auf einmal der ganze Raum von einer Schwingung erfüllt gewesen sei, die nicht nur ruhig und klar zu spüren gewesen sei, sondern auch einen »tröstlichen, mitfühlenden Satz« enthalten habe: »Ich weiß.« Zwar habe er auch Rückhalt von seiner Familie und seinen Freunden bekommen. »Es wird alles gut« hätten sie gesagt, aber gehalten gefühlt habe er sich vor allem von diesem »Ich weiß«, das nichts in Aussicht stellt und nichts verspricht.

Am Dienstag bekam ich weitere Mails, am Mittwoch und Donnerstag auch. Nicht mehr hundert, aber vierzig, fünfzig pro Tag, und immer, wenn ich dachte, das war’s, kamen neue, am Ende waren es über fünfhundert. Es dauerte ein paar Tage, bis ich alle abgearbeitet hatte, aber ich wollte den Menschen zeigen, dass ich ihre Reaktionen nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern tatsächlich gelesen hatte. Weil das nur bis zu einem gewissen Grad möglich war, beantwortete ich die positiven knapper und die negativen ausführlicher, schließlich wird es erst interessant, wenn zwei Haltungen aufeinanderprallen, weil dann beides möglich ist: eine Annäherung, aber auch das Eingeständnis, dass sich zwischen einem gläubigen und einem nicht gläubigen Menschen ein Graben auftut, den man nicht schönreden muss, den man auch einfach anerkennen kann. Denn natürlich kann man befreundet sein oder sogar das ganze Leben miteinander verbringen, aber in diesem einen Punkt gibt es keinen Kompromiss, ein gläubiger Mensch hat ein grundsätzlich anderes Ziel als ein ungläubiger: Er möchte nicht befriedigt, er möchte erlöst werden.

Warum aber hat mein Essay so heftige Reaktionen ausgelöst? Ich habe nur eine Erklärung: Ich muss ein Lebensgefühl beschrieben haben, mit dem sich viele Leserinnen und Leser identifizieren konnten. Das Gefühl, dass uns die restlos aufgeklärte Welt etwas vorenthält, das wir gut brauchen könnten, gerade jetzt, wo nach Jahrzehnten der Unbeschwertheit wieder die großen Fragen nach Freiheit und Zukunft gestellt werden und angesichts gespenstischer Fortschritte auf dem Feld der Technologie nach dem Sinn der menschlichen Existenz überhaupt. Das Gefühl, dass etwas fehlt, etwas Grundlegendes, etwas Entscheidendes, das nichts mit Politik oder Wirtschaftswachstum zu tun hat, das sich nicht verordnen oder verkaufen lässt.

Corona, Kriege, Klima, Inflation, soziale Spannungen – die Welt scheint aus den Fugen. Unsere Debatten sind hitziger geworden, unsere Ängste greifbarer. Viele sind gereizt, empört, erschöpft – oder alles auf einmal. Vor allem junge Menschen verlieren den Glauben an eine positive Zukunft. Etwas gerät ins Rutschen, den Satz liest man oft, aber er stimmt nicht: Alles rutscht seit langer Zeit. Wir sind umzingelt von Krisen, überall Endzeitstimmung, nirgendwo ein Grund, der trägt. Die Menschen suchen Orientierung, etwas, woran sie sich festhalten können, aber da ist nichts, alles wandelt sich immer rascher. Und eigentlich bräuchten wir eine Pause oder jemanden, der uns in den Arm nimmt, aber alles, was wir kriegen, ist schnelleres Internet.

Ich hatte schon länger mit dem Gedanken gespielt, ein Buch über den Glauben zu schreiben, aber immer wieder gezögert. Irgendwie fühlte ich mich nicht befugt: Erstens gibt es schon viele Bücher frommer Laien. Und zweitens, so fromm bin ich auch wieder nicht. Ich gehe nicht mal jeden Sonntag in die Kirche, also schon oft, aber manchmal trinke ich lieber ein Weißbier und rede mir ein, dass man Gott auch von einer Bierbank aus preisen kann, was grundsätzlich stimmt, aber trotzdem eine schlechte Ausrede ist. Wenn ich ehrlich bin, gelingt mir kein Tag ohne Sünde, und viele Atheisten dürften bessere Menschen sein als ich, trotzdem versuche ich jeden Tag mit großer Ernsthaftigkeit, Gott zu gefallen – es klappt halt nicht immer.

Und dann lagen ja noch die vielen Mails in meinem Postfach. Waren sie ein Hinweis? Ein Zeichen? Vielleicht sogar ein Auftrag? Sollte ich dieses Buch schreiben, nicht obwohl, sondern weil ich ein mittelmäßiger Christ (und hoffnungsloser Genussmensch) bin? Weil mich Bekannte, denen ich verrate, dass mein Leben ein Zentrum hat, das Gott heißt, anstarren und fragen: »Willst du mich verarschen?« Irgendwann fragte ich meinen katholischen Freund, der über Religion, aber eigentlich auch über alles andere mehr weiß als ich: »Was meinst du, soll ich dieses Buch schreiben?« Er überlegte eine Weile, dann schaute er mich vielsagend an und meinte: »Schreib keinen Satz, für den du dich nicht totschießen lassen würdest, aber schreib dieses Buch!« Ich versuchte noch halbherzig dagegen zu argumentieren, ich wisse doch gar nicht viel vom Glauben, aber das fand er geradezu ideal. »Vom Glauben muss man nichts wissen«, meinte er, »vom Glauben muss man erzählen.«

Vor fünfzig Jahren waren mehr als neunzig Prozent der Deutschen katholisch oder evangelisch, mittlerweile ist es weniger als die Hälfte. Das sind immer noch Millionen, aber es werden von Tag zu Tag weniger. Ein Christ zu sein, das ist in Deutschland von einer Selbstverständlichkeit zu einer von zahllosen Optionen geworden, die eigene Identität zu markieren: Der eine ist Veganer, die andere Klimaschützerin, der Nächste halt Christ. Aber während die beiden Ersten auf eine hoffnungsvolle Zukunft verweisen, gilt der religiöse Mensch als problematisches Auslaufmodell, als Bremsklotz für Freiheit und Fortschritt.

Doch ist er das wirklich? Oder scheint es nur so in einer Zeit, die den Glauben an Gott durch den Glauben an Technologie ersetzt hat? Der Schriftsteller Martin Mosebach schreibt: »Was der Gegenwart besonders missfällt, ist wahrscheinlich das Zukunftsträchtigste.«[2] Keine Ahnung, ob das stimmt, aber ich würde es nicht ausschließen. Es ist dieses Lebensgefühl, das ich im ersten Teil des Buches beschreiben möchte: dass ich mich als Christ zunehmend rechtfertigen muss, als hätte ich den Sprung in die Gegenwart verpasst oder irgendetwas nicht ganz verstanden. Das Gefühl von einer Mehrheit zur Minderheit, vom Mainstream zur Randgruppe zu werden, und zwar nicht, weil ich mich, sondern einfach nur, weil die Welt sich verändert hat. Es ist das Grundgefühl vieler religiöser Menschen, die nicht verstehen, warum sie in einer aller Tradition entleerten Gesellschaft als problematisch wahrgenommen werden, warum ihre Sehnsucht nach Werten, hinter denen keine Interessen stecken, als überholt gebrandmarkt wird. Da versucht man, ein guter Mensch zu sein, und ruckzuck ist man ein fragwürdiger Rechtsausleger, und alles nur, weil man sich nicht vor der Twitter-Gemeinde, sondern allein vor seinem Schöpfer rechtfertigen will, der nicht nur die Timeline, sondern auch das Verborgene sieht.

Dieses Buch enthält trotzige Passagen, eine Verteidigung des Glaubens ohne Gesellschaftskritik gibt es nicht, trotzdem steht in seinem Zentrum kein Nein, sondern ein Ja. Der Glaube als Weg, das eigene Leben nicht nur zu verschönern, sondern zu vertiefen. Das Wort Gottes nicht als privates Schlupfloch, sondern als verantwortungsvolle Perspektive für eine hellere Zukunft. Denn von einer Sache bin ich überzeugt: dass mein Glaube Erfahrungen bereithält, die uns als Gesellschaft schmerzlich fehlen und die uns dabei helfen können, die Herausforderungen der Zukunft, wenn schon nicht zu meistern, dann doch beherzt anzugehen: Solidarität, Rhythmus, Rituale, Traditionen, Demut, Hoffnung. Die einzelnen Kapitel funktionieren unabhängig voneinander, zusammen ergeben sie ein Glaubensbekenntnis für das 21. Jahrhundert, in dem sich persönliche und gesellschaftspolitische, erzählerische und theoretische Passagen abwechseln.

Einerseits erzähle ich von meiner katholischen Kindheit auf dem Land, meinen Jahren an der Seite einer asiatischen Buddhistin, der rätselhaften Schönheit der Alten Messe in Rom und wie ich in einer französischen Benediktinerabtei fast den Verstand verloren hätte. Andererseits davon, wie ich versuche, ein moderner und gleichzeitig katholischer Mensch zu sein, also ein zeitgemäßes Leben mit einem vermeintlich unzeitgemäßen Glauben zu verbinden. Ein Spagat, der mir nur gelingt, indem ich gelegentlich ein Auge zudrücke, was nicht heißt, dass ich meinen Glauben auf die leichte Schulter nehme. Im Gegenteil: Gerade, weil ich ein außerordentlich zeitgemäßes Leben führe, weil ich permanent unterwegs, im Stress oder im Internet bin, schätze ich die Stille, die Ordnung und ja, auch die Strenge meines Glaubens umso mehr.

Seit Jahren wird darüber diskutiert, wie sich die Kirche verändern muss, um im 21. Jahrhundert anzukommen. Im zweiten Teil des Buches möchte ich die Frage gerne umdrehen: Was kann das 21. Jahrhundert von gläubigen Menschen lernen? Wie und wo lässt sich das Heilige noch erfahren? Was kann uns in einer nahezu vollständig digitalisierten Welt noch Sinn und Hoffnung geben? Welche vermeintlich aus der Zeit gefallenen Rituale können eine aufgewühlte Gesellschaft von ihrer Atemlosigkeit befreien? Und ganz wichtig: Wo muss die Kirche sich erneuern? Und wo muss sie unbequem bleiben, um eine sich immer weiter beschleunigende Gesellschaft vor sich selbst zu schützen?

Denn eines ist offensichtlich: Der Mensch, der von Gott nichts mehr wissen will, findet nicht, was er sucht; die große Freiheit stellt sich nicht ein. Stattdessen: neue Zwänge, neue Ängste, neue Süchte, Ablenkung statt Trost, kurzfristige Befriedigung statt dauerhafter Erlösung. Wie Kain nach dem Mord an seinem Bruder Abel muss er »rastlos und ruhelos« über die Erde ziehen und den tollsten Täuschungen hinterherjagen, um sich noch intensiver am Leben zu fühlen, während er panische Angst vor dem Sterben hat, ein Wettrennen ohne Ziel, mit lauter Verlierern.

Ich weigere mich zu glauben, dass die Welt ohne Gott besser, schöner oder gerechter wäre. Vielmehr bin ich davon überzeugt, dass viele unserer Probleme nicht über Nacht verschwinden, aber doch ihren Schrecken verlieren würden, wenn sich wieder mehr Menschen auf die funkelnde Gegenwelt Gottes einlassen würden, wo alles seinen Platz hat, was sonst an den Rand gedrängt wird, auch das Leise, Unsichere, Unscheinbare. Wo andere Dinge zählen und andere Gesetze gelten. Wo man aufrichtig hoffen darf, dass das Gute belohnt und das Böse bestraft wird. Wo sich eine Liebe erfahren lässt, die von keiner Kränkung bedroht ist. Wo man keine Angst vor dem Sterben haben muss, weil ein anderer vor zweitausend Jahren für uns gestorben ist. Mein Glaube ist diese Gegenwelt, eine Unterbrechung des Alltags, ein Wechsel der Perspektive, eine Sphäre der Hoffnung. Das Ego hat Pause, in den Schatten gestellt von einem, der Ruhe und Kraft schenkt, bevor man sich wieder raustraut, in den Stress und den Druck – was man halt so Freiheit nennt.

»Da wo Gott geleugnet wird, bricht am Ende auch die Vernunft zusammen«, sagt der Philosoph Robert Spaemann, der zeit seines Lebens vor einer Welt ohne Gott gewarnt hat. Was, wenn er recht hat? Wenn auf das Christentum nichts Besseres, Vernünftigeres, sondern etwas Schlechteres, Unmenschlicheres folgt? Ein banaler Nihilismus, in dem die Menschen seelenlos aneinander vorbeileben? Der Mensch als Ware und Produkt? Ein Durcheinander beliebig austauschbarer Moden? Ewige Unruhe ohne Ziel? Manchmal wache ich nachts auf und habe schreckliche Angst vor einer rein funktionalen Welt, einem Dasein zwischen Abschottung und Überwachung, in dem sich niemand mehr daran erinnern kann, was das eigentlich mal war und bedeutet hat: ein Mensch zu sein. Zugleich kann ich nicht aufhören, darüber nachzudenken, warum so viele Menschen freiwillig auf Gott verzichten, während ich ihre tiefe Sehnsucht nach Sinn und Wahrheit und Liebe spüre.

Ich glaube, dass der moderne Mensch darunter leidet, dass er seinen Glauben verloren hat, ohne dass er es merkt. Ich glaube, dass er sein Glück in falschen Dingen und an falschen Orten sucht. Ich glaube, dass er Sehnsucht nach etwas hat, das er sich nicht erklären kann. Um ihm zu zeigen, was das sein könnte, habe ich dieses Buch geschrieben.

Krise! Welche Krise?

Dieses Buch beginnt mit einer Lüge und einer Übertreibung. Beide stecken schon im Titel, und ich dachte, bevor sich jemand darüber beschwert, kläre ich die Sache lieber gleich selbst auf.

Erst zur Übertreibung.

Unter Heiden – das klingt, als sei ich der letzte Christ auf Erden. Als stünde ich am Pranger, und alle zeigten mit dem Finger auf mich, oder schlimmer, vor Gericht, und alle plädierten auf schuldig. Und ja, es gibt Momente, in denen ich mir so vorkomme, trotzdem weiß ich natürlich, dass man als Christ auch im 21. Jahrhundert nur einer von ganz vielen ist, ein Sandkorn in der Wüste, ein Tropfen im Ozean. Zwar schrumpft die Kirche in der westlichen Welt in atemberaubender Geschwindigkeit, und in manchen Gegenden kann man sich kaum noch vorstellen, dass es so etwas wie ein christliches Europa jemals gegeben hat, dafür wächst sie in Asien und Afrika umso stärker. In Afrika hat sich allein die Zahl der Katholiken seit 1950 verzehnfacht.[3] In China ist die Zahl der Christen von einer Million in den Achtzigerjahren auf mittlerweile hundert Millionen gestiegen.[4] Die deutsche Perspektive täuscht: Mit 2,6 Milliarden gab es noch nie so viele Christen auf der Welt wie heute, und jedes Jahr kommen dreißig Millionen dazu.

Es wäre nicht nur lächerlich, sich als an den Rand gedrängter Außenseiter zu inszenieren, es wäre auch geschmacklos, weil Christen außerhalb Europas nicht nur oft schief angeschaut, sondern verfolgt und getötet werden, worüber man in den Nachrichten leider kaum etwas erfährt. Es gehört sich nicht, das Leid der einen gegen das der anderen auszuspielen, aber merkwürdig ist es schon, dass man hierzulande zwar ausführlich über das Schicksal verfolgter Jesiden und Rohingya informiert wird, (was ich richtig finde), aber so gut wie nichts von den dreihundert Millionen Christen hört, die in Westafrika, Nordkorea und einigen arabischen Ländern eingesperrt, gefoltert und ermordet werden, und zwar einfach deshalb, weil sie Christen sind.

Man kann es sich angesichts anhaltender Rekordaustritte kaum vorstellen, aber auch in Deutschland ist man als Christ immer noch in bester Gesellschaft, nämlich einer von knapp vierzig Millionen, gut die Hälfte davon Katholiken. Wer Glaubensbrüder und -schwestern sucht, wird sie finden, in einem der 16 000 Sonntagsgottesdienste, bei Prozessionen, auf Gemeindefesten oder Kirchentagen, notfalls verbringt man seinen Osterurlaub in Rom, da wimmelt es vor Christen aus Deutschland. Vierzig Millionen, das ist zehnmal Berlin, eine gewaltige Zahl, die man sich kaum vorstellen kann. Ob in der Stammkneipe, im Wartezimmer oder im Fußballstadion, mit großer Wahrscheinlichkeit sitzt der nächste Christ immer nur ein paar Meter entfernt.

Wie also kann es sein, dass ich mich in einer so riesigen Gemeinschaft isoliert fühle? Warum meine ich sogar ein Buch darüber schreiben zu müssen, wo doch fast alle gesellschaftlichen Gruppen kleiner (und viele diskriminierter) sind? Und selbst wenn ich der letzte Christ auf Erden wäre, was wäre eigentlich so schlimm daran? Könnte es mir nicht egal sein, was andere über mich denken und woran sie glauben, solange ich zu meinem Gott beten darf und noch wichtiger: solange es ihn wirklich gibt? Denn eines ist klar: Wenn Gott existiert, dann gibt es ihn unabhängig von unseren Debatten und Befindlichkeiten, dann ist er eine Tatsache, eine unumstößliche Wahrheit.

Es muss damit zu tun haben, dass Gefühle manchmal stärker sind als Zahlen, dass Statistiken nicht trösten können. Denn die knapp vierzig Millionen Christen sind das eine, das andere aber sind die abschätzigen Kommentare und skeptischen Blicke, die man so abbekommt, weniger im Bayerischen Wald, wo ich aufgewachsen bin, aber in München, wo ich lebe, und in Hamburg oder Berlin, wo ich regelmäßig zu tun habe. Es ist nämlich so, dass fast alle meine Freunde, Bekannten und Kollegen an überhaupt keinen Gott mehr glauben, die Kirche »problematisch« bis »verachtenswert« finden und beim besten Willen nicht nachvollziehen können, wie man im 21. Jahrhundert einen Gott verehren kann, der gerüchteweise gütig und allmächtig, aber tatsächlich – und dafür genügen zehn Minuten Tagesschau – doch wohl eher ratlos und gleichgültig im Himmel rumsitzt.

Ich bin meine Handy-Kontakte durchgegangen. Von meinen hundert engsten Bekannten sind vielleicht fünf in der Kirche, zwanzig glauben an Gott oder ein »höheres Wesen«, einer liest immerhin gelegentlich in der Bibel, weil die auch »ein Stück Literaturgeschichte« ist. Sowohl in meiner Nachbarschaft (gentrifiziertes Ausgehviertel) als auch in meiner Branche (irgendwas mit Medien) und meiner Zeitung (linksliberal) bin ich von Menschen umgeben, die sich entweder abschätzig oder gar nicht über meinen Glauben äußern. Viele sagen nicht einmal »Kirche«, wenn sie Kirche meinen, sondern »dieser Verein«, mit verächtlicher Betonung auf »dieser«. Einige waren mächtig stolz, als sämtliche Bundesminister der Grünen bei ihrer Vereidigung die religiöse Beteuerung »So wahr mir Gott helfe« einfach wegließen. Und Olaf Scholz mag nicht der souveränste Kanzler sein, aber dass er konfessionslos ist, findet man sympathisch, weil zeitgemäß. Immerhin: Nicht alle lehnen die Kirche ab, manche finden sie auch einfach nur überflüssig.

»Wie war’s in Berlin?«, »Lust auf einen Drink?«, »Vietnamesisch oder Koreanisch?«, diese Fragen höre ich ständig. Aber »Bock auf die Abendmesse?« oder »Wollen wir nach dem Rosenkranz noch spazieren gehen?«, das wurde ich noch nie gefragt. In Redaktionssitzungen bin ich oft der einzige gläubige Mensch am Konferenztisch, in der Bar oder im Restaurant sowieso, dann wird über Netflix-Serien oder Männer mit lackierten Fingernägeln diskutiert, aber nie über Religion, weswegen ich permanent das Gefühl habe, dass die vierzig Millionen Christen vielleicht irgendwo sind, aber nie da, wo ich bin. Ist es Zufall? Liegt es an der allgemeinen Stimmung? Liegt es an mir? Wenn ich ehrlich bin, frage ich mich seit Jahren (ohne echtes Ergebnis), was es über mich aussagt, dass ich mein Leben überwiegend mit Menschen verbringe, die mit Religion nichts zu tun haben (wollen). Stehe ich zu wenig zu meinem Glauben? Finde ich unreligiöse Menschen insgeheim unterhaltsamer? Oder – und das wäre nicht nur peinlich, sondern eine Sünde – umgebe ich mich unbewusst mit ihnen, um etwas Besonderes zu sein?

Umso tröstlicher finde ich Momente, in denen das Religiöse unverhofft in die Wirklichkeit einbricht: ein Fußballer, der sich beim Betreten des Rasens bekreuzigt; der Italiener, der im Sommer am Strand von Neapel neben mir lag, auf der Brust zwei Tattoos, ein Skorpion und ein Rosenkranz. Das silberne Kruzifix, das ich bei meinem Hausarzt neben dem Medikamentenschrank entdeckte, als ich beim Blutabnehmen nicht wusste, wo ich hinschauen soll. Der Investmentbanker, der neben mir in die Saint Patrick’s Cathedral in New York gestürzt kam, vor dem Altar auf die Knie fiel und inbrünstig zu beten begann. Der ältere Herr, der mir in meiner Stammkneipe einen selbstgemachten Linolschnitt in die Hand drückte – »der heilige Christophorus und das Jesuskind, dürfen Sie behalten.«

Ich atme auf, wenn ich diese Menschen sehe. Ich denke: Da seid ihr ja endlich. Und obwohl ich ihnen nie zuvor begegnet bin, ja nicht einmal weiß, ob es sich um aufrichtige Christen oder scheinheilige Heuchler handelt, breitet sich eine Wärme in mir aus, so geborgen, so aufgehoben fühle ich mich in der weltumspannenden Gemeinschaft der Christen, von der ich im Alltag so wenig mitkriege. Es geht mir wie der 84-jährigen Schriftstellerin Helga Schubert, die sagt: »Ich glaube an eine konstruktive Kraft, die hier waltet. Und die unermesslich ist und unerforschlich in ihrer Allmacht und in ihrer Dauer. Und das ist etwas, was ich spüre. Und ich weiß, dass ich dazugehöre, und das gibt mir sehr viel Geborgenheit und alle anderen, die das nicht wahrhaben wollen, gehören ja auch dazu. Bloß bei mir, denk ich immer, kommt dann noch von da aus auch Wärme, weil ich daran glaube.«[5]

Ich weiß noch, wie begeistert ich war, als der muslimische Schriftsteller Navid Kermani am Ende seiner Dankesrede für den Friedenspreis des deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche 2015 die sichtlich irritierte Festgemeinde zum Gebet aufrief. In den Tagen davor hatte der sogenannte »Islamische Staat« ein Kloster im kriegsgeschüttelten Syrien überfallen und einen katholischen Pater, den Kermani drei Jahre zuvor kennen gelernt hatte, als Geisel genommen. Man wolle den Terroristen ein »Bild unserer Brüderlichkeit« entgegenhalten und im Stillen für verfolgte Christen, die Befreiung der Geiseln und die Freiheit Syriens und des Iraks beten, gern könne man sich dafür auch erheben. Ein historischer Moment: Da hatte sich die politisch-intellektuelle Elite des Landes in Schale geworfen, um dem Star des Abends zu huldigen, und wohl auch mit unbequemen Sätzen gerechnet – aber ein Gebet? Bei einer säkularen Preisverleihung? Ernsthaft?

Ich habe mir das Video auf Youtube angesehen: Nach Kermanis Aufforderung erhebt sich das Publikum nur zögerlich, die Frauen zupfen an ihren Röcken, die Männer treten von einem Bein aufs andere. Als Kermani seine Hände mit geschlossenen Augen zum Gebet ausbreitet, ist es mehrere Sekunden lang vollkommen still, niemand hüstelt oder räuspert sich. Erst nach einer Weile wischt er sich mit den Handflächen übers Gesicht, seine Brille verrutscht leicht dabei, dann blickt er ergriffen in den Saal, bedankt sich, geht ab. Danach dauert es lange, bis die Ersten zu klatschen beginnen. Die Festgemeinde wirkt verunsichert: Darf man applaudieren? Soll man applaudieren? Was war das eigentlich? Es ist die Befangenheit einer säkularen Gesellschaft angesichts eines Menschen, für den Gott eine lebendige Realität darstellt.

Am nächsten Tag überschlagen sich die Kommentare. Die Reaktionen reichen von höchster Ergriffenheit bis zum Vorwurf des »unerträglichen Übergriffs«. Zwar habe Kermani den Atheisten im Publikum gestattet, statt Gebete nur Wünsche zu entsenden, trotzdem hätte keiner im Publikum der kollektiven Andacht entkommen können. Freilich sei das Ganze menschenfreundlich gemeint gewesen, aber das mache die Sache nicht besser. Wer ein solches Gebet veranstalte, drohe sich genau jener Beschwörung einer politischen Theologie anzugleichen, die er dem radikalen Islam als Übergriff vorwerfe, nein, ein überkonfessionelles Gebet im säkularen Raum solle es in Deutschland nicht mehr geben.[6]

Ich habe mich damals diebisch über Kermanis Aktion gefreut. Deutschlands Kulturschickeria mit einem Gebet überrumpeln – das hatte was. Dass er eine Provokation womöglich gar nicht im Sinn hatte, sondern einfach nur tat, was ihm angemessen erschien, macht die Sache nur charmanter. Trotzdem darf man sich nicht täuschen: Solche Momente machen nur deshalb Furore, weil sie so gut wie nie vorkommen. Denn wie schlecht muss es um den Glauben in einer Gesellschaft bestellt sein, wenn ein Gebet für Menschen in Lebensgefahr einen solchen Aufschrei verursacht?

Wenn ich ehrlich bin, empfinde ich die Gegenwart meistens als deprimierend rational. Weit und breit keine Verspieltheit, keine Poesie, überall Buchhalter und Tugendwächter. Kaum einer wagt das Unglaubliche zu denken, alles soll bis ins Letzte berechnet werden, alle sichern sich ab, am besten statistisch belegt und notariell beglaubigt. Der Erfinder des Computers, der Ingenieur Konrad Zuse, hatte schon recht, als er vor Jahrzehnten warnte: »Die Gefahr, dass der Computer so wird wie der Mensch ist nicht so groß wie die Gefahr, dass der Mensch so wird wie der Computer.« Natürlich weiß ich, dass in diesem Augenblick Millionen von Menschen beten, und zwar nicht nur in Kirchen und Klöstern, sondern auch in Kinderzimmern, Krankenhäusern und Fußballstadien – das Problem ist nur: Ich kriege es nicht mit. Rational weiß ich, dass ich einer weltumspannenden Gemeinschaft angehöre, emotional fühle ich mich übriggeblieben, ein Eisbär auf schrumpfender Scholle.

Ich befürchte, dass ich daran nicht ganz unschuldig bin, weil ich ein ausgesprochen privates Verhältnis zu Gott pflege. Zwar bete ich jeden Tag und besuche regelmäßig die Messe, trotzdem bin ich wirklich nicht das, was man einen engagierten Christen nennt: Ich war weder Messdiener noch in der Katholischen Jugend, habe noch nie im Kirchenchor gesungen, an einer Wallfahrt teilgenommen, einen Bibelkreis besucht, für den Pfarrgemeinderat kandidiert, Strohsterne für den Weihnachtsmarkt gebastelt oder auch nur einen Gemeindebrief gelesen. Ehrlich gesagt fühle mich nicht mal einer bestimmten Gemeinde zugehörig, weil ich mal diesen, mal jenen Gottesdienst besuche, je nachdem, ob ich Ehrfurcht spüren (oft), getröstet (manchmal) oder intellektuell angeregt werden möchte (selten). Meine letzte Beichte liegt fünf Jahre zurück, vielleicht sind es auch sechs oder sieben, auf einem Kirchentag war ich überhaupt noch nie, und natürlich könnte ich Termingründe anführen, aber es wäre gelogen. In Wahrheit mag ich es nicht, wenn sich Christsein nach Zeltlager oder Parteitag anfühlt, weil ich mich in Jugendgruppen mit Gitarre und Bibel im Rucksack schon unwohl gefühlt habe, als ich selbst noch jung war, und wenn ich ehrlich bin, atme ich jedes Mal, wenn ich den obligatorischen Dreißig-Sekunden-Bericht in der Tagesschau sehe, auf und denke: wieder mal nichts verpasst.

Das heißt nicht, dass es Kirchentage nicht geben soll, im Gegenteil, Christen sollen sich unbedingt außerhalb der Messe begegnen, austauschen und anfreunden. Ohne Menschen, die ihren Glauben mit politischem Engagement verbinden, wäre nicht nur die Kirche, sondern die Gesellschaft ärmer und kälter. Auch schadet es nicht, wenn eine säkulare Öffentlichkeit gelegentlich daran erinnert wird, dass es so etwas wie religiöse Menschen überhaupt gibt. Dennoch habe ich im Laufe meines Lebens erkannt, dass solche Veranstaltungen zwar wichtig sind, aber nicht für mich, dass ich mich fehl am Platz, ja überflüssig fühle, weil ich meinen Glauben lieber diskret praktiziere.

Manchmal habe ich deswegen ein schlechtes Gewissen, weil ich weiß, dass Christsein immer auf Dialog und ein Gegenüber ausgerichtet ist, dass es bedeutet, zu Gott und zu Menschen in eine Beziehung zu treten. Und ja, womöglich verpasse ich einen wesentlichen Aspekt meiner Religion, die Gemeinschaft der Gläubigen, die verbindende Kraft der Begegnung, das Mit- und Füreinander derjenigen, die sich für Jesus Christus entschieden haben, aber irgendwie kann ich nicht aus meiner Haut, ich bete am liebsten allein.

Quält mich der Verdacht, dass ich vielleicht nur zu bequem bin, um gemeinsam mit anderen Christen für meinen Glauben einzustehen, tröste ich mich damit, dass es verschiedene Wege zu Gott gibt, im Grunde so viele, wie es Menschen gibt, und dass man ihm in den Sakramenten genauso wie im Orgelkonzert, beim Seniorennachmittag oder in der Erfahrung der eigenen Verwundbarkeit begegnen kann. Manche Wege sind freudvoll, andere dornenreich, manche intuitiv, andere intellektuell, manche bedürfen der Gemeinschaft, andere der Abgeschiedenheit. Und ich weiß nach fast fünfzig Jahren eben genau, wie ich Gott am liebsten gegenübertrete, nämlich im persönlichen Gespräch, ohne tausend Menschen drum herum, immerhin hat Jesus in der Bergpredigt selbst gesagt: »Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten.«

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Bevor wir zur Lüge kommen, die sich im Titel dieses Buches versteckt, möchte ich noch einen zweiten Grund anführen, warum ich mich als Christ oft isoliert und irgendwie unter Druck fühle: Es sind die alarmierenden Schlagzeilen, denen man nicht mehr entkommen kann. Kaum schlägt man die Zeitung auf, schreit es einem entgegen: Missbrauch! Kirchenflucht! Rekordaustritte! Eine Archivrecherche bestätigt, das Thema ist allgegenwärtig, es genügt ein Blick auf die Headlines: »Das Versagen der Kirchen«, »Verrat an der Botschaft Jesu«, »Ganz schön weltfremd«, »Dokumente pädokrimineller Abgründe«, »Desaster an allen Fronten«.

Nicht falsch verstehen: Diese Meldungen machen mich wütend und fassungslos. Ich lese sie und frage mich: Warum? Warum ausgerechnet in meiner Kirche? Wie konnte es so weit kommen? Warum haben so viele weggeschaut oder geschwiegen? Man fühlt sich betrogen, wenn sich die Kirche, der man jeden Sonntag seiner Kindheit geschenkt hat, an Kindern vergeht, ohne ihre Schuld einzugestehen und anständig aufzuarbeiten. Selbstverständlich muss der Missbrauchsskandal restlos aufgeklärt werden. Täter und Mitwisser, allesamt elende Sünder und Verbrecher, die ohnmächtige Kinder verwundet und ihre Kirche verraten haben, müssen benannt und bestraft werden. Jesus selbst hat gesagt, jeder, der sich an einem Kind vergreift, solle einen Mühlstein um den Hals gehängt bekommen und ersäuft werden. Auch gilt es zu analysieren, wie eine derartige Kultur der Verantwortungslosigkeit überhaupt entstehen konnte, damit es in Zukunft nicht mehr passiert. Selbstverständlich habe ich Verständnis, wenn Missbrauchsopfer oder Angehörige von Missbrauchsopfern ihre spirituelle Sehnsucht lieber außerhalb der Kirche befriedigen oder aufgeben, was nicht heißt, dass ich es nicht bedauerlich finde. Das Problem ist nicht die Berichterstattung über das Versagen der Kirche. Das Problem ist, dass über nichts anderes mehr berichtet wird, dass andere Aspekte des Glaubens nicht mehr zur Sprache kommen, schon gar keine positiven, dass weite Teile der Gesellschaft beschlossen haben, die Kirche für das Böse schlechthin zu halten.

Neulich fiel mir in einer Bahnhofsbuchhandlung auf, dass es mittlerweile zu fast jedem Aspekt des Lebens eine eigene Zeitschrift gibt. Von Zigarren über Modelleisenbahnen bis zu Serienmördern war alles dabei, nur Religion nicht. Okay, kurz schöpfte ich Hoffnung, als ich in einem Drehständer ein Geo-Heft über das Christentum entdeckte, ließ sie aber gleich wieder fahren, weil daneben Geo – Die Wikinger und Geo – Die Normannen steckten, als handle es sich um die Spezialabteilung für untergegangene Epochen der Weltgeschichte. Dass der christliche Glaube für Millionen Menschen keine Ansichtssache, sondern eine lebendige Realität darstellt, davon war in diesem Laden nichts zu spüren. Dafür stieß ich auf etliche Magazine, die sich dem seelischen Wohlbefinden des spirituell angehauchten Gegenwartsmenschen widmen: Du bist wertvoll – Weil du so bist, wie du bist; Achtsam glücklich – Wie sich unser Leben verändert, wenn wir im Hier und Jetzt ankommen; Finde deinen Weg – Wunder geschehen, wenn du deinem Herzen folgst.

Der Schriftsteller G. K. Chesterton hatte recht: »Wenn Menschen aufhören, an Gott zu glauben, glauben sie nicht an nichts, sondern an alles Mögliche. Das ist die Chance der Propheten – und sie kommen in Scharen.« Mittlerweile bieten in Deutschland Hunderte Zeremonienmeister und Ritualdesigner ihre Dienste an. Sie gestalten Namens- und Begrüßungsfeste, Taufen und Hochzeiten. Die Menschen folgen Ratschlägen überteuerter Life-Coaches und Verheißungen zweifelhafter Tech-Gurus. Und von mir aus kann jeder glauben, woran er will – Steine, Krafttiere, Voodoo-Puppen –, trotzdem betrübt es mich, wenn sich die Menschen in ihrer Sehnsucht nach Halt und Trost pflichtärmeren Formen von Spiritualität zuwenden, aber von meinem Gott nichts mehr wissen wollen. Dazu kommt, dass sie andere Religionen oft auf die Aspekte reduzieren, die leicht umzusetzen sind oder ihnen nützlich erscheinen, ohne sich tiefer mit ihnen auseinanderzusetzen; es ist das Fremde, Exotische, das sie anzieht. Das Gleiche gilt für die unzähligen Optimierungstrends im Netz: Von Awareness über Niksen (Nichtstun) bis zu Mindful Body wurden die meisten Techniken nicht nur vom Christentum (oder anderen Religionen) vorausgedacht, sondern bewähren sich seit Hunderten von Jahren: die Stille, die Achtsamkeit, der Müßiggang, der Rhythmus, die Meditation. Oft ändert sich nur der Name: Silence-Retreat im Luxusresort klingt eben schicker als Schweigemeditation im Gemeindezentrum. Es ist lange bekannt, wie das geht: ein erfülltes Leben führen. Die Zutaten liegen auf der Hand, es gibt sie umsonst, und die Menschen wollen sie haben, aber bitte nicht von der Kirche.

Immer wieder entdecke ich in fremden Wohnungen eine Buddhastatue, meistens im Bad, neben einer Duftkerze, die nach Sandelholz oder Patschuli riecht, manchmal liegen Muscheln drum herum. Wenn ich mich erkundige, kommt fast immer dieselbe Antwort: Eigentlich könne man mit Religion nichts anfangen, schon gar nicht mit der Kirche, aus »diesem Verein« sei man längst ausgetreten. Aber der Buddhismus sei anders, weniger autoritär, irgendwie zeitgemäßer, zum Beispiel gebe es keinen Gott, das finde man schon mal sympathisch, im Grunde handle es sich nicht mal um eine Religion, eher um eine Lebenshilfe, eine Anleitung zur Achtsamkeit, spirituell sei man nämlich durchaus, seit einigen Jahren meditiere man regelmäßig, am liebsten auf Sri Lanka, da habe man ein hübsches Resort entdeckt, einschließlich Elefantentour für die Kinder. Danach bin ich meistens so deprimiert, dass ich das Thema wechsle. Und wenn man dann noch irgendwo gelesen hat, dass gerade wieder irgendwo eine Kirche in einen Coffeeshop umgewandelt wurde, landet man schnell bei der deprimierenden Erkenntnis, einer Glaubensgemeinschaft anzugehören, die es zumindest hierzulande nicht mehr lange geben wird.

Es ist ein belastendes Gefühl, Teil von etwas zu sein, das sich in Auflösung befindet. Es ist, als wäre die eigene Identität bedroht, als müsste man sich schämen oder irgendwie tarnen. Da ist man seit fünfzig Jahren in der Kirche, und auf einmal schütteln alle den Kopf oder zeigen mit dem Finger auf einen. Ich habe sogar von Kirchenmitarbeitern gehört, die auf die Frage nach ihrem Beruf angeben, für eine »wohlfahrtsstaatliche Einrichtung« tätig zu sein. Einerseits wird man unsicher, weil doch was dran sein muss, wenn so viele gleichzeitig in die andere Richtung laufen, andererseits wird man trotzig und sagt sich »jetzt erst recht«, weil man sich nicht aus dem Staub machen darf, nur weil einem der Zeitgeist gerade ins Gesicht bläst.

Allein 2022 haben mehr als 500 000 Katholiken und 380 000 Protestanten die Kirche verlassen. 2023 dürften es kaum weniger gewesen sein, bislang liegen nur die Zahlen für die evangelische Kirche vor, die erneut 380 000 Austritte zu verzeichnen hatte. Die einen sind geschockt von den Missbrauchsfällen, die anderen wollen Steuern sparen, die Nächsten machen lieber Pilates. Oft gibt es nicht den Auslöser, stattdessen kommen meist mehrere Gründe zusammen, bis ein schleichender Entfremdungsprozess zum endgültigen Bruch führt. In einer Umfrage des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) wurden die Unglaubwürdigkeit der Kirche und fehlende Gleichberechtigung als häufigste Ursachen genannt, dazu kommen der Missbrauchsskandal, die Verschwendung finanzieller Mittel sowie der Umgang mit Homosexuellen.

Umgekehrt begründeten knapp dreißig Prozent der Katholiken ihren Austritt damit, dass sich die Kirche »zu sehr dem Zeitgeist anbiedere«, was ich schon deshalb interessant finde, weil ich beide Perspektiven nachvollziehen kann.[7] Einerseits kann ich mir eine liberalisierende Öffnung der Kirche vorstellen, andererseits glaube ich, dass eine zu abrupte, zu radikale Anpassung an die Lebenswirklichkeit der Menschen weder gut für sie noch für die Gesellschaft wäre. »Prüfet alles, und das Gute behaltet«, sagt der heilige Paulus. Es ist die Gretchenfrage, wenn es um die Zukunftsfähigkeit der Kirche geht: Wo muss sie sich reformieren? Und wo muss sie unbeugsam, vielleicht sogar unerbittlich bleiben?

Die Krise der Kirche wäre weniger dramatisch, wenn wenigstens die Gläubigen fest im Glauben stünden, davon kann aber keine Rede sein. Auch Kirchenmitglieder praktizieren ihren Glauben immer nachlässiger. Nur noch fünfzehn Prozent beten wenigstens ein Mal am Tag. Weniger als zehn Prozent besuchen regelmäßig die Messe, bei den unter Dreißigjährigen sind es sogar nur vier Prozent. Zur Beichte geht fast überhaupt keiner mehr, und wenn doch, werden keine Sünden bereut, sondern Sorgen und Nöte aufgezählt, als säße man beim Coaching, um sich das Leben neu sortieren zu lassen.[8] Kein Witz – nur noch ein Drittel der Kirchenmitglieder stimmt der für ein christliches Leben zentralen Aussage zu: »Ich glaube, dass Gott sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat.«[9]